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The Red Bulletin März 2015 - DE

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READ BULL<br />

<strong>The</strong><br />

Night the<br />

Wrestling<br />

Was Real<br />

Von Joey Goebel<br />

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog<br />

Adam Joseph „Joey“ Goebel III.<br />

Geboren 1980 in Kentucky/USA, wo er bis heute lebt.<br />

Bekanntheit erlangte Goebel durch seine Romane „<strong>The</strong><br />

Anomalies“ (2003), „Torture the Artist“ (2004), „Commonwealth“<br />

(2008) und den nur auf Deutsch erschienenen „Ich<br />

gegen Osborne“ (2013), in denen er auf satirisch-zynische<br />

Weise die Mittelmäßigkeiten seiner Kleinstadtumgebung<br />

seziert. Bevor Goebel als Schriftsteller bekannt wurde, tourte<br />

er als Frontmann, Gitarrist und Liederschreiber der Punkband<br />

<strong>The</strong> Mullets durch den Mittleren<br />

Westen der USA – weshalb<br />

Goebel auch noch immer lieber<br />

in Punkrockclubs liest statt in<br />

Gemeindesälen. Auch aktuell<br />

verbindet Goebel, der in den<br />

USA bereits Kultstatus erreicht<br />

hat, Musik und Schreiben: Als<br />

Dr. Lawyer spielte er das Album<br />

„Come Fail with Me“ ein, bei dem<br />

auch seine Ex-Frau Micah als<br />

Backgroundsängerin dabei ist.<br />

Wenn die Wrestler in unsere Stadt kamen,<br />

begab ich mich jedes Mal in der Hoffnung,<br />

dem einen oder anderen zu begegnen, in das<br />

Hotel, wo die meisten von ihnen abstiegen.<br />

Schon als Kind hatte mich Profi-Wrestling<br />

begeistert, mich faszinierte die Vorstellung, dass zwei Männer<br />

scheinbar versuchten, einander umzubringen, nur um sich<br />

anschließend im Umkleideraum darüber zu amüsieren. Manchmal<br />

beobachtete ich im Ambassador Inn sogar, wie zwei Erzfeinde<br />

zusammen ein Bier tranken – ein wunderbares Bild, wie<br />

ich fand. Doch meine interessanteste Begegnung in diesem Hotel<br />

war die mit einem Ringrichter. Er trank allein in der Hotelbar<br />

ein Bier, und auch wenn er statt des üblichen schwarz-weiß<br />

gestreiften Shirts ein Flanellhemd trug, erkannte ich sein hartes,<br />

vom Touren müdes Gesicht.<br />

„Verzeihung, aber sind Sie nicht Lyle Krebner, der Ringrichter?“<br />

– „Und ob.“ – „Ich bin ein großer Wrestlingfan. Darf ich Ihnen<br />

den nächsten Drink ausgeben?“ – Er nickte Richtung Barhocker,<br />

auf dem sitzend ich an diesem Abend viele Miller Lite vom Fass<br />

mit ihm trinken sollte. Meine Fragen störten ihn kein bisschen.<br />

Er war in den besten Jahren, doch wegen seiner Müdigkeit<br />

wirkte er älter, und anscheinend bewirkte diese Müdigkeit, dass<br />

er so offen über den ungewöhnlichen Beruf sprach, für den er<br />

sich entschieden hatte. Er war wohl so müde, dass es ihm nichts<br />

ausmachte, welche Geheimnisse er verriet. Und so bekam ich<br />

wegen seiner Müdigkeit, meiner Neugier (und der Biere) die<br />

beste Wrestling-Geschichte erzählt, die ich je gehört hatte.<br />

„Vor vielleicht 15 Jahren hatten wir einen Wrestler – du<br />

erinnerst sich bestimmt an ihn –, der Ornery Olsen hieß.“<br />

„Na klar! Er war aber nicht lange dabei. Ich hab mich immer<br />

gefragt, was aus dem wohl geworden ist.“<br />

„Nun, das werd ich dir verraten. Eines Abends verlor Ornery<br />

alles. An einem einzigen beschissenen Abend. Und das Traurige<br />

ist, in den Wochen vor diesem Abend hatten die Fans allmählich<br />

angefangen, ihn zu mögen, was überhaupt nicht vorgesehen<br />

war. Sein Gimmick war der, dass er der gemeinste, fieseste,<br />

abstoßendste Widerling auf Erden sein sollte. Für diesen Kerl<br />

gab es keine Tabus. Du erinnerst dich doch. Man platzierte einen<br />

Fan in der ersten Reihe, und den spuckte er an. Im Ring konzentrierte<br />

er sich darauf, den Pimmel und die Eier seiner Gegner zu<br />

attackieren. Wenn er einen Kampf gewonnen hatte, tat er jedes<br />

Mal so, als wolle er auf den Verlierer scheißen, was die Ringrichter<br />

stets im letzten Moment verhinderten. Ornery selbst<br />

hasste diesen Gimmick. Im wirklichen Leben war er der liebste,<br />

sanfteste Mensch, den man sich nur denken konnte. Er war ein<br />

Familienmensch. Total ruhig und höflich. Doch er verkaufte<br />

seine Nummer gut, und natürlich mochten ihn die Fans umso<br />

lieber, je fieser er wurde. Er war der Bösewicht. Eigentlich sollten<br />

sie ihn hassen, aber, nun ja, so sind die Leute nun mal.<br />

Und so beschloss der für den Ablauf der Shows zuständige<br />

Booker, den Leuten das zu geben, was sie haben wollten. Ornery<br />

sollte von einem ‚Heel‘, einem Bösen, zu einem ‚Babyface‘, einem<br />

Guten, werden, und von da an stand ihm die Wrestlingwelt offen<br />

– alles war möglich. Doch dazu kam es nie, wegen dieses einen<br />

Abends. Der nicht mal im Fernsehen übertragen wurde. Es war<br />

eine kleine Veranstaltung in Evansville, Indiana. Ein Kampf<br />

gegen Andy Armstrong.“<br />

„Den Typ hab ich nie gemocht.“<br />

„Keiner kann ihn leiden. Der Typ hat sich vom ersten Tag an<br />

aufgeführt, als gehörte ihm der Laden. Zu seiner Verteidigung<br />

muss man anmerken, dass die Booker und das Management sein<br />

Ego aufbauten, weil sie ihn von Anfang an gepusht haben.“ –<br />

„Du meinst seine Siegesserie.“ – „Genau. Ich fand diese Sieges-<br />

REGINE MOSIMANN/DIOGENES VERLAG<br />

94 THE RED BULLETIN

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