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Sie marschieren wieder. . .

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<strong>Sie</strong> <strong>marschieren</strong> <strong>wieder</strong>...<strong>Sie</strong> <strong>marschieren</strong> <strong>wieder</strong>. . .


Kaum eine Woche vergeht, in der keine Neonazis demonstrieren. Irgendwo in Deutschland – oder vor unserer eigenen Haustür.


VorwortHerbert C. OrdemannVerlegerWESER-KURIERBremer NachrichtenVerdener NachrichtenLiebe Leserinnen und Leser,vor 60 Jahren haben die alliierten <strong>Sie</strong>germächtedes Zweiten Weltkrieges das menschenverachtendeNazi-Regime hinweggefegt. ZweiFragen beschäftigen die Menschen bis heute: Wiekonnte es dazu kommen, dass eine Verbrecherbandeein 65-Millionen-Volk ins Verderben führteund Europa mit unsäglichem Leid überzog?Und was muss man tun, damit sich so etwas niemals<strong>wieder</strong>holt?In der Weimarer Republik führten Wirtschaftskrisen,Börsensturz, hohe Arbeitslosigkeitund die schwache Demokratie zu einer instabilenLage in Deutschland. Zukunftsängste, Nationalismusund Antisemitismus waren der Nährboden,auf dem sich der Nationalsozialismus voneiner Randerscheinung zur Massenbewegung entwickelte.Hitlers NSDAP wurde innerhalb wenigerJahre zur stärksten Kraft im Reichstag undfeierte mit der so genannten Machtergreifung imJahr 1933 ihren Triumph.Von da an wurde die öffentliche Meinungmanipuliert, die Presse systematisch „gleichgeschaltet“und somit unterdrückt, der Rundfunksendete nur ein einziges staatliches Programm. Esgab keine freie Presse mehr in Deutschland!Zwölf Jahre lang durften ausschließlich die offiziellenMeldungen des Reichspropagandaministeriumsverbreitet werden. Und das warenmeist perfide Lügen.Die konsequente Unterdrückung des freienWortes war eine wesentliche Ursache für denErfolg der Nationalsozialisten. Die demokratischen<strong>Sie</strong>germächte hielten deshalb zu Recht dieErrichtung einer freien Presse für unverzichtbar.Unabhängig, meinungsbildend und demokratieförderndsollten insbesondere die Tageszeitungenals vierte Säule neben den drei staatlichenGewalten Legislative, Exekutive und Judikativestehen und dazu beitragen, täglich für dieDemokratie zu streiten und sie gegen alleAngriffe zu verteidigen.Wer als Zeitzeuge damals die Entwicklungdes Nationalsozialismus miterleben musste,erfährt heute mit der Entwicklung des Neofaschismuseine unheimliche Duplizität der Ereignisse.Er erkennt die daraus entstehendeGefahr für unser Land.Deshalb werden wir weiter über den neuenRechtsextremismus berichten – gemäß unseremAuftrag, dem wir uns heute genauso verpflichtetfühlen wie vor 60 Jahren, als die Demokratie inDeutschland neu errichtet wurde.Herbert C. Ordemann2 3


GeleitwortDr. Henning ScherfBürgermeisterPräsident des Senats derFreien Hansestadt BremenVor 60 Jahren, am 8. Mai 1945, endeten derZweite Weltkrieg und die Gewaltherrschaft derNationalsozialisten in Deutschland. Mehr als55 Millionen Menschen hatten den Größen- undRassenwahn der Nazis auf den Schlachtfeldern, inden Schützengräben, in den zerbombten Städten,in Konzentrationslagern und Gaskammern mitihrem Leben bezahlen müssen.Viele Menschen – alliierte und deutscheSoldaten, Zivilisten und Gefangene der Nationalsozialisten– litten bis zuletzt und weit über dasEnde des Krieges hinaus. Millionen Deutschewaren auf der Flucht, ausgebombt, litten unterHunger und Obdachlosigkeit oder waren inKriegsgefangenschaft geraten. Auch in Bremen,wo es noch bis April 1945 Kämpfe gegeben hatteund Bomben gefallen waren, lagen Stadtteile inSchutt und Asche.Die Schuld für Krieg und Gewaltherrschaft,für Holocaust und millionenfachen Tod vonMenschen liegen wie ein dunkler Schatten überunserer Geschichte. Aus dieser Schuld ist für dieneue demokratische Ordnung in Deutschland Verantwortungfür die Zukunft erwachsen. Die Mütterund Väter des Grundgesetzes haben bewussteinen Satz an seinen Anfang gestellt. Er lautet:„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“Die Werte unserer Verfassung und unseres aufwechselseitigen Respekt gegründeten Zusammenlebensgilt es, gegen die Bedrohung durch denRechtsextremismus zu verteidigen. Die Aktivitätenund Umtriebe von Rechtsextremisten – auchin Bremen und Niedersachsen, wie zum Beispielaktuell im Raum Verden – mahnen uns weiterhinzu Wachsamkeit, Zivilcourage und engagiertemEinstehen für die demokratischen Grundlagenunserer Gesellschaft.Wir müssen die Erinnerung an die Vergangenheitwach halten und die Auseinandersetzungannehmen mit allen, die auch heute noch dieVerbrechen des Nationalsozialismus verharmlosen,verklären oder gar verherrlichen und Hassgegen Fremde und Minderheiten säen. Einedemokratische, freie Gesellschaft hat in dieserAuseinandersetzung nicht nur Mitmenschlichkeit,Gewissen, Anstand und Moral auf ihrer Seite. <strong>Sie</strong>hat überdies auch die besseren Argumente undwird populistische und demagogische Scheinlösungenim gesellschaftlichen Dialog schnell alssolche entlarven können.Wir möchten alle ermutigen und zu diesemWeg einladen, denen das Wohl der Menschen,unseres Landes und unser Ansehen in der Welt amHerzen liegen. Als Regierungschefs zweierBundesländer werden wir unseren Teil dazu beitragen.Bremen und Hannover, im April 2005Dr. Henning ScherfChristian WulffChristian WulffNiedersächsischerMinisterpräsident4 5


InhaltsverzeichnisEine neue, die alte Gefahr 8Was uns Hitler beigebracht hat 10NPD und „Volksfront von rechts“: Wie solldie streitbare Demokratie darauf reagieren?Der Menschenfeind von nebenan 14Die Mitte der Gesellschaft rutscht nach rechtsIgnorant bis populistisch 15Forscher stellt etablierten Parteien einschlechtes Zeugnis ausBremens braune Ränder 16Spinnen an braunen Netzen 18Bremer Neonazis arbeiten im Untergrundan einer „Volksfront von rechts“Geschäfte rechts außen vom Spielfeld 20Unheimliche Allianzen: Musik undMerchandising einen Neonazis und rechteHooligansKnallhart im Untergrund 21Die Szene in BremenDie Bremer Hetzmusikanten 22Die rechtsextreme Musikszene derHansestadt ist radikal, beständig –und beängstigend lebendigRechte Töne auf dem Schulhof 24Neonazi-Kameradschaftenund rechtsextreme NPD setzenauf Gratis-CDVehikel für Neonazi-Ideologie 25Rechtsrockexperte:Braune Lieder sind gefährlichBizarre Braune in Schwarz 26In der Böttcherstraße sollte „Musik wieMunition“ erklingenIm braunen Himmel 28Was Rechte in das Haus Atlantisan der Böttcherstraße ziehtAlter Inhalt in neuem Outfit 30Der braune Rand der JugendszenenDark Wave und Black MetalDer Heisenhof: Ein- und Aussichten 32Riegers Heisenhof 34Eine ChronologieVor dem Gesetz sind alle gleich 36Verdens Oberkreisdirektor Werner Jahnzum Heisenhof und zu Riegers PlänenKommunen gegen rechts – aber wie? 37Ein Gastbeitrag von Reinhard KochJürgen Rieger 38Ein Rechtsanwalt aus HamburgSuperarier im Reagenzglas 39Ein Interview mit Jürgen Riegerim August 2004Rigolf Hennig 40Ein Chirurg aus VerdenAdolf Dammann 41Ein Ex-Bankfilialleiter aus BuxtehudeFlorian Cordes 42Ein Dachdecker aus OytenReiselustig 43Die jungen Neonazisrund um den HeisenhofWie man Neonazis vertreibt 44Das kleine Hetendorf weiß:Der Widerstand braucht einen langen AtemHetendorf Nr. 13 47Eine Chronologie„Dieser Neonazi ist nicht mein Sohn“ 48Eine Mutter verliert ihr Kindan RechtextremistenDas braune Gift wirkt lange nach 50Uwes weiter Weg aus derrechtsextremen CliqueGewalt hält die Szene zusammen 52Warum Jugendliche nach rechts gehenWie VAJA arbeitet 53Akzeptierende Jugendarbeitmade in BremenEltern helfen – aber wie? 54Ein Gastbeitrag von Andrea Müllerund Cornelius PeltzSchulen gegen rechts – aber wie? 55Ein Gastbeitrag von Gerd BückerNicht Bange machen lassen 56Wie junge Ausländer in Dörverdenmit dem Heisenhof lebenDie Neonazis rücken näher 58Braune Brutalität 60Viele Neonazis aus der Regionsind gewalttätigDie NPD und ihre „Ordner“ 62Blütenweiß sind nur die Hemden:Partei setzt verurteilte Gewalttäter zum„Schutz“ ihrer Veranstaltungen einRechte Schmierfinken 64Neonazistische Kritzeleien gehörenvielerorts zum SchulalltagViel zu tun für Staatsanwältin 65Anzeigen wegen politischer Straftatenhäufen sich in VerdenAussteigen – aber wie? 66Ein Gastbeitrag von Wolfgang Welp-EggertDer rechte Schulterschluss 68Auch in Niedersachsen soll eine„Volksfront von rechts“ entstehen„Heimat“ Niedersachsen 69Ihre ersten Landtagsmandate errangdie NPD in HannoverDie Klagen der Braunen 70Neonazis ziehen häufig vor GerichtTraurige Tradition 72Die Nazis und ihre Juristen – ein langesund dunkles KapitelDas Versteckspiel 74Mit Codes umgehen Neonazis VerboteDie Trickkiste 75Rechtsextreme Internetseiten sind gespicktmit juristischen TippsHakenkreuze für die Ewigkeit 76Auf „Ahnenstätten“ begraben auchrechte Neuheiden ihre TotenVerdrehte braune Geschichten 78An NS-Kultstätten im Bremer Umlandschworen Nationalsozialisten dieNiedersachsen auf ihre Ideologie einAufklären über Nazi-Wahnsinn 80Museumsdirektor fordert mehr Informationzu regionalen NS-KultstättenEin Mord im Musterdorf 82Dötlingen war für die Nationalsozialistenetwas ganz Besonderes – heute will der Ortnichts mehr davon wissenGegen das Vergessen 86Es endete im Massentod 88Bremen und Oldenburg in der NS-Zeit:Absolute Mehrheit, Staatsstreich undtäglicher TerrorHetzrede sieben Jahre danach 94Treffen ehemaliger SS-Männer in Verdenführte zu EklatWürmer im Essen 95Der Heisenhof gehörte im Krieg zurSchießpulverfabrik EibiaÜberleben wie durch ein Wunder 96Die Familie Abraham fand in dem kleinenDorf Bockel Schutz vor der JudenverfolgungDas gestohlene Leben 98Wie Hitler Ruth und Martin getrennthat – mehr als 60 Jahre langDie „Nürnberger Gesetze“ 101NSDAP goss Rassenwahn in ParagrafenWarum Erinnerung notwendig ist 102Ein Gastbeitrag von Hans KoschnickImpressum 1076 7


Eine neue, die alte GefahrDas gescheiterte Verbotsverfahren hat derrechtsextremen NPD Auftrieb gegeben. Der Tonihrer braunen Kader wird aggressiver, dasAuftreten dreister. Und die Partei sucht geradezudie Zusammenarbeit mit militanten Neonazis.8 9


Was uns Hitler beigebracht hatNPD und „Volksfront von rechts“: Wie soll die streitbare Demokratie darauf reagieren?Verbieten! Das ist der erste Reflex, wenn mansich mit der NPD befasst. Dass es 60 Jahre nachder Befreiung vom Nationalsozialismus nochimmer Leute gibt, die sich mehr oder minderoffen zur Hitlerei bekennen, ist kaum zu begreifenund schwer zu ertragen. Und doch verpflichtenuns der Geist ebenso wie der Buchstabe derVerfassung zur peinlich genauen Prüfung, garnicht zu reden von der Klugheit.Das Verbot einer Partei ist das schärfsteSchwert der wehrhaften Demokratie, und als solcheverstehen wir die Bundesrepublik. Wir habendamit eine Lehre aus dem Niedergang derWeimarer Republik gezogen. Die wurde vonihren totalitären Gegnern nämlich quasi aufgesetzlichem Wege ausgehöhlt und zerstört.Hitler selbst hatte dies unverblümt angekündigt.So erklärte er beispielsweise 1930 vor demReichsgericht: „Die Verfassung schreibt uns denBoden des Kampfes vor, nicht aber das Ziel. Wirtreten in die gesetzlichen Körperschaften ein undwerden auf diese Weise unsere Partei zum ausschlaggebendenFaktor machen. Wir werden dannallerdings, wenn wir die verfassungsmäßigenRechte besitzen, den Staat in die Form gießen, diewir als die richtige ansehen.“ Und das war dieNS-Diktatur.Die streitbare Demokratie lehnt eine bloß formaleInterpretation ab und verpflichtet in bewussterAbkehr von der Vergangenheit zu eineman Werte gebundenes Verfassungsverständnis.Dazu gehört die Bestimmung des Grundgesetzes,dass Parteien, die die freiheitliche demokratischeGrundordnung zu beeinträchtigen oder gar zubeseitigen versuchen, verboten werden können;können – nicht müssen. Denn ob man diesesInstrument im konkreten Fall anwendet odernicht, hängt auch von Nützlichkeitserwägungenab. Bislang hat das Bundesverfassungsgericht,jeweils auf Antrag der Bundesregierung, nurzweimal ein Parteiverbot ausgesprochen: 1952traf es die rechtsextremistische SozialistischeReichspartei (SRP) und 1956 die KommunistischePartei Deutschlands (KPD). Die SRPwar ein Sammelbecken rechtsextremer und zumTeil neonazistischer Gruppen.Ihren Schwerpunkt hatte sie im Norden, insbesonderein Niedersachsen. Dort gewann sie imMai 1951 (das Verbot drohte bereits) immerhin11,0 Prozent und 16 Landtagsmandate. In denLandkreisen Diepholz, Bremervörde, Lüneburgund Aurich erzielt sie sogar um die 30 Prozent!Und noch im Oktober desselben Jahres errang siein Bremen 7,7 Prozent beziehungsweise achtMandate in der Bürgerschaft.Nach dem Verbot zersplitterte sich die Szene.Aber selbstverständlich waren die Unbelehrbarennicht bekehrt worden. Parteien kann manverbieten, Dummheit nicht.Als neues Auffanglager der Rechten entstand1964 nicht zufällig die NationaldemokratischePartei Deutschlands (NPD) unter Führung desBremers Fritz Thielen. <strong>Sie</strong> bildete sich aus mehrals 70 Gruppen mit rund 4000 Personen. Weitere500 stießen aus der ehemaligen SRP und anderenverbotenen Organisationen hinzu.In den Jahren 1966 bis 1968 erzielte die NPDüberraschende Wahlerfolge – zum Beispiel 1967in Niedersachsen mit 7,0 Prozent und zehnLandtagsmandaten, in Bremen mit 8,8 Prozentund acht Mandaten sowie 1968 in Baden-Württemberg mit 9,8 Prozent und zwölfMandaten. In dieser Zeit profitierte sie vomProtestpotenzial gegen die Große Koalition, dieCDU/CSU und SPD in Bonn gebildet hatten, vonder wirtschaftlichen Rezession, aber auch alsrechter Antipode vom Auftreten der AußerparlamentarischenOpposition (APO) auf der linkenSeite des politischen Spektrums. Bei derBundestagswahl 1969 scheiterte die NPD jedochmit 4,3 Prozent und verlor rapide an Bedeutung.Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert.Die NPD spielt <strong>wieder</strong> eine zentrale Rolleim rechten Milieu. Und die Experten sind sichinzwischen darin einig, dass diese Partei nicht nurverfassungsfeindlich agitiert, sondern dass sieauch eindeutig verfassungswidrig agiert. Bundestag,Bundesrat und Bundesregierung haben deshalbAnfang 2001 ein Verbotsverfahren in Ganggesetzt.Zur Begründung hieß es, die Ziele der NPDseien nationalsozialistisch, antisemitisch, rassistischsowie antidemokratisch, und so gebärdetensich auch ihre Anhänger. An Belegen dafürgab es keinen Mangel.Doch dann explodierte im Februar 2002, kurzvor der mündlichen Verhandlung vor demBundesverfassungsgericht, eine politischeBombe. Nach und nach erfuhr die staunendeÖffentlichkeit, dass rund 15 Prozent der NPD-Spitze als sogenannte V-Leute vom Verfassungsschutzbezahlt wurden.Was auf den ersten Blick wie ein Skandalanmutet, gibt im Grunde wenig her. Entstandenist diese durchaus legale Regelung in den 70erJahren nach der Gründung der DeutschenKommunistischen Partei (DKP). Die hätte alsunzweifelhafte Nachfolgeorganisation der KPDeigentlich verboten werden müssen. Doch dieserschien in Zeiten der Entspannungspolitik zwischenOst und West nicht opportun. Um demRecht Genüge zu tun, ohne die Kreise der praktischenPolitik zu stören, kam man auf denGedanken, die Kommunisten durch den Verfassungsschutzbeobachten zu lassen. Nach demselbenStrickmuster wurde gegenüber der NPD verfahren.Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden.Schließlich sind nur so verlässliche Informationenüber das jeweilige Gefahrenpotenzialzu beschaffen. Und wie denn sonst sollte mannotfalls die erforderlichen Beweise erbringen?Jedoch gibt es ein grundsätzliches Dilemma:Wie weit muss sich ein V-Mann einlassen, umvon den Bespitzelten als zuverlässiger Gefolgsmannakzeptiert zu werden? Und wo verläuft dieGrenze, die er auf keinen Fall überschreiten darf,damit er nicht zum Mittäter wird? Zur Affäre inKarlsruhe geriet die Angelegenheit vor allem deshalb,weil die Antragsteller sehr wohl wussten, inwelchem Maße die NPD unterwandert ist, dieRichter davon aber keinen blassen Schimmer hatten.Es ist ein Versäumnis der Innenminister, aufdiese Problematik nicht einmal hingewiesen zuhaben. Zumindest ihnen muss nämlich von vornhereinklar gewesen sein, dass es in diesemVerfahren ganz wesentlich auf die Berichte vonVerfassungsschützern angekommen wäre.Schließlich waren die Begründungen für denVerbotsantrag ja in ihren Häusern erarbeitet worden.Das Verfassungsgericht sah sich missachtet.Wie seriös war das ihm vorgelegte Material?Musste da nicht in der Öffentlichkeit der Verdachtentstehen, der Staat selbst habe durch seineV-Leute die NPD geradezu heiß gemacht und siein die Verfassungswidrigkeit gelockt?Um es kurz zu machen: Zwar stimmten 2003vier Richter für die Fortsetzung des Verfahrens,aber drei waren dagegen. Und damit wurde die fürein Parteiverbot vorgeschriebene Zweidrittelmehrheitverfehlt. Man mag das in der Sachebedauern. Aber es spricht für diesen Rechtsstaat,dass er auch in einem solchen Fall nicht fünfe hatgerade sein lassen.Der misslungene Versuch des Staates, denbraunen Kadern das Handwerk zu legen, hat dasSelbstbewusstsein der NPD natürlich gestärkt.Neonazi-Aufmarschim brandenburgischen Halbe.10 11


Die widerlichen Auftritte ihrer Abgeordneten imsächsischen Landtag legen davon Zeugnis ab.Wie etwa zu Beginn des Jahres, als sich die NPD-Fraktion weigerte, in einer Plenarsitzung desParlaments der Opfer des Völkermords an deneuropäischen Juden zu gedenken und stattdessenvon einem „Bombenholocaust“ in Dresdenschwafelte.Der Ton wird aggressiver, das Auftreten dreister.Die NPD sucht geradezu die Kooperationmit militanten Kameradschaften und ist zugleichdarum bemüht, die rechten Kräfte zu bündeln,weil sie sich davon Synergie-Effekte verspricht.Dies ist ihr zumindest partiell gelungen.Der NPD-Vorsitzende Udo Voigt und derChef der Deutschen Volksunion (DVU), GerhardFrey, haben sich auf eine gemeinsame Strategiegeeinigt. Bei der Bundestagswahl 2006 wollenNPD und DVU über die Konstruktion einerWahlallianz den Einzug in den Bundestag schaffen.Nur die NPD soll antreten, in ihre Liste aberDVU-Kandidaten aufnehmen. Bei der Europawahl2009 soll dann die DVU den Vortritt haben.Eine ähnliche Vorgehensweise ist für die kommendenLandtagswahlen vorgesehen. DieRepublikaner lehnen dies ab. <strong>Sie</strong> paktieren ihrerseitsmit der Deutschen Partei und der DSU. Alldas sieht nach einem rechten Schulterschluss aus.Die Akteure selbst nennen das großsprecherisch„Volksfront von rechts“. NPD-AnführerVoigt verspricht schon mal: „Wir werden einenWahlkampf liefern, wo Ihnen Hören und Sehenvergeht.“In der Tat hat sich die Zusammenarbeit vonNPD und DVU für die Beteiligten durchausgelohnt. Durch Absprachen ist es der NPD gelungen,in Sachsen 9,2 Prozent der Stimmen zugewinnen und damit erstmals seit 1968 <strong>wieder</strong> ineinen Landtag einzuziehen. Im Gegenzug erzieltedie DVU in Brandenburg 6,1 Prozent. Bei derLandtagswahl in Schleswig-Holstein indes bliebdie NPD bei 1,9 Prozent hängen.Politikwissenschaftler räumen dem rechtenBündnis wenig Chancen ein. Um bei derBundestagswahl die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen,müssten 2,5 bis 2,8 Millionen Wählermobilisiert werden. Die sind vorerst nicht inSicht. Aber wer mag schon seine Hand dafür insFeuer legen, wenn sich die wirtschaftliche Lagenicht verbessert und sich immer Menschen voreiner sozialen Deklassierung fürchten?Bislang konnten die rechten Gruppierungenmit ihrer Zersplitterung ganz gut leben. Mansprach von der organisierten Verwirrung. Und daswar den Drahtziehern gar nicht unlieb. DieVielzahl der Organisationen und ihre angeblicheideologische Zerstrittenheit waren eine vorzüglicheTarnkappe, um das gemeinsame Ziel zu verschleiern.Nach dem Motto „Getrennt <strong>marschieren</strong>und vereint schlagen“ konnte man sichje nach Bedarf und politischer Großwetterlagevon einzelnen Aktivitäten entweder distanzierenoder sich solidarisieren. Die Arbeitsteilung verstellteden Blick für das dichte Geflecht an internenVerbindungen und die innere Kohärenz.Neuerdings gibt es Signale aus Karlsruhe, diedarauf hindeuten, dass die Verfassungsrichter aufeine Fortsetzung des Verbotsverfahrens warten.Der Anstoß müsste von den Antragstellern kommen,doch die Politik zögert aus verständlichenGründen. Eine Niederlage würde von den rechtenKräften allemal als Ermutigung betrachtet.Zudem muss immer <strong>wieder</strong> sorgfältig abgewogenwerden zwischen Nutzen und Schaden. EinOrganisationsverbot bringt Gesinnungen seltenzum Verstummen. Man beseitigt dadurch dieSymptome, nicht jedoch die Ursachen. Überdieslassen sich öffentlich agierende Parteien besserkontrollieren als ausschließlich im Untergrundtätige Aktivisten. Hin und <strong>wieder</strong> kann ein drohendesVerbot sogar mehr bewirken als das Verbotselbst.Einem Rechtsstaat steht es sehr gut an,Augenmaß zu beweisen, sich auch nicht provozierenzu lassen. Allerdings darf er keinesfalls zulassen,dass sich Parteien breit machen, die ihn selbstaus den Angeln heben wollen. Das ist die Lehrevon Weimar, das hat uns Hitler beigebracht.Hans-Günther ThieleDemonstration in Dresden: Der DVU-ChefGehard Frey (links) und der NPD-VorsitzendeUdo Voigt marschierten Seite an Seite.Auch viele neonazistische Kameradschaften ausNiedersachsen marschierten im Februar 2005bei der NPD-Demonstration in Dresden.1213


Der Menschenfeind von nebenanDie Mitte der Gesellschaft rutscht nach rechtsIgnorant bis populistischForscher stellt etablierten Politikern ein schlechtes Zeugnis aus„Ein Skin wird zum Neonazi, wenn er stattzu grölen, weiß, wovon er redet.“ Flapsig verharmlostein Bremer Rechtsextremist einegefährliche Entwicklung: Immer mehr Neonazistreten „ganz normal“ auf – zumindest nachaußen. Zugleich fallen rassistische und neonazistischeÜberzeugungsversuche auf immer fruchtbarerenBoden, stellt Wilhelm Heitmeyer vomInstitut für Konflikt- und Gewaltforschung derUniversität Bielefeld fest.„Deutsche Zustände“ heißt die Langzeitstudie,in der Heitmeyer seit 2002 jährlich 3000Bundesbürger ab 16 Jahren repräsentativ befragenlässt. Mit erschreckenden Ergebnissen.Stichwort Fremdenfeindlichkeit: Mit 55Prozent meint 2002 mehr als die Hälfte derBundesbürger, in Deutschland lebten zu vieleAusländer. 2004 sind bereits 60 Prozent dieserMeinung. 2002 befürworten 28 Prozent,Ausländer in ihre Heimat zurückzuschicken,wenn hierzulande die Arbeitsplätze knapp werden.2004 ist dieser Ansicht mehr als ein Drittelder Deutschen (36 Prozent).Angesichts dieser Ergebnisse sei Fremdenfeindlichkeitalles andere als ein politischesRandphänomen, sagt Heitmeyer. Denn derAnstieg bei den Ressentiments gegen Ausländergehe vor allem auf Personen zurück, die sichselbst der politischen Mitte zuordnen: Die Mitteder Gesellschaft rutscht nach rechts.Stichwort Rassismus: Der Auffassung, dassdie Weißen zu Recht führend in der Welt seien,stimmen 2004 noch 13 Prozent zu. 2002 waren es16 Prozent.Stichwort Antisemitismus: Knapp 60 Jahrenach dem Holocaust glaubt jeder fünfteDeutsche, dass Juden in der Bundesrepublik zuviel Einfluss haben. 22 Prozent der Befragtenstimmen dem zu, der Wert ist gegenüber 2002etwa konstant. Mehr als die Hälfte der Bürgerfindet es in Ordnung, die Politik des Nazi-Regimes gegenüber den Juden mit der PolitikIsraels gegenüber den Palästinensern zu vergleichen.Ein „Familienfest“ für Neonazis?Impressionen vom „Pressefest“ derNPD-Postille „Deutsche Stimme“ 2004im sächsischen Mücka.Fremdenfeindlichkeit, Rassismus undAntisemitismus zeugen von „gruppenbezogenerMenschenfeindlichkeit“, definiert Heitmeyer.Offenbar gehört der freundliche Menschenfeindvon nebenan längst zum Alltag.Gleichzeitig berufen sich viele Menschen aufihre Vorrechte als Etablierte. Wer irgendwo neuist, sollte sich erst einmal mit weniger zufriedengeben, befinden 58 Prozent der Befragten 2002.2004 sind es schon 62 Prozent. Immerhin jederdritte Befragte meint, dass mehr Rechte habensollte, wer immer schon in Deutschland lebt.Der Gesellschaft komme ihr „sozialer Kitt“abhanden, skizziert Heitmeyer möglicheUrsachen für diese Entwicklungen. Seit 1993 seidas Nettovermögen im reichsten Viertel derBevölkerung der alten Bundesländern um knapp28 Prozent gewachsen, im ärmsten Viertel habees um fast 50 Prozent abgenommen. In den neuenBundesländern wuchs im selben Zeitraum dasVermögen der Reichen um fast 86 Prozent, währenddas der Armen um 21 Prozent sank.Ein wachsender Riss in der Gesellschaft, derden Menschen nicht verborgen bleibt: LautHeitmeyer sind fast 91 Prozent der Befragtendavon überzeugt, dass in diesem Land dieReichen immer reicher und die Armen immerärmer werden. Dass immer mehr Menschen anden Rand der Gesellschaft gedrängt werden, registrieren85 Prozent.Nur noch wenig überraschen kann angesichtsdieser Ergebnisse, dass der Wissenschaftler rundeinem Viertel der Bundesbürger attestiert, fürrechtspopulistische Ideen anfällig zu sein. „EineGefahr für die Demokratie, die gerne ausgeblendetwird“, sagt HeitmeyerViele, die sich dem Rechtspopulismus nichtöffnen, reagieren nach seinen Worten mitApathie. „Apathie wird in manchen Kreisen –übrigens nicht nur in konservativen – klammheimlichbegrüßt.“ Denn: Wer schweigt, störtnicht beim Umbau der Gesellschaft.Christine KrögerIgnorant bis populistisch: Im Gespräch mitChristine Kröger stellt der Bielefelder GewaltundKonfliktforscher Wilhelm Heitmeyer dendemokratischen Parteien und ihren Politikern imUmgang mit rechten Tendenzen ein schlechtesZeugnis aus.Frage: Die Mitte der Gesellschaft rutschtnach rechts, haben <strong>Sie</strong> festgestellt. Was sollendie Demokraten tun?Wilhelm Heitmeyer: Zuerst mal aufhören,dieses Phänomen zu ignorieren. „Ja, wir haben einmassives Problem mit sozialer Desintegration.“Das zuzugeben, wäre ein erster Schritt.Aber die etablierten Parteien verbreitendoch in seltener Eintracht jede Menge Appellegegen Rechtsextremismus . . .Ja, ja, die Moral wird sehr bemüht in diesenTagen. Aber Appelle reichen nicht aus. Dafürhaben viel zu viele Menschen das Vertrauen in diePolitik längst verloren. Die Politik muss sich nichtnur gegen Rechtsextremismus aussprechen, sondernauch gegen Rechtspopulismus. Und seineUrsachen endlich zu Kenntnis nehmen.So wie CSU-Chef Edmund Stoiber? Dersagt, Massenarbeitslosigkeit erzeugt Rechtsextremismus.Das halte ich für kurzsichtig und propagandistisch.Die Situation ist komplizierter – und auchgefährlicher. Rechtsextreme docken an dieAlltagsprobleme der Menschen an. <strong>Sie</strong> entwickelneine nationale Vision von Deutschland alsAlternative zu den gegenwärtigen Zuständen.Dabei fallen sie nicht mehr mit der Tür ins Haus.Statt rassistische oder antisemitische Sprüchezu klopfen, propagieren sie ein homogenesDeutschland. Über Rechtspopulismus versuchensie, Menschen in den Extremismus zu holen.Wie können die demokratischen Parteiendas verhindern?Zum Beispiel keine Steilvorlagen liefern,indem auch sie Kampagnen gegen Ausländeranzetteln oder einen Generalverdacht gegenMuslime hegen.1415


