17.11.2012 Aufrufe

Kescher - Abraham Geiger Kolleg

Kescher - Abraham Geiger Kolleg

Kescher - Abraham Geiger Kolleg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

28<br />

„Zwei Juden - drei Meinungen" ist ein gängiger<br />

Ausdruck für die Tatsache, dass es in der jüdischen<br />

Gemeinschaft sehr unterschiedliche An -<br />

sichten gibt, die gar nicht oft unter einen Hut<br />

passen. Und warum sollte es anders ein? Auch<br />

Christen leisten sich doch von jeher Zerwürfnisse<br />

in Glaubensfragen, und es würde keiner auf die<br />

Idee kommen, den Papst in Rom zum Schieds -<br />

richter darüber zu machen. Es ist gut möglich,<br />

dass es sinnvoll ist, das Israelitengesetz von<br />

1890 zu ersetzen und die Beziehungen der<br />

Republik Österreich zu den verschiedenen jüdischen<br />

Strömungen auf eine zeitgemäße Basis zu<br />

stellen. Seit März liegt jedoch eine Regierungs -<br />

vorlage vor, die enttäuscht: Im 21. Jahrhundert<br />

soll dem Judentum staatlicherseits eine quasi<br />

hierarchische Struktur aufgezwungen werden.<br />

Die Religionsfreiheit der verschiedenen Bekennt -<br />

nisrichtungen würde wesentlich beeinträchtigt<br />

und in das Belieben einer Richtung - der Ortho -<br />

doxie - gestellt.<br />

Schlecht für Rabbinerinnen<br />

Man fragt sich, was die Abgeordneten des Natio -<br />

nalrats verbrochen haben, dass ihnen durch<br />

Bundesministerin Claudia Schmied eine solch<br />

offensichtliche Missgeburt unterbreitet wird. Im<br />

Vorblatt zur Ministerialvorlage heißt es lapidar,<br />

der Gesetzentwurf habe "keine geschlechtsspezifischen<br />

Auswirkungen". Das werden die vielen<br />

hundert Rabbinerinnen der konservativen und<br />

liberalen Bekenntnisrichtungen weltweit ganz<br />

anders sehen, wenn ihnen künftig von Staates<br />

wegen eine autoritative Ausübung des geistlichen<br />

Amtes in Österreich verwehrt bleiben<br />

wird.<br />

Vor mehr als hundert Jahren hatte der Diskurs<br />

um die Frauenordination im Judentum eingesetzt,<br />

bis 1935 schließlich Regina Jonas als erste<br />

Rabbinerin in Berlin ordiniert worden war. Das<br />

"Fräulein Rabbiner" wurde von den Nazis nach<br />

<strong>Kescher</strong><br />

Auschwitz deportiert und im Dezember 1944 vergast.<br />

Heute bilden Frauen die Mehrzahl der<br />

Anfängerklassen an nichtorthodoxen Rabbi -<br />

nerseminaren in Nordamerika.<br />

Der grundsätzliche Irrtum des Gesetzentwurfs<br />

liegt in der Annahme, beim Judentum handele es<br />

sich um eine einheitliche Religionsgemeinschaft.<br />

Anders wusste es sogar schon der Gesetzgeber<br />

von 1890: "Zwischen den extremen Richtungen in<br />

der Judenschaft, den Reformern und Orthodoxen,<br />

[...] besteht eine große, noch nicht abgeschlossene<br />

Zahl von Nuancen. Um deren Ansprüche<br />

klarzustellen, fehlt bei Abgang einer Hierarchie<br />

jedes Forum" (nachzulesen im Bericht des Aus -<br />

schusses des Abgeordnetenhauses).<br />

Ebenso stellte auch 2002 das Bundesverwal -<br />

tungs gericht in Berlin fest: "‚Das Judentum‘<br />

[stellt] ebenso wenig eine Religionsgemein -<br />

schaft im staatskirchenrechtlichen Sinne dar wie<br />

‚das Christentum‘. Vielmehr fassen solche<br />

Gattungsbegriffe verschiedene Religions -<br />

gemeinschaften im Blick auf ihre zentralen<br />

Glaubensgehalte zusammen; sie beziehen sich<br />

dagegen weder auf eine die einzelnen Religions -<br />

gemeinschaften erfassende Organisation noch<br />

auf eine zentrale Lehrautorität."<br />

In Deutschland hatte man seit 1989 einen Zuzug<br />

von fast 200.000 jüdischen Immigranten aus der<br />

ehemaligen Sowjetunion zu verzeichnen. Das<br />

Judentum wurde hierdurch lebendiger, aber das<br />

religiöse Spektrum differenzierte sich auch. Auf<br />

Bundesebene konstituierten sich seit 1997 drei<br />

Bekenntnisverbände: die Union progressiver<br />

Juden in Deutschland, Masorti Deutschland und<br />

der Bund traditioneller Juden. Am Ende einer<br />

zwanzigjährigen Entwicklung stellte 2009<br />

schließlich das Bundesverfassungsgericht in<br />

Karlsruhe fest: Es ist die Aufgabe des Staates,<br />

den Gleichheitsgrundsatz in der Behandlung der<br />

verschiedenen jüdischen Bekenntnisse anzuwen-<br />

9. Jahrgang | Ausgabe 2<br />

Ein Intoleranzedikt für Österreichs Judentum<br />

Die Neufassung des Israelitengesetzes ist eine<br />

Missgeburt - sie beschränkt das Judentum auf die<br />

Orthodoxie / von Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka<br />

den und gleiche Rahmenbedingungen zu schaffen.<br />

Diese Aufgabe ist nicht "innerjüdisch" zu<br />

organisieren. Vielmehr sind die Bekenntnis -<br />

strömungen in ihrer Unterschiedlichkeit zu be -<br />

achten und unabhängig voneinander zu würdigen.<br />

Deutsches Vorbild<br />

Der Zentralrat der Juden in Deutschland definiert<br />

sich spätestens seit 2006 als politischer Zusam -<br />

menschluss liberaler, konservativer und orthodoxer<br />

Gemeinden und Landesverbände. Dies drückt<br />

sich auch in der Einrichtung zweier Rabbiner -<br />

konferenzen aus: der Orthodoxen und der<br />

Allgemeinen Rabbinerkonferenz. Auf diese Weise<br />

ist es gelungen, dem Grundrecht auf Religions -<br />

freiheit gerecht zu werden und die staatliche<br />

Neutralität gegenüber den Bekenntnissen herzustellen.<br />

Ist das österreichische Rechtssystem<br />

dem deutschen so fremd, dass das Kultusamt im<br />

Unterrichtsministerium diese internationalen<br />

Realitäten völlig außer Acht lässt?<br />

Es ist erst wenige Monate her, dass der Präsident<br />

des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter<br />

Graumann, in der Bamberger Synagoge sein<br />

Konzept für die jüdische Gemeinschaft in<br />

Deutschland beschrieb: "Es wächst das neue plurale<br />

Judentum in Deutschland. Das ist spannend<br />

und eine Herausforderung - und wir sind schon<br />

mittendrin. Die Pluralität ist die neue jüdische<br />

Normalität in Deutschland."<br />

Diese Vision steht am Ende von zwanzig Jahren<br />

Tauziehen in der deutschen Politik und vor deutschen<br />

Gerichten um die um die Individualrechte<br />

der jüdischen Bekenntnisströmungen. Es wäre<br />

kein schöner Ausblick für Österreich, wenn<br />

Claudia Schmieds Edikt der Intoleranz wirklich<br />

Gesetz werden würde.<br />

Der Standard, 16.4.2012

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!