Kescher - Abraham Geiger Kolleg
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<strong>Kescher</strong><br />
The Baroness Neuberger of Primrose Hill DBE ist seit 2004 Mitglied im britischen<br />
Oberhaus. Von 2007 bis 2011 Präsidentin des Liberalen Juden tums im Vereinigten<br />
Königreich, ist Julia Neuberger seit 2011 Ober rabbinerin der West London Synagogue.<br />
Steht es Österreich<br />
mit seiner Geschichte<br />
wirklich zu, einen<br />
Großteil des modernen<br />
Judentums zur<br />
Sekte herabzuwürdigen?<br />
Rabbinerin<br />
Julia Neuberger<br />
(London) über das<br />
neue Israelitengesetz<br />
Eine liberale jüdische Kultus -<br />
gemeinde auch in Österreich!<br />
Wie schwer müssen es die Frauen der letzten<br />
hundert Jahre gehabt haben, bis sie die Funk -<br />
tionen erreicht haben, die uns Frauen eben<br />
zustehen: weil wir nicht schwächer oder dümmer<br />
sind als die andere Hälfte der Menschheit, dafür<br />
aber Qualitäten mitbringen, die unsere heutige<br />
Zeit dringend nötig hat.<br />
Das Erbe der Rabbinerinnen<br />
Meine Mutter, Liesel Schwab, hatte sich 1937 aus<br />
dem Machtbereich der Nazis retten können. So<br />
wurde ich 1950 in England geboren. 1977 bin ich<br />
als zweite Frau in Großbritannien zur Rabbinerin<br />
ordiniert worden. Ich habe mich nicht gescheut,<br />
meinen Kopf hinzuhalten für Dinge, die mir wichtig<br />
waren: als Gemeinderabbinerin, als Gesund -<br />
heitspolitikerin für die Liberaldemokraten, als<br />
Präsidentin des liberalen Judentums im Ver -<br />
einigten Königreich und jetzt als Oberrabbinerin<br />
der West London Synagogue und Mitglied des britischen<br />
Oberhauses.<br />
Ich habe mich in der Verantwortung gesehen, das<br />
Erbe all derer hochzuhalten, die mir als Frau im<br />
Rabbinat vorangegangen waren. 1897 hielt<br />
Hanna G. Salomon in Chicago vor vollen Syna -<br />
gogenbänken ihre Probepredigt. Im Jüdischen<br />
Vereinsboten Berlin las man: „Die Probepredigt<br />
des weiblichen Rabbi fiel so glänzend aus, dass<br />
seine Anstellung demnächst erfolgen dürfte.“<br />
Frauliche Feinfühligkeit<br />
Für viele jüdische Frauen war es Zeit, von den<br />
Synagogengalerien herabzusteigen und aktiv in<br />
das Gemeindeleben einzugreifen. Aber es sollte<br />
noch dauern. 1935 schließlich wurde Regina<br />
Jonas als weltweit erste Frau ordiniert. Sie hielt<br />
Gottesdienste in schwerster Zeit, besuchte die<br />
Alten und Kranken und sprang da ein, wo<br />
Rabbinerkollegen emigriert oder inhaftiert<br />
waren. 1944 wurde sie in Auschwitz vergast.<br />
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Mit Regina Jonas hatten weiblicher Instinkt und<br />
frauliche Feinfühligkeit Einzug in das Rabbiner -<br />
amt gehalten. 1972 ordinierte das Hebrew Union<br />
College in Cincinnati Sally Priesand, 1974 das<br />
Reconstructionist Rabbinical College in Wyncote<br />
(Pennsylvania) Sandy Eisenberg Sasso, 1976 das<br />
Londoner Leo Baeck College Jacqueline Tabick,<br />
1985 das New Yorker Jewish Theological<br />
Seminary Amy Eilberg. Das <strong>Abraham</strong> <strong>Geiger</strong><br />
<strong>Kolleg</strong> an der Universität Potsdam ordinierte am<br />
4.November 2010 mit Alina Treiger die erste Frau,<br />
die seit Regina Jonas wieder in Deutschland ausgebildet<br />
worden war.<br />
Heute gibt es weltweit mehr als eintausend<br />
Rabbinerinnen, und ich bin stolz, eine von ihnen<br />
zu sein. Deshalb die Frage an Österreichs Bun -<br />
desministerin Claudia Schmied: Wieso sollten<br />
diese Rabbinerinnen, die der weltweiten Mehr -<br />
heit des nicht orthodoxen Judentums zugehören,<br />
in Österreich ihre Amtsbefugnis und Autorität<br />
abgesprochen bekommen? Steht es Österreich<br />
mit seiner Geschichte wirklich zu, einen Großteil<br />
des modernen Judentums zur Sekte herabzuwürdigen?<br />
Bitte an die Ministerin<br />
Wir Jüdinnen und Juden aus aller Welt können<br />
dies nicht zulassen. Ich bin es meinen Überzeugungen<br />
schuldig, und den Frauen, in deren Nach -<br />
folge ich mich empfinde. Und deshalb bitte ich<br />
die Frau Bundesminister im Namen von 77 progressiven<br />
jüdischen Gemeinden in meinem Land,<br />
sich für die Gleichbehandlung liberaler und<br />
ortho doxer Juden durch die Republik starkzumachen.<br />
Ich bitte Sie um die Zulassung einer liberalen<br />
jüdischen Kultusgemeinde in Österreich!<br />
Die Presse, 10. Mai 2012. Foto: Derek Tamea