Bremens braune RänderKnallhart und gut vernetzt – so beschreibenKenner Bremens Neonazi-Szene. <strong>Sie</strong> hat gelernt,im Untergrund zu agieren. Von der Öffentlichkeitweitgehend unbemerkt haben sich in derHansestadt radikale Rechtsrockbands etabliert.16 17


Spinnen an braunen NetzenBremer Neonazis arbeiten im Untergrund an einer „Volksfront von rechts“Als die ersten Neonazis in der Bremer Kneipeeintreffen, ist es längst dunkel. Das passt denMännern gut in den Kram, schließlich ist ihrTreffen hochkonspirativ: An diesem Abend setztsich fast alles an einen Tisch, was sich in derrechtsextremen Szene Bremens einen zweifelhaftenNamen gemacht hat. In Treffen wie diesemwollen die Neonazis ein Bündnis schmieden.An einer solchen „Volksfront von rechts“stricken Männer wie Henrik Ostendorf. DerBremer Neonazi pflegt seine Szenekontakte inder Hansestadt bevorzugt am Wochenende. Unterder Woche zieht es ihn ins sächsische Riesa. Dortarbeitet er bei der „Deutschen Stimme“, dasbestätigen Verfassungsschützer. Der Verlag derNPD-Parteizeitung gibt neben der Monatszeitschriftauch andere rechtsextremistischeSchriften und Tonträger heraus. Den Geschäftsführerder „Deutschen Stimme“, Jens Pühse,kennt Ostendorf seit vielen Jahren. Beide sindgebürtige Bremer, Pühse war in der Hansestadtals jugendlicher Skinhead unterwegs.Trotz seines Verlagsjobs ist HenrikOstendorf, in der Szene „Ossi“ genannt, allesandere als ein Schreibtischtäter. Als ein Anführerder Bremer Hooligans darf der 36-Jährige Gewaltnicht scheuen. Ist „Ossi“ nicht in Bremen, sagtAndré Sagemann den muskelbewehrten„Hools“, wo’s lang geht. Er gilt als Ostendorfsrechte Hand, Seite an Seite sieht man die beidenbundesweit bei Neonazi-Veranstaltungen <strong>marschieren</strong>.Szenekenner schätzen den „harten Kern“gewaltbereiter rechter Fußballfans in Bremen aufgut 20 Mann, die sich „Standarte“ nennen.Rechte „Bremen-Fans“ marschiertenauch bei der NPD-Demonstrationim April 2005 in Verden mit.Stehen Schlägereien auf dem Programm, könne„Ossi“ kurzfristig auch „ganz locker“ mehr als 50Mann mobilisieren, heißt es aus der Szene. „Dasgeht blitzschnell“, berichtet ein Insider. „Manverabredet sich mit den ,Hools‘ eines anderenVereins auf einem Parkplatz, kloppt sich – undverschwindet <strong>wieder</strong>, bevor jemand überhauptetwas mitkriegt oder gar die Polizei kommt.“Die Hooligans um Ostendorf aber begnügensich nicht mit dem üblichen „Hooligansport“, inder Szene „dritte Halbzeit“ genannt. Gemeinsammit Neonazis aus Kameradschaften lauschen sieam Wochenende auch mal Berichten eines SS-Veteranen. Oder schauen sich in einer ihrerStammkneipen einen bräunlichen Film überHitlers Stellvertreter Rudolf Heß an – mitten inBremens Innenstadt. Von solchen Veranstaltungenberichten Szenebeobachter und Verfassungsschützer.Trefflich verbinden kann Henrik OstendorfNPD-Kontakte und Hooligan-Erfahrung im„Bundesordnerdienst“ der Partei, den NPD-Vorstandsmitglied Manfred Börm aus Lüneburgseit etwa 2003 aufbaut. Mitte Februar 2005 jedenfallstrat der Bremer in Dresden an der Spitze desNPD-Aufmarsches als „Ordner“ auf.Was Börm unter „Ordnerdienst“ versteht, hater beim – erfolglosen – Wahlkampf der rechtsextremenPartei in Schleswig-Holstein gezeigt. ImDezember 2004 lieferte sich seine Truppe dortmit Gegendemonstranten eine Straßenschlacht.Die Staatsanwaltschaft ermittelte unter anderemwegen schwerer Körperverletzung. Bei denBremer Neonazi-Treffen ist die NPD bislang nurdurch Daniel Fürstenberg vertreten. Fürstenbergist Mitglied der NPD-Jugendorganisation „JungeNationaldemokraten“ (JN) und lebt seit Monatenauf dem Heisenhof des Hamburger NeonazisJürgen Rieger in Dörverden.Zahlreicher als NPD-Vertreter erscheinen die„Freien Nationalisten“ um den verurteiltenGewalttäter Andreas Hackmann. Das knappeDutzend Männer, das den harten Kern derKameradschaft ausmacht, besteht zum großenTeil aus „Veteranen“ unter den Braunen in Bremen.<strong>Sie</strong> verstehen sich laut Verfassungsschutz alseine neonazistische „Kaderschmiede“ – ständigbemüht, rechte Skinheads und andere rechtsorientierteJugendliche zu ideologisieren.Hackmann ist Bremens umtriebigster„Freier Nationalist“. Der bekennende Hitler-Fan fehlt bei kaum einem Neonazi-Aufmarschoder Rechtsrock-Konzert in Norddeutschland.Wenn sich Rechtsextreme in oder um Bremenzusammenfinden, hat „Hacki“ meist seine Fingerim Spiel. Auch auf dem Heisenhof war der34-Jährige zur Stelle, als der NPD-Nachwuchsum Fürstenberg im November seine ersteSchulung veranstaltete. Den verurteilten RechtsterroristenPeter Naumann soll er dem Parteinachwuchsals „Referenten“ vermittelt haben.„Hacki“ besucht auch viele Treffen undKonzerte der Bremer „Hammerskins“ umAndreas Lohei. Die international vernetzten„Hammerskins“ verstehen sich als elitäre „arischeBruderschaft“ und agieren extrem konspirativ.Ähnlich wie das in Deutschland verboteneNetzwerk „Blood & Honour“ verbreiten sieHetzparolen gegen Ausländer und Juden auf CDsund in Konzerten.„Hakenkreuz-Fahnen und ,Heil-Hitler‘-Rufe– die ganze Palette“, berichtet ein Besucher eines„Hammerskin“-Konzertes mit rund 300 Gästen,das vor einigen Jahren im Teufelsmoor imLandkreis Osterholz stattfand. Solche Konzertewerden als Privatpartys getarnt. „Irgendwie sindsie das auch“, meint der Augenzeuge. Kommendürfe nur, wer ausdrücklich eingeladen sei, in derRegel endeten die zweifelhaften Events inAlkoholexzessen und brutalen Schlägereien. Fürdie illegalen Partys nehmen die Eingeladenenweite Anfahrten in Kauf, Hardcore-Neonazis reisensogar aus dem Ausland an.Neonazi-Konzerte lassen sich aber nicht nurin abgelegenen Winkeln wie dem Teufelsmoor,sondern auch in Großstädten organisieren. So tratenAnfang März 2005 rechtsextreme Bands mittenin Hamburg vor mehr als 300 Besuchern auf.Mit von der Partie war „Lunikoff“ alias MichaelRegener. Regener ist in der rechtsextremenSzene ein Star – spätestens, seit Berliner Richterseine Band „Landser“ 2003 als kriminelleVereinigung verboten haben. Events wie das inHamburg könnten die Neonazis bei ihren Treffendemnächst auch in Bremen planen.Regener hat schon vor Monaten einenAufnahmeantrag in die NPD gestellt – seinBeispiel zeigt, dass NPD und neonazistischeGruppen bundesweit längst eng zusammenarbeiten.Bremens Neonazis dagegen beäugen die NPDder Hansestadt mit Argwohn. Allerdings nennenSzenebeobachter dafür weniger ideologische alspersonelle Gründe. Geführt werden die nur knapp50 Mitglieder des Landesverbandes von HorstGörmann aus Bremerhaven. Sein Verband machtseit Jahren allenfalls durch interne Querelen vonsich reden. Vor einigen Wochen vermeldete diePartei stolz im Internet, sie habe BremensRepublikaner geschluckt. Deren Landesverbandzählt aber nur ein schlappes Dutzend Mitglieder.Auch Markus Privenau hofft offenbar, imUmfeld der Bremer NPD bald <strong>wieder</strong> eine Rollezu spielen. Er führte bis Mitte der 90er Jahre dieBremer Neonazis als Landeschef der 1995 verbotenen„Freiheitlich deutschen Arbeiterpartei“(FAP) an, war später bei der JN aktiv und pflegtebeste Kontakte zu Altnazis in der Hansestadt.Dann zog der mehrfach verurteilte Gewalttätermit Neonazis aus dem Umfeld von KameradschaftsanführerThomas Wulff nach Mecklenburg-Vorpommern.Seit einigen Monaten <strong>wieder</strong>in Bremen, will er alte Kontakte neu knüpfen.Viel stärker als die NPD ist in Bremenbekanntlich die DVU mit ihren rund 200Mitgliedern. Deren Kreisvorsitzender undBürgerschaftsabgeordneter in Bremerhaven,<strong>Sie</strong>gfried Tittmann, hat es im vergangenen Jahrzum stellvertretenden Bundesvorsitzendengebracht. Doch von einer gemeinsamen„Volksfront“ mit den Bremer Neonazis scheint dieDVU weit entfernt. Der Partei arbeiten die rechtenZirkel derzeit vermutlich zu sehr am Rande derIllegalität.Insgesamt treffen in Bremen schwache rechtsextremeParteistrukturen auf einen harten neonazistischenUntergrund. Zumindest GörmannsAmtsvorgänger Jörg Hendrik Wrieden,der laut Verfassungsschutz heute den NPD-Ortsverband Bremen-Nord leitet, kennt offenbarkeine Berührungsängste: Wrieden wurde wegenVolksverhetzung verurteilt, weil er über dasNPD-Faxgerät eine Mitteilung von „Blood &Honour“ verbreitet hat. Das Schreiben rief indirektdazu auf, auf Polizisten zu schießen.Fälle wie dieser könnten sich <strong>wieder</strong>holen,sollten die Bremer Braunen sich erfolgreichverbünden. Dann wird der neonazistische Untergrunddie legalen Parteistrukturen nutzen – undnicht umgekehrt. Darüber sind sich die meistenSzenekenner schon heute einig.Christine Kröger18 19


Geschäfte rechts außen vom SpielfeldUnheimliche Allianzen: Musik und Merchandising einen Neonazis und rechte HooligansKnallhart im UntergrundDie Szene in BremenFußball verbindet bekanntlich – doch manchmalschafft Fußball auch gefährliche Allianzen.Wie eng in Bremen Hooligans und Neonazis verbandeltsind, beweist die Fangemeinde der rechtenHooligan-Band „KC – Hungrige Wölfe“.Ihr harter Kern trifft sich nicht nur auf Konzerten,man macht auch gemeinsam Geschäfte.„KC“ steht für „Kategorie C“, in die diePolizei gewaltbereite Fußballfans steckt. Aberbeim Ja zur Gewalt lassen es die BremerMusikanten um Sänger Hannes Ostendorfbekanntlich nicht bewenden. <strong>Sie</strong> veröffentlichenauf Hardcore-Neonazi-Samplern ihre Stücke undtreten mit einschlägigen rechtsextremen Bandsauf.So überrascht nicht, dass auch das„Aktionsbüro Nord“ um die bundesweitbekannten Kameradschaftsanführer ChristianWorch und Thomas Wulff im Februar 2005 zurPro-„KC“-Demo nach Lüneburg blies. Seite anSeite wollten dort rechte Hooligans und Neonazisgegen die Absage eines „KC“-Konzerts demonstrieren.Die Stadt verbot die Kundgebung. Dieeilig eingeschaltete Hamburger Anwältin GisaPahl aus dem Umfeld des Neonazis JürgenRieger konnte Ostendorf und seinen Fans nichthelfen, sie unterlag vor dem Verwaltungsgericht.Dessen Richter schrieben der Fangemeinde„Gewaltbereitschaft“ und mehr ins Stammbuch:Das Umfeld der Band sei „eine unmittelbare underhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit“.Trotz Verbotes fuhr Hannes Ostendorf in einschlägigerBegleitung nach Lüneburg. Mit vonder Partie unter anderem: sein Bruder Henrik,rechtsextremer Hooliganführer, dessen „rechteHand“ André Sagemann und „Freie Nationalisten“aus Bremen. Das Spiel Werder Bremengegen den VfL Bochum ließen die „Fußballfans“dafür offenbar gerne sausen. Schließlich geht esHannes und seinem Bruder Henrik Ostendorf mit„KC“ um mehr als die rechte Gesinnung – es gehtauch um Geld. Der Auftritt endete mit zehn vorübergehendenFestnahmen, die Polizei ermittelteunter anderem wegen Landfriedensbruchs. Nichtvon ungefähr wird in Lüneburg auch MartinElsner vorübergehend in Gewahrsam genommen.Der rechte Hooligan ist zwei Wochen zuvoran Henrik Ostendorfs Seite bei der NPD-Demonstrationin Dresden marschiert. „<strong>Sie</strong>g oderSpielabbruch“ heißt Elsners videoüberwachterLaden in Hastedt, in dem sich Hooligans T-Shirtsbedrucken lassen. „Scheiß Holland“ oder„Fußball, Ficken, Alkohol“ sind Beispiele ausElsners Standardsortiment. Natürlich gibt es beiihm auch CDs von „KC“.Seine Waren bietet Elsner auch im Internetan. Im Netz bastelt er gegenwärtig noch an einemzweiten Auftritt – unter Adressen, die den Slogan„Sport frei“ enthalten. „Sport frei“ sei patent- undmarkenrechtlich geschützt, ist auf der unfertigenInternetseite schon mal zu lesen. Inhaber derMarke: Henrik Ostendorf. „Sport frei“ hat „KC“auch eine ihrer CDs genannt, und „Sport frei“ istder Standardgruß im virtuellen Gästebuch derBand. Dass sich mit der Marke Geld verdienenlässt, macht der Hamburger Neonazi LarsGeorgi den Bremern vor. Er bietet bereits „Sportfrei“-Artikel an. Georgis Angebot an„Szeneoutfit“ reicht bis zu Mundschutz undTeleskopschlagstock. Auch der Bremer LutzHenze ist als brauner Kaufmann im Internetunterwegs. Seit Jahren in der Kameradschaftsszenein Bremen-Nord und Schwanewede aktiv,weiß er, wofür Neonazis ihr Geld ausgeben. SeinBekleidungsangebot reicht bis zu Männerslipsmit lorbeerbekränzter „88“, die unterRechtsextremen für „Heil Hitler“ steht. Und biszu Kinder-Kapuzenpullovern mit „Thor“-Schriftzug – in Fraktur, versteht sich. Auch derVerfassungsschutz hat Henzes „Heimdall-Shop“ längst im Visier. Schließlich bietet Henzejede Menge rechte bis rechtsextreme Musik an –darunter die Scheiben von „KC“. Nicht das einzigeAngebot, das gleichermaßen Neonazis undHooligans gefallen soll. So hat Henze neben„Sport frei“-Shirts auch „ACAB“-Pullover imSortiment. „ACAB“ steht für „All Cops areBastards“. Die unter rechten „Hools“ beliebteHetzparole hat Georgi patentrechtlich geschützt.Mit Musik und Merchandising findenNeonazis nicht nur unter Hooligans Anschluss,gemeinsam knüpfen sie noch andere unheimlicheAllianzen. So traten die Rechtsrocker von „KC“bereits in Clubhäusern von Rockerbanden auf.Zum Beispiel beim „Gremium MC“ inBremerhaven, einer der großen Rockerbanden,die neben „Hell’s Angels“, „Outlaws“ und„Bandidos“ bundesweit die Szene beherrschen.<strong>Sie</strong> werden immer <strong>wieder</strong> mit OrganisierterKriminalität in Zusammenhang gebracht.Auch im Landeskriminalamt Hannover weißman von rechten Hooligan- und Skinheadkonzertenim Rockermilieu. „Offensichtlichhoffen die Rocker, in diesem Umfeld Nachwuchszu werben“, sagt ein LKA-Sprecher. Kein fernliegender Gedanke, müssen die Rocker doch imkriminellen Milieu häufig ihre Claims auchgegenüber ausländischen Banden abstecken. UndAusländer haben auch die Rechten bekanntlichbesonders auf dem Kieker. Christine KrögerAussteiger nennen Bremens Neonazi-Szeneeine der härtesten bundesweit – obwohl es in derHansestadt seit Jahren keinen Neonazi-Aufmarsch mehr gab. Denn hier haben dieRechtsextremisten im Untergrund zu agierengelernt.Nach Angaben von Szenekennern existierenknallharte Untergrundstrukturen und straffeNetzwerke kleiner gewaltbereiter Gruppen wieneonazistische Kameradschaften, konspirative„Hammerskins“, rechte Hooligans und Skinheads.<strong>Sie</strong> alle eint ihr Hang zur Gewalt.In jüngster Zeit entstehen zudem noch neueKameradschaften, die sich „Hanseatic“ oder„Wesersturm“ nennen. <strong>Sie</strong> verlangen wederParteibuch noch Unterschrift – nichts, was fürBehörden greifbar wäre. So sinkt dieHemmschwelle für Jugendliche enorm. Daherwarnen Szenebeobachter: Wer die rechte Gefahran Mitgliederzahlen von Parteien festmache, verkennesie – und spiele den Neonazis in die Hände.Bundesweit nähern sich Kameradschaftenund NPD an. Auch in Bremen basteln dieRechtsextremen längst an ihrer „Volksfront vonrechts“: Bei der NPD-Kundgebung MitteFebruar 2005 in Dresden sind nicht nur NPD-Chef Udo Voigt, DVU-Chef Gerhard Frey und Ex-Republikaner-Chef Franz Schönhuber einträchtignebeneinander marschiert, sondern auch„Kameraden“, Hooligans und „Hammerskins“aus Bremen, die noch vor Monaten einen großenBogen um jede NPD-Veranstaltung gemacht hätten.Christine Kröger„Sport frei“: Das rechte Merchandising fürHooligans scheint gut zu laufen – auch beim„Pressefest“ des NPD-Organs „DeutscheStimme“ 2004 in Mücka.2021


Die Bremer HetzmusikantenDie rechtsextreme Musikszene der Hansestadt ist radikal, beständig – und beängstigend lebendig<strong>Sie</strong> nennen sich „Endlöser“ und „Hetzjagd“,„Nahkampf“ und „Rufmord“. <strong>Sie</strong> hetzen gegenJuden und Ausländer, gegen Christen undDemokraten. <strong>Sie</strong> verherrlichen Krieg undRassenwahn, Adolf Hitler und Rudolf Heß. Ihren„Feinden“ drohen sie unverhohlen mit brutalerGewalt bis zum Mord. Laut und aggressivschreien sie ihre Parolen ins Mikrofon und pressensie auf CD. Das alles geschieht mitten in undrund um Bremen. Was kaum jemand weiß: DieHansestadt hat eine der radikalsten und aktivstenRechtsrock-Szenen.<strong>Sie</strong> ist Heimat einer derältesten deutschen Rechtsrock-Bands.„Endstufe“gründete sich 1981 umSänger Jens „Brandy“Brandt. Rund 20 Tonträgerhat sie seither veröffentlichtund nach eigenen Angabenmehr als 100 000 Exemplaredavon verkauft. VierVeröffentlichungen hat dieBundesprüfstelle für jugendgefährdendeMedienauf ihren Index gesetzt. <strong>Sie</strong>dürfen nicht in die HändeJugendlicher gelangen oderöffentlich beworben werden.Zwei CDs sind zudem beschlagnahmt. EineBeschlagnahme beschließen Gerichte, wenn dieInhalte einen Straftatbestand erfüllen – in derRegel Volksverhetzung oder Verfassungsfeindlichkeit.Elf Jahre jünger als „Endstufe“ ist die BremerBand „Endlöser“. Von 1993 an hieß sie„Schlachtruf“, seit 2002 firmiert sie <strong>wieder</strong> als„Endlöser“. Die Band um Sänger Andreas Loheihat seit 1995 sechs CDs auf den Markt gebracht,ihren „Kampf ums Überleben“ ließen die Richterbeschlagnahmen. Ende 2004 ist ihr jüngstesMachwerk erschienen: „Zurück von den Toten“.Ein Teil der wechselnden Bandbesetzung gehört„Wir stehen auf Sex,wir stehen auf Bier.Total besoffen,werden wir zum Tier.Es ist eine Schande,wir werden verkannt.Wir sind die Eliteaus deutschem Land.“„Skinheads aus der Arbeiterklasse“,Album„Schütze Deine Kinder“,Endstufe 1994den „Hammerskins“ an. Offen bekennen sichdie Bremer in Liedtexten und in CD-Booklets zudem gefährlichen internationalen Rassisten-Netzwerk. Die Bewegung schwappte Anfang der90er Jahre aus den USA nach Europa.„Hammerskins“ sehen sich als elitäre „arischeBruderschaft“ mit absolutem Führungsanspruch.2003 entstand in Bremen der Sampler „StatusQuo Germania“ mit dem Untertitel „Hammerskin-Nation“.Neben „Endlöser“ und „Hetzjagd“aus Bremen lärmen darauf mehrere„Hammerskin“- und„Blood & Honour“-naheBands aus dem ganzenBundesgebiet. „Blood &Honour“ ist ein großesinternationales Neonazi-Netzwerk. VordringlichesZiel: rechtsextreme Musikinternational zu vermarkten– an Behörden undVerboten vorbei – unddamit viel Geld zu verdienen.Verbrämt mit einerrudimentären rechtsextremenIdeologie „von Skinheadsfür Skinheads“ genießt„Blood & Honour“in der rechten Szene großes Ansehen. Im Jahr2000 verbot Innenminister Otto Schily „Blood &Honour“ in Deutschland. Insider der Neonazi-Szene sind sich aber mit Polizei und Experten ausJournalismus und Wissenschaft einig, dass dieBewegung im Untergrund weiter existiert. Aufeinschlägigen Internetseiten werden „Blood &Honour“-Konzerte noch immer offen angekündigt.Projekte wie „Status Quo Germania“zeugen von der Beständigkeit der BremerRechtsrock-Szene – und von ihren bundesweitenund internationalen Verbindungen. Die gibt esseit Jahren, das belegt auch „Grenadier“. So heißtHochkonspirativ organisiert und häufig auchvon der Polizei unbehelligt finden in NiedersachsenHardcore-Neonazi-Konzerte statt.ein Bandprojekt, in dem „Endstufe“ mit US-amerikanischenund australischen Neonazi-BandsCDs produzieren. Die jüngste entstand 2002 undheißt „Rudolf Heß“. Der einstige StellvertreterHitlers wird von vielen Neonazis als „Märtyrerfür Deutschland“ verehrt.Eine weitere feste Größe in Bremens rechterSzene ist die Hooligan-Band „KC–HungrigeWölfe“, kurz „KC“ genannt. Mit der Wahl ihresNamens kokettieren die „Musiker“ um SängerHannes Ostendorf bereits mit ihrem Ja zurGewalt: „KC“ steht für „Kategorie C“, und sonennt die Polizei gewaltbereite Fußballfans.„KC“ hat sich bundesweit längst einen zweifelhaftenNamen gemacht, sie gilt heute als die deutscheHooligan-Band. Ihre „Musiker“ wehren sichimmer <strong>wieder</strong> gegen Bezeichnungen wie rechts-extrem oder neonazistisch. Viele Liedtexte verherrlicheneher Brutalität und Alkoholmissbrauchals rechtsextreme Weltanschauungen.Aber es gibt auch andere Lieder. In derenTexten sehen Kritiker Gewalt gegen Ausländerpropagiert oder den Nationalsozialismus verherrlicht.Die Band tritt zudem auf Konzertenauch mit einschlägig bekannten Neonazi-Gruppenauf – so zum Beispiel Ende 2004 in Bad Nenndorfbei Hannover mit den Berliner Neonazis von„Berserker“.Zumindest Sänger Ostendorf, der im Januar2002 „Kategorie C – KC Die Band“ als Wort- undBildmarke schützen ließ, scheint zu seiner neonazistischenGesinnung zu stehen: Er ist auchFrontmann der „Blood & Honour“-nahen Band„Nahkampf“. Die sehr konspirativ agierendeGruppe hat seit ihrer Gründung 1986 fünf CDsveröffentlicht, von denen zwei indiziert sind. Zweiweitere sind Gemeinschaftswerke mit einschlägigenBands – und ein weiterer Beleg für die weitreichenden Verbindungen Bremens braunerMusikanten. 2001 veröffentlichte „Nahkampf“unter anderem eine CD mit „Kolovrat“.„Kolovrat“ ist das russische Wort für Hakenkreuzund der Name der ersten neonazistischenSkinhead-Band in Russland.Das A im Schriftzug von „Nahkampf“erinnert an das verbotene Zivilabzeichen vonAdolf Hitlers Sturmabteilung (SA) – so sehr,dass selbst einige rechte CD-Versandhändler esschwärzen ließen. Im Jahr 2000 ließ sich ausgerechnetder Bremer Jens Pühse den Schriftzug alsMarke eintragen. Pühse ist Vorstandsmitglied derrechtsextremen NPD und auch im Vorstand derJungen Nationaldemokraten (JN), der radikalenNPD-Jugendorganisation. Mit „Pühses Liste“betreibt er zugleich einen großen deutschenRechtsrock-Versandhandel. Pühse lebt heute inSachsen und arbeitet dort als Geschäftsführer derNPD-Postille „Deutsche Stimme“.Bremens „musizierende“ Rechte pflegennicht nur bundesweite und internationaleKontakte, sie sind auch eng mit dem niedersächsischenUmland verbandelt. Ein Beispiel:„Nahkampf“ hat im Bandprojekt „Panzerdivision“mit den rechtsextremen „PatrioticBois“* aus Delmenhorst gespielt. Einige der„Patriotic Bois“ haben sich bei „Sturmbrigade“mit Ex-KC-Mitglied Rainer Friedrichs zusammengefunden.Mit von der Partie waren auch„Endstufe“ und „Nahkampf“. Eine Gruppe, dieoffensichtlich beim Publikum so gut ankam, dassman sich für das Projekt „Rufmord“ <strong>wieder</strong> traf.Titel der CD: „Jetzt erst recht“.Christine Kröger* In der rechten Skinhead-Szene – aber nichtnur dort – werden „eu“ und ähnlich klingendeLaute häufig durch „oi“ ersetzt.Der Rechtsrock boomt:CDs, auf denen Bremer Bands ihre Hetzmusikzum Besten geben.2223


