EINFACH ≠ EINFACH
Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC Ausgabe 07/2015
Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 07/2015
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WORK-LIFE-BALANCE<br />
MEHR DENN JE<br />
GEFRAGT<br />
gestalten. Werden heute bei einem<br />
Maturatreffen von Mitvierzigern die<br />
Kinderfotos herumgereicht, so sind<br />
dies Bilder von Menschen zwischen<br />
zwei und zwanzig Jahren. Arbeit, Kinder<br />
und andere (familiäre) Verpfl ichtungen<br />
unter einen Hut zu bringen ist<br />
alles andere als einfach, verlangt nach<br />
Multitasking und Improvisations kunst.<br />
Steigen die Anforderungen im System<br />
Familie, so muss wie in einem Unternehmen<br />
eine entsprechend gute<br />
Organisationsstruktur und faire<br />
Arbeits aufteilung unter Einbeziehung<br />
freiwilliger und eventuell auch bezahlter<br />
Hilfe her. Das „Familienprogramm“<br />
wird zudem regelmäßige Updates<br />
brauchen, um mit den sich ändernden<br />
Bedingungen übereinzustimmen. Die<br />
Komplexität des Alltags, die Gesamtheit<br />
und der Zusammenhang der<br />
zu bewältigenden Aufgaben wird<br />
schließlich um ein paar Termine und<br />
Pläne reduziert werden müssen:<br />
Das Konzertabonnement, die Überstunden,<br />
den Baby-Englischkurs, den<br />
Elternsprechtag, den Zweitwohnsitz.<br />
Trotz Abstrichen bleibt in der so genannten<br />
Rushhour des Lebens, also<br />
in jener Phase, wo sich die Aufgaben<br />
und Anforderungen türmen, noch<br />
immer genug zu tun.<br />
Vor diesem Hintergrund stehen auch<br />
Unternehmen vor neuen Herausforderungen.<br />
Die Organisationskunst der<br />
Manpower reicht heute längst über<br />
die Grenzen des Betriebs hinaus ins<br />
Private. Immer deutlicher zeigt sich<br />
der Trend zur individualisierten Personalarbeit.<br />
Programme nach dem Top-<br />
Down-Prinzip über große Teile der<br />
Belegschaft zu stülpen, ist nicht mehr<br />
zeitgemäß. Heute werden die Mitarbeiter<br />
zunehmend einbezogen, werden<br />
angehalten, ihren Arbeitsplatz zu<br />
bewerten und Stressfaktoren beim<br />
Namen zu nennen.<br />
Der Zeitgeist verlangt es, unermüdlich<br />
Unternehmer seiner selbst zu sein<br />
und auch das kann ganz schön anstrengend<br />
werden. Manchmal will<br />
man auch nur Instandhalter seines<br />
Lebens sein. In der Überfl uss- und<br />
Leistungsgesellschaft ist deshalb die<br />
Sehnsucht nach Vereinfachung die<br />
andere Seite der Medaille, die (gedankliche)<br />
Flucht in eine Idylle des<br />
Schlichten; eine Art Entschleunigungsrefl<br />
ex.<br />
DER WUNSCH NACH<br />
DEM <strong>EINFACH</strong>EN<br />
LEBEN WAR IMMER<br />
WIEDER EN VOGUE<br />
All das ist freilich nicht neu. Weglassen,<br />
dann wird alles besser, ist<br />
der Grundgedanke vieler Heilslehren.<br />
Mehrere christliche Orden haben sich<br />
bereits vor Jahrhunderten dem einfachen<br />
Leben verschrieben. Scheinheiliger<br />
war wohl die Sehnsucht der<br />
Aristokratie des Barock nach idealisierter<br />
Einfachheit, die in nachgebauten<br />
Bauernhäusern neben ihren pompösen<br />
Schlössern Landleben spielten.<br />
Die heutigen Downshifter sind neben<br />
