Kescher - Abraham Geiger Kolleg
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„Zwei Juden - drei Meinungen" ist ein gängiger<br />
Ausdruck für die Tatsache, dass es in der jüdischen<br />
Gemeinschaft sehr unterschiedliche An -<br />
sichten gibt, die gar nicht oft unter einen Hut<br />
passen. Und warum sollte es anders ein? Auch<br />
Christen leisten sich doch von jeher Zerwürfnisse<br />
in Glaubensfragen, und es würde keiner auf die<br />
Idee kommen, den Papst in Rom zum Schieds -<br />
richter darüber zu machen. Es ist gut möglich,<br />
dass es sinnvoll ist, das Israelitengesetz von<br />
1890 zu ersetzen und die Beziehungen der<br />
Republik Österreich zu den verschiedenen jüdischen<br />
Strömungen auf eine zeitgemäße Basis zu<br />
stellen. Seit März liegt jedoch eine Regierungs -<br />
vorlage vor, die enttäuscht: Im 21. Jahrhundert<br />
soll dem Judentum staatlicherseits eine quasi<br />
hierarchische Struktur aufgezwungen werden.<br />
Die Religionsfreiheit der verschiedenen Bekennt -<br />
nisrichtungen würde wesentlich beeinträchtigt<br />
und in das Belieben einer Richtung - der Ortho -<br />
doxie - gestellt.<br />
Schlecht für Rabbinerinnen<br />
Man fragt sich, was die Abgeordneten des Natio -<br />
nalrats verbrochen haben, dass ihnen durch<br />
Bundesministerin Claudia Schmied eine solch<br />
offensichtliche Missgeburt unterbreitet wird. Im<br />
Vorblatt zur Ministerialvorlage heißt es lapidar,<br />
der Gesetzentwurf habe "keine geschlechtsspezifischen<br />
Auswirkungen". Das werden die vielen<br />
hundert Rabbinerinnen der konservativen und<br />
liberalen Bekenntnisrichtungen weltweit ganz<br />
anders sehen, wenn ihnen künftig von Staates<br />
wegen eine autoritative Ausübung des geistlichen<br />
Amtes in Österreich verwehrt bleiben<br />
wird.<br />
Vor mehr als hundert Jahren hatte der Diskurs<br />
um die Frauenordination im Judentum eingesetzt,<br />
bis 1935 schließlich Regina Jonas als erste<br />
Rabbinerin in Berlin ordiniert worden war. Das<br />
"Fräulein Rabbiner" wurde von den Nazis nach<br />
<strong>Kescher</strong><br />
Auschwitz deportiert und im Dezember 1944 vergast.<br />
Heute bilden Frauen die Mehrzahl der<br />
Anfängerklassen an nichtorthodoxen Rabbi -<br />
nerseminaren in Nordamerika.<br />
Der grundsätzliche Irrtum des Gesetzentwurfs<br />
liegt in der Annahme, beim Judentum handele es<br />
sich um eine einheitliche Religionsgemeinschaft.<br />
Anders wusste es sogar schon der Gesetzgeber<br />
von 1890: "Zwischen den extremen Richtungen in<br />
der Judenschaft, den Reformern und Orthodoxen,<br />
[...] besteht eine große, noch nicht abgeschlossene<br />
Zahl von Nuancen. Um deren Ansprüche<br />
klarzustellen, fehlt bei Abgang einer Hierarchie<br />
jedes Forum" (nachzulesen im Bericht des Aus -<br />
schusses des Abgeordnetenhauses).<br />
Ebenso stellte auch 2002 das Bundesverwal -<br />
tungs gericht in Berlin fest: "‚Das Judentum‘<br />
[stellt] ebenso wenig eine Religionsgemein -<br />
schaft im staatskirchenrechtlichen Sinne dar wie<br />
‚das Christentum‘. Vielmehr fassen solche<br />
Gattungsbegriffe verschiedene Religions -<br />
gemeinschaften im Blick auf ihre zentralen<br />
Glaubensgehalte zusammen; sie beziehen sich<br />
dagegen weder auf eine die einzelnen Religions -<br />
gemeinschaften erfassende Organisation noch<br />
auf eine zentrale Lehrautorität."<br />
In Deutschland hatte man seit 1989 einen Zuzug<br />
von fast 200.000 jüdischen Immigranten aus der<br />
ehemaligen Sowjetunion zu verzeichnen. Das<br />
Judentum wurde hierdurch lebendiger, aber das<br />
religiöse Spektrum differenzierte sich auch. Auf<br />
Bundesebene konstituierten sich seit 1997 drei<br />
Bekenntnisverbände: die Union progressiver<br />
Juden in Deutschland, Masorti Deutschland und<br />
der Bund traditioneller Juden. Am Ende einer<br />
zwanzigjährigen Entwicklung stellte 2009<br />
schließlich das Bundesverfassungsgericht in<br />
Karlsruhe fest: Es ist die Aufgabe des Staates,<br />
den Gleichheitsgrundsatz in der Behandlung der<br />
verschiedenen jüdischen Bekenntnisse anzuwen-<br />
9. Jahrgang | Ausgabe 2<br />
Ein Intoleranzedikt für Österreichs Judentum<br />
Die Neufassung des Israelitengesetzes ist eine<br />
Missgeburt - sie beschränkt das Judentum auf die<br />
Orthodoxie / von Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka<br />
den und gleiche Rahmenbedingungen zu schaffen.<br />
Diese Aufgabe ist nicht "innerjüdisch" zu<br />
organisieren. Vielmehr sind die Bekenntnis -<br />
strömungen in ihrer Unterschiedlichkeit zu be -<br />
achten und unabhängig voneinander zu würdigen.<br />
Deutsches Vorbild<br />
Der Zentralrat der Juden in Deutschland definiert<br />
sich spätestens seit 2006 als politischer Zusam -<br />
menschluss liberaler, konservativer und orthodoxer<br />
Gemeinden und Landesverbände. Dies drückt<br />
sich auch in der Einrichtung zweier Rabbiner -<br />
konferenzen aus: der Orthodoxen und der<br />
Allgemeinen Rabbinerkonferenz. Auf diese Weise<br />
ist es gelungen, dem Grundrecht auf Religions -<br />
freiheit gerecht zu werden und die staatliche<br />
Neutralität gegenüber den Bekenntnissen herzustellen.<br />
Ist das österreichische Rechtssystem<br />
dem deutschen so fremd, dass das Kultusamt im<br />
Unterrichtsministerium diese internationalen<br />
Realitäten völlig außer Acht lässt?<br />
Es ist erst wenige Monate her, dass der Präsident<br />
des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter<br />
Graumann, in der Bamberger Synagoge sein<br />
Konzept für die jüdische Gemeinschaft in<br />
Deutschland beschrieb: "Es wächst das neue plurale<br />
Judentum in Deutschland. Das ist spannend<br />
und eine Herausforderung - und wir sind schon<br />
mittendrin. Die Pluralität ist die neue jüdische<br />
Normalität in Deutschland."<br />
Diese Vision steht am Ende von zwanzig Jahren<br />
Tauziehen in der deutschen Politik und vor deutschen<br />
Gerichten um die um die Individualrechte<br />
der jüdischen Bekenntnisströmungen. Es wäre<br />
kein schöner Ausblick für Österreich, wenn<br />
Claudia Schmieds Edikt der Intoleranz wirklich<br />
Gesetz werden würde.<br />
Der Standard, 16.4.2012