Rechte Töne auf dem SchulhofNeonazi-Kameradschaften und rechtsextreme NPD setzen auf Gratis-CDVehikel für Neonazi-IdeologieRechtsrockexperte: Braune Lieder sind gefährlichNPD-Bundesgeschäftsführer Frank Schwerdtkonnte sich eine gewisse Häme nicht verkneifen:„Trotz allem Verfolgungswahn der Behörden“*,schrieb er im Internet, „die Sachsen-CD ist weitestgehendan die Jugendlichengebracht worden.“Schwerdt meint dieCD, von der die NPDAnfang September 2004im Landtagswahlkampf inSachsen 25 000 Exemplarepressen ließ, um siegratis an Jugendliche zuverteilen. Auf dem Tonträgergibt der wegenVolksverhetzung verurteilteLiedermacherFrank Rennicke ausBaden-Württemberggleich drei Stücke zumBesten. Rennicke, seit1987 aktiv, ist der beliebteste„nationale Barde“der Szene, er absolviertviele Auftritte für NPD,JN und „freie Kameradschaften“.Immer <strong>wieder</strong>propagiert er den Kampfgegen das ihm verhasste„herrschende System“.Erst im Januar 2005 hatRennicke vor etwa 200Neonazis in Oyten (KreisVerden) gesungen – bisdie Polizei den „Liederabend“auflöste.Eher ein „Shooting-Star“ der Szene istAnnett Moeck aus Brandenburg, die im Jahr2000 mit ihrem Debüt „Eine Mutter klagt an“ fürFurore gesorgt hat. Ihr Stück „DeutscheMutter“ ist ebenfalls auf der NPD-CD verewigt.Darin regt sich die rechte Liedermacherin auf:„Ich arbeit’ mir den Arsch hier blau für seine siebenGörn und seine olle Frau.“ In der drittenStrophe merkt der aufmerksame Zuhörer, wer die„sieben Görn“ hat – und um was es Moeckeigentlich geht: um Stimmungsmache gegenandere Kulturen. „Das ist wahr, dass in vielenSchulen euer Glaube schon gelehrt. Wo bleibtunsere Kultur – haben wir alles schon verlernt?“Auch Annett Moeck ist im Jahr 2004 in einerGaststätte im Landkreis Verden vor mehr als 50überwiegend jungen Anhängern der rechtenSzene aufgetreten.Als „Fels in der Brandung“ produziert sich„Lunikoff“ auf der NPD-CD. Hinter demPseudonym steckt Michael Regener, Sänger derNeonazi-Kultband „Landser“. <strong>Sie</strong> wurde 2003 alskriminelle Vereinigung verboten.Seither nennen Regenerund seine Musiker sich „DieLunikoff Verschwörung“ –und münzen das „Landser“-Verbot gerne und immer <strong>wieder</strong>zur Drohung um: „EinesTages werdet ihr euch wünschen,wir würden nur Musikmachen.“ Solche gefährlichenTöne will die NPD nunbundesweit unter dieJugendlichen bringen.Die Idee für eine kostenloseSchulhof-CD hat die Parteioffenbar übernommen – vonanderen Rechtsextremisten:Das bundesweite Netzwerkneonazistischer Kameradschaften,die sich „FreieNationalisten“ nennen, wolltein ganz Deutschland bis zu250 000 CDs gratis an Schülerverteilen. Dann schrieben dieNeonazis im Internet über ihr„Projekt Schulhof“: „Eigentlichwollten wir euch eine CDin die Hand drücken, aberdurch staatliche Verbote undWillkür war es uns nicht möglich.“Damit meinen dieNeonazis Gerichtsbeschlüsse,die der „Schulhof-CD“ jugendgefährdendeInhalte bescheinigen. Als „Ersatz“ boten die„Kameraden“ Musik zum Downloaden an – undverwiesen dabei unter anderem auf die Gruppe„Endlöser“ aus Bremen. Christine Kröger* Fehler im Original.Rechtsrock hat viele Facetten – von HeavyMetal bis Folklore. Längst werden die gefährlichenpolitischen Botschaften zu den verschiedenstenKlängen vorgetragen, berichtet derDüsseldorfer Rechtsrockexperte Christian Dornbuschim Gespräch mit Christine Kröger.Frage: Herr Dornbusch, wie wichtig istMusik in der rechten und rechtsextremenSzene?Christian Dornbusch: Man kann dieBedeutung von Musik gar nicht überschätzen. Inden vergangenen zehn Jahren ist sie das VehikelNummer eins für rechtsextreme Ideologie geworden.Woran machen <strong>Sie</strong> das fest?Ganz einfach: Die Branche boomt. Bundesweitsind rund 120 rechtsextreme Bands aktiv, diepro Jahr mehr als 100 neue CDs auf den Marktwerfen. Dazu kommen Neonazi-Bands aus demAusland, deren Scheiben auch in Deutschland zukaufen sind.Wie ordnen <strong>Sie</strong> die Bremer Szene ein?Hart – und hartleibig. Bremens Rechtsextrememischen seit mehr als 20 Jahren ständig imMusikgeschäft mit. Die Besetzung und Nameneinzelner Bands wechseln häufig, meist aufgrundvon Streitereien innerhalb der Szene. Das darfaber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieHansestädter immer im Geschäft waren und sind.Aber der Verfassungsschutz sagt, in Bremenhabe seit Jahren kein Neonazi-Konzertmehr stattgefunden . . .. . . das heißt nicht, dass die Bands nicht livegespielt haben. Selbst „Endstufe“ – von vielen seitJahren immer <strong>wieder</strong> totgesagt – ist noch 2003 beieinem großen Neonazi-Konzert in Österreich vor1500 Besuchern aufgetreten. Solche Konzertewerden sehr konspirativ geplant, sind oft alsPrivatpartys getarnt und finden über die ganzeBundesrepublik verteilt oder eben im benachbartenAusland statt.„KC“ war Ende 2004 in Cottbus, beiDortmund und in Bad Nenndorf zu hören.Eben. Die Hooligan-Band ist auch einBeispiel dafür, wie Rechtsrock in andereJugendkulturen ausstrahlt. Und damit für immermehr Jugendliche zum Alltag gehört. Auch inBremen berichten Lehrer, dass es etwa von dersiebten Klasse an kaum noch Jugendliche gibt, dienicht schon einmal Musik von „Endlöser“ oder„Landser“ gehört haben.Wie populär Rechtsrock ist, haben jetztoffenbar auch die neonazistischen Kameradschaftenund die NPD erkannt.Der Rechtsextremismus hat sich enormmodernisiert. Die „Schulhofprojekte“ geben derSzene eine neue beängstigende Qualität.Rechtsextreme Parteien haben noch nie so offenmit harten Rechtsrockern aus dem Untergrundzusammengearbeitet.<strong>Sie</strong> meinen Michael Regener alias„Lunikoff“, der öffentlichkeitswirksam einenAufnahmeantrag für die NPD gestellt hat?Unter anderem. Das Schlimme: Bislang musstendie Jugendlichen den ersten Schritt tun, sichzum Beispiel ein Musikstück aus dem Internetziehen. Mit ihren Gratis-CDs aber <strong>marschieren</strong>jetzt die Extremisten auf die Jugendlichen zu. DerNPD ist offenbar jedes Mittel recht, um jungeLeute zu gewinnen.Jedes Mittel – übertreiben <strong>Sie</strong> nicht einbisschen? Es bleibt doch Musik . . .Ausländerfeindliche Texte zu aggressivenMelodien können sogar unmittelbar zu Gewaltführen. Schon viel zu oft sagten Neonazis, diebrutale Taten – bis zum Totschlag – begangen hatten,sie hätten kurz zuvor hasserfüllte Bands wie„Landser“ gehört.Zur Person: Christian Dornbusch ist Mitautordes Buchs „RechtsRock. Bestandsaufnahmeund Gegenstrategien“, eines der umfassendstenund aktuellsten Werke über braune Lieder. Wegenseiner wissenschaftlichen Arbeit wird er häufigbedroht, daher verzichten wir auf die Veröffentlichungeines Fotos.24 25


Bizarre Braune in SchwarzIn der Böttcherstraße sollte „Musik wie Munition“ erklingen„Musik wie Munition“ bejubelt der BremerAxel Meese im Internet ein Konzert von„Allerseelen“. Ein „schöner und kämpferischer“Auftritt sei das gewesen im sommerlichenOberhausen. Nun will er einladen ins „winterlicheBremen“: In einer „Privatveranstaltung“an einem „exquisiten Ort in geschichtsträchtigemAmbiente“ soll die extrem rechte Band„Allerseelen“ auftreten.Meese meint den Himmelssaal im HausAtlantis an der Böttcherstraße. Doch das HotelHilton vermasselt ihm Ende Januar 2005 dieTour: Es trat als Eigentümer des Hauses vomMietvertrag zurück, als es vom politischenHintergrund des Konzertes erfuhr.Bizarre Braune in Bremens guter Stube:Mit üblichen Neonazi-Konzerten haben solcheAuftritte wenig gemein. Statt grölender rechterSkinheads sind es vor allem rechte Dark-Wave-Anhänger, die sich dort ein Stelldichein gebensollten. Braune, die sich innerhalb der rechtenSzene wohl für eine Art Elite halten.Axel Meese ist offenbar gut Freund mitGerhard Petak, alias Kadmon, dem Kopf von„Allerseelen“ aus Wien. Jedenfalls tut der Bremerin lockerem Plauderton via Internet kund:„Gerhard äußerte schon vor geraumer Zeit denWunsch, einmal in Norddeutschland aufzutreten,und beim Allerseelen-Auftritt in Oberhausenhaben wir dann die ganze Sache soweit beschlossen.“Mit Veranstaltungen wie diesen will Meese„einem geneigten Publikum qualitativ hochwertigeWerke in Ton-, Schrift- und Bildform zugänglichmachen“. So beschreibt der nach eigenenAngaben nebenberufliche Versandhändler seine„Philosophie“ im Internet. „Kunst hat sich überideologische und moralische Grenzen zu erheben.Kunst – und die Sprache – sind frei.“ Gleichanschließend nimmt der Bremer sich die Freiheit,ausführlich Julius Evola (1898–1974) zu zitieren– einen Vordenker des italienischen Faschismus.LPs wie „Blut und Boden“ des Bandprojektes„Rasthof Dachau“ und „Lager“ von„Murder Corporation“ gehören zum „qualitativhochwertigen“ Angebot, das Meese unter demTitel „Neue Ästhetik“ zum Kauf anbietet. Einesder Cover zeigt das zu trauriger Berühmtheitgelangte Tor des Konzentrationslagers Auschwitzmit der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei“.Spätestens hier wird offensichtlich, wie weit derDark-Wave-Fan „ideologische und moralischeGrenzen“ aufgehoben sehen will.Zu kaufen gibt es bei Meese neben CDs undLPs extrem rechter Dark-Wave-Bands unverdächtigeTonträger wie Iggy Pops „The Idiot“. AuchKultregisseur Quentin Tarantino kommt mit„Gewalt ist eine Art der Unterhaltung“ zu Wort.Damit frönt Meese einer Eigenart rechterAnhänger der schwarzen Szene: <strong>Sie</strong> stellenextrem rechte Musik wie selbstverständlichneben unpolitische Inhalte. In Interviews undPublikationen beziehen sie sich mit derselbenSelbstverständlichkeit auf Nazi-Ideologen wieauf andere Dichter und Philosophen.So stricken sich diese Rechten einenDeckmantel des Unpolitischen. Werden dieBezüge zu eindeutig faschistisch, antisemitischoder neonazistisch, ziehen sich viele Szenevertreterarrogant auf die „Freiheit der Kunst“zurück. Braune in Schwarz sprechen gerne ironischvon den „politisch Korrekten“, die ihnen sogerne in die Suppe spucken. Bevor er in seinerKonzertkritik zum „Allerseelen“-Auftritt inOberhausen ins Schwärmen gerät, klagt auchMeese ausführlich über die Präsenz der Polizeiund die Auflagen des Ordnungsamtes.Solchen Komplikationen versuchte derBremer wohl zu entgehen, indem er den hiesigen„Allerseelen“-Auftritt sehr konspirativ organisierte:Den „der Musik angemessenenVeranstaltungsort“ sollten die maximal 130Besucher erst drei Stunden vor Konzertbeginnüber eine Handynummer erfahren – ein in derrechtsextremen Szene übliches Verfahren, umprotestierende Linke, aber auch Behörden undPolizei möglichst fern zu halten.Deshalb sind rechte Konzerte auch häufig alsPrivatveranstaltungen“ deklariert, für die ebensostrenge wie verräterische Regeln aufgestellt werden.Auf Meeses Einladungen steht: „Das Tragenund Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole undZeichen verfassungsfeindlicher Organisationenzieht den Ausschluß von der Veranstaltung nachsich!“ Die „persönlichen Einladungen“ warenübrigens gegen eine Anzahlung von fünf Euro fürjedermann erhältlich, der auf Meeses Internetauftrittstieß.Sein Gast, Gerhard Petak von „Allerseelen“,gehört zu den festen Größen des rechten Dark-Wave-Flügels – nicht nur wegen der düsteren,teils rituell anmutenden Musik, die der Sängermeistens mit einem Bassisten und zweiTrommlern produziert. Petak war zudem Herausgeberund Autor themenbezogener Hefte namens„Ahnstern“. Einige Ausgaben sind Nazis gewidmet– wie Karl Maria Wiligut, einem jener„SS-Angehörigen, deren Arbeit ich am meistenschätze“, schreibt Petak. Ein Grund: „Wiligutmachte Himmler auf die Wewelsburg beiPaderborn aufmerksam.“ Der Weserrenaissance-Bau war während des „Dritten Reiches“ eineKultstätte der SS. Hier ließ der SS-ReichsführerHeinrich Himmler rassistische Forschung betreibenund nach einer germanischen „Ersatzreligion“suchen. In der Nähe wurde ein KZ errichtet,dessen Häftlinge die Burg umbauen mussten.Das allerdings erwähnt Wiligut-Fan Petaknicht, nur so viel: Wiligut „fiel in Ungnade, bevordie Gewalt im ,Dritten Reich‘ grausam eskalierte“.Das klingt, als hätte jemand bis 1939 SS-Brigadeführer und engster weltanschaulicherBerater Himmlers sein können, ohne mit Hitlerswahnsinnigen Ideen konform zu gehen. Auch fielWiligut nicht „in Ungnade“. Er verließ die SSoffiziell aus Altersgründen, in Wahrheit wegengeistiger Unzurechnungsfähigkeit – nachdem erbereits 1925 wegen Geisteskrankheit entmündigtworden war.Petak geht einmal mehr szenetypisch vor:Rechte Dark-Wave-Anhänger verehren häufig –als eine Art verkannter Genies – Nazi-Persönlichkeiten, die irgendwann bei der NS-Führung aneckten, egal warum. Einen ähnlichenLebenslauf hat ein weiterer Himmler-Vertrauter:Herman Wirth, der „Ideengeber“ für das HausAtlantis mit dem Himmelssaal in der Böttcherstraße.Ein bei „Allerseelen“ beliebtes Symbol ist dieSchwarze Sonne – ein Zeichen, das auch in dergesamten neonazistischen Szene beliebt ist. Eskann als zwölfarmiges Hakenkreuz gedeutetwerden. In der Wewelsburg ist eine SchwarzeSonne in den Boden eingelegt, Petak nennt dasMosaik schwärmerisch „eine künstlerischeArbeit“.Auf genau dieser Schwarzen Sonne sollensich während der NS-Zeit die ranghöchsten SS-Führer versammelt haben. Eine menschenverachtendebraune „Elite“, für die es keine moralischenGrenzen gab. Die den Mord an MillionenMenschen organisiert hat. Kein Wort dazu vonPetak. Auch so ein „künstlerisches Werk“?Christine KrögerEin „qualitativ hochwertiges“Angebot?Axel Meese handeltmit CDs extrem rechterDark-Wave-Bandswie „Waldteufel“oder „Allerseelen“.Auch die LP „Lager“von „MurderCorporation“ hat derBremer im Angebot.26 27


Im braunen HimmelWas Rechte in das Haus Atlantis an der Böttcherstraße zieht„Sturmlieder“ nennt die extrem rechte Band„Allerseelen“ ihre dritte CD. Das Cover zeigt eineSkulptur von Odin, auch Wotan genannt, demhöchsten Gott der alten Germanen. <strong>Sie</strong> zierte bis1944 die Fassade des Hauses Atlantis in derBöttcherstraße.Das gesamte Booklet der CD „Sturmlieder“ist eine Verbeugung der rechten Musikervon heute vor dem Haus Atlantis von gestern: mitBernhard Hoetgers Lebensbaum samt Odin-Skulptur an der Außenfassade, dem bis heuteerhaltenen Treppenhaus und dem ebenfallsrestaurierten Himmelssaal im Innern. „Die Odin-Skulptur stammt übrigens von Bernhard Hoetger,der im ,Dritten Reich‘ als entarteter Künstlergalt“, betont „Allerseelen“-Sänger Gerhard Petakin einem Szenemagazin. Er scheint bemüht, politisch„unverdächtig“ zu wirken. Und schweigt zupolitisch braun gefärbten Zusammenhängen.In seinem Buch „Der gebaute Mythos“ entlarvtArn Strohmeyer, Redakteur der „BremerNachrichten“, das 1931 eingeweihte HausAtlantis als Huldigung an eine religiös verbrämteBlut-und-Boden-Ideologie. Erdacht von HermanWirth (1885–1981), dem ersten Präsidenten desSS-Ahnenerbes. Bezahlt von Ludwig Roselius(1874–1943), dem von Hitlers Ideen begeistertenBremer Kaufmann. Umgesetzt von BernhardHoetger (1874–1949), dem sich zum Nationalsozialismusbekennenden Bildhauer.„Die Wiedererrichtung der Böttcherstraße istein Versuch, deutsch zu denken“, sagt Roselius1929. Allerdings kein gelungener – befindensowohl die SS-Oberen als auch ihr Führer siebenJahre später. 1936 lehnt Adolf Hitler selbst „dieBöttcherstraßenkultur schärfstens“ ab. Dennochlässt er die ganze Straße unter Denkmalschutzstellen – als Lehrbeispiel „entarteter Kunst“.Dabei hat Hoetger das Haus Atlantis nachden Ideen Wirths entworfen. Mit demPseudogelehrten in völkischer Ahnen- undRunenkunde gründet der zur Esoterik neigendeSS-Reichsführer Heinrich Himmler 1935 das„Deutsche Ahnenerbe“. Das Schulungs- undForschungsorgan der SS soll auf der Wewelsburgbei Paderborn eine völkisch-rassistische„Geistesurgeschichte“ erforschen und eine „neugermanischeErsatzreligion“ ersinnen. HimmlersHofgelehrter Wirth lobt Hoetgers Bauten als„die in diesem Jahrhundert einzigen, für die ,Blutund Boden‘ kein gestelztes Schlagwort ist“.Bezahlt wird das Haus Atlantis von LudwigRoselius, dem erfolgreichen Kaffeeunternehmerund großzügigen Kunstmäzen. Roselius ist schonfrüh begeistert von Wirths wirrer Germanentümelei,später glaubt er fest an die neureligiöseBlut-und-Boden-Ideologie seines engen Freundes.Dieser Ideologie will er mit dem HausAtlantis ein Denkmal setzen.Als Architekten wählt Roselius BernhardHoetger. Er schätzt dessen expressionistischesWerk. Hoetger selbst „denkt nordisch“ undbekennt sich zum Germanentum. Einzig: SeinExpressionismus missfällt Hitler. Wie Roseliusreagiert Hoetger 1936 mit Anpassung auf dieKritik des „Führers“. Er habe aus der „Sehnsuchtnach rein deutscher Form“ gearbeitet, entschuldigter sich. Später arbeitet Hoetger für dieNationalsozialisten und wird in Rom Mitglied derAuslands-NSDAP.Roselius lässt nach Hitlers Machtwort promptdas expressionistische Gefüge aus Stein und Glasentfernen, das den Eingang der Böttcherstraßeziert. An seine Stelle tritt Hoetgers Relief „DerLichtträger“, das noch heute dort hängt. Es zeigtden heiligen Michael, der mit einem Schwertgegen einen Drachen kämpft. „Die Bronze stelltden <strong>Sie</strong>g unseres Führers über die Mächte derFinsternis dar“, deutet Roselius das Werk. Der„Lichtträger“ ist im Booklet des extrem rechtenMusik-Samplers „Lucifer Rising“ abgebildet. Mitihm illustriert die Band „Waldteufel“ ihrenBeitrag, die Gruppe vertont auf dem Album„Heimliches Deutschland“ zudem Verse vonHerman Wirth.Offenbar schätzt in der rechten Musikszenenicht nur „Allerseelen“ die Böttcherstraße.„Allerseelen“ aber will Anfang 2005 gar einKonzert im Himmelssaal des Hauses Atlantisgeben. Doch der Vermieter kündigt rechtzeitigden Mietvertrag, als er vom politischen Hintergrundder Musiker erfährt. Christine KrögerErinnerung an ein dunkles Kapitel derdeutschen Geschichte: der Himmelssaal imHaus Atlantis während der NS-Zeit.Eine Hommage an die Böttcherstraßesind die „Sturmlieder“ der extrem rechtenBand „Allerseelen“.2829


Alter Inhalt in neuem OutfitDer braune Rand der Jugendszenen Dark Wave und Black MetalJahr für Jahr pilgern mehr als 20 000Menschen zum Wave-Gothic-Treffen nachLeipzig, Szenemagazine gibt es an fast jedemKiosk: Die Dark-Wave-Szene, auch SchwarzeSzene, Grufties oder Gothics genannt, ist eine dergrößten Jugendszenen in der Bundesrepublik.Und schon seit Jahren hat diese populäreBewegung einen kleinen, aber hartnäckigenbraunen Rand.Spätestens seit Mitte der 90er Jahre machensich extreme Rechte die verklärendeRückwärtsgewandtheit vieler Dark-Wave-Anhänger zunutze. Genau wie ihren Hang zuEsoterik und Heidentum oder ihre Kritik anMaterialismus und Oberflächlichkeit derGegenwart. Dabei bezieht sich der rechte Dark-Wave-Flügel vor allem auf die „KonservativenRevolutionäre“ der 20er und 30er Jahre und deseuropäischen Faschismus wie Julius Evola oderCorneliu Codreanu.Rechte Dark-Wave-Bands unterscheiden sichdeutlich von Neonazi-Bands, die den Rechtsrockdominieren. Statt mehr oder minder offeneHetzparolen gegen Ausländer oder Juden zu grölen,ergehen sie sich in Andeutungen über „heiligesBlut“, „Wintersonnenwende“, „Heimat“oder „Panzergärten“ – allesamt Beispiele aus demRepertoire von „Allerseelen“. Die Verschlüsselungenspiegeln das elitäre Selbstverständniswider, genau wie die strenge Limitierung vielerTonträger.Auch Outfit und Auftreten unterscheiden sichdeutlich von rechten Skinhead-Bands. RechteDark-Wave-Gruppen erklären Ästhetik zumFetisch. Ästhetisch sind in ihren Augen offenbarviele Werke von „Künstlern“, die auch das NS-Regime schätzte, wie den Bildhauer Arno Brekeroder die Regisseurin Leni Riefenstahl. Bezügezu deren Werken finden sich jedenfalls auf zahlreichenCD-Covern und Konzert-Flyern. AuchKrieg und Militarismus werden ästhetisiert, SS-Uniformen sind in der Szene beliebt.Dark Wave ist nicht die einzige Jugendkultur,in der sich Braune tummeln. Im Punk, im HipHopund im Techno blieben rechtsextreme Tendenzenbislang aber selten – anders als im Black Metal.Auch in dieser extrem harten Spielart des HeavyMetal hat sich längst ein rechter Flügel etabliert.Der NS-Black-Metal hat wenige, aber gefährlicheAnhänger. Sehr viel direkter als braune Dark-Wave-Vertreter glorifizieren sie Rassismus,Gewalt, Krieg und Tod.Anhänger des NS-Black-Metal erklärenChristen offen den „Krieg“ – bis hin zu unverhohlenemSatanismus. Die beiden „Kultfiguren“der Szene erreichten ihren Status, indem sieMenschen umbrachten: Hendrik Möbus, der„Satansmörder von Sonderhausen“, ist Sängerder NS-Black-Metal-Band „Absurd“. Mit zweiKomplizen quälte er 1993 einen Mitschüler zuTode. Heute ist er wegen des Vertriebs rechtsextremerMusik und neonazistischer Propaganda,Leugnen des Holocaust und Aufrufs zum „Kampfgegen Juden“ inhaftiert. Der Norweger VargVikernes, Sänger der Band „Burzum“, hat eben-falls einen Menschen getötet. Er hält „menschlicheWesen für wertlos und dumm“. Dahintersteckt eine Gewaltbereitschaft, die die der rechtenSkinhead-Szene vermutlich noch übertrifft.Fast alle rechtsextremen CD-Versandhändlervertreiben heute auch Black-Metal-Scheiben.Vereinzelt gibt es gemeinsame Konzerte vonBlack-Metal- und Skinhead-Bands. Rechte bisrechtsextreme Dark-Wave-Anhänger dagegenarbeiten in der Regel nicht mit Skinhead-Bandszusammen. Zu groß sind die Ressentiments aufbeiden Seiten. Vielen rechten Skinheads sindIntellektuelle suspekt. Umgekehrt finden rechteGrufties die gewaltbereite Skinhead-Subkulturvulgär. <strong>Sie</strong> scheuen auch das offene Ja zumNationalsozialismus – auch wenn sie selbst völkischbis faschistisch denken.Bei rechten Dark-Wave-Konzerten tummelnsich bislang wenige Neonazis im Publikum.Schon heute aber ist eine andere Gefahr gar nichtzu überschätzen: Je vielfältiger und geschickterrechtsextreme Inhalte „verpackt“ werden, destomehr Jugendliche könnten Gefallen an ihnen finden.Christine KrögerMitglieder der rechten Dark-Wave-Szene treten auch bei Neonazi-Aufmärschen wieim Februar 2005 in Dresden auf.3031


Der Heisenhof: Ein- und AussichtenEin ehemaliger Gutshof in Dörverden drohtzum Treffpunkt für Rechtsextremisten und zurStätte rassistischer Fruchtbarkeitsforschung zuwerden. Behörden und Bewohner streiten sichvor Gericht, ein Ende ist nicht abzusehen.32 33


Riegers HeisenhofEine Chronologie3. April 2004: Die Wilhelm-Tietjen-Stiftungfür Fertilisation mit Sitz in London ersteigert beieiner Auktion der Berliner Firma DeutscheGrundstücksauktionen AG den Heisenhof inBarme. <strong>Sie</strong> bezahlt 255 000 Euro für das rund25 000 Quadratmeter große Gelände. Auf demehemals militärisch genutzten Anwesen befindensich neben Garagen vier Gebäude: DasHerrenhaus (früher Offizierskasino), das Ledigenwohnheim(Standortverwaltung), ein Flachbau(Offizierswohnheim) und ein Fachwerkgebäude(Pumpenwärterhaus). Die Räume bietenPlatz für rund 300 Übernachtungsgäste. Hinzukommen Seminarräume, ein Saal sowie unterirdischeSchutzräume und Schießstände.4. Juni 2004: Der Kauf ist perfekt, das Geldan die frühere Eigentümerin – die Industrieverwaltungsgesellschaft(IVG) Immobilien AG –überwiesen.26. Juni 2004: Die VERDENER NACH-RICHTEN decken auf, wer hinter der Wilhelm-Tietjen-Stiftung steckt: der Hamburger Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger. Er kündigt an, auf demHeisenhof Fruchtbarkeitsforschung betreiben zuwollen.2. Juli 2004: Gemeinde Dörverden, LandkreisVerden und Polizei Verden verständigen sichauf eine gemeinsame Marschrichtung, um einNeonazi-Zentrum im Heisenhof zu verhindern.6. Juli 2004: Niedersachsens InnenministerUwe Schünemann erklärt, dass alle Aktivitätenauf dem Heisenhof „sehr genau“ beobachtet würden.21. August 2004: Rieger kündigt Schadenersatzforderungen„ohne Ende“ an, falls ihmSteine in den Weg gelegt werden. Entgegen derAuffassung des Landkreises meint er, keineBaugenehmigung beantragen zu müssen.September 2004: In das Pumpenwärterhaussind die ersten Bewohner eingezogen.15. September 2004: Rieger bringt seineMilitär- und Wehrmachtsfahrzeuge auf denHeisenhof.18. September2004: Einer der aufdem Heisenhof lebendenRechtsradikalenzieht sich bei einemAutounfall nur wenigeMeter von der Einfahrtentfernt schwereVerletzungen zu, vondenen er sich <strong>wieder</strong>erholt. Die Polizeischließt nach mehrtägigenErmittlungenein Fremdverschuldenaus. Zeugen wollen indem Unfallauto Waffenund waffenähnlicheGegenstände gesehenhaben.27. September2004: Der Landkreissucht vor Ort nachIndizien für eine rechtswidrige Nutzung desHeisenhofes.13. Oktober 2004: Der Gemeinderat Dörverdenverabschiedet eine Resolution. Dörverdenwolle keine Brutstätte für antidemokratischesGedankengut sein, heißt es darin.23. Oktober 2004: In Verden demonstrieren250 Menschen gegen Rechtsextremismus. <strong>Sie</strong>werden von einem starken Polizeiaufgebotbegleitet.3. November 2004: Zu einer Informationsveranstaltungüber den Rechtsextremismus kommenrund 300 Besucher in den „Forstenhof“ inBarme. Gastgeber ist ein breites Aktionsbündnis,dass sich in Dörverden gebildet hat.8. November 2004: Rieger lässt Mobiliarzum Heisenhof bringen. Hier halten sich inzwischenmindestens acht Menschen ständig auf.14. November 2004: Am ersten Sonntagsspaziergangzum Heisenhof beteiligen sich rund1000 Demonstranten.Jürgen Rieger im Gespräch mit einem Polizisten vor dem Heisenhof.20. November 2004: LandessuperintendentManfred Horch begrüßt die DörverdenerProteste. Unterdessen schult auf dem Heisenhofder vorbestrafte NPD-„Sicherheitsexperte“ PeterNaumann Neonazis. Unter den Teilnehmern:„Freie Nationalisten“ aus Bremen, der stellvertretendeNPD-Landesvorsitzende Adolf Dammannund der stellvertretende Bundesvorsitzende derJungen Nationaldemokraten, Florian Cordes ausOyten.25. November 2004: Im Verdener „Niedersachsenhof“spricht der geschasste Ex-Brigadegeneral Reinhard Günzel, vor der Tür verweigernNeonazis vom Heisenhof unliebsamenGästen den Zutritt.3. Dezember 2004: Der Landkreis schicktden Heisenhof-Bewohnern und der Wilhelm-Tietjen-Stiftung Verbotsverfügungen zu: DasGelände muss geräumt werden. Rieger legtWiderspruch ein und beantragt beim Verwaltungsgericht,die sofortige Vollziehung auszuset-zen. Im April 2005 liegt die Sache in zweiterInstanz vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg,das noch nicht entschieden hat.16. Dezember 2004: Rieger stellt einen formlosenBauantrag. Danach plant er eine Mischnutzungaus Wohnen, Bildungszentrum und Fruchtbarkeitsforschung.Nach Landkreis-Angaben hatder Rechtsradikale bis bis April 2005 keine prüffähigenUnterlagen nachgereicht.20. Dezember 2004: Innenminister Schünemannstellt zwölf zusätzliche Polizisten ab. DieVerfügungseinheit, die die Aktivitäten rund umden Heisenhof im Auge behalten soll, erhöht sichdamit auf 19 Beamte.21. Dezember 2004: Vor den BerufsbildendenSchulen in Dauelsen soll einer derHeisenhof-Bewohner einen BildjournalistenMitglieder der NPD und JN auf dem Heisenhof in Dörverden.angefahren haben. Sein Auto wird vorübergehendbeschlagnahmt, der Führerschein eingezogen. DieStaatsanwaltschaft ermittelt im April 2005 noch.24. Dezember 2004: Rieger interessiert sichangeblich für den Holzmarkt in Verden. DieImmobilie steht für knapp 16 Millionen Euro zumVerkauf, nachdem der Investor Insolvenz angemeldethat. Ein Sprecher der DeutschenHypothekenbank Hannover: „Wir verkaufen nichtan Extremisten.“30. Januar 2005: Zum zweiten Sonntagsspaziergangkommen fast 2000 Menschen. Dazuaufgerufen haben <strong>wieder</strong> das DörverdenerAktionsbündnis und diesmal auch ein Bündnisaus dem benachbarten Hassel im LandkreisNienburg. Die Heisenhof-Bewohner versuchen,die Kundgebung mit lauter Musik zu stören, werdendaran aber von der abermals stark vertretenenPolizei gehindert.28. Februar 2005: Im „Forstenhof“ findeterneut ein Informationsabend statt – Auftakt zueiner Ausstellung über den Neofaschismus. Vonder Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes –Bund deutscher Antifaschisten und der IG Metallkonzipiert, ist sie bis Mitte März im DörverdenerRathaus zu sehen.Anke Landwehr3435