rein ökonomischen Beweggründen<br />
geistige Nachfahren der Aussteiger<br />
der 1960er und 70er Jahre, die die<br />
vermeintlich sinnentleerten Wohlstandsideale<br />
der Mittelschicht in<br />
Frage stellten.<br />
ÜBERFLUSS WECKT<br />
DAS BEDÜRFNIS NACH<br />
DEM <strong>EINFACH</strong>EN<br />
Diese Suche nach dem Einfachen ist<br />
jedoch im Grunde ein Luxus – ein<br />
Luxusproblem. Extremes Aufräumen,<br />
das „Entmüllen“ sämtlicher Lebensbereiche,<br />
bewusster Konsum; um<br />
diese Fragen ist längst eine Industrie<br />
entstanden. Ein Standardwerk<br />
zum Reduktionstrend ist der Megaseller<br />
„Simplify your Life“, mit dem ein<br />
evangelischer Pfarrer und ein Zeitmanagement-Experte<br />
bereits um die<br />
Jahrtausendwende einen Vereinfachungs-Guide<br />
vorlegten und damit<br />
den Nerv der Zeit trafen. Das Buch<br />
gibt klare, einfache Anweisungen, wie<br />
man in sämtlichen Lebensbereichen<br />
drastisch reduziert. Das Programm<br />
verläuft von außen nach innen, von<br />
Stufe 1: „Vereinfachen Sie Ihre<br />
Sachen“, über die Finanzen, Zeit,<br />
Gesundheit, Beziehungen, die<br />
Partnerschaft bis letztlich mit abgeschlossener<br />
Stufe 7 das Ziel erreicht<br />
ist: „Vereinfachen Sie sich selbst.“ Da<br />
muss man kurz schlucken. Ist die Ultima<br />
ratio, ein Einfaltspinsel zu werden?<br />
DER MENSCH<br />
WÄCHST AN DER<br />
HERAUSFORDERUNG<br />
Wie unterkomplex, wie einfach gestrickt,<br />
dürfen wir sein, um im Jetzt<br />
zu leben und die Chancen unserer<br />
Zeit wahrzunehmen? Selbst wenn der<br />
Alltag komplexer geworden ist und<br />
Stressoren dazugekommen sein mögen,<br />
der Mensch wächst an seinen<br />
Aufgaben. Mit der Modernisierung der<br />
Welt modernisiere sich eben auch das<br />
Seelenleben des modernen Menschen,<br />
argumentieren etwa die Psychologen<br />
Martin Dornes und Martin Altmeyer<br />
in der deutschen Wochenzeitung<br />
„Die Zeit“. Beschleunigung, Globalisierung,<br />
berufl iche Mobilität, Pluralismus<br />
der Werte und Lebensstile<br />
sowie Flexibilität sind nicht nur Anforderungen,<br />
sondern bieten vor allem<br />
neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung<br />
und Erweiterung des Horizonts.<br />
Die moderne Arbeitswelt ist<br />
mit ihren Ansprüchen zur Teamfähigkeit,<br />
Eigeninitiative und Selbstorganisation<br />
zweifellos fordernder als einst,<br />
doch sollte man der Monotonie auslaufender<br />
Berufswelten deshalb nachtrauern?<br />
KOMPLEXITÄT IST KEINE<br />
NEUERFINDUNG. NEU IST<br />
DIE GESCHWINDIGKEIT,<br />
MIT DER SIE STEIGT<br />
„Komplex ist nahezu ein Synonym für<br />
intelligent“, betont Kybernetikerin<br />
Maria Pruckner. Die Kybernetik ist<br />
die Wissenschaft der Steuerung und<br />
Regelung in Maschinen, lebenden<br />
Organismen und sozialen Organisationen<br />
und wird auch als die Kunst des<br />
Steuerns beschrieben. Sie hilft zu verstehen,<br />
wie Eigendynamiken und das<br />
Funktionieren an sich funktionieren.<br />
Die Systemwissenschaft Kybernetik<br />
spielt insbesondere in der Managementlehre<br />
eine immer wichtigere Rolle.<br />
„Komplexität gab es auch früher, doch<br />
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