4 Rechtliche Gleichstellung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>nIn vielen Regierungen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Territorien zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> so auch<strong>de</strong>s Großherzogtums Hessen wur<strong>de</strong> zwar viel über die rechtliche <strong>und</strong> politische Gleichstellung<strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n diskutiert, „aber erst langsam setzte sich [...] <strong>de</strong>r Gedanke durch, daß die miserableSituation <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n nicht <strong>de</strong>ren eigene Schuld, son<strong>de</strong>rn die Schuld <strong>de</strong>r Verhältnisse sei, unter<strong>de</strong>nen sie im christlichen Staat existieren mußten. Wer die Ju<strong>de</strong>n än<strong>de</strong>rn wollte dies war dieAnsicht aufgeklärter Beamter — mußte die Bed<strong>in</strong>gungen än<strong>de</strong>rn, unter <strong>de</strong>nen sie zu leben hatten“[Ju<strong>de</strong>n Hessen, zit. S. ..].Zwar versprach die großherzoglich-hessische Verfassung von 1820 <strong>de</strong>m jüdischen Bevölkerungsanteilim Pr<strong>in</strong>zip die völlige rechtliche <strong>und</strong> staatsbürgerliche Gleichstellung, es waren damitjedoch Bed<strong>in</strong>gungen verknüpft, die zu dieser Zeit nur von wenigen Landju<strong>de</strong>n zu erfüllen waren.Um Ju<strong>de</strong>n vom Han<strong>de</strong>l — ihrem Hauptbroterwerb — wegzubr<strong>in</strong>gen, war das Staatsbürgerrechtfür jüdische Händler mit enormen Kosten verb<strong>und</strong>en. Nur wer als Ju<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e landwirtschaftlicheo<strong>de</strong>r handwerkliche [S. 245] Tätigkeit anstrebte, bekam solche H<strong>in</strong><strong>de</strong>rnisse nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Weg gelegt.Daß an dieser Stelle alte überkommene zünftische Mentalitäten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r geschlossene Kreise<strong>in</strong>er bäuerlichen Dorfgeme<strong>in</strong>schaft, Barrieren errichten könnten, sche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>n Gesetzgebern nicht<strong>in</strong> <strong>de</strong>n S<strong>in</strong>n gekommen zu se<strong>in</strong> [Bo<strong>de</strong>nheimer 1931a, S. 23] [Günther 1853a, S. ..].Es w<strong>und</strong>ert daher nicht, daß sich die Geme<strong>in</strong><strong>de</strong> Daubr<strong>in</strong>gen beispielsweise noch 1865 erst nachvielen Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n zur Aufnahme von Aron Mormelste<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>em Sohn <strong>de</strong>s Salomon Mormelste<strong>in</strong>,als Ortsbürger bereit erklärte. Mormelste<strong>in</strong> hatte bereits 1849 um Aufnahme nachgesucht.Bis dato galt er weiterh<strong>in</strong> als hessischer Schutzju<strong>de</strong>. 1850 wur<strong>de</strong> die Geme<strong>in</strong><strong>de</strong> von e<strong>in</strong>er Regierungskommissionangewiesen „die Erledigung voranzutreiben“. Man verschleppte sche<strong>in</strong>bar<strong>de</strong>n Fall von Seiten <strong>de</strong>s Bürgermeisters Hämmerle, so daß es zwischen Hämmerle <strong>und</strong> Mormelste<strong>in</strong>um 1860 sogar zu persönlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungen kam. Das Kreisamt Gießen mußteschließlich 1865 anweisen:„Da Bittsteller [Mormelste<strong>in</strong>] mehr als das gesetzliche Inferendum [M<strong>in</strong><strong>de</strong>stkapitalvon 4.000 Gul<strong>de</strong>n] nachgewiesen hat <strong>und</strong> <strong>de</strong>r gute Ruf <strong>und</strong> die Ernährnungsfähigkeit<strong>de</strong>sselben vom Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>rath nicht bestritten wor<strong>de</strong>n ist, so verwerfen wir hiermit<strong>de</strong>n von letzterem erhobenen Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die ortsbürgerliche Aufnahme<strong>de</strong>s Obengenannten als unbegrün<strong>de</strong>t <strong>und</strong> weisen Sie an, <strong>de</strong>nselben nach Erfüllungaller Leistungen <strong>in</strong>s Ortsbürger-Register e<strong>in</strong>zutragen. Der Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>rath ist hiervon<strong>in</strong> Kenntnis zu setzen.“ 23Auch Hirsch Löwenste<strong>in</strong> machte man es 1858 von Seiten <strong>de</strong>r Geme<strong>in</strong><strong>de</strong> nicht gera<strong>de</strong> e<strong>in</strong>fachmit se<strong>in</strong>em Gesuch um Aufnahme als Ortsbürger <strong>in</strong> Daubr<strong>in</strong>gen. <strong>Die</strong> wirtschaftlichen Motive<strong>de</strong>r verantwortlichen Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>räte <strong>und</strong> Bürgermeister s<strong>in</strong>d daraus ersichtlich, daß von Löwenste<strong>in</strong>schon außeror<strong>de</strong>ntliche E<strong>in</strong>zugsgel<strong>de</strong>r erhoben wur<strong>de</strong>n, bevor er „als Neue<strong>in</strong>ziehen<strong>de</strong>(r)[...] wirklich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Genuß von bestehen<strong>de</strong>n Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>nutzungen e<strong>in</strong>gewiesen“ wor<strong>de</strong>n war. 2423 StdtA Stfbg., Best. Daubr<strong>in</strong>gen, A 242, A 24524 StdtA Stfbg., Best. Daubr<strong>in</strong>gen, A 24920
Insgesamt muß <strong>in</strong> diesem Zusammenhang allerd<strong>in</strong>gs auch immer auf die beson<strong>de</strong>rs schlechtenwirtschaftichen <strong>und</strong> sozialen Verhältnisse <strong>in</strong> vielen oberhessischen Dörfern <strong>und</strong> gera<strong>de</strong> auch <strong>in</strong>Daubr<strong>in</strong>gen verwiesen wer<strong>de</strong>n.Abbildung 8: Vorschrift zur Führung <strong>de</strong>r Personenstandsregister aus <strong>de</strong>m Registerband für jüdischeGeburten, Trauungen <strong>und</strong> Beerdigungen <strong>in</strong> Staufenberg (Stadtarchiv Staufenberg)[S. 245]<strong>Die</strong> großherzogliche Verwaltung versuchte <strong>in</strong> dieser Situation zunächst vor allem, auch diejüdischen Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>n stärker unter die Kontrolle <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong>n zu br<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>fluß auf religiöseSitten <strong>und</strong> Gebräuche zu gew<strong>in</strong>nen. Letzteres geschah nunmehr weniger — wie noch <strong>in</strong><strong>de</strong>n Jahrh<strong>und</strong>erten zuvor — mit <strong>de</strong>m Ziel, die Ju<strong>de</strong>n von ihrem verme<strong>in</strong>tlich falschen, ja unwürdigenGlauben abzubr<strong>in</strong>gen. Vielmehr g<strong>in</strong>g es um die Durchsetzung allgeme<strong>in</strong>er Maßgabenim Rahmen e<strong>in</strong>es sich als aufgeklärt verstehen<strong>de</strong>n Staates. Auch sollten kulturelle <strong>und</strong> religiöse21