Vor dem Gesetz sind alle gleichVerdens Oberkreisdirektor Werner Jahn zum Heisenhof und zu Riegers PlänenKommunen gegen rechts – aber wie?Ein Gastbeitrag von Reinhard KochVor dem Gesetzsind alle gleich – auchNeonazis wie derHamburger RechtsanwaltJürgen Riegermit seinen Phantasienvon einem neuheidnischenReich ohne„Rassenmischung“.Ob Gemeindeund Landkreis dennoch Chancen haben,den Heisenhof zu verhindern, beantwortetOberkreisdirektor Werner Jahn im Gespräch mitAnke Landwehr.Frage: Herr Jahn, was geschieht, falls dasOberverwaltungsgericht Lüneburg auch inletzter Instanz bestätigen würde, dass dieBewohner des Heisenhofs das Gelände räumenmüssen?Werner Jahn: Wir werden unsere Verfügungenvollstrecken. Zunächst wird das mildeste Mittelangewendet, also ein Zwangsgeld festsetzen.Und wenn <strong>Sie</strong> das nicht eintreiben können?Die drei Männer sollen ja allesamt vonArbeitslosengeld II leben . . .Dann käme der unmittelbare Zwang inBetracht, das heißt: die Zwangsräumung notfallsunter Einsatz der Polizei. Verlassen müssen dieMänner den Heisenhof so oder so. Falls sie keineandere Unterkunft haben, wird es Aufgabe derGemeinde als Obdachlosenbehörde sein, sieirgendwo unterzubringen.Bei den Verwaltungsgerichten geht es umdie Frage der sofortigen Vollziehung desNutzungsverbotes. Gleichzeitig hatte HerrRieger aber Widerspruch gegen die von Ihnenangeordnete Räumung eingelegt. Wie werden<strong>Sie</strong> entscheiden?Wir werden den Widerspruch natürlich alsunbegründet zurückweisen.Anzunehmen, dass Rieger dagegen klagtund daraus eine unendliche juristischeGeschichte wird. Mit welcher Dauer ist IhrerErfahrung nach zu rechnen?Das ist schwer einzuschätzen. Ich kenneBauprozesse, die in einer Instanz über zwei Jahregedauert haben.Das Verwaltungsgericht Stade teilt in einervorläufigen Einschätzung die Rechtsauffassungdes Landkreises, dass Herr Rieger fürjegliche Nutzung des Heisenhofes eineBaugenehmigung braucht. Müsste sie ihmnicht auf alle Fälle erteilt werden?Bisher hat er seinem Bauantrag noch keineprüffähigen Unterlagen folgen lassen. Täte erdies, wäre primär zu prüfen, ob die beantragteNutzung bauplanungsrechtlich zulässig ist. Diegesamte Anlage Heisenhof befindet sich imAußenbereich, wo normalerweise jede Nutzungausgeschlossen ist.Die Crux ist doch wohl, dass drei der vierGebäude unter Denkmalschutz stehen – HerrnRieger nach dem Baugesetzbuch also einewirtschaftliche Nutzung ermöglicht werdenmuss.Das ist richtig. Das Gesetz sieht Ausnahmeregelungenzur Erhaltung von Baudenkmalenvor. In welchem Umfang das hier gilt,müsste geprüft werden. Entscheidend ist natürlichauch, was die Gemeinde dazu sagt. <strong>Sie</strong> hatdie Planungshoheit und könnte die Aufnahmeeiner Nutzung durch entsprechende Maßnahmender Bauleitplanung vielleicht erschweren.Könnte sie das Gelände einfach als Grünflächeausweisen, wie es die örtliche SPD-Gemeinderatsfraktion vorgeschlagen hat?Nein, das wäre rechtlich nicht zulässig.Und was wäre zulässig?Ich könnte mir vorstellen, hier nur eineNutzung zu erlauben, die sich in das GesamtkonzeptVictoria Garden einfügt.Davon hört man allerdings gar nichtsmehr. . .Das Projekt läuft nach wie vor weiter, wennauch nicht öffentlich. Im Augenblick geht es ganzkonkret um den Grundstückserwerb. Leider hatder Heisenhof die Investitionsbereitschaft ausländischerGeldgeber nicht gerade erhöht. Ich glaubeaber fest daran, dass der Victoria Garden realisiertwird.Und wenn sich doch herausstellt, dass essich nur um Luftschlösser handelt?Dann hätte die Gemeinde noch andereMöglichkeiten, über die ich aber nicht öffentlichspekulieren werde. Die Sache wird dadurcherschwert, dass Herr Rieger aus seinen vielen,vielen Gerichtsverfahren gelernt hat. Er wirdnatürlich alle Nutzungen neutral beschreiben, dawird mit Sicherheit nichts von neonazistischerIdeologie auftauchen. Da wird die Rede vonFortbildungsveranstaltungen und Wochenendseminarensein – von den Begriffen her völligunverfängliche Dinge. Man muss immer bedenken:Das Baurecht ist objekt- und nicht personenbezogen.Wem der Heisenhof gehört – ob einemMassenmörder, einem Kinderschänder oder ebenHerrn Rieger – ist deswegen völlig unerheblich.Wir werden dann möglicherweise in eineSituation kommen, in der wir tatsächlich eineBaugenehmigung erteilen müssen, obwohl wirRieger nicht haben wollen. Aber die Rechtsordnunggilt nun einmal auch für ihn.Eben sagten <strong>Sie</strong> aber noch, die Gemeindekönne ihn dank ihrer Planungshoheit ausbremsen. . .Noch einmal: Ich werde nicht jetzt schon alleÜberlegungen im Detail ausbreiten. Anderenfallswürde Herr Rieger sich sicher bedanken undsagen: Das ist wie eine Rechtsberatung, da kannich geradezu was draus lernen. Ich will hier nursagen, dass Einschränkungen möglich sind.Dürfte Herr Rieger denn auch Fruchtbarkeitsforschungbetreiben, wie er es angekündigthat?Das findet an jeder Universität statt. DieFrage ist, was er konkret im Heisenhof machenwill. Wenn das in Richtung Lebensborn geht,käme er sicher mit dem Strafgesetz in Konflikt.Da müsste dann ein Strafrechtler ran.Fünf Jahre ist esher, dass BundeskanzlerGerhard Schröderden „Aufstand derAnständigen“ gegenRechtsextremismus,Fremdenfeindlichkeit,Gewalt und Rassismusausrief. Als Reaktionauf die erhebliche Medienpräsenz des Themasinsbesondere nach dem Bombenanschlag inDüsseldorf im Sommer 2000 begann ein weithinbekanntes Ritual. Die (weitestgehend) überfordertePolitik verwies zunächst auf die Klassikerder gemeinhin Zuständigen: Schulen und Polizei.Dann wurde zusätzlich Jugendhilfe und Sozialarbeitangemahnt, um schließlich im gemeinsamenVerbund aller auf die Elternhäuser zu verweisen.Dieses idealtypische Verfahren spiegelt sichauf Ebene der kommunalpolitischen Entscheidungsträgerkonsequent wider. Um diesen Kreislaufzu durchbrechen, sollten folgende Erfahrungswerteden Handlungsrahmen bestimmen:Erste Erkenntnis: Noch immer ist akuterProblemdruck und die damit zusammmenhängendeMedienberichterstattung auslösenderFaktor für die Thematisierung des Rechtsextremismusin einer Kommune.Zweite Erkenntnis: Verharrt eine Kommunein der starken Orientierung auf das Außenbild,dominieren Aktionismus und Imagekampagnendas politische Handeln.Dritte Erkenntnis: Nötig ist eine deutlicheund sichtbare Positionierung wichtiger Persönlichkeiten,einflussreicher Institutionen und allerParteien als gemeinsame Orientierung.Vierte Erkenntnis: Die gleichberechtigteBeteiligung von Jugendlichen schafft Erfahrungsfelderdemokratischer politischer Kultur.Professionelle Pädagogen sollten auf denAnspruch eines Wissensvorsprungs verzichtenund jugendlichem Expertenwissen Raum lassen.Fünfte Erkenntnis: Die Bereitschaft zurKooperation mit überregionalen Fachleutenschafft oder erweitert die Ressourcen lokalerKompetenzzentren, deren Aufgabe die notwendigeDifferenzierung in der lokalen rechtsextremenSzene ist. Hier ist besonders eine Bewertung derKader und potenziell erreichbaren Personen vorzunehmen.Institutionen sind mit in dieVerantwortung zu nehmen sowie Handlungsempfehlungen(Repression, Ausstiegshilfen) zuentwickeln.Sechste Erkenntnis: Zu den wirkungsvollenInstrumentarien der Kommune gehört eine rigideAnwendung aller ordnungspolitischen Möglichkeitengegen die Kader. Hier sind oft die kleingedrucktenVerordnungen treffgenauer als dasStrafgesetzbuch.<strong>Sie</strong>bte Erkenntnis: Gelingt es, eine Kerngruppezu langfristigem Engagement zu installieren,ist ein wesentlicher Schritt zur Nachhaltigkeitgetan.Achte Erkenntnis: Die Kommune hat dieregionale und landespolitische Beteiligung undPolizisten vor dem Gelände des Heisenhofes.Unterstützung einzufordern, um den Blick aufstrukturelle Entwicklungen zu lenken und keinenMythos eines „lokalen Problems“ zu fördern.Hier bietet insbesondere die beim LandespräventionsratNiedersachsen eingerichtete ClearingstelleRechtsextremismus eine Scharnierfunktion.Neunte Erkenntnis: Alle Prozesse imAktionsplan sollten rechtzeitig, detailliert undtransparent dokumentiert werden – auch, umanderen Kommunen entsprechende „Aha-Erlebnisse“ zu ersparen.Der Autor: Reinhard Koch ist Leiter derArbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt beider Bildungsvereinigung Arbeit und Leben inBraunschweig (Arug), Bohlweg 55, 38100Braunschweig, Telefon 05 31/12 33 642, Hotline05 31/12 33 634, E-mail info@arug.de, Internetwww.arug.de.36 37


Jürgen RiegerEin Rechtsanwalt aus HamburgSuperarier im ReagenzglasEin Interview mit Jürgen Rieger im August 2004Jürgen Rieger gilt zwar als Einzelgänger, istaber eng im braunen Netzwerk verwoben undeine Schlüsselfigur in der rechtsradikalen Szene– auch über die Grenzen Deutschlands hinaus.Dass er auf eine gut ausgebaute Infrastrukturzurückgreifen kann, zeigt die Beteiligung amRudolf-Heß-Gedächtnismarsch im fränkischenWunsiedel, den Rieger seit 2001 jährlichanmeldet und leitet. In diesem Jahr kamen rund5000 Neonazis aus ganz Europa.Rieger, Jahrgang 1947 und Spross einer inHamburg-Blankenese beheimateten Arztfamilie,ist bekennender Rassist. Der Rechtsanwalt, dersich selbst unter anderem wegen Volksverhetzungund Körperverletzung vor Gericht verantwortenmusste, hat 1972 den „Nordischen Ring“mitbegründet. Er ist Vorsitzender der„Gesellschaft für biologische Anthropologie,Eugenik und Verhaltensforschung“ (GfbAEV)und leitet die „Artgemeinschaft“. BeideOrganisationen orientieren sich an derRassenideologie der Nationalsozialisten, dieGfbAEV tritt unter anderem für die Sterilisationvon Erbkranken ein.Sowohl GfbAEV wie „Artgemeinschaft“ ludenzu Tagungen in das von Rieger betriebeneSchulungszentrum in Hetendorf ein. Bis zu dessenVerbot 1998 traten hier auch Holocaust-Leugner wie Johannes P. Ney auf, der bis zuseinem Tod im Mai 2004 in Rethem (KreisVerden) lebte.Ney, in der Hitlerzeit einer der jüngstenU-Boot-Kommandeure der Reichsmarine, hattebei der dritten Hetendorfer Tagungswoche 1993vor „Rassenmischungen“ gewarnt. Und in einemoffenen Brief an Bundestagspräsident WolfgangThierse schrieb Ney: „Jetzt macht schon dieMerkelbande Jagd auf Leute, die ebenso wie ichdie Juden nicht leiden können, die also wie ichAntisemiten sind.“ Der Brief wurde noch kurzvor Neys Tod im „Reichsboten“ veröffentlicht,den der wegen Volksverhetzung verurteilte VerdenerRechtsextremist Rigolf Hennig herausgibt.Rieger hatte also schon Kontakte in dieRegion, bevor er den Heisenhof in Barme-Drübber als Direktor der Wilhelm-Tietjen-Stiftung ersteigerte. Als vor kurzem Jan Husszu Grabe getragen wurde, der zu den Bewohnerndes Heisenhofes gehörte, kam auch Rieger zurTrauerfeier nach Dauelsen, chauffiert vonHennig. Erstaunlicherweise betrat der Anwaltchristlich geweihten Boden, obgleich er dieKirche verflucht wie der Teufel das Weihwasser.Dauelsen kannte er schon von seinem Besuchdes Sachsenhains 1991. Mit einer Strafanzeigegegen die „Verantwortlichen des Fremdenverkehrsamtesin der Stadt Verden“ wegen„Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“erlitt Rieger Schiffbruch. Nach seiner Auffassungwird die Geschichte des Sachsenhains falsch dargestellt.In dem von ihm verfassten Heft„Sachsenmord und Sachsenhain“ schreibtRieger: „Die Kirche besitzt den Sachsenhainunrechtmäßig . . . Wir haben bei unserem letztenBesuch in Verden geschworen: Wir werden<strong>wieder</strong>kommen ..., bis diese Gedenkstätte von ...christlichen Merkmalen gereinigt wurde, und hier<strong>wieder</strong> das Andenken der für ihren Glaubengefallenen und ermordeten 4500 Sachsengepflegt wird!“In seiner 1972 veröffentlichten Schrift „Rasse– ein Problem auch für uns“ propagiert derEsoteriker einen Zusammenschluss der europäischenLänder „germanischer Sprachgruppe“, diegemeinsam „ein neues Reich“ bilden sollen. Unddas umfangreiche „Sittengesetz“ der „Artgemeinschaft“gebietet unter anderem den Einsatz„für Wahrung, Einigung und Mehrung der germanischenArt“, „Gefolgschaft dem besserenFührer“ und „gleichgeartete Gattenwahl, dieGewähr für gleichgeartete Kinder“.In der „Nordischen Zeitung“ brüstet Riegersich damit, dass die Artgemeinschaft unter seinerLeitung zur „größten heidnischen Gemeinschaftin Deutschland“ geworden sei. Hier drängte ernach dem Hetendorf-Verbot auf den Kauf neuerVersammlungsstätten. In Frage kämen Kurheime,die wegen der Einsparungen im Gesundheitswesenzwangsversteigert würden, Jugendherbergenoder auch frühere DDR-Betriebsferienheime.Nur eigener Besitz garantiere, dassFeiern „ungestört von durch Fernsehen, Pfaffenund anderweitige Kräfte aufgehetzte Demonstranten“durchgeführt werden könnten. ZumErwerb von Eigentum seien großzügige Spenden,Schenkungen oder Erbschaften notwendig,schreibt Rieger – vielleicht eine Erklärung dafür,dass er nicht nur über Macht in neuheidnischenund rechtsradikalen Kreisen verfügt, sondernauch über viel Geld.Der Bremer Lehrer und Altnazi WilhelmTietjen jedenfalls scheint genügend hinterlassenzu haben, um damit den Heisenhof und denSchützenhof im thüringischen Pößneck zu erwerben– der erste kostete rund 255 000 Euro, derandere 360 000 Euro. In der Hamelner Innenstadtkaufte Rieger für zwei Millionen Euro einGebäudeensemble und in Schweden gehört ihmein 650 Hektar großes Landgut, für das er mehrals eine Million Euro bezahlte. Außerdem besitzter in der Region zwischen Elbe und Weser mehrereHäuser.Anke LandwehrMitte August 2004 – der Verkauf desHeisenhofes an die Wilhelm-Tietjen-Stiftung wareineinhalb Monate zuvor bekannt geworden –führte Anke Landwehr ein Gespräch mit JürgenRieger, das seinerzeit in Auszügen veröffentlichtwurde. Was der Neonazi-Anwalt damals sagte:Frage: Herr Rieger, der Kauf des Heisenhofesdurch <strong>Sie</strong> hat bundesweit Staub aufgewirbelt.Können <strong>Sie</strong> die Aufregung verstehen?Jürgen Rieger: Eigentlich nicht. Nehmenwir mal an, wir würden dort Superarier imReagenzglas zeugen oder Sonnenwendfeiern derArtgemeinschaft veranstalten wollen, dann belastetdas doch niemanden. Wir zwängen doch niemanden,teilzunehmen oder als Samenspender zufungieren.In einem ersten Gespräch mit dieserZeitung hatten <strong>Sie</strong> erklärt, in Dörverden eineArt Fruchtbarkeitsforschungbetreiben zu wollen.Ihre SekretärinTheda Ites sprach ineinem Fernsehbeitragjedoch davon, dass <strong>Sie</strong>hier ein zweites Hetendorfplanen. Was istdenn nun richtig?Als das Fernsehteamvor der Tür stand, hat esgegossen wie verrückt.Wahrscheinlich hat sie dieFrage gar nicht richtigverstanden. <strong>Sie</strong> hat auchnicht gesagt, dass ich einzweites Hetendorf plane,sondern sie sagte, ichmöchte was für meineReligionsgemeinschaftentun. Als dann der Einwurfkam „Wie in Hetendorf?“, hat sie das bejaht.Noch einmal: Wird der Heisenhof politischeSchulungs- und Tagungsstätte?Nein, nicht wie in Hetendorf. Dafür habe ichandere Möglichkeiten.Und wo?Das verrate ich nicht. Im Heisenhof wird esaber sicher Tagungen zum Thema Fertilisation,also Fruchtbarkeitsforschung geben ... Fakt ist,dass nach dem heutigen Stand auf dem Heisenhofnahezu jede Nutzung möglich ist. Unter dieserVoraussetzung habe ich ihn ersteigert und dasweiß ich auch aus einem Gespräch mit derGemeindeverwaltung.<strong>Sie</strong> haben mit der Gemeindeverwaltunggesprochen? Wann denn das?Ach, das war, bevor es mit diesem ganzenPresserummel losging. Da hat mich jemand angerufen– den Namen weiß ich nicht mehr – undwollte wissen, ob ich auf dem HeisenhofWohnungen im großen Umfang schaffen wolle.Das habe ich verneint. Dem Anrufer ging es nurum die Entwässerungsproblematik, weil es da eingemeinsames Kanalnetz mit der früheren Bundeswehrkasernegibt. Ich habe gesagt, dass icheine eigene Kläranlage bevorzugen würde.Nach Ihren Plänen hat der Anrufer nichtgefragt?Nein.Bleibt es dabei, dass <strong>Sie</strong> in zwei, dreiJahren damit beginnen werden?Ich denke, es wird schon in anderthalb Jahrenlosgehen oder vielleicht noch früher. Nach denPresseberichten habe ich viele Anfragen undAngebote bekommen – von Leuten, die an hochwertigemSperma interessiert sind und von solchen,die ihn zur Verfügung stellen wollen.Was heißt „hochwertiges Sperma“?Nun, man muss sich den Spender genauanschauen. Zuerst kommt es da auf dieIntelligenz an und dann auf die Gesundheit. Daspielen auch Erbkrankheiten eine wichtige Rolle.Also eine Neuauflage von Lebensborn?Das ist doch Quatsch. Ich bin allerdingsgegen eine Rassenmischung und würde auch daraufachten, dass eine blauäugige Frau nur denSamen eines ebenfalls blauäugigen Mannes bekämeund nicht den eines mit braunen Augen. Ichhätte auch nichts dagegen, zueinander passendeMenschen auf dem Heisenhof zusammenzuführen.Aber die meisten sind an einer anonymenSamenspende interessiert.Haben <strong>Sie</strong> denn jemanden, der den Heisenhofleiten wird?Ja.Wer ist das?Das werde ich Ihnen nicht sagen.Haben <strong>Sie</strong> Kontakt zu Sascha JörgSchüler, dem JN-„Stützpunktleiter“ in Verden,und Sven Wellhausen, dem NPD-VorsitzendenVerden/Rotenburg?Nein, die kenne ich gar nicht.3839


Rigolf HennigEin Chirurg aus VerdenAdolf DammannEin Ex-Bankfilialleiter aus BuxtehudeRigolf HennigAls Dr. Rigolf Hennig noch praktizierte,konnte es passieren, dass er ein Kind anblaffte:„Wie heißt du? Pättrick? Das heißt doch wohlPatrick! Oder bist du kein Deutscher?!“Schon 1989 waren Verdener Eltern bei derÄrztekammer vorstellig geworden. <strong>Sie</strong> wolltenihre Kinder bei Schulunfällen nicht mehr zuHennig schicken, weil im Wartezimmer desVertragsarztes der Berufsgenossenschaften undder Gemeindeunfallversicherung rechtsextremeZeitschriften und rassistische Aufkleber auslagen.<strong>Sie</strong> wiesen zudem auf einen Beitrag Hennigsim Deutschen Ärzteblatt ein Jahr zuvor hin, indem der Chirurg Juden diffamiert und derenVernichtung durch die Nazis verharmlost habe.Die Elterninitiative hatte keinen Erfolg – ebensowenig wie 1994 die Anregungdes Lübecker Senats,verbandsrechtlicheSchritte gegen den Medizinerin Erwägung zu ziehen.Damals hatte sichHennig bei der Hansestadtbeschwert, weil siesich nach dem Anschlagauf die Synagoge offiziellin Israel entschuldigte,und den Senatoren einenBesuch beim Psychiaterempfohlen.Dieser Brief war fürden damaligen SPD-BundestagsabgeordnetenArne Börnsen Anlass, andenVerteidigungsministerzu schreiben: Er mögedafür sorgen, dass Hennignicht mehr den Truppenarztbei der Bundeswehrin Barme vertrete. Wegen„struktureller Änderungen“,teilte drei Monatespäter die Hardthöhe mit,würden keine zivilen Ärzte mehr benötigt.1997 rief Hennig den „Freistaat Preußen“mit ihm als „Staatspräsident“ aus. Die „Exilregierung“verstehe sich „als Speerspitze eineraufwachenden ostdeutschen Bewegung“, verkündeteder Arzt. Ein gutes halbes Jahr später sprachihn das Amtsgericht Verden vom Vorwurf desTitelmissbrauchs frei. Der Richter: DassWürdenträger und Insignien des „FreistaatesPreußen“ von einem Durchschnittsdeutschenernst genommen werden könnten, sei so unwahrscheinlich,dass eine Verurteilung schwerlich zubegründen sei.Hennig durfte sich also weiter Staatspräsidentnennen. Das klang zweifellos imposanter alszuvor Vorsitzender der Republikaner im KreisVerden, als deren Direktkandidat er erfolglos fürden niedersächsischen Landtag kandidiert hatte.Davor <strong>wieder</strong>um war Hennig Vize-Vorsitzenderder rechtsextremen „Deutschen Liga für Volkund Heimat“ in Niedersachsen gewesen, die sichdann selbst auflöste.Immer <strong>wieder</strong> hat sich der Mediziner mit antisemitischenund rassistischen Äußerungen hervorgetan,er ist eingebunden in das brauneNetzwerk sowohl im Landkreis Verden als auchüber die Grenzen Deutschlands hinaus. Erst imFebruar 2005 soll er bei der „Gedenkfeier für dieBombenopfer in Dresden“ gesprochen haben, zuder die „Junge Landsmannschaft Ostpreußen“aufgerufen hatte.Im Oktober 2004 wurde der inzwischen 69-jährige Hennig vom Verdener Amtsgericht wegenVolksverhetzung zu einer Geldstrafe verurteilt,weil er auf Flugblättern den Holocaust verleugnethatte. In der ersten Reihe saß damals HorstMahler. Der frühere RAF-Terrorist und ehemaligeNPD-Anwalt hatte Anfang 2003 zusammen mitHennig das rassistische „Verdener Manifest“verabschiedet.Anke LandwehrAdolf DammannSo lange Adolf Dammann Leiter einerBankfiliale im Alten Land war, hielt sich derstellvertretende Landesvorsitzender der NPD inNiedersachsen mit öffentlichen Auftritten zurück.Dennoch war er schon vor seinem Eintritt in denRuhestand 2003 gelegentlich als Störer bei ihmnicht genehmen Veranstaltungen aufgefallen.Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sein Name1999 bekannt. Damals versammelten sich vor seinemHaus im Buxtehuder Ortsteil Neuklosterrund 30 Antifaschisten, weil sie in ihm denAnstifter eines Überfalls auf eine Asylbewerberunterkunftim nahen Kutenholz-Aspe vermuteten.Dammann, der den Verdener NPD-Aufmarschim April 2005 angemeldet hat, gilt in derrechtsradikalen Szenenicht nur des Elbe-Weser-Dreiecks als „brauneEminenz“. Nach eigenemBekunden hat er sich mit18 Jahren dem Rechtsextremismuszugewandt –der Zweite Weltkrieg wargerade zwei Jahre vorbei.Der jetzt 65-Jährige bekleidetseit 1959 Funktionen,zuerst in derDeutschen Reichspartei,dann in der NPD. Seit1989 ist er stellvertretenderVorsitzender der NPDNiedersachsen. Zehn Jahrezuvor war er einer von20 Neonazis, die dasRotenburger Jugendzentrumstürmten. In ihrenAutos wurden Waffen gefunden.Berühmt-berüchtigtist Dammanns „NPD-Scheune“ im Ortszentrumvon Bargstedt (KreisStade). Hier finden seitJahren Schulungen für den NPD-Nachwuchsstatt, an denen auch Heisenhof-Bewohner teilnahmenund teilnehmen – darunter Sascha JörgSchüler, den Dammann als Verden/Rotenburger„Stützpunktleiter“ der Jungen Nationaldemokratenrekrutiert haben soll. Bis 1999 gehörteDammann ein altes Bauernhaus bei Sulingen.Unter der Bezeichung „Kalte Zeit“ war es einTreffpunkt für Neonazis aus Norddeutschland.Der Buxtehuder organisiert bevorzugt denKundgebungs- und Tagungstourismus seinerbraunen Gesinnungsfreunde, pflegt Kontakte zuanderen rechtsextremistischen Organisationenwie den Freien Nationalisten und zu Heisenhof-BetreiberJürgen Rieger. Als der HamburgerNeonazi-Anwalt unlängst vor etwa 40Zuhörern in Wangersen bei Zeven sprach, wollteauch Dammann wissen, „wie Deutschland ausder Krise zu führen ist“. Und vor der Tür verwehrtendie Heisenhofler um Sascha Jörg SchülerUnbefugten den Zutritt zu der konspirativenVeranstaltung im Gasthaus „Zur Post“.Dammann war auch dabei, als in Verden dergeschasste Ex-Brigadegeneral Reinhard Günzelsprach. Eingeladen hatte die „UnabhängigeBürgergemeinschaft“ der Achimer Dieter Frickeund Heinrich Rathjen.Wie er mit Gegnern umzugehen gedenkt,hätte er nur die Möglichkeit dazu, offenbarteDammann im Januar 2004 bei einem NPD-Aufmarsch in Himmelpforten bei Stade. EinemGeistlichen, der mit zu einer Gegendemonstrationaufgerufen hatte, drohte er: „Wenn dieserOrtspfaffe seine Volksverhetzung weiter betreibt,werden wir seinen Tempel aufsuchen, ihn von derKanzel holen und dem Volk erzählen, was erlügt.“ Zuvor hatte er seinen Anhängern die Telefonnummernund Adressen zweier Lokalpolitikergenannt.Nach einem weiteren Vorfall im Januar diesenJahres ist jetzt Anklage sowohl gegen AdolfDammann wie auch seinem 20 Jahre altenZögling Martin Zaha, dem Betreiber derInternetseite der Stader Nationaldemokraten,erhoben worden. Beide müssen sich wegen„Verunglimpfung des Staates und seinerSymbole“ sowie wegen Beleidigung verantworten.Grund dazu lieferte ein Beitrag auf der NPD-Homepage mit Schmähungen gegen den StaderBürgermeister und die örtliche SPD-Bundestagsabgeordnete.Die Politiker stellten Strafanzeige.Daraufhin wurde Zahas Computerbeschlagnahmt.Anke Landwehr4041


