horizonte - der Koordinierungsstelle - Hochschule Mannheim
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Das studentische Team: Steffen Erb, Myriam<br />
Hihn, Dominik Kropp (Fotos: Christian<br />
Schüll, chris.schuell@yahoo.de<br />
raschung ist die rege Teilnahme an <strong>der</strong><br />
Dorfversammlung und das Interesse an<br />
unserem Forschungsprojekt. Die BewohnerInnen<br />
lesen sich aufmerksam<br />
unsere Projektbeschreibung durch. Wir<br />
kündigen dort einen weiteren Besuch<br />
an, bei dem einer von uns eine Nacht<br />
im Dorf verbringen möchte. „Bringt<br />
Bier und Würstchen mit”, for<strong>der</strong>t uns<br />
Kalle auf. Diese Einladung zum gemeinsamen<br />
Grillen macht uns zuversichtlich,<br />
dass wir Zugang zu diesen<br />
Menschen fi nden werden.<br />
Nach <strong>der</strong> ersten Euphorie über das<br />
Treffen beschäftigt uns die Frage, ob<br />
wir beim nächsten Mal wirklich Alkohol<br />
mitnehmen wollen. Wir werden<br />
mit unseren eigenen Vorurteilen konfrontiert.<br />
Würden wir auch ohne dieses<br />
Gastgeschenk Zugang zu den BewohnerInnen<br />
bekommen? Würden wir<br />
nicht eine Grenze zwischen „uns” und<br />
„denen” ziehen, wenn wir mit einem<br />
Orangensaft am Tisch sitzen? Warum<br />
beschäftigt uns die Frage überhaupt?<br />
Gehen wir dadurch nicht davon aus,<br />
dass alle dort ein Alkoholproblem haben,<br />
das wir nicht unterstützen wollen?<br />
Am Ende entscheiden wir uns trotz aller<br />
Bedenken für den Sixpack Bier als<br />
Türöffner.<br />
Der erste Abend<br />
Zwei Tage später machen wir uns<br />
abends auf den Weg ins Dorf, bepackt<br />
mit Würstchen und Bier. Alles ist wie<br />
ausgestorben. So setzen wir uns an einen<br />
Plastiktisch vor eine <strong>der</strong> Hütten und<br />
warten. Im Gebüsch frisst eine Ratte<br />
Erbrochenes. Unser Bild von <strong>der</strong> Campingplatzidylle<br />
bekommt erste Risse.<br />
Eine uns fremde Frau kommt aus <strong>der</strong><br />
Hütte, vor <strong>der</strong> wir sitzen. Sie ist nicht<br />
überrascht, uns Studierende hier zu sehen,<br />
son<strong>der</strong>n sehr aufgeschlossen und<br />
freundlich. Wir erfahren, dass sie selbst<br />
nicht im Dorf wohnt, son<strong>der</strong>n Kalles<br />
Freundin ist. Sie erzählt, über das Berberdorf<br />
habe sie am Anfang gedacht,<br />
es sei „wie Ferien auf dem Bauernhof“.<br />
Während des Gesprächs mit Sandra<br />
geht ein Bewohner vorbei und sagt<br />
im Selbstgespräch, allerdings so laut,<br />
dass wir es hören können: „Jetzt lauf<br />
ich grad an den falschen Leuten vorbei.“<br />
Gutes Zureden und die Aussicht<br />
auf ein Bier beschwichtigen ihn jedoch<br />
und er setzt sich zu uns. Er stellt sich als<br />
Sammy vor und kommt mit uns ins Gespräch.<br />
Es dauert nicht lange, bis Stefan<br />
sich dazu setzt. Basti spielt in <strong>der</strong> Nähe<br />
mit Stefans Hund. Basti wohnt erst seit<br />
kurzem im Berberdorf und träumt von<br />
einer eigenen Wohnung. Er möchte vor<br />
dem Winter das Dorf verlassen.<br />
Dinge selber regeln<br />
Sammy und Stefan erzählen von einer<br />
gemeinsamen Freundin. Sie hat<br />
einen neuen Partner, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Beerdigung<br />
ihres Exfreundes, einem guten<br />
Freund <strong>der</strong> beiden, zum Pfarrer sagte:<br />
„Komm auf den Punkt, es ist kalt.” Zwei<br />
Wochen nach <strong>der</strong> Beerdigung zog er<br />
als ihr Neuer in ihre Wohnung. Sie berichten,<br />
dass diese Freundin vor kurzem<br />
nachts um halb drei mit einem blauen<br />
Auge und in Tränen aufgelöst ins Berberdorf<br />
gekommen ist. Verantwortlich<br />
dafür scheint ihr neuer Partner gewesen<br />
zu sein. Als Reaktion auf die Gewalttat<br />
ist Sammy mit seinen Kumpels losgezogen,<br />
