VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE - Institut für ...
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352 Dirk Stegmann<br />
Bei aller Erfolglosigkeit des Kartells, das bestehende verfassungspolitische System<br />
im konservativen Sinne umzugestalten, war die hier vereinigte Mächtegruppie<br />
rung doch stark genug, alle zaghaften Ansätze zur Demokratisierung und Parla<br />
mentarisierung erfolgreich zu blockieren; denn die Regierung, unter dem Druck<br />
von rechts und links, suchte eine Politik der Mitte zu steuern, die objektiv darauf<br />
hinauslief, das bestehende System festzuschreiben 108 . Dadurch, daß sie zusätzlich<br />
unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Rezession im Winter 1913/14 und ange<br />
sichts der Pressionen der Wirtschaftsverbände im Frühjahr einen Stopp der gesetz<br />
lichen Sozialpolitik verfügte, um dem Kartell auf Einzelgebieten entgegenzukom<br />
men, wurde die Kluft zwischen Sozialdemokratie, Freien Gewerkschaften und Bür<br />
gertum wieder erneut aufgerissen. Der Immobilismus der deutschen Politik vor<br />
Kriegsausbruch war insgesamt ein Reflex auf die Formierung des Kartells der<br />
schaffenden Stände.<br />
Der Bdl verhielt sich dem Kartell gegenüber von Anfang an mehr oder weniger<br />
deutlich ablehnend 109 , und zwar aus sozial- und wirtschaftspolitischen, aber auch<br />
aus verfassungspolitischen Gründen 110 . Stresemann hatte bereits am 12. August<br />
1913, d. h. rund 12 Tage vor dem ersten öffentlichen Auftreten des Rechtskartells<br />
in Leipzig, als in der Presse die ersten Hinweise auf ein förmliches Bündnis auf<br />
tauchten, gegenüber dem Bdl-Vorsitzenden Friedrichs seine Ablehnung begründet,<br />
hrsg. v. H.-U. Wehler, Köln 1966, S. 549, spricht er von einer Polarisierung der Nachwuchskräfte<br />
in eine „plebiszitär-diktatorische und eine demokratisch-parlamentarische Richtung"<br />
hei partiellem Machtverlust der Krone, hei der die zweite Linie die schwächere Strömung<br />
gebildet habe. Dieser Interpretation folgt auch F. Fischer, Krieg der Illusionen, Die deutsche<br />
Politik von 1911 bis 1914, 2. Aufl. 1973, S. 412, und C. Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung<br />
im Kaiserreich, Zur Innen- und Sozialpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903<br />
bis 1914, Düsseldorf 1974, S. 382ff.; andere Autoren wie G. Schmidt, Innenpolitische Blockbildung<br />
in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,<br />
Beilage zum ,Parlament', B 20, 1972, S. 3 ff., (modifiziert wiederaufgenommen<br />
in: ders.-, Parlamentarisierung oder ,Präventive Konterrevolution'? Die deutsche Innenpolitik<br />
im Spannungsfeld konservativer Sammlungsbewegungen und latenter Reformbestrebungen<br />
1907-1914, in: G.A.Ritter [Hrsg.], Gesellschaft, Parlament und Regierung, Zur Geschichte<br />
des Parlamentarismus in Deutschland, Düsseldorf 1974, S. 249 ff.), und Mielke (der<br />
im wesentlichen die Thesen Schmidts übernimmt) haben davon abweichend die Theorie der<br />
Herausbildung einer sog. Konzeption der Mitte vertreten, die m. E. kaum empirisch belegbar<br />
ist, betrachtet man die Gesamtheit der sozial-, wirtschafts- und verfassungspolitischen Entwicklung<br />
des Deutschen Reiches vor Kriegsausbruch. Beide Autoren scheinen mir Entwicklungen<br />
im Kriege, die zur Bildung des Interfraktionellen Ausschusses 1917 führten, zurückzuprojizieren.<br />
108 Vgl. dazu neben Stegmann, S. 277, 392, 418ff. jetzt noch: Saul, passim; ders., Der Kampf<br />
um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1<br />
(1971), S. 215; P.-Chr. Witt, Reichsfinanzen und Rüstungspolitik 1898-1914, in: Marine<br />
und Marinepolitik im Kaiserlichen Deutschland 1871-1914, hrsg. von H. Schottelius u.<br />
W. Deist, Düsseldorf 1973, bes. S. 177; H. v. Raumer, Die Zentralarbeitsgemeinschaft, in:<br />
Der Weg zum industriellen Spitzenverband, 1956, S. 105.<br />
109 Vgl. die Belege bei Stegmann, S. 392.<br />
110 Ständestaatliche Modelle wurden im Bdl nur ganz vereinzelt entwickelt, vgl. Pausewang,<br />
S. 27 (1906).