Florian CordesEin Dachdecker aus OytenReiselustigDie jungen Neonazis rund um den HeisenhofFlorian Cordes (28), aus Oyten stammendund jetzt in Achim wohnend, soll sich mit 14Jahren der rechtsextremen Szene angeschlossenhaben. Er gilt als Erfinder der „Schuloffensive“der Jungen Nationaldemokraten (JN). DasKonzept „Den Nationalismus in die Schulen tragen“wurde bereits 2001 von ihm entwickelt.Cordes hat NPD/JN-Infostände in der Regionorganisiert und war maßgeblich an Vorbereitungund Durchführung von Schulungen in derBargstedter „NDP-Scheune“ von Adolf Dammannbeteiligt, seinem politischen Ziehvater.Zwischendurch schien es, als sei derJungnazi von der Bildfläche verschwunden. ImMärz 2002 hatte der NPD-Landesvorstand dendamaligen JN-Landesvorsitzenden aus allenÄmtern gejagt – „wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten“,wie der Verfassungsschutz wusste.Doch im Oktober 2004 tauchte Cordes <strong>wieder</strong>auf: Die Bundes-JN wählte ihn zu ihrem stellvertretendenVorsitzenden. Der Dachdecker hattefleißig an seinem politischen Comeback gewerkelt,während der Verfassungsschutz ihn offenbarschon zu den Akten gelegt hatte. Cordes werdenbeste Verbindungen zur NPD-Zentrale in derBundeshauptstadt nachgesagt. So soll er auch ander Organisation des NPD/JN-Aufmarsches am8. Mai in Berlin beteiligt sein.In seiner Heimatregion hält sich der äußerlichunscheinbare Cordes mit öffentlichenAuftritten zurück. Ein Szenekenner: „Der spieltjetzt in einer anderen Liga.“ Als aber der vomseinerzeitigen Bundesverteidigungsminister RudolfScharping unehrenhaft entlassene Ex-Brigadegeneral Reinhard Günzel in Verdensprach, hielt Cordes zusammen mit den Heisenhof-Bewohnernund angereisten Freien KameradschaftenStallwache vor der Tür. Und als inOyten-Schaphusen der „nationale Barde“ FrankRennicke bei einem konspirativen Konzert auftretensollte, hatte Cordes das Schützenhaus übereinen Strohmann anmieten lassen.Anke Landwehr42Neonazis aus Verden bei einer Demonstration.Sascha Jörg Schüler: Der aus Brandenburgzugewanderte Neonazi ist von der NPD zum„Stützpunktleiter“ Verden/Rotenburg ernanntworden. Bis 2003 wohnte Schüler in Buxtehude,wo er vom stellvertretenden NPD-LandesvorsitzendenAdolf Dammann auf seine Aufgabe vorbereitetwurde. Danach zog er zunächst nachStedebergen und dann auf den Heisenhof; hierführt er Riegers rechtsextreme Riege an.Schüler zeichnet für den „Rebell“ verantwortlich.Mit der vor Schulen im LandkreisVerden verteilten „Schülerzeitung“ wollen dieNeofaschisten insbesondere pubertierendeJugendliche für ihre Sache ködern. Schüler kannaus NPD-Sicht als erfolgversprechende Nachwuchskrafteingeschätzt werden. In der Verfolgungseiner Ziele ist er ebenso ehrgeizig wieaggressiv.Der 22-Jährige ist äußerst reiselustig. Woimmer Neonazis sich zu Konzerten, Aufmärschenoder Vorträgen versammeln, ist Schüler nichtweit. Auch beim Rudolf-Heß-Gedenkmarsch inWunsiedel marschierte er mit – und zwaran der Spitze, ein Transparent der JN Verden/Rotenburgtragend. Und beim Versuch, dieAbschlusskundgebung des zweiten Sonntagsspaziergangzum Heisenhof zu stören, warSchüler das Sprachrohr der Neonazis. „Wenn<strong>Sie</strong> Ihre Amtsbefugnisse überschreiten, werden<strong>Sie</strong> böse auf die Fresse fallen“, sagte er mit mühsamunterdrücktem Zorn zu Verdens PolizeichefAxel Rott.Sven Wellhausen: Der 28-Jährige ist zwarKreisvorsitzender der NPD Verden/Rotenburg,aber kein Wortführer. Er betreibt allerdingsmehrere rechtsextremistische Internetseiten under meldete die NPD-Demo in Rotenburg im März2004 an. Bei dieser Demonstration schlug eininzwischen verurteilter Neonazi aus dem Umfeldder als besonders militant eingestuften KameradschaftWeserbergland so heftig auf einen jungenGegendemonstranten ein, dass dieser fast dasAugenlicht verlor. Wellhausen gehört nicht zuden Bewohnern des Heisenhofes, tritt aber häufigmit ihnen auf.Daniel Fürstenberg: Früher „JN-Stützpunktleiter“in Osterholz-Scharmbeck, wo seinElternhaus steht, ist Fürstenberg heute ein rührigerParteisoldat. Gemeinsam mit Sascha JörgSchüler unterstützte er die NPD im schleswigholsteinischenWahlkampf. Beim Aufmarsch derRechts-extremisten in Dresden verteilte er Flugblättermit dem Aufruf, sich an der NPD-Kundgebung am 2. April 2005 in Verden zubeteiligen.Bevor Fürstenberg auf den Heisenhof zog,mischte er bei der Bremer JN an vorderster Frontmit – zusammen mit Janine Blass. Die Mutterseiner beiden Kinder, die bei den Bürgerschaftswahlenin Bremen 2003 für die NPD kandidierte,wurde 2002 zu 120 Arbeitsstunden verurteilt,weil sie Scheiben einer islamischenMoschee eingeworfen hatte. Mit ihren Kindernwohnte sie vorübergehend ebenfalls auf demHeisenhof.Matthias Schulz: Der auch „Winnie Puh“genannte 21-Jährige hat seinen Fotoapparat stetsim Anschlag, um in Diensten der Anti-AntifaGegner zu fotografieren – wahlweise auch derenAutokennzeichen – im Bestreben, darüber dieAdressen ausfindig zu machen. Beim NPD-Bundesparteitag 2004 in Thüringen saß derJungnazi neben Adolf Dammann auf derDelegiertenbank.Durch seine Körperfülle erweckt Schulz denEindruck eines gemütlichen Dicken, doch gilt erals gewaltbereit. Er musste sich bereits wegenLandfriedensbruch und Sachbeschädigung verantworten.Schulz wohnt auf dem Heisenhof.Malte B.: Seit seinem 14. Lebensjahrrechtsextrem, ist der inzwischen 19 Jahre alteVerdener und Bewohner des Heisenhofes eintypischer Mitläufer: Er tut, was andere ihm sagen.Bei der Wahl seiner Mittel soll er nicht zimperlichsein. Es wird berichtet, dass B. bisweilen einenZimmermannshammer als Waffe mit sich trägt.Manuel G.: Der Skinhead gilt als gewaltbereitund ist bei nahezu allen Aktionen der Jungfaschistenanzutreffen. Auf dem Grundstück seinerEltern in Verden-Walle stand die sogenannteHitler-Butze – ein Wohnwagen, der den Neonazisals Treffpunkt diente. Anke LandwehrFlorian Cordes im Kreis seiner Kameraden. Sascha Jörg Schüler in Aktion. Matthias Schulz, genannt „Winnie Puh“. Daniel Fürstenberg, der „rührige Parteisoldat“.43


Wie man Neonazis vertreibtDas kleine Hetendorf weiß: Der Widerstand braucht einen langen AtemBärbel Dethlefs: „Und wir haben uns denenentgegengestellt.“Manche Namen klingen wie Schlagworte.Negative Synonyme wie „Nazidorf“ sitzen tief.Hetendorf in der Gemeinde Hermannsburg in derLüneburger Heide ist so ein Dorf. Hier triebenNeonazis unter Führung des HamburgerRechtsanwaltes Jürgen Rieger auf demGrundstück Nr. 13 zwanzig Jahre lang ihrUnwesen. Nach dem Verbot der rechtsextremenTrägervereine durch die damalige Landesregierungim Februar 1998 verschwand der Ort ausdem Blickfeld der Medien.Nur 91 Kilometer liegen zwischen Dörverdenim Landkreis Verden und Hetendorf bei Bergen.Wälder mit Birken und Lärchen säumen dieschmale Straße, die von der MissionsstadtHermannsburg nach Hetendorf führt. Dort endendie Straßen. Hinter den Häusern nur noch weiteFelder und in der Ferne der Geschützlärm vomnahen Truppenübungsplatz Munster.Kaum einer ahnte 1978, das eben dieseKonstellation dem kleinen Dorf mitten in derLüneburger Heide zum Verhängnis werdenwürde. Auf der Suche nach einer Heimstättedurchkämmten die Anhänger des HamburgerNeonazis die Heide. Unklar ist bis heute, werihnen den Tipp für Hetendorf gab. 1978 ließRieger über einen Strohmann das vomBundesvermögensamt in Soltau verwaltete ehemaligeKinderheim Nr. 13 mit seinen 15 700Quadratmetern ersteigern. „Für ’n Appel und ’nEi“, wie seine Anhänger prahlten. RiegersKalkül: Hier, am Ende der Welt, würde niemandeine rechtsextreme Kaderschmiede vermuten.Heute erinnert nichts mehr an die „bedeutendsteSchulungsstätte alter und neuer Nazis aus dem InundAusland“, wie es bald im Verfassungsschutzberichthieß. Planierraupen und Baggerfressen sich durch riesige Schutthaufen undbegraben die letzten Spuren.Der neue Eigentümer hat alle vier Gebäudeabreißen lassen, ein Stück weiße Mauer ragtbizarr aus einem Berg von Ziegeln hervor.Neubesitzer Sven Kiedrowski stammt aus demDorf. Alle hätten aufgeatmet, als ein Hetendorfer2004 den Zuschlag für das Gelände bekam, sagter.Es ist kalt an diesem Morgen. Dem 27-jährigenUnternehmer kann der eisige Wind nichtsanhaben, er plant Großes. Am Sonnabend sollsein Motorradgeschäft „Race Direct“ eröffnetwerden. Mitarbeiter schieben fabrikneue Cross-Motorräder aus einem Transporter in dasHolzhaus, das der ehemalige WM-FahrerKiedrowski am Rande des Grundstücks gebauthat.Er weiß noch genau, wie es war, als dieNeonazis über Hetendorf kamen. „Wir Kinderwaren neugierig, was bei denen vor sich ging.“Kiedrowski zeigt mit ausgestrecktem Arm hinüberzum nördlichen Teil des Geländes: „Von dortkonnten wir über den hohen Zaun gucken. Aberdie Neonazis kamen sofort heran, fotografiertenuns und schimpften, wir sollten verschwinden.“Insbesondere an die Ausmärsche in Uniformkann sich Kiedrowski gut erinnern. „Dieliefen herum wie ein Trachtenverein.“ KleineMädchen in altmodischen Kleidern und mitZöpfen fielen ihm auf. „Die hatten doch keineChance, sich eine eigene Meinung zu bilden.“Inzwischen selbst Vater, machten Riegersrassistische Phantasien ihm schon damalsAngst: „Wir Jüngeren haben alle mitdemonstriert.“Nur die Landwirte trauten sich nicht,weil sie Angst um ihre Häuser und Scheunen hatten.Kiedrowski: „Die hatten viel zu verlieren.Zuviel Gegenwehr und die Hütte steht in Brand. . .“Sofort nach dem Kauf von Hetendorf 13 imvergangenen Jahr begann der Cross-Fahrer mitden Aufräumarbeiten. Die Gebäude waren heruntergewirtschaftetund das Gelände eine einzigeMüllhalde. Vor der rechtskräftigen Enteignungdurch die Behörden hatten Riegers Leute dieHäuser restlos leergeräumt. Kein Blatt Papier,kein rechtsradikales Buch, nur ein Schild inFrakturschrift mit dem Titel „Hausordnung“habe er gefunden.Wie Kiedrowski sagt, hätte Rieger noch versucht,das Grundstück für 500 000 Euro zurückzukaufen.„Da war es allerdings schon zu spät“,freut sich der Motorradhändler. Mit dem Abrissder Gebäude will er dem „Spuk hier endgültig einEnde setzen“. Die Hetendorfer danken es ihm.„Wir wollen hier kein Mahnmal“, sagen sie.Auf der Internetseite von Hetendorf wird ausführlichüber den verheerenden Wirbelsturmvon 1935, die Pipeline-Verlegung von 1992 undden Bau des Windparks 2004 berichtet, doch keinWort über Neonazis in Hetendorf. Unverständlich,sagen manche, denn gerade die Gegenwehrder Gemeinde habe Rieger doch vertrieben.Tatsächlich hat der Rechtsanwalt aus demfeinen Hamburger Stadtteil Blankenese dieHermannsburger Landbevölkerung unterschätzt.Denn „Hetendorf Nr. 13“ ist heute vor allemeines: ein Synonym für den Widerstand einer ganzenRegion. Wie fast alle Hetendorfer, verfolgenauch Sven Kiedrowski und seine Familie dieNachrichten über Riegers Aktivitäten. „Ich kenneden Heisenhof in Dörverden“, sagt er „ich wardort bei der Bundeswehr.“Bärbel Dethlefs hat damals gemeinsam mitihrem inzwischen verstorbenen Ehemann den„Hermannsburger Arbeitskreis gegen Hetendorf13“ gegründet. Die Hausfrau ficht seit langemeinen Kampf gegen Kernenergie und Castor-Transporte. <strong>Sie</strong> fehlt bei kaum einer Veranstaltungin der nahen Gedenkstätte des ehemaligenKonzentrationslagers Bergen-Belsen. Für dieGrünen sitzt sie im Gemeinderat vonHermannsburg, darf allerdings nur zuhören –nicht mitstimmen. „Die Gegend hier ist traditionellstockkonservativ“, erzählt Dethlefs und steuertauf den dreieckigen Dorfplatz in der Ortsmittezu. Acht hohe deutsche Eichen und eine Parkbankstehen dort, umgeben von einem Jägerzaun. „Hierhaben wir damals unsere christlichen Mahnwachenabgehalten.“ Immer <strong>wieder</strong> hätten sieRieger damit ihren Protest zeigen wollen. „DieAndachten waren Teil unserer Bewegung“, sagtDethlefs. Mehr als 100 Menschen seien dabeigewesen, „die kamen auch von weit her, um unszu unterstützen“.Die Neonazis reagierten gereizt auf die christlichenMahnwachen, einige von ihnen marschiertendirekt auf die Demonstranten zu und beleidigtensie. Die Polizei war nicht immer vor Ort.Dabei versammelte sich in Hetendorf die gesamtebraune Politprominenz. Der vorbestrafte NPD-Liedermacher Frank Rennicke aus Baden-Württemberg trat Bärbel Dethlefs und ihrenMitstreitern mit einem Holzkreuz auf demRücken entgegen. Viele seiner Lieder sind nachAngaben des niedersächsischen Innenministeriumsals jugendgefährdend indiziert worden.„Und wir haben uns denen entgegengestellt“,lächelt Dethlefs sanft. Kaum <strong>wieder</strong> daheim,kamen anonyme Briefe und Drohanrufe, wie „DuDrecksau! Wir kriegen dich! <strong>Sie</strong>g Heil!“ EineFangschaltung der Polizei konnte den Täter nichtausfindig machen.Vom Hetendorfer Neonazi-Gelände gingenimmer <strong>wieder</strong> Gewalttaten aus, 1997 fanden sichbei Angehörigen der so genannten SchutztruppeWaffen. Und das niedersächsische Innenministeriumhielt fest, dass mit einem „handschusswaffenähnlichenGegenstand“ auf Journalisten geschossenund einem Bauern die Windschutzscheibeseines Traktors mit einem Kuhfuß zerschlagenwurde.„Unser Bündnis war ein bunt zusammengewürfelterHaufen“, erinnert sich Bärbel Dethlefs,„alles Einzelkämpfer und sehr engagiert.“ Dochohne Hilfe und Recherchen junger CellerAntifaschisten wäre es damals nicht gelaufen,sagt sie.Bärbel Dethlefs ist immer noch eine vielbeschäftigteFrau, doch für einen Besuch desAktionstages gegen rechts am 2. April 2005 inVerden nahm sie sich Zeit. <strong>Sie</strong> möchte denHeisenhof-Gegnern mit ihren Erfahrungen helfen.„<strong>Sie</strong> werden einen langen Atem brauchen!“Eine grauhaarige Frau blickt aus einemFenster im Dachgeschoss. <strong>Sie</strong> hat die Fremdenbeobachtet und ahnt, warum sie da sind. „Ich binJahrgang 1927. Als ich gesehen habe, wie da <strong>wieder</strong>Nazis durch das Dorf marschiert sind, dahaben sich mir die Haare gesträubt!“Landwirt Stephan Meyer war froh,als Riegers Rechtsradikale endlich <strong>wieder</strong>aus Hetendorf verschwanden.4445


Hetendorf Nr. 13Eine ChronologieIn der Mittagszeit wirkt Hetendorf wie ausgestorben.Nur Landwirt Stephan Meyer arbeitetvor seiner Scheune, keine hundert Meter vonHetendorf 13 entfernt. Seine Kartoffelernte lagerthier. „Ich bin froh, dass Rieger weg ist“, sagtMeyer. Er ist ihm nie begegnet, doch er und seineFamilie verfolgen die Presseberichte über denHeisenhof sehr aufmerksam. „Es ist schlimm,dass so einer das überhaupt hat kaufen dürfen.“Dieter und Sabine sind nach Jahren das ersteMal <strong>wieder</strong> in Hetendorf. Dass sie nun vor einemSchutthaufen stehen, löst in Dieter ein ambivalentesGefühl aus. „Wir haben dafür demonstriert,dass Nazis keinen öffentlichen Raum besetzen.Aber heute wissen wir, dass Rieger nichtgeschwächt ist und die Nazis stärker sind alszuvor.“ Dieter wird sich nicht entmutigen lassen,doch er weiß: „Wir haben einen kleinen <strong>Sie</strong>gerrungen, aber die große Schlacht noch nichtgewonnen!“ Er und Sabine gehörten alsMitglieder der Celler Antifa zum Bündnis gegenHetendorf 13, das sich über viele Kompromissezusammenraufte. Es gab „Spiele ohne Grenzen“und ein Fußballturnier unter dem Motto „RoteKarte für Hetendorf 13“. Als Gegenpart zu denneonazistischen „Hetendorfer Tagungswochen“wurde 1995 gemeinsam mit zahlreichenInitiativen ein antifaschistisches Sommercamp inSülze nahe Hetendorf organisiert.„Da kommen die Chaoten aus Göttingen“,hätten Polizisten den Wirt des Kaffeegartensgewarnt. Doch der ließ sich davon nicht beeindrucken.„Er hat gesagt: ,Ein Mann, ein Wort‘,und dann sind 1000 Leute gekommen, haben dasGelände total aufgeräumt <strong>wieder</strong> verlassen undnicht ein Blümchen geknickt“, lacht Sabine in derErinnerung daran.Eine Hauptaufgabe bestand für die Antifa inder Aufklärung der Bevölkerung. Manchmal verteiltensie wochenlang Flugblätter. „Es war dieZeit nach den grausamen Brandanschlägen vonMölln und Solingen, da waren die meisten dochsensibilisiert“, sagt Dieter.Jahr um Jahr kamen die Neonazis um Rieger<strong>wieder</strong>. Mal erschien der völkische „Bund derGoden“, mal die militante „Wiking-Jugend“in Uniformen oder die Jungen Nationaldemokraten.Zur „Sonnwendfeier“ im Juni reisten RiegersGefolgsleute aus allen Teilen der Bundesrepublikan. Die Frauen backten Hollerküchle, die Männermaßen sich im germanischen Sechskampf.Zwischendurch gab es neonazistische Schulungenzu Themen wie „Sittengesetz unserer Art“oder „Der Hintergrund des Holocausts vonDresden“.Als das Bündnis eine Gegendemonstrationmit über 2000 Teilnehmern organisierte, und dasMedieninteresse wuchs, reagierte Rieger miteiner Schutztruppe, bewaffnet mit Holzknüppelnund Hunden. Er warb zunehmend junge Glatzköpfeaus der Umgebung an.Im Winter 1997 wurde es dann brandgefährlich.Als eine Gruppe von Demonstranten dieAuffahrt zum Gelände besetzte, stürmten RiegersTruppen mit Ketten und Stöcken bewaffnet aufsie zu. Die Polizei war nicht vor Ort, den jungenLeuten blieb nur die Flucht. Das Verbot desNeonazi-Zentrums durch den niedersächsischenInnenminister Glogowski erfolgte zwei Monatespäter. Im Morgengrauen rückte die Polizei an.Der Spuk nahm ein Ende, doch dieErinnerung daran ist noch lebendig. HartmutBehrmann* bewohnt mit seiner Familie ein Hausam Rande des Dorfes. Er ist Rieger damals in dieQuere gekommen, als der Anwalt Anfang der90er Jahre das Haus Hetendorf Nr. 47 kaufenwollte. Behrmann setzte alle Hebel in Bewegung,um das zu verhindern. „Wir wollten nicht, dassder uns umzingelt.“ Obwohl Riegers Strohmannden Zuschlag bereits für etwa 400 000 Markerhalten hatte, gelang es den Hetendorfern mitDer „braune Barde“ Frank Rennickehielt den Teilnehmern der HetendorferMahnwachen ein Holzkreuz entgegen.einer Unterschriftenaktion und Hilfe ausHannover, die Bayerische Hypothekenbank alsVerkäuferin zur Rücknahme zu bewegen. DieGemeinde kaufte das Gebäude, Riegers Zorn warriesengroß. „Wir haben uns genau gemerkt, werim Dorf uns verleumdet, gegen uns gehetzt undsich uns gestellt hat . . . Wer Krieg haben will, sollihn bekommen . . . Rache muß kalt genossen werden“,drohte er in einem Brief.„Wir bekamen Schiss – trotz der großenSolidarität“, sagt Behrmann. Auch heute nochfürchtet er um seine Familie und will deshalbanonym bleiben. Behrmann: „Wenn es eineBotschaft gibt, die wir den Dörverdenern mitgebenkönnen, dann die: Schließt euch zusammenund wehrt euch!“ Politisch gebe es nichtsSchlimmeres als Rechtsradikalismus. Er verfolgtjede Nachricht vom Heisenhof. „OberkreisdirektorJahn aus Verden zeigt viel Mut, sagen <strong>Sie</strong>ihm das!“Andrea Röpke* Name geändert.1979: Riegers Organisation „FreundeskreisFilmkunst“ aus Hamburg erwirbt das ehemaligeKinderheim in Hetendorf für nur 120 000 Markvom Bundesvermögensamt in Soltau. Die Bundesbehördehatte es ursprünglich für 1,2 MillionenMark von der Lobetal-Stiftung erworben. Mitteder 80er Jahre wird Riegers pseudo-wissenschaftlicherVerein „Gesellschaft für biologische Anthropologie,Eugenik und Verhaltensforschung“(GfbAEV) Mitbesitzerin der Immobilie.1987: Antifa-Gruppen verhindern ein geplantesHerbstlager der militanten „Wiking-Jugend“durch Proteste im Vorfeld.1990: Rieger versucht, den „StützpunktHetendorf“ zu erweitern. Für das Haus Nr. 47 gibter als Vorsitzender der GfbAEV mit etwa 400 000Mark das Höchstgebot ab. Aufgrund massiverProteste in der Dorfbevölkerung wird der Verkaufrückgängig gemacht.Sven Kiedrowski auf dem Gelände, das einstJürgen Rieger gehörte. Der junge Mann hat alleGebäude abreißen lassen und hier einenMotorradhandel eröffnet.1992: Da dem Freundeskreis Filmkunst dieGemeinnützigkeit aberkannt wird, ändern sichdie Eigentumsverhältnisse: Zwei Heide-Heim-Vereine mit Sitz in München und Hamburg übernehmendie Immobilie. Vorsitzender beiderVereine ist Jürgen Rieger.1994: Der niedersächsische Verfassungsschutzstellt fest: „Die Bedeutung der Tagungsstättein Hetendorf lag in der Vergangenheit darin,dass sich hier Vernetzungen der rechtsextremistischenSzene in Deutschland bildeten.“ Jahr fürJahr finden die so genannten HetendorferTagungswochen mit Sonnenwendfeier, Schulungenund Musik statt. Inzwischen verboteneOrganisationen wie die „Nationale Liste“, die„Nationalistische Front“ und die „Freiheitlichedeutsche Arbeiterpartei“ treffen sich in Hetendorf.Viele der heutigen Neonazi-Anführer – wieChristian Worch, Thomas Wulff, Manfred Börmund Thorsten Heise – besuchen Riegers Kaderschmiede.1995: Bekannte Neonazis wie ManfredRoeder und Peter Naumann versuchen, Veranstaltungendes Hermannsburger Bündnisses zustören.1996: Rieger erwirbt für mehr als eineMillion Euro ein 650 Hektar großes Landgut inSchweden.1997: Der Protest gegen die Neonazi-Veranstaltungen in Hetendorf wächst. DieRechtsradikalen reagieren immer aggressiver.1998: Im Februar wird „Hetendorf Nr. 13“geschlossen, die beiden Trägervereine werdenverboten. Nach jahrelangem juristischen Streitwird Rieger schließlich enteignet. 2004 versuchter die Immobilie zurückzukaufen – ohne Erfolg.Andrea Röpke4647


„Dieser Neonazi ist nicht mein Sohn“Eine Mutter verliert ihr Kind an RechtsextremistenElke Bormann hat einen Sohn. Von demerzählt sie voller Liebe. Wie er als kleiner Jungeaus der Schule kommt, ihre Hand streichelt undfragt „Mama, wie war dein Tag?“ Einen Sohn,von dem in ihrer kleinen Wohnung Bilder hängen,auf denen er als Baby zu sehen ist. Bilder, die siestolz zeigt und fragt: „War er nicht ein süßerBengel?“Aber Elke Bormann kennt auch den Nameneines jungen Neonazis, der als gewaltbereit giltund der Verdens „Jungen Nationaldemokraten“stets zu Diensten ist. Den sieht sie manchmal imFernsehen oder in der Zeitung, weil er sich gerneauf dem Heisenhof des Hamburger NeonazisJürgen Rieger herumtreibt. <strong>Sie</strong> kennt seinenNamen, mehr nicht. Mit dem hat sie nichts zu tun.„Die Erinnerung kann mir keiner nehmen. Aberder da, der ist nicht mein Sohn.“<strong>Sie</strong> hat mit ihrem Kind gebrochen. Ein füralle Mal. Rund zweieinhalb Jahre ist es jetzt her,dass er ihr die Wohnung zertrümmert hat.Kartoffelsalat gegen die Wand geklatscht, Stühlekaputt gehauen, alles aus Hass und aus Zorn. Weilseine Mutter in seinem Zimmer die Poster von derWand nahm. Bilder, deren Anblick sie nicht mehrertragen konnte. Bilder, die unendlich gequälteMenschen zeigen. Gefoltert in Hitlers KZs. DieseBilder hatte ihr Sohn nicht als Mahnung widerdas Vergessen aufgehängt, sondern als Trophäen.Trophäen des Unmenschen Adolf Hitler, den ihrSohn glühend verehrt.Damals rief sie die Polizei. Die erteilte ihremrandalierenden Neonazi-Sohn wenige Wochenvor seinem 18. Geburtstag einen Platzverweis. Andiesem Tag hat seine Mutter ihn aufgegeben.Knallhart. Selbst wenn er morgen tot ist, wird sienicht traurig sein, sagt Elke Bormann. Und wenner morgen sagt, er will raus aus der Szene, willdem Neonazismus abschwören, wird sie ihmnicht helfen. „Denn er würde lügen, wenn er dassagt.“Lügen, wie er so oft gelogen hat. Wenn erseine Mutter mal <strong>wieder</strong> unter einem Vorwandanpumpte, um mit dem Geld Relikte des Hitler-Regimes zu kaufen. „Seine Heiligtümer.“ ElkeBormanns Stimme klingt bitter. „Diesen Dreckdarf man nicht dulden. Nicht mal für sein eigenesKind.“Es fing an, als Marlon* 14 oder 15 Jahre altwar. „Da hat er die falschen Leute kennengelernt“, meint seine Mutter. Und ihr peu à peuden „Nazi-Dreck“ in die Wohnung geschleppt.„Er hat das ganz raffiniert angestellt.“ Erst lagenkleine Plakate im Nachttisch, irgendwann hingensie an der Wand. Seine „Kameraden“ kamenimmer häufiger zu Besuch. Mit ihren kahlenKöpfen und Springerstiefeln, mit ihrenSeitenscheiteln und JN-Abzeichen. „Unglaublichfreundlich haben die getan“, sagt MarlonsNS-Diktator Adolf Hitler als Vorbild?Ein junger Demonstrant bei einem Neonazi-Aufmarsch im brandenburgischen Halbe.Mutter. Rausschmeißen konnte sie die Neonazi-Clique nicht, denn dann ging ihr Marlon ja mit.Ein paar Mal klingelte auch die Polizei beiihr, um die Wohnung zu durchsuchen. In MarlonsZimmer stellten die Beamten verbotene CDs undPlakate sicher – und Waffen: Messer, Schlagringe,Farbpistolen. Diese Jahre waren die Hölle,sagt Elke Bormann. Ihre schlaflosen Nächte hatdie alleinerziehende Mutter nie gezählt.Unendlich oft fragt sie sich aber, warum diebraune Saat in Marlon so gut aufgegangen ist.Eine Antwort findet sie nicht. Marlon hat dreiSchwestern und einen Bruder, alle fünf Kinderhat sie alleine erzogen, und „die vier anderenhaben mit Neonazismus gar nichts am Hut“. Zusehr bemuttert worden sei Marlon, hielten dieLeute vom Jugendamt ihr vor. <strong>Sie</strong> habe zu vielhinter ihm hergeräumt und geputzt.„Werden alle Kinder Neonazis, deren Mütteres gerne sauber haben?“ Elke Bormann istempört. Aber in die Empörung mischt sichRatlosigkeit. <strong>Sie</strong> kann ihn einfach nicht finden,den wahren Grund. „Ich musste mich doch kümmern.“Schließlich war ihr Marlon auch ein krankesKind, er litt unter epileptischen Anfällen undmusste auf die Sonderschule gehen.Ihr Sohn hat sie provoziert und verspottet.Jahrelang. „Wenn er morgens in die Küche kam,hat er, statt ,Guten Morgen‘ zu sagen, ,HeilHitler‘ gebrüllt.“ <strong>Sie</strong> schrie ihn an, er solle daslassen. Das nützte nichts. <strong>Sie</strong> hat es auch imGuten versucht. Nach Bergen-Belsen ist sie mitihm gefahren, um ihm die Augen über die NS-Verbrechen zu öffnen. Da gab es in einer Vitrineeinen kleinen zerschlissenen Stoffschuh, denhatte eine jüdische Mutter für ihr Kind genäht.Dieser Anblick hat sie sehr gerührt. Aber ihr Sohnlachte nur. Wann immer seine Mutter fortan traurigwar, fragte er sie voller Spott: „Na, denkst duan den ollen Schuh?“<strong>Sie</strong> hat auch ganz rational und auf dieGegenwart bezogen argumentiert. Statt gegenAusländer zu hetzen, soll Marlon doch in BerlinAktivisten um den „JungenNationaldemokraten“ Florian Cordes ausOyten (vorne) bei einer Demonstration.vor den Regierungsgebäuden demonstrierengehen. Niemand kann sich seine Nationalität oderseine Hautfarbe aussuchen, hat sie ihren Sohngelehrt, und auch nicht das Land, in dem er geborenwird. „Aber mir – mir hat Marlon ja gar nichtmehr zugehört.“ Nur noch seinen „Kameraden“vom „Stützpunkt Verden“ der radikalen NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“.Denen, die sie am Ende als „Drecksau“und „Verräterin“ beschimpft haben. „Was istdenn das für eine Mutter, die ihren Sohn rausschmeißt?“Dann kam der Telefonterror bei Tagund bei Nacht. <strong>Sie</strong> hat alle Drohungen undBeschimpfungen weggesteckt: „Die machen mirkeine Angst, die haben mir nur den Abschied vonmeinem Sohn erleichtert.“An den jungen Neonazi denkt Elke Bormannheute wie an einen Fremden. „Das ist etwas anderes,als wenn man am Grab seines Sohnes steht.Dieser Neonazi löst kein Gefühl in mir aus.“Keine Trauer, auch keinen Hass. „Allenfalls Wut,dass es immer noch Nazis wie ihn in diesem Landgibt.“Doch bis heute vergeht kein Tag, an dem sienicht an ihren Sohn denkt. An diesen süßenBengel. Die vielen schönen Erinnerungen kannihr keiner nehmen. Das sagt sie ganz nüchternund ohne Sentimentalität. Aber auch ohne einFünkchen Hoffnung. Denn diesen süßen Bengel,den gibt es nicht mehr. Christine Kröger* Name geändert.4849


