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READ BULL<br />
<strong>The</strong><br />
Night the<br />
Wrestling<br />
Was Real<br />
Von Joey Goebel<br />
Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog<br />
Adam Joseph „Joey“ Goebel III.<br />
Geboren 1980 in Kentucky/USA, wo er bis heute lebt.<br />
Bekanntheit erlangte Goebel durch seine Romane „<strong>The</strong><br />
Anomalies“ (2003), „Torture the Artist“ (2004), „Commonwealth“<br />
(2008) und den nur auf Deutsch erschienenen „Ich<br />
gegen Osborne“ (2013), in denen er auf satirisch-zynische<br />
Weise die Mittelmäßigkeiten seiner Kleinstadtumgebung<br />
seziert. Bevor Goebel als Schriftsteller bekannt wurde, tourte<br />
er als Frontmann, Gitarrist und Liederschreiber der Punkband<br />
<strong>The</strong> Mullets durch den Mittleren<br />
Westen der USA – weshalb<br />
Goebel auch noch immer lieber<br />
in Punkrockclubs liest statt in<br />
Gemeindesälen. Auch aktuell<br />
verbindet Goebel, der in den<br />
USA bereits Kultstatus erreicht<br />
hat, Musik und Schreiben: Als<br />
Dr. Lawyer spielte er das Album<br />
„Come Fail with Me“ ein, bei dem<br />
auch seine Ex-Frau Micah als<br />
Backgroundsängerin dabei ist.<br />
Wenn die Wrestler in unsere Stadt kamen,<br />
begab ich mich jedes Mal in der Hoffnung,<br />
dem einen oder anderen zu begegnen, in das<br />
Hotel, wo die meisten von ihnen abstiegen.<br />
Schon als Kind hatte mich Profi-Wrestling<br />
begeistert, mich faszinierte die Vorstellung, dass zwei Männer<br />
scheinbar versuchten, einander umzubringen, nur um sich<br />
anschließend im Umkleideraum darüber zu amüsieren. Manchmal<br />
beobachtete ich im Ambassador Inn sogar, wie zwei Erzfeinde<br />
zusammen ein Bier tranken – ein wunderbares Bild, wie<br />
ich fand. Doch meine interessanteste Begegnung in diesem Hotel<br />
war die mit einem Ringrichter. Er trank allein in der Hotelbar<br />
ein Bier, und auch wenn er statt des üblichen schwarz-weiß<br />
gestreiften Shirts ein Flanellhemd trug, erkannte ich sein hartes,<br />
vom Touren müdes Gesicht.<br />
„Verzeihung, aber sind Sie nicht Lyle Krebner, der Ringrichter?“<br />
– „Und ob.“ – „Ich bin ein großer Wrestlingfan. Darf ich Ihnen<br />
den nächsten Drink ausgeben?“ – Er nickte Richtung Barhocker,<br />
auf dem sitzend ich an diesem Abend viele Miller Lite vom Fass<br />
mit ihm trinken sollte. Meine Fragen störten ihn kein bisschen.<br />
Er war in den besten Jahren, doch wegen seiner Müdigkeit<br />
wirkte er älter, und anscheinend bewirkte diese Müdigkeit, dass<br />
er so offen über den ungewöhnlichen Beruf sprach, für den er<br />
sich entschieden hatte. Er war wohl so müde, dass es ihm nichts<br />
ausmachte, welche Geheimnisse er verriet. Und so bekam ich<br />
wegen seiner Müdigkeit, meiner Neugier (und der Biere) die<br />
beste Wrestling-Geschichte erzählt, die ich je gehört hatte.<br />
„Vor vielleicht 15 Jahren hatten wir einen Wrestler – du<br />
erinnerst sich bestimmt an ihn –, der Ornery Olsen hieß.“<br />
„Na klar! Er war aber nicht lange dabei. Ich hab mich immer<br />
gefragt, was aus dem wohl geworden ist.“<br />
„Nun, das werd ich dir verraten. Eines Abends verlor Ornery<br />
alles. An einem einzigen beschissenen Abend. Und das Traurige<br />
ist, in den Wochen vor diesem Abend hatten die Fans allmählich<br />
angefangen, ihn zu mögen, was überhaupt nicht vorgesehen<br />
war. Sein Gimmick war der, dass er der gemeinste, fieseste,<br />
abstoßendste Widerling auf Erden sein sollte. Für diesen Kerl<br />
gab es keine Tabus. Du erinnerst dich doch. Man platzierte einen<br />
Fan in der ersten Reihe, und den spuckte er an. Im Ring konzentrierte<br />
er sich darauf, den Pimmel und die Eier seiner Gegner zu<br />
attackieren. Wenn er einen Kampf gewonnen hatte, tat er jedes<br />
Mal so, als wolle er auf den Verlierer scheißen, was die Ringrichter<br />
stets im letzten Moment verhinderten. Ornery selbst<br />
hasste diesen Gimmick. Im wirklichen Leben war er der liebste,<br />
sanfteste Mensch, den man sich nur denken konnte. Er war ein<br />
Familienmensch. Total ruhig und höflich. Doch er verkaufte<br />
seine Nummer gut, und natürlich mochten ihn die Fans umso<br />
lieber, je fieser er wurde. Er war der Bösewicht. Eigentlich sollten<br />
sie ihn hassen, aber, nun ja, so sind die Leute nun mal.<br />
Und so beschloss der für den Ablauf der Shows zuständige<br />
Booker, den Leuten das zu geben, was sie haben wollten. Ornery<br />
sollte von einem ‚Heel‘, einem Bösen, zu einem ‚Babyface‘, einem<br />
Guten, werden, und von da an stand ihm die Wrestlingwelt offen<br />
– alles war möglich. Doch dazu kam es nie, wegen dieses einen<br />
Abends. Der nicht mal im Fernsehen übertragen wurde. Es war<br />
eine kleine Veranstaltung in Evansville, Indiana. Ein Kampf<br />
gegen Andy Armstrong.“<br />
„Den Typ hab ich nie gemocht.“<br />
„Keiner kann ihn leiden. Der Typ hat sich vom ersten Tag an<br />
aufgeführt, als gehörte ihm der Laden. Zu seiner Verteidigung<br />
muss man anmerken, dass die Booker und das Management sein<br />
Ego aufbauten, weil sie ihn von Anfang an gepusht haben.“ –<br />
„Du meinst seine Siegesserie.“ – „Genau. Ich fand diese Sieges-<br />
REGINE MOSIMANN/DIOGENES VERLAG<br />
94 THE RED BULLETIN