um die Sache zu „regeln”. Wir<br />
denken, mit „regeln” sei gemeint, dass<br />
Konfl ikte eher untereinan<strong>der</strong> und gewalttätig<br />
gelöst werden, vor allem wohl<br />
deswegen, weil man dank negativer Er-<br />
Hintergründe<br />
fahrungen mit <strong>der</strong> Polizei und an<strong>der</strong>en<br />
staatlichen Organen misstrauisch ist.<br />
Von verschiedenen Seiten wird uns<br />
erzählt, dass Ausschreitungen im Dorf<br />
eher durch Besucher verursacht werden.<br />
Uns wird das Berberdorf von allen<br />
Seiten als friedlich beschrieben. „Ist ne<br />
Kleingartensiedlung – je<strong>der</strong> will seine<br />
Ruhe haben - ha jo!”, meint Stefan.<br />
Die Atmosphäre hängt immer von den<br />
aktuellen BewohnerInnen ab. „War<br />
schon mal aggressiver”, bestätigt uns<br />
Stefan. Auch wenn es heute ruhig ist<br />
im Dorf, meint Sammy, dass dies kein<br />
Ort für Kin<strong>der</strong> sei, denn „das brauchen<br />
die nicht sehen, die sehen heutzutage<br />
schon genug im Fernsehen“.<br />
Wir nippen an unserem Bier und lauschen<br />
einer weiteren Geschichte vom<br />
letzten Grillfest zum Vatertag. Zu diesem<br />
Anlass haben sie aufwändig Essen<br />
vorbereitet und Bier gekauft. „Da sag<br />
nochmal einer, Obdachlose wüssten<br />
nicht, wie man feiert“, fasst Sammy<br />
den Abend zusammen. Außerdem berichtet<br />
Stefan im Laufe des Abends von<br />
seiner Ex, die kleiner ist als er und ihn<br />
„untern Tisch gesoffen” habe. Über das<br />
ganze Gespräch hinweg kommt das<br />
Thema Alkohol vor. Unser Eindruck ist,<br />
dass Alkohol oft im Zusammenhang<br />
mit Geselligkeit steht und nicht unbedingt<br />
die einzelnen BewohnerInnen<br />
ein Alkoholproblem haben.<br />
Stefan berichtet, dass er heute, im<br />
Gegensatz zu früher, trinke und Joints<br />
rauche. Unser Eindruck ist, dass er<br />
diese Rauschmittel hauptsächlich aus<br />
Gründen <strong>der</strong> Geselligkeit konsumiert.<br />
Als er als Jugendlicher auf <strong>der</strong> Straße<br />
gelebt hat, sei das an<strong>der</strong>s gewesen.<br />
„Also nicht <strong>der</strong> einfache Drogenkonsum,<br />
dass man ab und zu nen Joint<br />
raucht, son<strong>der</strong>n jeden Tag knülle dicht<br />
zu sein - zu vergessen was war”.<br />
In den fünfziger Jahren gab es noch zahlreiche Gelegenheitsarbeiten auf dem Bau, in<br />
<strong>der</strong> Land- und Forstwirtschaft. Diese Arbeiten wurden oft von Nichtsesshaften ausgeführt,<br />
da oft nicht nach festem Wohnsitz und Steuerkarte gefragt wurde. Sie zogen meist nach<br />
einigen Tagen o<strong>der</strong> Wochen weiter. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie selbst, dem Sozialamt<br />
wollten sie bewusst nicht zur Last fallen. Diese Leute nannten sich “Berber”.<br />
Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre: Durch wirtschaftliche Rezession wurden die Arbeitsplätze<br />
knapper. Die GelegenheitsarbeiterInnen wurden von <strong>der</strong> Sozialhilfe „aufgefangen“. Einige<br />
lehnten diese Hilfe ab und schliefen lieber im Freien, als in staatlichen Notunterkünften<br />
„verwaltet“ zu werden. Der Gedanke <strong>der</strong> Selbsthilfe gewann an Bedeutung, und<br />
fi ndet vor allem in jüngster Zeit Anhänger unter den Betroffenen.<br />
Berber ist meist eine Selbstbeschreibung, die von Betroffenen selbst mit einem gewissen<br />
Stolz gebraucht wird.<br />
(vgl. Kiebel, Hannes, 1995, „Na, du alter Berber“. Beschreibung <strong>der</strong> Spurensuche zum<br />
Begriff, Berlin, http://www.drstefanschnei<strong>der</strong>.de/armut-a-wohnungslosigkeit/dokumente/431-kiebel-hannes-qna-du-alter-berberq-beschreibung-<strong>der</strong>-spurensuche-zum-begriffberlin-1995.html,<br />
[19.12.2011])<br />
<strong>horizonte</strong> 40/ September 2012 - 53 -