Das braune Gift wirkt lange nachUwes weiter Weg aus der rechtsextremen CliqueKlar hat Uwe* Angst. Angst, dass er seinenehemaligen „Kameraden“ mal im falschenMoment über den Weg läuft. Das gibt der18-Jährige zu. Aber wenn er ihnen heute begegnet,und sie sind nicht betrunken und allein, danntun sie ihm nichts. Da ist er sich sicher, sagt er.Dann wechseln seine ehemaligen Freunde bloßdie Straßenseite und grüßen ihn nicht mehr.Für sie ist Uwe ein „Scheißverräter“ und„kein richtiger Deutscher“. So beschimpfen sieihn, weil er nicht mehr dabei ist. Der 18-jährigeBremer will nichts mehr zu tun haben mit dem,was er „Nazi-Kram“ nennt. „Schlimm genug,dass ich diese Einstellung mal hatte“, sagt er.Diese Einstellung, die seine ehemaligen Freunde,Andreas und dessen „Neonazi-Clique“, immernoch haben. Und die auch ihn noch beschäftigt.Braunes Gift kann lange wirken.Die braune Musik zum Beispiel. Mit der hatalles angefangen, denn die hört er, seit er 13 ist.Bands wie „Landser“, „Screwdriver“ und„Stahlgewitter“, die zu harten, aggressiven Tönenrechtsextreme Texte grölen. Deren Musik er bisheute dann und wann hört. „Aber nur, wenn ichalleine bin“, versichert er schnell.Uwe lebt bei seiner Mutter. Seinen leiblichenVater hat er ein einziges Mal gesehen. DiesenMann braucht er nicht, sagt Uwe knapp. Der hateinen Vaterschaftstest verlangt und dann trotzdemkeinen Unterhalt bezahlt. „Obwohl der zweiHäuser hat.“ Uwe grinst. Er will das nicht traurigfinden. Traurig ist, dass seine Mutter sich von seinemStiefvater scheiden ließ. „Der war wie einrichtiger Vater.“ Nach der Scheidung zieht Uwemit seiner Mutter aus dem kleinen Dorf im KreisDiepholz zurück nach Bremen – in die Vahr.Diesen Stadtteil, von dem Uwe sagt, dass er sichhier mehr vor den Ausländern fürchtet als vorAndreas und seinen Kumpanen. Braunes Giftwirkt lange.Als er in die Vahr kommt, lernt er Andreaskennen. Andreas in der schwarzen Bomberjackeund den Doc-Martens-Boots mit weißenSchnürsenkeln. Den Kopf kahl geschoren, wie essich für einen rechten Skinhead gehört. Andreasist gerade mal 15 Jahre alt. Mit ihm und vier, fünfanderen Jungs zieht Uwe regelmäßig um dieHäuser. Einen Anführer hat seine Clique nicht.„Allenfalls den Niels“, sagt Uwe. Weil der vielälter ist, so um die 30, und weil der ein Auto hat.„Logisch, dass der meist gesagt hat, wo’s hingehensoll.“Ins Panzermuseum nach Munster zumBeispiel. Auch Bunker gucken die Jungs sich an.Und kaufen für satte 450 Euro einen „echtenHitler-Schlitzer“. Das „Pfadfindermesser“ derHitler-Jugend holt der Mann aus seinem Tresorganz hinten in seinem Antikladen mitten in derBremer Innenstadt. Die Jungs gehen nie unbewaffnetaus dem Haus. „Ich hatte immer eineGaspistole dabei“, sagt Uwe. „Andreas läuft bisheute mit einem Gummiknüppel durch dieGegend.“ Irgendwann will die Clique auch unbedingtmal zu so einer richtigen Demo, auf der dieNeonazis auf<strong>marschieren</strong>. Oder auf eines diesergeheimnisvollen Konzerte einer Neonazi-Band,von denen man vorher nicht genau weiß, wogenau sie stattfinden. Aber so weit kommt esnicht mehr. „Wegen der Sache mit dem Neger“,sagt Uwe. Die Entschuldigung kommt prompt.„Ich meine mit diesem Schwarzen.“Dieser Schwarze ist in die Wohnung gleichneben der eingezogen, in der Andreas’ Familiewohnt. Als die Jungs zu Andreas wollen, fährt ermit dem Fahrrad vorbei. „Drecksnigger“, ruftUwe ihm hinterher, „geh zurück in den Urwald.“„So war’s halt“, sagt er heute und zuckt dieAchseln. Ein bisschen peinlich ist ihm das schon.An diesem Tag aber dreht der Mann mit seinemFahrrad um und gibt Uwe eine Ohrfeige.„Den Drecksnigger zeigen wir an“, sagt Andreassofort. Dann rufen die Jungs die Polizei. Diekommt – und gibt auch VAJA, dem BremerVerein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit,einen Tipp. Ein paar Tage später tauchendie beiden VAJA-Streetworker Dennis und Karinauf. Uwe und seine Clique reparieren gerade einFahrrad, daran erinnert sich Uwe noch genau.Andreas haut sofort ab, aber Uwe, sein besterKumpel, und noch ein, zwei andere Jungs hörenerst einmal zu. Ein gutes Jahr ist das jetzt her, undheute ist Uwe raus. Irgendwie jedenfalls, denndas braune Gift wirkt noch nach.Mit Andreas ist er immer in diese Kneipenam Bahnhof gegangen. „In denen die Skinheadsund die Hooligans abhängen“, sagt Uwe.Muskelbepackt, kahl geschoren und tätowiert.Viele von ihnen rechtsextrem. In diesen Kneipenlernt Uwe auch „Promis“ der rechten Szene inBremen kennen. Leute, die Musik machen inBands wie „Endstufe“ oder „Endlöser“. UndMänner, die sich als besonders „schlagkräftigeHools“ einen zweifelhaften Ruf erworben haben.Irgendwie spricht Uwe bis heute mit einemHauch Ehrfurcht von ihnen.Aber auch mit Verachtung. Dass die Rechtenwas gegen Drogen haben zum Beispiel, dasbraucht ihm keiner mehr zu erzählen. „Da istnicht nur Alkohol bis zum Abwinken angesagt“,berichtet er. „Da sind viele voll auf Koks.“ Der18-Jährige grinst und tut, als wolle er mit derFaust zuschlagen. „Kapiert, warum?“ Kokainbetäubt auch – und stählt für die nächstePrügelei. Kräftig gesoffen hat Uwe auch, aberharte illegale Drogen? „Nee, vor denen hab’ ichzu viel Respekt.“Seit der Sache mit dem Schwarzen trifft Uwesich zusammen mit einigen anderen Jugendlicheneinmal die Woche mit den Streetworkern. Ganzallmählich verändern sie seine Einstellung zumNeonazismus. „Das mit Hitler und den Juden“sieht er heute „als schlimmes Verbrechen“.Früher habe er oft gar nicht nachgedacht, was errede. Da haben sie gemeinsam Whiskey gesoffen,die Fenster aufgerissen und gegrölt. „Nur eintoter Jude ist ein guter Jude“ oder „Deutschlandden Deutschen“. Ihren ganzen Hass haben sierausgelassen. Aber wo kommt der her? Uwe hatkeine Antwort. „Vielleicht von der Musik“, über-legt er. „Ich mochte einige Ausländer schon nicht,bevor ich Andreas, Niels und die anderen kannte.“Die Verehrung für Hitler, seine Schergen undden Antisemitismus, den hat ihn seine Cliquegelehrt. Auch was Kameradschaft ist. Zusammenhalten,immer und gerade, wenn’s hart aufhart kommt. Uwe lächelt spöttisch. „Die kneifengenauso oft wie jeder andere auch.“Vor einigen Monaten hat Uwe sich mit anderenrechten Jugendlichen aus seiner Clique undmit VAJA-Sozialarbeitern die GedenkstätteBergen-Belsen angeschaut. „Das schockt einen“,sagt der 18-Jährige. Seither sieht er das anders,„das mit den Juden“. Fast trotzig fügt er hinzu:„Aber Hitler hat auch gute Sachen gemacht.“ Under wäre froh, wenn die NPD bei der nächstenWahl die Regierung übernimmt. Aber Andreasund seine Gesinnungsgenossen nennen ihn docheinen „Vaterlandsverräter“, unter seinenFreunden sind heute längst Ausländer.Uwe denkt nach. Sein Blick wandert rastlosdurch den Raum. Wie auf der Suche nach etwas,an dem man sich festhalten kann. „Wenn ich vonder Schule heimfahre, höre ich in der StraßenbahnSehr jung waren einige Demonstrantenbeim Aufmarsch von Rechtsextremistenin Magdeburg im Januar 2005.oft kaum ein deutsches Wort.“ Es klingt wie eineFrage. Der „Nazi-Kram“ ist keine Lösung, das hatder 18-Jährige eingesehen. Aber das braune Giftwirkt noch nach. Noch – das kleine Wort kannmanchmal Hoffnung bedeuten. Christine Kröger* Namen geändert.5051


Gewalt hält die Szene zusammenWarum Jugendliche nach rechts gehenWie VAJA arbeitetAkzeptierende Jugendarbeit made in BremenIn rechten Cliquen werden aus Mitläufernrasch Mitwisser – oder gar Mittäter. Im Gesprächmit Christine Kröger rät Reinhard Koch betroffenenEltern, rechtzeitig professionelle Hilfe zusuchen. Koch leitet die Arbeitsstelle Rechtsextremismusund Gewalt in Braunschweig.Frage: Herr Koch, immer mehr Jugendlicheschließen sich rechten Cliquen an.Warum? Weil sie den Neonazismus gut finden?Reinhard Koch: Nein, in der Regel spielt dieIdeologie zunächst keine Rolle. Die Jugendlichensuchen in der rechten Clique, was Jugendliche injeder Clique suchen: das Gefühl von Zusammengehörigkeitund gemeinsame Erlebnisse. In rechtenCliquen geraten sie aber zusätzlich schnell inkonspirative Strukturen, und das ist oft einzusätzlicher Reiz . . .<strong>Sie</strong> meinen den Reiz des Verbotenen?Ja. Aus Mitläufern der Clique werden raschMitwisser – und im schlimmsten Fall Mittäter.Fatal ist, dass dieser Mechanismus in beideRichtungen funktioniert: Er zieht die Jugendlichenrasch tief hinein in die Clique, gleichzeitigerschwert er den Ausstieg.Warum sind rechte Cliquen meist von jungenMännern dominiert?Weil das rechte bis rechtsextreme Milieu vorMännlichkeitsritualen nur so strotzt. Da wird vielgetrunken und „gekämpft“, man fühlt sich vonFeinden umgeben, muss stark und unerschrockenwirken. Das ist gerade für männlicheJugendliche aus bestimmten Familienkonstellationenextrem anziehend.Welche Konstellationen meinen <strong>Sie</strong>?Oft Familien, in denen ein männlichesVorbild fehlt. Damit meine ich ausdrücklichnicht, dass alleinerziehende Mütter etwas falschmachen. Die Mütter sind selten das Problem.Sondern der fehlende Vater. In anderen Fällenlebt der Vater in der Familie, wird aber von seinemheranwachsenden Sohn als „schwach“ empfunden.Wie prägend sind die politischen Einstellungender Eltern?Rechtsextreme Jugendliche können in „linken“und in „unpolitischen“ Elternhäusern heranwachsen.Aber natürlich auch in rechten. In diesemFall fühlen die Jugendlichen sich oft als„Vollstrecker“ dessen, was sie zu Hause hören.Nach dem Motto: Die Alten reden immer nur, wirtun endlich was.Gewalt spielt offenbar eine sehr großeRolle in der rechten Szene . . .Gewalt ist das Bindemittel, das die Szenezusammenhält. <strong>Sie</strong> gilt in aller Regel als legitimesMittel, um für „klare Verhältnisse“ zu sorgen. Dasheißt, sie löst – sehr vordergründig – vieleProbleme. Das gilt für Konflikte innerhalb derSzene genauso wie für Konflikte mit den„Feinden“ draußen.Was raten <strong>Sie</strong> betroffenen Eltern?Möglichst rasch professionelle Beratung undHilfe zu suchen, wenn sie merken, dass ihr Kindins rechtsextreme Milieu abrutscht. Leider meldensich viele Eltern erst, wenn der Leidensdruckzu groß wird.Was heißt das?Zum Beispiel, wenn Strafverfahren gegen ihrKind eingeleitet werden. Oder wenn derJugendliche öffentlich als Neonazi auftritt. Aberdann sind die jungen Leute oft schon sehr tiefdrin.Vorher merken die Eltern nichts?Merken vielleicht schon. Aber sie nehmen esoft nicht ernst genug, tun den „Nazi-Kram“ alspubertäre Phase ab, schämen sich vielleicht auchfür die Einstellung ihres Kindes. Aber dieseSzene ist zu prägend, um sie auf die leichteSchulter zu nehmen – und zu gefährlich.Worauf müssen Eltern achten?Das veränderte Outfit, die neuen Freunde,das Abreißen anderer sozialer Kontakte – undnatürlich den rechten Lebensstil, zum Beispieldie Musik. Und die Jugendlichen teilen sich vielweniger mit, um ihre „konspirative Gemeinschaft“nicht zu verraten.Zur Person: Reinhard Kochs ArbeitsstelleRechtsextremismus und Gewalt der BildungsvereinigungArbeit und Leben (ARuG) in Braunschweigberät Eltern rechtsextremer Jugendlicher.Dieses Beratungsangebot ist einzigartig inNorddeutschland. <strong>Sie</strong> erreichen die ARuG unterTelefon 05 31 / 1 23 36 34 oder im Internet unterwww.arug.de. Die Arbeitsstelle vermittelt auchAnsprechpartner in der Region.Der Bremer Pädagoge Franz Josef Krafeld hatdas Projekt der akzeptierenden Jugendarbeit speziellfür die Arbeit mit rechtsextrem orientiertenJugendlichen entwickelt. 1992 wurde in Bremender Verein zur Förderung akzeptierenderJugendarbeit (VAJA) gegründet. Seine Sozialarbeitist „aufsuchend“: <strong>Sie</strong> findet statt, wo dieJugendlichen sich aufhalten – auf Spielplätzenoder Parkbänken, in Einkaufszentren oderKneipen.Die „akzeptierende Jugendarbeit“ ist umstritten.Kritiker werfen ihren Anhängern vor, zu viel„Akzeptanz“ an den Tag zu legen – bis zurKumpanei mit rechtsextremen Führungskadern.Heute arbeitet VAJA längst nicht mehr nur mitrechtsextrem orientierten Cliquen. Im Projekt„Grenzgänger“ hilft der Verein in Huchting,Jugendliche türkischer und kurdischer Herkunftzu integrieren. Kajak (Kreis aufsuchendeJugendarbeit Kattenturm) soll KattenturmsJugendlichen zugute kommen, denn in demStadtteil leben junge Menschen aus 56Nationalitäten.Im Punk-Streetwork-Projekt betreut VAJAjunge Punks, um zu vermeiden, dass sie in dieObdachlosen- oder Junkie-Szene abrutschen. DasRegionalteam Ost schließlich kümmert sich umsozial benachteiligte junge Menschen in siebenStadtteilen Bremens. Christine KrögerDie rechtsextreme Szenestrotzt vor Männlichkeitsritualen.52 53


Eltern helfen – aber wie?Ein Gastbeitrag von Andrea Müller und Cornelius PeltzSchulen gegen rechts – aber wie?Ein Gastbeitrag von Gerd BückerImmer häufiger suchen Eltern oder andereAngehörige Unterstützung, weil ihr Sohn oderihre Tochter in rechtsextremistische Organisationenabzudriften droht oder dort bereitsaktiv ist. Viele haben eine lange Odyssee hintersich, bis sie eine Beratungseinrichtung gefundenhaben.2001 wurden die Bundesländer von BundesinnenministerSchily aufgerufen, Aussteigerhilfenanzubieten – bei Landeskriminalämtern,Behörden oder freien Trägern. Doch niemandwusste, wie eine kompetente Beratung fürratsuchende Eltern und Angehörige aussehenkönnte.Das Lidice-Haus versuchte, zeitnah auf diesenMangel zu reagieren. Es ist eingebunden inein Netzwerk erfahrener Institutionen undKollegen, die bei der Entwicklung eines dreiteiligenKonzeptes halfen. Es bietet Qualifizierungsangebotefür alle, die auf Hilfeersuchenvon Eltern und Angehörigen kompetent reagierenmöchten.Ausstiegsprogramme konzentrieren sichüberwiegend auf die Arbeit mit den Jugendlichenselbst. Polizeistellen verweisen oft an andereÄmter – meist erfolglos, weil Jugendämter undEinrichtungen der Erziehungsberatung in derRegel nicht ausreichend qualifiziert sind für diespezielle Thematik „Zugehörigkeit zu rechtenSzenen und/oder Organisationen“. UndJugendarbeit gerät häufig in einen Rollenkonflikt,weil sie sich vor die Entscheidung „vertrauensvolleZusammenarbeit mit Jugendlichen“ oder„Kooperation mit deren Eltern“ gestellt fühlt.Eltern- und Angehörigenberatung ist auchdeswegen besonders schwierig, weil Hilfe oft erstbei drohenden oder laufenden Strafverfahrengesucht wird. Zudem hat der bisherige Umgangder Eltern mit ihren Kindern oft zur aktuellenProblemlage beigetragen. Gewöhnlich klaffenihre Vorstellungen, wo es hingehen soll, weit auseinander.Das erschwert die Gespräche zusätzlich.Die Bedingungen des Aufwachsens und dieKommunikation zwischen Jugendlichen undihren Eltern beziehungsweise Stiefvätern undStiefmüttern sowie anderen erwachsenenAngehörigen gelten zugleich aber als einewesentliche Weichenstellung in der Herausbildungjugendlicher Denk- und Verhaltensmuster.Um das Bewusstsein der Erwachsenen fürihre (Mit-)Verantwortung, ihre Bereitschaft zurselbstkritischen Mitarbeit und ihre Rolle beimAusstieg rechter Jugendlicher zu stärken, bedarfes einer neuen und problemübergreifendenBeratungsqualität.Voraussetzung sind neben den Beratungskompetenzeninsbesondere die aktuelle „Feldkompetenz“und Szenekenntnis der Beratenden.Eltern, die in ein Erstgespräch Gegenstände ausdem Zimmer ihres Kindes mitbringen (CDs,Kleidungsstücke, Flyer, Spuckies) oder überNamen und Orte aus dem Umfeld ihres Sohnesberichten, erwarten – zu Recht – eine realistischeAuskunft der Berater, wie diese Dinge undNamen einzuschätzen sind. Können sie das nicht,droht die Beratung zu enden, bevor sie überhauptbegonnen hat.Inhalte und Ziele der dreiteiligen Zusatzqualifikationumfassen folgende Ebenen: Rechtsextremismus, menschenfeindlicheIdeologien und Jugendkultur: Das Spannungsfeldvon jugendlichen Subkulturen, Lifestyles undrechtsextremer, autoritärer Identitätsentwicklung. Beziehungsgeflecht Familie: Eltern-Kind-Beziehungen und ihr Zusammenhang für denEin- und Ausstieg in extreme Denk- undVerhaltensmuster. Grundlagen von Beratung und Gesprächsführung:Erlernen, Einüben und Weiterentwickelnvon Beratungs- und Gesprächsführungskompetenz.Seit Herbst 2003 werden diese Fortbildungenangeboten. Die Teilnehmer sind Mitarbeiter vonProjekten der Jugendhilfe und Jugendarbeit,Ausstiegsprogrammen, Mobilen Beratungsteams,schulpsychologischen und freien. Adressaten sindauch Erziehungs- und Familienberater. DasLidice-Haus hat mit dieser im Bundesgebiet bislangeinzigartigen Initiative einen Stein insRollen gebracht. Eltern aus dem gesamtenBundesgebiet bitten uns um Rat bei der Suchenach einem Beratungsangebot in ihrer Region.Die Autoren: Andrea Müller ist pädagogischerLeiter, Cornelius Peltz wissenschaftlicherMitarbeiter im Lidice-Haus: Lidice-Haus, Aufdem Hohen Ufer 118/122, 28759 Bremen, Telefon04 21 / 69 27 20, E-Mail lidice@jugendinfo.de,Internet www.lidicehaus.de.Im März 2004 ist beim LandespräventionsratNiedersachsen (LPR) die „Clearingstelle zurPrävention von Rechtsextremismus in Niedersachsen“eingerichtet worden. Wir verstehen unsals eine koordinierende und vernetzende Fachberatungseinrichtungfür das gesamte Bundesland.Im Fachbeirat arbeiten Einrichtungen undDienststellen mit, die bereits über Erfahrungen inder Präventionsarbeit auf dem ThemenfeldRechtsextremismus verfügen: die Arbeitsstellegegen Rechtsextremismus und Gewalt ausBraunschweig, das ARPOS-Institut aus Hannover,die niedersächsische Landesstelle Jugendschutz,das Landesjugendamt, die AussteigerhilfeRECHTS in Niedersachsen, das Landesamt fürVerfassungsschutz und das Landeskriminalamt.Seit wenigen Monaten zählt auch dieJugendbildungsstätte Lidice-Haus aus Bremen zuden Mitgliedern und damit zu den Partnern derClearingstelle.Die fachliche Beratung kommunalerPräventionsräte – in Niedersachsen existierendavon rund 170 – stellt eine wesentliche Aufgabeder Clearingstelle dar. So wurden auch inZusammenarbeit mit dem Verdener Präventionsratkonkrete Maßnahmen und Projekte gegen denRechtsextremismus angeschoben. MehrerePartner des Fachbeirates haben bereits im vergangenenJahr an Schulen entsprechende Veranstaltungendurchgeführt, Projekttage initiiert und mitgestaltet.Weiter beteiligen wir uns an öffentlichenDiskussions- und Informationsveranstaltungen.Die Clearingstelle berät außerdem Gemeinden,wie sie eine gewaltfreie und demokratische Kulturdes Widerstandes gegen rechtsextreme Erscheinungenfördern können.Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass rechtsextremeParteien und Gruppen verstärkt versuchen,an Schulen für ihre menschenverachtendeIdeologie zu werben. <strong>Sie</strong> verteilen Flugblätter undCDs mit „nationalen Texten“, laden zu „Freizeitveranstaltungen“ein und fordern schon 14-Jährigeauf, zu „Kameradschaftsabenden“ zu kommen.Hier muss „Schule“ ansetzen, jungeMenschen zu immunisieren gegen die Einflussnahmeextremistischer Gruppen. Projekttage, ambesten eine ganze Projektwoche, gehören zu deneffektivsten Möglichkeiten. Das trockene Vermittelnvon Geschichtswissen, politisch-historischenDaten und Fakten allein genügt nicht. JungeMenschen müssen positiv erleben, wasDemokratie bietet und genau erfahren, wohin derWeg überzeugter Rechtsextremisten führt!Rechtsextrem orientierte Musik, einschlägigeDresscodes, Hintergründe zu bestimmten Zeichenund Symbolen – hier ist anzusetzen, hier sindFachfrauen und -männer gefragt, die lebendigeund klare Antworten geben können. Die Clearingstellekann Referentinnen und Referenten vermitteln,die – zugeschnitten auf die Zielgruppe –mit multimedialen Mitteln ergänzende Informationengeben. Zeitzeugen, die die NS-Diktaturmiterleben mussten, sind ein besonderer Mosaiksteinin Projektwochen für Demokratie und gegenrechtsextreme Gewalt. <strong>Sie</strong> können oft hochinteressantund ausgesprochen plastisch berichten,„wie es war“ – vor allem auch, wie der ganz normaleAlltag zwischen 1933 und 1945 ablief.Der Blick in die eigene Gemeinde und deneigenen Landkreis ist die Basis für das weitereHandeln. Gibt es eine rechtsextreme Partei oderGruppe vor meiner Haustür? Wie nehme ich dieseMenschen wahr? Machen sie mir Angst? Wiegehe ich damit um? Was kann ich tun, damit niemandaus meinem Freundeskreis in die Fänge dieserGruppen gerät? Wie gehe ich mit Mitschülernum, von denen ich weiß, dass sie extremistischenGedanken nahe stehen?Diese und viele andere Fragen müssen – inder Klasse, mit den Lehrkräften, mit Experten –diskutiert werden. Fragen und Wünsche an dieJugendhilfe vor Ort, an die Verantwortlichen ausder Kommunalpolitik sind zu formulieren und zudokumentieren.Andrea Müller Cornelius Peltz Gerd BückerProjekttage und -wochen sollten kontinuierlichdurchgeführt werden. <strong>Sie</strong> müssen keinen einmaligenEventcharakter haben, sollen auch nichtals abwechslungsreiche Partywoche betrachtetwerden. Es kommt auf klare und eindeutigeFormulierungen an und darauf, das lebendigeInteresse an einem jugendorientierten Gegenentwurfzu wecken. Daran müssen junge Menscheneffektiv beteiligt werden, um sie auf Dauer für eindemokratisches Miteinander zu gewinnen.In die pädagogische Fachausbildung gehörtdeshalb die Kenntnis über (rechts-)extremistischeErscheinungsformen und über Möglichkeiten,diesen entschlossen zu begegnen. Die Clearingstelleund andere kompetente Einrichtungen undDienststellen unterstützen solche Fachausbildungengern.Der Autor: Gerd Bücker ist im LandespräventionsratNiedersachsen und leitet die Clearingstelle:Clearingstelle zur Prävention vonRechtsextremismus in Niedersachsen, Am Waterlooplatz5 a, 30169 Hannover, Telefon 05 11/1 20 52 59, E-Mail info@lpr.niedersachsen.de,Internet www.lpr.niedersachsen.de.5455


Nicht Bange machen lassenWie junge Ausländer in Dörverden mit dem Heisenhof leben„Kiek mol wedder rin . . . in eine andereWelt“ steht auf der Tafel neben dem DörverdenerOrtsschild. Die Straße ist gesäumt von Backsteinhäusern,hier und da gibt es noch Bauernhöfe.In Bahnhofsnähe sind die Häuser kleiner.Drei Reihen graublauer Blöcke ragen heraus, dieDeniz und Suleyman Tuac:junge Immigranten in Dörverden.Fassadenfarbe blättert ab. Früher war das oft dieerste Unterkunft für neu zugezogene Immigranten.Nicht weit davon steht das Einfamilienhaus,in dem Suleyman und Deniz Tuac mit Eltern unddrei Geschwistern wohnen. Die Tuacs leben seit1994 in Dörverden. Der älteste Bruder hat inzwischenseine eigene Familie gegründet und sich inder Nachbarschaft niedergelassen.„Meine Mutter war nicht so begeistert davon,dass ich hier was über uns erzähle“, sagt der22-jährige Suleyman. „<strong>Sie</strong> hat Angst, dass dannbald jemand vor der Tür steht.“ Wer? „Na ja,jemand vom Heisenhof oder so.“ Die Brüdergrinsen, halten die Sorge ihrer Mutter für übertrieben.„Die Nazis werden so stark beobachtet –ich glaube nicht, dass die was machen würden“,sagt Deniz.Außerdem gehöre das doch zur Taktik derBraunen: ruhig bleiben und seriös rüberkommen.Dass der Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger denHeisenhof gekauft und dort seine Gefolgsleuteeinquartiert hat, hat das Straßenbild in Dörverdennicht verändert. Die Polizei scheint den Brüdernpräsenter zu sein als die Rechtsradikalen. „Sicherkann man sich natürlich nicht sein. Die wollen janicht mehr auffallen und ziehen sich heute ganzanders an als früher“, weiß der 19-jährige Deniz.Beide haben die deutsche Staatsbürgerschaft,„aber wir würden nie sagen: Wir sind Deutsche“.Denn das würde voraussetzen, als solche akzeptiertzu werden. Wenn Deniz früher Schulkameradenzu Hause besuchte, hatte er nicht dasGefühl, willkommen zu sein. „Man ließ uns spüren:Du gehörst zu denen da hinten.“„Da hinten“ ist die Gegend um den Bahnhof.„Ghettoisierung ist vielleicht zu krass ausgedrükkt. . . Jedenfalls waren die Deutschen unter sich,und wir gehörten zu der anderen Gruppe“,berichtet Suleyman. Er räumt ein, auch umgekehrtVorurteile gehabt zu haben. „Es war immerein Denken in Gruppen.“ Die Folge: Problemeund Prügeleien zwischen den Jugendcliquen.Der erste Dörverdener Jugendtreff wurdedeswegen geschlossen. „Die Pädagogen dorthaben versucht, die ausländischen Jugendlichenzu integrieren. Wir haben auch beim Aufbaugeholfen“, erinnert sich Suleyman und fügthinzu: „Gut, es wurde echt viel Mist gebaut.“Doch unter den 40 Jugendlichen seien vielleichtdrei oder vier Rowdys gewesen. „Wenn einer vondenen schwarze Haare hat, fällt das auf, und eswird gleich verallgemeinert“, so Suleyman.Während sich die Dorfjugend beiSchützenpartys „die Kante gab“ und kräftig feierte,hatten die beiden Brüder bald „keinen Bock“mehr darauf. „Da wurde einem schon mal,Scheiß-Kanake‘ hinterhergerufen“, beschreibtDeniz eine latente Ausländerfeindlichkeit. Oderim Supermarkt: „Kaum stand ich vor einemRegal, hatte ich gleich einen Verkäufer hinter mir.Am Ausgang wurden meine Taschen kontrolliert.Das war nicht immer so, kam aber schon öftervor“, sagt Suleyman. Heute kann nur noch dasOsterfeuer die Brüder in ein DörverdenerPartyzelt locken, sie halten sich lieber in Verdenauf.Doch aus der Gruppendynamik haben siesich gelöst, Vorurteile abgebaut. Deniz sagt, seinFreundeskreis bestünde zu 90 Prozent ausDeutschen. „Man muss auch mal die zweite Türöffnen und gucken, was dahinter steckt“, empfiehlter. Was die Rechtsradikalen angeht, habenSuleyman und Deniz eine Vermutung: Die hättenwahrscheinlich einfach noch nie richtigenKontakt zu Ausländern gehabt. Wenn’s um Protestgegen Rechtsextremismus geht, sind die Brüderdabei. Deniz war bei den Sonntagsspaziergängenund auch beim Aktionstag gegen rechts am2. April 2005 in Verden. Die Proteste derBevölkerung gefallen ihnen, und doch haben sieleise Zweifel: „Vielleicht machen einige nur mit,weil sie dann besser dastehen.“Suleyman hat seine eigene Methode, zurVerständigung unter den Kulturen beizutragen:Mit Jugendlichen trainiert er mehrmals in derWoche Breakdance. Selbst tanzt er seit Jahren inder Verdener Truppe „Tuff Rockin’ Force“, derjunge Leute verschiedener Nationalitäten angehören.In Dörverden beträgt der Ausländeranteil6,4 Prozent. Im vergangenen Jahr wechselte keineinziger Schüler nicht-deutscher Herkunft zumGymnasium, nur drei schafften den Übergang zurRealschule. So gesehen sind die Tuac-BrüderAusnahmen. Suleyman schaffte im Mai 2004 seinFachabitur an den Berufsbildenden Schulen inDauelsen und plant, in die Gebäudereinigungsfirmaseines großen Bruders einzusteigen. „Ichwerde meinen Meister machen“, hat er sich vorgenommen.Deniz besucht die 12. Klasse des VerdenerDomgymnasiums und möchte später Medizin studieren.Er hofft, einen Studienort nicht allzu weitweg zu finden – damit er immer mal „wedder rinkieken“kann, in seine alte Welt. Lena WendteErste Adresse für Immigranten:In den Wohnblöcken in Bahnhofsnähe werdenvor allem Ausländer untergebracht.5657


Die Neonazis rücken näher„Die fackeln nicht lange, die langen zu“,sagen Insider über NPD-Anhänger. BrutaleGewalt kennzeichnet die Szene auch im NordwestenDeutschlands. In Niedersachsen, demStammland der Partei, arbeitet die NPD immerenger mit neonazistischen Kameradschaften zusammen.5859


Braune BrutalitätViele Neonazis aus der Region sind gewalttätigMit einem brutalen Schlag zertrümmerteder NPD-Aktivist Arwid Strelow seinem Opferdas Jochbein.Der brutale Schlag auf den Kopf kostet Janum ein Haar das Augenlicht. Der Tatort: einNPD-Aufmarsch in Rotenburg. Die Waffe: einHolzschild, das für die NPD wirbt. Der Täter: einjunger Mann mit einer weißen Armbinde.„Ordner“ steht darauf.Zugeschlagen haben soll Arwid Strelow.Mit voller Wucht und wie von Sinnen. Das zeigenFilmaufnahmen von Journalisten. Drei JahreFreiheitsstrafe auf Bewährung wegen vorsätzlicherKörperverletzung urteilt Monate später einJugendschöffengericht. Strelows Opfer ist einAuszubildender aus Schleswig-Holstein, dergegen die NPD-Kundgebung demonstriert. DerTäter zertrümmert das Jochbein des 18-Jährigen,anderthalb Stunden dauert die Operation, dieÄrzte müssen zwei Metallplatten einsetzen.„Taten statt Worte“ wirbt die NPD. Hat siedas so gemeint? Der Bundesverfassungsschutznennt das Verhältnis der NPD zu Gewalt immerhin„ambivalent“. Udo Voigt, Bundesvorsitzenderder Partei, sagt, die NPD lehne Gewalt ab –um rasch hinzuzufügen: „Was wir allerdingsunseren Mitgliedern auch sagen: Jeder hat dasRecht auf Notwehr.“ Schaut man sich dasVorstrafenregister vieler Mitglieder und Anhängerder Partei an, verkommt das halbherzige NeinVoigts zum bloßen Lippenbekenntnis.„Niemand kann ernsthaft behaupten, er seirechtsextrem, lehne aber Gewalt grundsätzlichab“, sagt ein Szeneinsider. Für viele Neonazis seiGewalt ein legitimes Mittel im „Kampf“ gegendas bestehende System. Andere nähmen Gewaltbilligend in Kauf, <strong>wieder</strong> andere zögen ausGruppenzwang heraus mit. „Insgesamt ist dieHemmschwelle in der Szene sehr, sehr niedrig“,berichtet der Insider. Der mutmaßliche Täter vonRotenburg gehört zu den Anhängern der radikalenNPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten.Er soll immer mal <strong>wieder</strong> zu Gastauf dem Heisenhof des Hamburger NeonazisJürgen Rieger in Dörverden sein. Dort halten sichauch Anhänger des so genannten JN-StützpunktesVerden/Rotenburg gerne auf.Zur lokalen NPD-Jugend gehört auchFlorian Cordes aus Oyten. Cordes ist stellvertretenderJN-Bundesvorsitzender – und hatStrelow nach der Tat in Rotenburg anerkennendauf die Schulter geklopft. Seit 2003 macht dieGruppe um Cordes auch mit der „Schuloffensive“von sich reden: Junge Neonazis verteilenrechtsextreme Propaganda vor Schulen in derRegion. Wenige Tage vor Weihnachten an denBerufsbildenden Schulen in Dauelsen bei Verden.Dieses Mal ist es „Stützpunktleiter“ Sascha JörgSchüler, der seine Aggressionen offenbar nichtbeherrschen kann. Laut Polizei fährt er mit seinemPkw direkt auf einen Pressefotografen zu,der die jungen Neonazis bei ihrer Aktion beobachtet.Der Mann fliegt über die Kühlerhaube undzieht sich neben einer Knieverletzung eineGehirnerschütterung zu.Schüler ist bereits einige Wochen zuvor beieiner rechtslastigen Vortragsveranstaltung inVerden durch aggressives Verhalten aufgefallen.Als der Ex-Brigadegeneral Reinhard Günzel aufEinladung der örtlichen RechtskonservativenHeinrich Rathjen und Dieter Fricke einen Vortragüber das „Ethos des Soldaten“ hält, gibtSchüler sich als „Ordner“ aus – und entreißtJournalisten Presseausweise, um sich Privatanschriftenzu notieren. Auf das Benehmen seines„Ordners“ angesprochen, will Fricke von nichtswissen: „Der junge Mann hat hier keineFunktion.“Schülers Verhalten passt nicht in das propagierteBild einer „wählbaren“ NPD. Gern präsentierensich Schüler, Cordes und ihre Anhänger als„nette Jungs von nebenan“. Doch nur allzu schnellfühlen sich die JN-Aktivisten provoziert – undreagieren mit Drohungen und Gewalt. „VieleNeonazis sehen sich in einer Art Märtyrerrolle“,erklärt ein Insider. Jeder außerhalb ihrer Szenegelte als Feind – allen voran Ausländer undAntifaschisten, aber auch Presse und Polizei.Dabei wollen die Neonazis in ihrer Selbstwahrnehmungnur „das Beste für ihr Land“. Getreudem Motto: „Nichts für mich, alles fürDeutschland.“ Werde der innere Druck zu groß,entlade er sich oft in Schlägen gegen vermeintliche„Feinde“.Doch braune Gewalttaten lassen sich nicht aufKurzschlusshandlungen reduzieren. Viele Neonazisgehen erst gar nicht ohne Messer oderSchlagstock aus dem Haus, in ihren Autos liegt oftein Knüppel oder ein Baseballschläger bereit.Selbst Äxte wurden schon gefunden. Die Szeneorganisiert Schulungen, in denen Neonazis lernen,sich „optimal“ auszurüsten. So erfahrenangehende „Ordner“ zum Beispiel, dass diePolizei ihnen bei einer Kontrolle einenBaseballschläger abnehmen darf, einenKlappspaten aber nicht.Eine planvolle Gewaltaktion Rechtsextremerist auch der Überfall auf eine Veranstaltung derGewerkschaft Erziehung und WissenschaftAnfang 2004 in Verden. Rund 60 Schüler undLehrer diskutieren über „Rechtsextremismus anSchulen“, als etwa 30 Neonazis aus der RegionVerden und aus Bremen versuchen, das Gebäudezu stürmen. Die Diskussionsteilnehmer verbarrikadierensich, die Rechtsextremisten rütteln anden verschlossenen Türen. Dann greift einSondereinsatzkommando der Polizei ein. DieBeamten finden Totschläger, Baseballschläger,Axtstiele und Reizgas bei den Rechtsextremisten.17 Neonazis werden vorübergehend festgenommen,gegen sieben werden Ermittlungsverfahreneingeleitet. Sechs Extremisten akzeptieren denStrafbefehl des Amtsgerichts Verden und geltenseither als vorbestraft, darunter Sascha JörgSchüler.Die zum Teil verbotenen Waffen gehören nachInsiderauskünften zum „ganz normalen Equipment“vieler NPD-Anhänger. Er erinnert sich aneines dieser alljährlichen internen Pressefeste desNPD-Organs „Deutsche Stimme“ in Sachsen.Da sei der „Ordnerdienst“ mit einem Koffer angerückt.Der Inhalt: Gaspistolen und Handschellen,Teleskopschlagstöcke und Verbandszeug. „Diefackeln nicht lange, die langen zu.“Zugelangt wurde offenbar auch in Hetendorfbei Celle, dem 1998 geschlossenen Neonazi-Schulungszentrum von Heisenhof-BesitzerJürgen Rieger. Er hatte für das Anwesen eineneigenen Ordnertrupp ausgebildet. Die jungenRechtsextremisten patrouillierten regelmäßig aufdem Gelände. Bewaffnet mit Eisenstangen – undausgestattet mit der Anweisung, möglichenEindringlingen sofort auf den Kopf zu schlagen.Nach den Worten des Insiders hat Anwalt Riegerhinzugefügt: „Das ist Privatbesitz, wir plädierenauf Notwehr.“Christine KrögerGriff in Hetendorf auch mal selbst zur Axt:der Hamburger Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger.6061


Die NPD und ihre „Ordner“Blütenweiß sind nur die Hemden: Partei setzt verurteilte Gewalttäter zum „Schutz“ ihrer Veranstaltungen einObwohl Jürgen Rieger nicht in der NPD ist,darf der Hamburger Neonazi 1999 in der 475Seiten starken Jubiläumsschrift der Partei „AllesGroße steht im Sturm. 35 Jahre NPD – 30Jahre JN“ ein Geleitwort zum Besten geben. „Ichselbst bin seinerzeit nicht Mitglied der NPDgeworden, und zwar wegen der Person Adolf vonThaddens“, heißt es darin. Der erste NPD-Bundesvorsitzende aus Bremen habe nicht genughinter den „Ordnern“ gestanden, wettert Rieger.Wenn diese ein Strafverfahren wegen Verletzunglinker Gegendemonstranten hatten, habe vonThadden ihnen keinen Rechtsschutz gewährt –sondern sie sofort aus der Partei ausgeschlossen.Heute ist das längst anders. Die Parteischließt verurteilte Gewalttäter nicht aus, sie bindetsie offenbar inzwischen gerne an sich – bevorzugtals „Ordner“. So „schützten“ Mitglieder der„Skinheads Sächsische Schweiz“ Parteiveranstaltungen,heißt es in der Begründung desNPD-Verbotsantrags der Bundesregierung. Diemilitante Neonazi-Gruppe ist inzwischen als „kriminelleVereinigung“ verboten. <strong>Sie</strong> veranstalteteregelmäßig Wehrsportübungen, die Polizei stelltebei Mitgliedern Waffen und Sprengstoff sicher.Auch Anhänger der rechtsextremenSkinheadbewegung „Blood & Honour DivisionDeutschland“ – im Jahr 2000 ebenfalls verboten– fungierten bei einerNPD-Demonstration als„Ordner“. Man half sichauch andernorts aus.Unter anderem in Bremen.Das Amtsgerichtverurteilte den damaligenNPD-LandesvorsitzendenJörg Wrieden Anfang2001 zu einem Jahr Haftauf drei Jahre Bewährung:Wrieden hatte Mitte2000 eine Pressemitteilungder „Blood &Honour Sektion Weser-Ems“ über den Faxanschlussseines Landesverbandesverbreitet. Beieiner Hausdurchsuchungstellte die Polizei zudemrechtsextreme Propaganda,Waffen und Elektroschockersicher.Anhänger der „Vandalen“ haben NPD-naheVeranstaltungen in Berlin „geschützt“. Aus demUmfeld der rechtsextremen Rockergruppe rekrutiertesich auch die Neonazi-Kultband „Landser“um den Sänger Michael Regener, alias„Lunikoff“. Mit „Landser“ wurde Ende 2003 –zum ersten Mal in der bundesdeutschenGeschichte – eine Musikgruppe als „kriminelleVereinigung“ verboten. Ihr „Star“ Regener stellteim vergangenen Herbst medienwirksam einenAufnahmeantrag für die NPD. Parteichef Voigtmacht denn auch keinen Hehl aus seinerSympathie für gewaltbereite Skinheads, Neonazisund politische Straftäter. So sagte er bereits vorsechs Jahren: „Hab’ ich mir wirklich abgewöhnt,Leute nach der Haarpracht politisch einzuschätzen.Oder danach, was er früher gewesen ist. Oderob er vielleicht mal wegen einer politischenSache im Gefängnis war.“In Niedersachsen baut der Lüneburger NPD-Aktivist Manfred Börm seit einiger Zeit einen„Bundesordnerdienst“ für seine Partei auf. Dersoll für „Disziplin und Sicherheit beiKundgebungen und Demonstrationen des nationalenWiderstandes“ sorgen und durch „entschlossenes,sicheres und diszipliniertesAuftreten anderen Kameraden Beispiel undVorbild sein“, schreibt die NPD-Zeitung„Deutsche Stimme“.Was die NPD mit „entschlossenem“Auftreten meint, zeigte Börms Truppe zuletztAnfang Dezember 2004 in Steinburg bei Itzehoe.Zum Auftakt des Landtagswahlkampfes inSchleswig-Holstein lieferten sich die „Ordner“in ihren blütenweißen Hemden eine regelrechteStraßenschlacht mit Gegendemonstranten. MitTabletts und Tischen als Schutzschilden, mitStühlen und Flaschen zum Schlagen stürmten dieRechten laut Augenzeugen auf die etwa 60 Linkenzu. Die Situation eskalierte, bis Zivilpolizistenmehrere Warnschüsse in die Luft feuerten.„Ordner“-Chef Börm ist auch im Bundes- undim Landesvorstand der NPD. Laut Verfassungsschutzwurde er bereits 1979 wegen eines bewaffnetenÜberfalls auf niederländische NATO-Soldaten und der Mitgliedschaft in einer verbotenenWerwolf-Untergrundorganisation zu mehrerenJahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung1985 war er „Gauführer Niedersachsen“ dermilitanten „Wiking-Jugend“. Die 1994 verboteneOrganisation verstand sich als Nachfolgerin der„Hitler-Jugend“.Christine KrögerSturm auf Gegendemonstranten:So endete der Wahlkampfauftakt der NPD imDezember 2004 in Schleswig-Holstein.Baut einen „Bundesordnerdienst“für die rechtsextreme NPD auf:NPD-Vorstandsmitglied Manfred Börm.6263


Rechte SchmierfinkenNeonazistische Kritzeleien gehören vielerorts zum SchulalltagViel zu tun für StaatsanwältinAnzeigen wegen politischer Straftaten häufen sich in VerdenFür Helke Diers gehören die braunenSchmierereien längst zum Schulalltag. EinHakenkreuz hier, ein NPD-Aufkleber dort, „sowas eben“, sagt die 17-Jährige. Zwei Mal, kurzvor und kurz nach den Herbstferien, kam es ganzdick. In rund anderthalb Meter hohen Lettern hattenUnbekannte das Gymnasium Am Rübekampin Walle in „Adolf-Hitler-Gymnasium“ umbenannt.„Verziert“ mit SS-Runen und Hakenkreuzen,alles riesengroß. „Das war gruselig“, sagt dieBremer Schülerin. Mit „Nazis raus“ haben dieSchüler das Geschmiere übersprüht, „wir wolltennicht, dass dieser Dreck während der Ferien anunserer Schule stehen bleibt“, meint Helke. Bisheute sei nicht geklärt, wer für die neonazistischenParolen verantwortlich sei.Für Helke noch beängstigender sind die ganzalltäglichen Schmierereien. Mehrmals in derWoche entdecken sie und ihre Mitschüler NS-Symbole oder Aufkleber rechtsextremer Parteienirgendwo in ihrer Schule. „Offenbar kann manwenig dagegen tun“, sagt Helke frustriert.Schließlich mache das Gymnasium AmRübekamp längst mit bei der Aktion „Schuleohne Rassismus“, auch eine Arbeitsgemeinschaftgegen rechts treffe sich seit Herbst 2004 regelmäßig.Nicht nur am Rübekamp ist rechtsextremesGekrakel längst an der Tagesordnung. AlsGesamtschülervertreterin hält Helke Kontaktauch zu anderen Bremer Schulen: „So etwas gibtes fast überall“, ist ihre Erfahrung.Propagandadelikte nennt die Polizei dieSchmierereien und auch das Tragen verbotenerAbzeichen. Zusammen mit Fällen von Volksverhetzungmachen sie bundesweit mehr als 85Prozent aller rechtsextremen Straftaten aus. Auchim Landkreis Verden häufen sich dieHetzparolen. Es traf Schulanlagen wie dieTurnhalle in Achim, auch der Jüdische Friedhofwurde geschändet.In leuchtend roter Farbe sprühten UnbekannteHakenkreuze und „RD 88“ auf dieGrabsteine. Die „8“ steht in der Szene für das„H“, den achten Buchstaben im Alphabet, „88“meint „Heil Hitler“. „RD“ kann selbst mancherSzeneinsider nicht entschlüsseln.In Niedersachsen registrierte das Landeskriminalamt2003 insgesamt 1194 rechtsextremistischeStraftaten, 80 davon waren Gewalttaten. Inder offiziellen rechtsextremen Gewaltstatistikrangierte das Land damit hinter Nordrhein-Westfalen und Brandenburg auf einem traurigendritten Platz. 2004 zählten die niedersächsischenKriminalbeamten bis September durchschnittlich77 rechtsextreme Straftaten im Monat. Bundesweitwaren 2003 fast 11000 Straftaten rechtsextremistischmotiviert, darunter 759 Gewalttaten.Die Bundesregierung ging 2004 von rund10 000 gewaltbereiten Rechtsextremisten aus.Auch Helke Diers ist bereits rechter Gewaltzum Opfer gefallen – das vermutet sie jedenfalls.„Wenn jemand, der sich gegen rechts engagiert,nachts von zwei kahlköpfigen Männern überfallenund als Zecke beschimpft wird, ist das kaumein Zufall“, sagt Helke. „Zecken“ schimpfenNeonazis links orientierte Jugendliche.Fast zwei Jahre ist das jetzt her, die Schlägerfügten der Schülerin eine Gehirnerschütterungund schwere Prellungen zu. Gefasst wurden sienie – aber ihr Ziel haben sie dennoch verfehlt:Helke lässt sich nicht einschüchtern, sie kämpftweiter gegen rechts. Christine KrögerSilke Streichsbier leitet bei der StaatsanwaltschaftVerden das Spezialdezernat für politischeStraftaten. Die Abteilung hat viel zu tun.Allein zwischen dem 1. Januar und dem 8. März2005 gingen aus dem Landgerichtsbezirk Verden70 Strafanzeigen ein, 2004 musste in 301 Fällenermittelt werden. Zu etwa zwei Dritteln geht esdabei um rechtsextremistische Delikte, schätztOberstaatsanwältin Streichsbier.Die Statistik der Staatsanwaltschaft unterscheidetnicht zwischen links- und rechtsextremistischenStraftaten. Streichsbier weiß jedoch ausdem Alltagsgeschäft, dass sich die weitaus meistenStrafanzeigen gegen Neonazis richten.„Diese Entwicklung beobachten wir seit einigenJahren, genauer: seit hier rechtsextremistischeFührungskräfte tätig sind.“Die Spirale funktioniert so: Je besser dieNeofaschisten geschult seien, sagt SilkeStreichsbier, desto aktiver würden sie und destoöfter gerieten sie ins Visier der Ermittler. Von Juni2004 bis März 2005 wurden insgesamt 16Körperverletzungen mit politischem Hintergrundangezeigt. In 37 Fällen bestand beziehungsweisebesteht der Verdacht auf Volksverhetzung – einextrem schwieriges Feld für die Ermittler, weil esoft um Inhalte auf Internetseiten geht. DieVerfasser ausfindig zu machen, ist oft kaum möglich,zumal dann, wenn sich der Provider imAusland befindet.Etliche Anzeigen gibt die Staatsanwaltschaftan die Zentralstelle zur Bekämpfung gewaltdarstellender,pornografischer oder sonstiger jugendgefährdenderSchriften in Hannover ab und haterst <strong>wieder</strong> damit zu tun, wenn Strafbefehl erlassenoder Klage erhoben wird.Nahezu aussichtslos ist auch die Suche nachTätern, die Hakenkreuze oder andere NS-Symbole auf Hauswände oder sonst wohinschmieren. „Es sei denn, sie werden auf frischerTat ertappt“, so Streichsbier. Eher noch könnenNeonazis dingfest gemacht werden, die in derÖffentlichkeit „Heil Hitler“ grölen.Deshalb verwundert es nicht, dass die 84Anzeigen im zweiten Halbjahr 2004 nur zu dreiVerurteilungen führten. „Nicht alles ist strafbarund nicht immer ist die Schuld nachzuweisen“,sagt Streichsbier und versichert, dass die Staatsanwaltschaftjeder Anzeige akribisch nachgeht.„Wir verfolgen die Vorgänge in engerZusammenarbeit mit der Polizei sehr genau.“ Seiteiniger Zeit landen alle Fälle aus dem rechtsextremistischenSpektrum auf dem Schreibtisch nurnoch einer Kollegin. Streichsbier: „So behaltenwir den Überblick. Das ist ja alles sehr miteinanderverwoben.“ Bisher musste sich in Verden nochkeine rechtsradikale Frau vor Gericht verantworten.„Frauen haben wir hier eher in Zusammenhangmit den Castor-Transporten“, sagt Streichsbier.Anke LandwehrRechtsextreme Schmierereien gibt es nicht nurauf jüdischen Friedhöfen. Dabei wird auch aufantisemitische Parolen der Nationalsozialistenwie „Kauft nicht bei Juden“ angespielt.6465


Aussteigen – aber wie?Ein Gastbeitrag von Wolfgang Welp-EggertAussteigerprogramme für Rechtsextremesind in Deutschland eine zentrale Maßnahme imUmgang mit Rechtsextremismus und Gewalt.Den Anstoß für solche Programme lieferten Angehörigeder Szene selbst: <strong>Sie</strong> wollten sich – ausunterschiedlichsten Motiven – abwenden, dochprofessionelle Hilfsangebote fehlten.Eine dauerhafte und stabile Distanz zurSzene erreichte nur, wer die für die Szene typischenstarken ideologischen und sozialenAbhängigkeiten überwinden und durch andereAnerkennungsquellen ersetzen konnte. So brachtenAusstiegsverläufe teilweise skurrile Situationenhervor. In den 90er Jahren beispielsweisesuchte ein ausstiegswilliger Neonazi-Aktivistausgerechnet in einem Göttinger Antifa-CaféZuflucht vor seinen „Kameraden“, die dem„Verräter“ ans Leder wollten.Aus der Auseinandersetzung mit dieserSituation entstand eine Projekt der Jugendarbeitin rechten Szenen. Abgesehen von solchenZufällen und Angeboten der Jugend- undSozialarbeit, die sich allerdings auf Mitläufer undSympathisanten rechter Jugendkulturen konzentrieren,gab es lange keine zielgerichtetenAngebote für Ausstiegswillige aus dem Kern derneonazistischen Szene.Erst seit Anfang 2001 gehören Aussteigerprogrammezu den favorisierten Strategien gegenRechtsextremismus. Als Vorbilder dientenModelle aus Norwegen und Schweden. Dasbundesweite Aussteigerprogramm „EXIT-Deutschland“ ist eine Initiative des Zentrums fürdemokratische Kultur und orientiert sich anErfahrungen aus Skandinavien. Das Programmhat drei Ebenen. Zunächst entkommt derAusstiegswillige durch Wohnungswechsel demVerfolgungsdruck der Szene. Dann setzen sichdie Mitarbeiter intensiv mit den rechtsextremenEinstellungen des Ausstiegswilligen auseinander,in diesem Prozess soll eine Art „Läuterung“ folgen.In einem dritten Schritt kümmert sich EXITzukunftsorientiert um die ökonomischen undsozialen Belange des Ausstiegswilligen. WichtigeVoraussetzung für einen erfolgreichen Ausstiegsprozessist die Bereitschaft des Ausstiegswilligen,seine rechtsextremen Haltungen inhaltlich aufzuarbeiten.Die ideologische Abstinenz wird somit zurBedingung für weitere Hilfsangebote, wie juristischeBeratung (außer bei Straftaten mit rechtsextrememHintergrund), finanzielle Unterstützungzum Beispiel zur Beseitigung von Tattoos oderzum Tausch von rechtsextremer Kleidung undrassistischer CDs.EXIT ist nicht unumstritten. Kritiker sprechenvon einem „Belehrungsansatz“. <strong>Sie</strong> bezweifeln,dass sich die Einstellungen derRechtsextremisten tatsächlich verändern, undbefürchten, dass es sich häufig um bloßeLippenbekenntnisse handelt. Andere meinen,dass erst konkrete sozialarbeiterische Unterstützungein politisches Umdenken überhauptermöglicht. Letztlich bleibt diese Diskussiontheoretisch: „Wer war zuerst da – die Henne oderdas Ei?“Jenseits solcher Diskussionen habenBundesländer Aussteigerprogramme mit eigenen,sehr unterschiedlichen Profilen entwickelt.Gemeinsame Basis: die Erfahrung, dass typischeMotive für einen Ausstieg Strafverfahren, eigeneZweifel und Beziehungen sind. Auch über dieSchwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, istman sich einig: Sicherheitsprobleme (Racheakteaus der Szene), Verlust sozialer Kontakte, derLebensperspektive, von Arbeit und Wohnung,Schulden, Vorstrafen, Gerichtsverfahren, Sucht,Tattoos mit rechtsextremen Symbolen undStigmatisierungen. Hinsichtlich Ansiedlung,Intensität, Ausstattung und Arbeitsweise allerdingsunterscheiden sich die insgesamt zwölf länderbezogenenAussteigerprogramme stark. Sobieten die Programme in Bayern (angesiedeltbeim Landesamt für Verfassungsschutz), Bremen(bei der Vereinigten Protestantischen Gemeindezur Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche),Hamburg (beim Landeskriminalamt), Mecklenburg-Vorpommern(beim LKA), Nordrhein-Westfalen(bei der Staatskanzlei), Saarland (beimVerfassungsschutz), Sachsen (beim Verfassungsschutz)und Sachsen-Anhalt (beim Verfassungsschutz)im Wesentlichen eine Hotline an. Über siekönnen Ausstiegswillige gezielt Kontakt aufnehmenund werden weitervermittelt an andereOrganisationen, die in der Regel ein Netzwerk bilden.Kontinuierliche und einzelfallbezogeneAusstiegshilfen bieten Baden-Württemberg (beimLKA), Brandenburg (beim Justizministerium),Rheinland-Pfalz (beim Landesamt für Jugend undSoziales) und Niedersachsen (beim Justizministerium).Die „Aussteigerhilfe Rechts Niedersachsen“wendet sich an inhaftierte rechtsextremeStraftäter. <strong>Sie</strong> bietet ihnen auch nach derHaftentlassung pädagogisch-sozialarbeiterischBegleitung an, um einen „Rückfall“ in alteSzenezusammenhänge zu vermeiden.Das rheinland-pfälzische Programm „(R)Auswege“leistet neben individueller Einzelfallhilfeauch Beratung für Angehörige. Die „BeratungsundInterventionsgruppe gegen Rechtsextremismus“(BIGREX) aus Baden-Württemberg zeichnetsich dadurch aus, dass Pädagogen undPolizeibeamte als Team gemeinsam gefährdeteund betroffene Jugendliche aufsuchen und ansprechen.Neben dem zivilgesellschaftlich organisiertenAussteigerprogramm „EXIT-Deutschland“bietet das Bundesamt für Verfassungsschutz einweiteres bundesweites „Aussteigerprogramm fürRechtsextremisten“ an. Seine Arbeit bleibt jedochweitgehend undurchsichtig – wie Geheimdiensteeben arbeiten. Zur Wirkung des Programmserklärte Bundesinnenminister Otto Schily imApril 2004: „So prangerten Rechtsradikale dasProgramm öffentlich als unzulässiges Instrumentpsychologischer Kriegsführung an.“ Schily siehtoffenbar einen Erfolg des Programmes darin, dassSzeneaktivisten das Programm ablehnen.Meiner Meinung nach ist der Erfolg vonAussteigerarbeit allerdings eher daraus abzuleiten,ob diese erstens angenommen wird und zweitensAusstiegsprozesse tatsächlich unterstützt.Eine Evaluation (wissenschaftliche Bewertung)von Aussteigerprogrammen gibt es nicht. <strong>Sie</strong>wäre jedoch sinnvoll, zumal die Diskussion überdie Standards einer solchen Arbeit noch amBeginn steht.Der Autor: Wolfgang Welp-Eggert ist Mitarbeiterdes Forschungsprojektes „Ein- und Ausstiegsprozessebei Skinheads“ der UniversitätBielefeld.Viele Rechtsextremesind einschlägig tätowiert.Bei Demonstrationen treten siehäufig sehr aggressiv auf.6667


Der rechte SchulterschlussAuch in Niedersachsen soll eine „Volksfront von rechts“ entstehen„Heimat“ NiedersachsenIhre ersten Landtagsmandate errang die NPD in HannoverDie rechtsradikale NPD hat im Augenblicknur ein Ziel – den „Kampf um die Parlamente“.Entschlossen sucht die Partei, die in derSzene vor dem sächsischen Wahlerfolg noch alsAuslaufmodell galt, dafür den „Schulterschlussaller aufrechten Volksdeutschen“. BrauneParteistrategen träumen von einer „rechtenVolksfront“ – auch in Niedersachsen.Mit Parolen wie „Volksfront statt Gruppenegoismus“<strong>marschieren</strong> Anhänger von NPD,militanter Kameradschaftsszene,Republikanern und DeutscheVolks-Union gemeinsam, trotzinterner Richtungsstreitigkeitenund persönlicher Querelen. Wieernst es ihnen ist, haben sie am2. April 2005 beim NPD-Aufmarschin Verden gezeigt. Großzügigräumte NPD-OrganisatorAdolf Dammann zwei ehemaligen,inzwischen zur Volksfront umgeschwenktenRepublikanern Redezeitein. Gemeinsam will man versuchen,bei der Landtagswahl 2006in Niedersachsen auch das gemäßigteWählerpotenzial am rechtenRand für die NPD zu erreichen. Die Basis fürWahlkampfaktivitäten bilden jedoch dieKameradschaften. In Niedersachsen funktioniertdie Zusammenarbeit seit Jahren. Nach Angabendes Verfassungsschutzes sind die „FreienNationalisten“ landesweit in rund 20Kameradschaften aktiv. Deren Zahl steigt. Längstexistieren überall kleine scheinbar führerloseGruppen von Neonazis und Skinheads. DieAnführer der Kameradschaften in Norddeutschlandsind über das „Aktionsbüro Nord“ inHamburg vernetzt.Die NPD klinkt sich geschickt in dieseStrukturen ein. So gewähren die niedersächsischenKameraden Schützenhilfe bei derLandtagswahl in Nordrhein-Westfalen am22. Mai 2005. Florian Cordes, stellvertretenderBundesvorsitzender der NPD-NachwuchsorganisationJunge Nationaldemokraten (JN) ausOyten, half im März 2005 bei der Gründung derJN Minden, die <strong>wieder</strong>um zum NPD-Aufmarschin Verden anreiste. Die Partei scheut weder denEinsatz von Straftätern, noch scheint sie vorunlauteren Mitteln zurückzuschrecken. So wirdRechte Fans bei einem Fußballspiel in Nienburg.der Mindener „Stützpunktleiter“ BernardMarkus Renner verdächtigt, gegen das Wahlgesetzverstoßen zu haben. Der NPD-Direktkandidatfür den nordrhein-westfälischen Landtagsoll bei der dafür notwendigen Beschaffung vonUnterschriften gemogelt haben. Wie der„Spiegel“ berichtete, setzte die NPD in etlichenWahlkreisen Drückerkolonnen zur Unterschriftenbeschaffungein, deren Werber eine politischeUmfrage vorgetäuscht haben sollen. Nunermittelt die Staatsanwaltschaft Gütersloh gegenNeonazi Renner, der wegen eines Gewaltdeliktesbereits im Gefängnis gesessen hat.Die von Florian Cordes initiierte „Schuloffensive“,mit der seit Ende 2003 Jugendlichean den Schulen im Bremer Umland geködert werden,findet nun auch in Minden statt. Anders alsin Niedersachsen, konnten die Behörden soforteingreifen, weil Renners Hetzpamphlete direktauf dem Gelände eines Gymnasiums verteilt wurden.Der JN-Aktivist erhielt eine Untersagungsverfügungmit „sofortigem Vollzug“ beieiner Zwangsgeldandrohung von 5000 Euro.Auch in Nienburg verteilten NeonazisAnfang April vor der Berufsbildenden SchuleFlugblätter. Einer von ihnen hatte am Aufmarschder NPD in Verden teilgenommen, gemeinsammit etwa einem Dutzend „Kameraden“ ausNienburg. Ein weiterer Hinweis darauf, dass dieSzene zwischen Ostwestfalen, Schaumburg,Weserbergland, Nienburg undVerden eng verbandelt ist. DerRechtsextremismusexperte der Bundesregierung,Sebastian Edathy,stammt aus Nienburg. Er weiß vonbraunen Skinheads in seinemWahlkreis. Von „festen Organisationsstrukturen“könne aber imGegensatz zur SchaumburgerRegion noch nicht die Rede sein,sagt der Sozialdemokrat. RudiKlemm vom antirassistischen„Flora“-Projekt in Nienburg berichtet,dass die noch kleine örtlicheNeonazi-Szene gegenwärtigimmer aktiver wird.Die meisten der jungen Rechtsextremistengehören dem gewaltbereiten Hooliganumfeld an,das sich regelmäßig zu Fußballspielen des ASCNienburg auf dem Mußriede-Platz einfindet. Injüngster Zeit haben sich brutale Übergriffe imLandkreis Nienburg gehäuft. So wurde imDezember ein jugendlicher Antifaschist auf offenerStraße verprügelt. Dann überfielen bewaffneteRechte eine Party im Naturfreunde-Haus,bis schließlich im Januar ein 15-jährigerAusländer in Rehburg-Loccum von zwei polizeibekanntenNeonazis schwer verletzt wurde.Ein 23 Jahre alter Tatverdächtiger, der inNiedernwöhrden im Landkreis Schaumburg verhaftetwurde, war bereits wegen einesTötungsdeliktes mehrere Jahre im Gefängnis. Dermutmaßliche Mittäter ist häufig auf demHeisenhof in Dörverden anzutreffen: ArwidStrelow, wegen Körperverletzung unlängst zueiner Bewährungsstrafe verurteilt.Strelow gehört zum Umfeld der Kameradschaft„Weserbergland“. Die etwa 30 Mannstarke braune Truppe taucht seit Jahren imVerfassungsschutzbericht auf, sie organisiertpolitische Schulungen, Feiern und einen alljährlichen„Knüppelmarsch“. Drei ihrer Anführerwurden zu Haftstrafen verurteilt, weil sie einenJugendlichen gequält haben. Aus taktischenGründen versucht die Kameradschaft, ihreStrukturen zu verschleiern. Zur Zeit basteln diebraunen Strategen an einem überregionalen„Aktionsbündnis“. Als Deckmantel für dieumtriebige Kameradschaft könnte aber auch dieneugegründete JN Schaumburg dienen, vermutenInsider.Die Grenze zwischen NPD und „FreienNationalisten“ ist oft fließend. Wer wen instrumentalisiert,hängt in der Regel von der Stärkeder Anführer ab. Als einer der Anführer der jungen„Kameradschaft Zentral-Heide“ mit derRechtsrock-Band „Volkswohl“ gilt Mario Indorfaus Schneverdingen. Der vorbestrafte Neonazitritt bundesweit als Mitglied des NPD-Ordnerdienstes auf. Im Februar feierten mehr als100 Skinheads in der Schützenhalle in Soltau denJahrestag der Kameradschaft – bis die Polizei dieVeranstaltung sprengte, nachdem „<strong>Sie</strong>g Heil“-Rufe gehört worden waren.Bei rockigen Klängen und rassistischenTexten, Pogotanz und Alkohol tauschen sich dieNeonazis aus. Im März nahmen etwa 150Rechtsextremisten an einem Konzert in Bröckelbei Celle teil. Die NPD tritt bei diesen meist als„Geburtstagsfeier“ getarnten Veranstaltungennicht in Erscheinung. Aber auch hier gilt dasMotto „Volksfront statt Gruppenegoismus“.Dabei fehlt den Rechtsextremisten vor allemeines, wie sie im Internet klagen: „EineFührungsperson, die alle Kräfte eint!“Andrea RöpkeDie Nationaldemokratische Partei Deutschlands(NPD) wurde am 28. November 1964 inHannover gegründet. In der Leinestadt hatte dierechtsradikale Partei auch ihren Hauptsitz.Führende Parteipolitiker wie Adolf von Thaddenund Waldemar Schütz waren Niedersachsen.Der erste Bundesvorsitzende der NPD, BetonfabrikantFriedrich Thielen, kam aus Bremen.Zwei Jahre nach ihrer Gründung gelang derNPD mit einem Stimmenanteil von siebenProzent der Einzug in den niedersächsischenLandtag. In der Zeit zwischen 1966 und 1972 wardie neonazistische Partei in sieben Landesparlamentenmit insgesamt 61 Abgeordneten vertreten.Schon 1969 begann ihr parlamentarischerNiedergang: Die NPD verfehlte den Einzug inden Bundestag und scheiterte auch bei folgendenLandtagswahlen. Die Mehrheit ihrer Mitgliederverließ die Partei. Heute ist die NPD die ältesterechtsradikale Partei Deutschlands, derenIdeologie durch Nationalismus, Rassismus undAntisemitismus gekennzeichnet ist.Landesvorsitzender ist der 52-jährige UlrichEigenfeld aus Oldenburg, der seit 1969 Mitgliedder Partei ist. Er gehört seit 1979 auch demBundesvorstand an und leitete als Bundesgeschäftsführer1998 den Bundestagswahlkampfder NPD. Als „braune Eminenz“ in Niedersachsengilt Adolf Dammann aus Buxtehude, er istGründungsmitglied der Landespartei und sitzt imLandesvorstand.Der Landesverband Niedersachsen setzt sichaus den Unterbezirken Braunschweig, Emsland,Göttingen, Hannover, Lüneburg, Oldenburg,Osnabrück, Stade-Elbe/Weser und Wolfsburgzusammen. Der Kreisbereich Verden/Rotenburguntersteht Stade. Bei der Europawahl 2004erzielte die NPD in Niedersachsen 0,9 Prozentund damit 17 201 Stimmen, 10000 mehr als beider Europawahl 1999.Andrea RöpkeUlrich Eigenfeld, der Landesvorsitzende derNPD in Niedersachsen.6869


Die Klagen der BraunenNeonazis ziehen häufig vor GerichtNeonazis klagen oft und gerne. Gegen missliebigeÄußerungen von Antifaschisten undJournalisten, gegen behördliche Auflagen undpolizeiliche Maßnahmen versuchen sie, gerichtlichvorzugehen. Rechtsbeistand leisten ihnendabei häufig rechtskräftig verurteilte Neonaziswie der Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger.Rieger, seit Sommer 2004 Betreiber desHeisenhofes in Dörverden, gibt sein juristischesFachwissen freigiebig an „junge Kameraden“weiter. „Funkenflug“ heißt das „Handbuch fürnationale Aktivisten“, das Rieger unter demPseudonym Jürgen Riehl veröffentlicht habensoll.Der Autor des rechten Standardwerkes siehtdie „sogenannten Rechtsradikalen“ sogar einigerGrundrechte beraubt. „Damit werden nationalgesinnteMenschen zu Bürgern zweiter, wennnicht dritter Klasse degradiert“, argumentiert indem Buch ausgerechnet ein Extremist, derDemokratie und Rechtsstaat trefflich zu missbrauchenweiß.Zum Beispiel, um Mord und Umsturz alspolitisches Mittel zu propagieren: „So warten <strong>Sie</strong>es doch ab, wenn der erste Reporter umgelegt ist,der erste Richter umgelegt ist. Dann wissen <strong>Sie</strong>,es geht los. Nicht die Großen. Da wird also nunnicht der Präsident des Bundesverfassungsgerichtshofesoder was, alles Quatsch, das interessiertnicht. Aber die Gruppierung, die sinddran“*, sagt Rieger in einem Fernsehinterview.„Welche Gruppe“, hakt der Interviewer nach.Rieger droht unverhohlen und öffentlich:„Reporter, Richter, Polizisten, <strong>Sie</strong>!“Seit 30 Jahren praktiziert der gebürtigeNiedersachse als Anwalt in Hamburg-Blankenese. Selbst Anwälte der linken Szenebescheinigen ihm, ein „ausgefuchster“ Jurist zusein. Doch bei allem Know-how ist der Neonazinicht immer straflos davongekommen. Rieger istwegen Volksverhetzung und des Verwendensverfassungsfeindlicher Kennzeichen mehrfachrechtskräftig verurteilt. In den 70er Jahren habenRichter ihn auch der Körperverletzung für schuldigbefunden. Doch bislang sind gegen ihn lediglichGeldstrafen verhängt worden. Über die kanner angesichts seines Vermögens vermutlich nurlachen. Von Riegers Reichtum zeugen nicht nureine Villa in Blankenese, sondern auch zahlreicheweitere Immobilienkäufe.Sein Anwesen in Hetendorf nahe Celle allerdings,in dem Rieger regelmäßig junge Neonazisschulen lässt, schließt das Land Niedersachsen1998. Acht Jahre haben Verfassungsschützer undInnenministerium gebraucht, um das Verbot„gerichtsfest“ zu begründen. „Eine lange Zeit“,räumt Ministeriumssprecher Michael Knaps ein.„Aber nichts wäre fataler gewesen als eineNiederlage vor Gericht.“Tatsächlich schöpft Rieger gegen das Verboteinmal mehr alle Rechtsmittel aus. Als letzteInstanz muss sich das OberverwaltungsgerichtLüneburg noch im Jahr 2000 mit Hetendorfbefassen, die Richter lassen Rieger schließlichabblitzen. Aber den Rechtsanwalt kann dasnicht verdrießen: Zurzeit zankt er sich gerade mitdem Landkreis Verden vor den Gerichten. Strittigist, wie der Heisenhof genutzt werden darf.Rieger ist ein Neonazi-Anwalt, der dieÖffentlichkeit nicht scheut. Andere agieren eherim Hintergrund, haben sich aber innerhalb derSzene längst einen Namen gemacht. Gisa Pahlzum Beispiel. Die Hamburger Anwältin hat mehrereJahre in Riegers Kanzlei gearbeitet. Heute istsie laut Verfassungsschutz für das „DeutscheRechtsbüro“ tätig.Das 1991 gegründete Büro nennt sich in seinemInternetauftritt „eine Selbsthilfegruppe zurWahrung der Rechte nationaler Deutscher“.Dahinter verbirgt sich offenbar ein Netzwerkbrauner Juristen, die rechtsextremistischeStraftäter beraten. Unter „Aktuelles“ findet derJürgen Rieger fehlte auch beim Neonazi-Aufmarsch in Magdeburg im Januar 2005 nicht.Rat suchende Neonazi zum BeispielInformationen über das Thor-Steinar-Logo. DasLogo der bei Rechtsextremisten beliebtenBekleidungsmarke erinnert an Abzeichen vonAdolf Hitlers SA und SS, es ist seit November2004 verboten. Das „Deutsche Rechtsbüro“ hältaber auch umfassendere Publikationen bereit – zueinschlägigen Themen wie „Volksverhetzung“,„Pressehetze“ oder „Landfriedensbruch“.Gisa Pahl vom „Deutschen Rechtsbüro“ giltauch als Autorin zweier „Ratgeber“, die fürNeonazis längst Kultstatus haben. Unter demPseudonym Gisela Sedelmeier, auch Sedelmaiergeschrieben, werden 1992 und 1993 die Bände„Mäxchen Treuherz und die juristischenFußangeln“ und „Mäxchen Treuherz und dieFallstricke der Behörden“ veröffentlicht. BeideBücher verpacken in harmlos-lächerlicheEpisoden gefährliche Tricks, wie Neonazis ganzlegal die Demokratie bekämpfen können.Leseprobe: „O liebes Mäxchen, drum rat’ ich Dir:Halte Dich lieber an die Gesetze, denn Du mußtdamit rechnen, daß Dich die Staatsorgane mitaller Strenge verfolgen werden! Suche Dir alsoandere politische Wege, damit Du nicht als,Kanonenfutter‘ mißbraucht und von der Gewaltder Linken und der Macht des Staates zermahlenwirst!“Erschienen sind die Publikationen auch imVerlag Werner Symanek, kurz VAWS. Als dieantifaschistische Bremer Initiative „Gruftiesgegen Rechts“ Symanek des Verlegens „rechtsextremerBücher“ bezichtigt, zieht dieser 2003 vordas Landgericht Bremen. Rechtsbeistand desBuch- und Musikverlegers ist – die HamburgerAnwältin Gisa Pahl. Erfolg ist dem rechten Duonicht beschieden: Auf Anraten des Richters ziehensie die Klage zurück. So beharrlich wie erfolgloskämpft Ex-Republikaner-Mitglied Pahl auchimmer mal <strong>wieder</strong> für die rechtsextreme NPD.Der „Rudolf-Heß-Gedenkmarsch“im bayerischen Wunsiedel ist einer der größtenNeonazi-Aufmärsche bundesweit. Alle Jahre<strong>wieder</strong> setzt Jürgen Rieger seine Genehmigungvor den Gerichten durch.Vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzigvertritt sie ein Parteimitglied, das aufgrund seinerNPD-Aktivitäten aus der Bundeswehr entlassenworden ist. Das berichtet die Partei im Internet.Aber die Richter mögen Pahls Argumenten nichtfolgen und befinden den Rausschmiss für rechtens.Nun will die NPD ihrem Mitglied raten, denFall bis zum Bundesverfassungsgericht oder zumEuropäischen Gerichtshof zu tragen. Einmal mehralso wollen die Braunen klagen und klagen . . .Christine Kröger* Geschrieben wie gesprochen.7071


Traurige TraditionDie Nazis und ihre Juristen – ein langes und dunkles KapitelWalerian Wrobel ist gerade 16 Jahre alt, als erhingerichtet wird. Der junge Pole, der als„Fremdarbeiter“ bei einem Bauern in Bremen-Lesum schuftet, hat eine Scheune angezündet. Inder Hoffnung, zur „Strafe“ werde man ihn nachHause schicken. Doch stattdessen stirbt er am25. August 1942 auf dem Schafott.Seine Richter müssen nicht so hart urteilen.Das verlangen nicht einmal die menschenverachtendenGesetze der Nazis. Diese drei BremerRichter wollen, dass Walerian Wrobel stirbt.Ihnen selbst ist deshalb nichts passiert. <strong>Sie</strong> werdennicht verurteilt. Nicht unmittelbar nachKriegsende, nicht Jahre später, nie. <strong>Sie</strong> müssennicht einmal einen Karriereknick hinnehmen.Einer von ihnen geht nach dem Krieg in Pension,die beiden anderen bleiben Richter in Bremen.Nur dass ihr Arbeitplatz jetzt nicht mehr Sonder-,sondern Landgericht heißt.Die Bremer Richter sind kein Einzelfall:Nicht einer von Hitlers Unrechtssprechern wirdverurteilt, die weitaus meisten müssen sich erstgar nicht vor Gericht verantworten. Unter insgesamt5300 verurteilten Nazi-Tätern sei kein einzigerJurist, sagt der Bremer Ingo Müller,Professor an der Fachhochschule für Verwaltungin Hamburg und Autor des Buches „FurchtbareJuristen“.Richter, Staats- und Rechtsanwälte, viele vonihnen waren Adolf Hitler offenbar gern zuDiensten: Die Justiz lässt sich in diesen Jahrenohne nennenswerten Widerstand gleichschalten.Dabei soll der Diktator Juristen verachtet haben –als Pedanten, die dicke Bücher mit krausenGeboten und Verboten füllen und ihre Köpfe inalberne Texte stecken.Mit den jüdischen, sozialistischen und demokratischenJuristen haben die Nazis denRechtsgedanken aus Deutschland vertrieben.„Was blieb, war ein pervertiertes Rechtsempfinden“,sagt Müller. „Es war geprägt vonMachtvergötzung, Verrohung und Unmenschlichkeit– und teilte obendrein Hitlers Aversiongegen alles Juristische.“ Am 8. Mai 1945 gibt esin Deutschland kaum noch eine andere Rechtsauffassung.Recht reduzierte sich für viele Juristen darauf,Rechtstechniken anzuwenden, meint Müller.Einschließlich solcher Rechtstechniken, die im„Dritten Reich“ entwickelt worden sind, umden „Feind“ zu vernichten – und die sich nachdem Krieg auch für die Rehabilitation der Nazisgut eignen.Techniken wie diese: Bis zu 80 000 vollstrekkteTodesurteile zwischen 1933 und 1945 geltenin der Nachkriegszeit als „Taten, die nur strafbarsind, wenn sie bewusst, wider besseren Wissen,mit direktem Vorsatz“ verübt worden sind.Anders formuliert: Je überzeugter ein NS-Richtervon Hitlers Wahnsinn war,umso besser war er vor Strafegeschützt. Ein unglaublicherZynismus. ZynischeRechtstechniken beherrscht offenbarauch der HamburgerNeonazi-Anwalt Jürgen Rieger.Vielleicht bewährt er sichauch deshalb seit Jahrzehntenals Mittler zwischen Alt- undNeonazis. Die einen wie dieAuch KameradschaftsanführerThomas Wulff wurde vonJürgen Rieger verteidigt – mitzynischen Argumenten.anderen gehören zu seinen Mandanten, die einenwie die anderen verteidigt er auch mit menschenverachtendenArgumenten.Im Verfahren gegen den SS-Führer ArpadWigand behauptet Rieger 1981: Im WarschauerGhetto wäre kein Jude verhungert, wenn seineInsassen untereinander Solidarität geübt hätten.Prompt wird der Anwalt zum Beklagten und sollwegen Verunglimpfung des AndenkensVerstorbener eine Geldstrafe zahlen. Doch derBundesgerichtshof hebt das Urteil auf: Riegerhabe berechtigte Interessen seines Mandantenwahrgenommen.Ähnlich schlimm agiert Rieger alsVerteidiger des Hamburger KameradschaftsanführersThomas Wulff. Wulff soll in einemPamphlet den Judenmord geleugnet haben. Indem Prozess beantragt Rieger, einen Chemiker alsSachverständigen zu vernehmen. Der solle darlegen,dass in Auschwitz während des ZweitenWeltkrieges keine Menschen mit Zyklon B vergastworden seien. Wieder wird der Anwalt angeklagtund Jahre später zu ganzen 3360 EuroGeldstrafe verurteilt. Gegen das Urteil lässtRieger Revision ankündigen.„Auch wenn so etwas schwer zu ertragen ist:Wir brauchen kein anderes Recht“, sagt IngoMüller. „Schon gar kein strengeres, auch nichtgegen braune Juristen wie Rieger. Wir brauchensensible Richter.“ Von denen macht derJustizexperte von Jahr zu Jahr mehr in den deutschenGerichtssälen aus. Richter, die furchtbarenJuristen etwas entgegensetzen. Richter, die endlichbrechen mit einer langen traurigen Tradition.Christine KrögerUnrechtsprechung unter dem Hakenkreuz:Roland Freisler, der berüchtigte Präsident desVolksgerichtshofes, verkündet Todesurteile.7273


Das VersteckspielMit Codes umgehen Neonazis VerboteDie TrickkisteRechtsextreme Internetseiten sind gespickt mit juristischen TippsAuch manche Bremer Neonazistragen gerne ein „Gau-Dreieck“.Eine Demonstration, irgendwo in derRepublik. Die Männer und Frauen tragenHemden mit dem Konterfei von Che Guevara.Ihre Palästinensertücher haben sie tief ins Gesichtgezogen. Ein junger Mann mit Irokesenhaarschnittschwenkt eine schwarze Fahne. Manchervermutet angesichts dieses Outfits links gerichteteDemonstranten. Doch weit gefehlt: Es sindRechtsextremisten, die hier <strong>marschieren</strong>.Das Klischee des „typischen“ Neonazis mitGlatze und in Springerstiefeln ist passé. Längstnutzen Rechte Symbole und Zeichen politischlinker oder unpolitischer Jugendkulturen. CheGuevara interpretieren sie für ihre Zwecke alsSymbolfigur eines „nationalen Befreiungskampfes“.Das Palästinensertuch dient ihnen alsZeichen antisemitischer Ideen. Mit traditionellenSymbolen der Linken versuchen die Rechten,„sozialrevolutionäre“ Propaganda zu verbreiten.Auch untereinander erkennen und verständigensich Neonazis mit Codes und Zeichen. Mitihnen versuchen sie, Verbote und Gesetze zuumgehen. Ein vergleichsweise bekanntes Beispielist die Zahl 88. Die 8 steht für den achtenBuchstaben im Alphabet, die 88 ersetzt Neonazisdas verbotene „Heil Hitler“.Hinter der 28 verstecken die Braunen denHinweis auf das 2000 in Deutschland verboteneNeonazi-Musiknetzwerk „Blood & Honour“, dasvermutlich im Untergrund weiter existiert. ImZusammenhang mit dieser Organisation ist dieTriskele verboten: Das dreiarmige Hakenkreuzdiente der Jugendorganisation „White Youth“ der„Blood & Honour Division Deutschland“ alsEmblem.Die Triskele war einst auch das Abzeichender SS-Division „Langemark“. Auch der berüchtigteamerikanische Ku-Klux-Klan und eine rassistischeBurenorganisation aus Südafrika nutztendie Triskele als Erkennungszeichen. Eine erhobeneweiße Faust steht in rechtsextremen Kreisenfür rassistische Kampfbereitschaft, für dieNeonazis viel zu oft den traurigen Beweis antreten– durch Überfälle auf Ausländer. AuchZeichen, die schon Hitlers Nationalsozialistentrugen, sind heute unverändert aufJacken und Hemden junger Neonazis zu sehen.Das Gau-Dreieck zum Beispiel, das einst auchdas „Jungvolk“ der „Hitlerjugend“ und der „Bunddeutscher Mädel“ auf ihren Armbinden trugen.Darin stand die Bezeichnung des „Gaus“, ausdem die Mitglieder kamen. Die Strafbarkeit desGau-Dreiecks ist heute strittig.Auch die Schwarze Sonne ist unterRechtsextremen beliebt. <strong>Sie</strong> kann als zwölfarmigesHakenkreuz gedeutet werden und galt HitlersSS als Sinnbild einer nordisch-heidnischenReligion und geheimnisvoller Kräfte. DieSchwarze Sonne wird heute genauso selbstverständlichgetragen wie das Symbol der„Schwarzen Front“.„Schwarze Front“ nannte sich ab 1930 eineAbspaltung der NSDAP unter Otto Strasser.Darin sammelten sich Rechtsextreme, die sich als„Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten“verstanden. Ihr Zeichen war einHammer gekreuzt mit einem Schwert, es solltedie zukünftige Volksgemeinschaft ausArbeitern und Soldaten symbolisieren.Auf dem Parteiabzeichen der JN, der radikalenJugendorganisation der NPD, prangt die Tyr-Rune. Diese Rune trug die „Hitlerjugend“ alsLeistungsabzeichen, die SS verwendete sie zurDivisionskennung.Die Reichskriegsfahne mit Reichsadler undEisernem Kreuz fehlt auf keinem Neonazi-Aufmarsch. <strong>Sie</strong> ist nicht verboten, doch darf diePolizei die Fahne im Einzelfall sicherstellen,wenn die Beamten „konkrete Gefahren für dieöffentliche Sicherheit und Ordnung“ sehen.Gänzlich verboten ist die Variante der Fahne ausden Jahren 1935 bis 1945: <strong>Sie</strong> zeigt an der Stelledes Reichsadlers ein Hakenkreuz.Auch in Namen oder Logos von Bekleidungsmarkenverstecken die Extremisten ihreCodes. Das Label „Thor Steinar“ verwendete eineWolfsangel nach Art der SS-Panzerdivision„Das Reich“ und eine Tyr-Rune im schildförmigenRahmen nach Art der SS-Grenadierdivision„30. Januar“. Das Logo wurde im November2004 verboten.Auch „Consdaple“ ist ein beliebterSchriftzug auf Pullovern rechter Marschierer. Erist von der englischen Sportfirma „Lonsdale“abgekupfert. Bei halb geschlossener Jacke ist nurdie Buchstabenfolge „NSDAP“ zu lesen. Deshalbmüssen rechte Demonstranten diese Buchstabenbei Aufmärschen abkleben.Viele der mehr als hundert bekanntenSymbole und Codes, hinter denen eine neonazistischeGesinnung steckt, sind für Außenstehendekaum zu erkennen. Radikal-rassistische Hammerskins,rechte Hooligans, neonazistischeKameradschaften oder Mitglieder rechtsextremerParteien – sie alle verwenden solche Dresscodes.Zeichen, die auf die Ideologie hinter der Stirnihrer Träger schließen lassen. Wenn man sie dennentschlüsselt hat.André AdenIm Internet gibt es kaum einen rechtsextremistischenAuftritt, der nicht auf das „DeutscheRechtsbüro“ von Gisa Pahl verweist. Überhauptbeschäftigt das Thema Recht die Rechten sehr.Beim „Freien Widerstand“, der virtuellenNachrichtenbörse um die KameradschaftsanführerChristian Worch und Thomas Wulff,suchen verunsicherte Neonazis auch „Rechtshilfen“:Wann darf man die Reichskriegsflaggehissen? Welche „Vermummung“ fällt noch nichtunters Verbot? Welche Grüße und Sprüche sindlegal? Im „Taschenkalender des DeutschenWiderstandes“, den der Verlag der NPD-Postille„Deutsche Stimme“ herausgibt, ist zu lesen: „Mitetwas Erfahrung und Vorbereitung kann man sichauch heute noch als Nationalist auf die Straßewagen. Es folgt eine „Demo-Checkliste“: „Sonsterlaubte Verteidigungswaffen, wie das allseitsbeliebte Pfefferspray, sind auf dem Weg zu einerVeranstaltung verboten.“Die laut Verfassungsschutz noch im Aufbaubefindliche Bremer Kameradschaft „Wesersturm“hat im Internet schon mal „Verhaltensregeln“aufgestellt, um es „den verschiedenenStaatsinstitutionen und unseren anderweitigenGegnern nicht zu einfach zu machen“. ZuDemonstrationen finden sich dort Tipps wie „VorAntritt der Fahrt mit eigenem Pkw Auto bereinigen(Tapes, CDs, Waffen etc.)“ oder „Solltest duein Handy dabei haben, schalte es vor einerVerhaftung aus“. Selbst vor Telefonen warnen die„Kameraden“: „Bei Handys kann im Standby-Betrieb dein Standort auf die Straßenecke genaubestimmt werden!“Auch die NPD in Stade weiß juristischen Rat.<strong>Sie</strong> lädt zu „Schulungen in unserer Region“ ein.Themen: Presse- und Versammlungsrecht.Christine KrögerBei Aufmärschen und Demonstrationenwird Verdächtiges abgeklebt:„Landser“ ist eine als „kriminelle Vereinigung“verbotene Neonazi-Band.7475


Hakenkreuze für die EwigkeitAuf „Ahnenstätten“ begraben auch rechte Neuheiden ihre TotenEin hübsches Fleckchen Erde, dieserFriedhof im winzigen Hilligenloh bei Hude. Ganzstill in einem Wäldchen gelegen, mit Bäumen,Sträuchern und Feldsteinen entlang schmalerWege. Ein schöner Ort für die letzte Ruhestätte,mögen zufällig vorbeikommende Spaziergängerdenken. Aber die Erde ist hier viel brauner alsanderswo.Das malerische Fleckchen ist kein gewöhnlicherWaldfriedhof, 1932 ist hier eine„Ahnenstätte“ entstanden. Kreuze will der„Verein Ahnenstätte Hilligenloh“ hier nichtsehen. Verbotene Zeichen wie das Swastikakreuz,ein Hakenkreuz mit gebogenen Ecken,oder die Wolfsangel, von den Nazis als Symbolder Wehrhaftigkeit verwendet, lässt der Vereinaber offenbar gerne durchgehen. Diese Symboleprangen seit vielen Jahren auf einigenGrabsteinen – auch wenn der Verein behauptet,„vom nationalsozialistischen Ungeist unabhängig“zu sein. Einzig: Er will laut Satzung nurDeutsche begraben. Und zwar möglichst solche,die „sich der Gotterkenntnis Mathilde Ludendorffsverbunden fühlen“.Zwei besonders große Findlinge rechts undlinks neben dem Eingangstor sind MathildeLudendorff und ihrem Mann Erich gewidmet. InStein gemeißelt wird sie als „Schöpferin“, er als„Wegbereiter der Gotterkenntnis“ gepriesen.Erich Ludendorff ist im Ersten WeltkriegGeneralfeldmarschall, 1923 putscht er in Münchenerfolglos an der Seite Hitlers. Später entzweiensich die beiden Braunen: Beeinflusst vomreligiös verbrämten Antisemitismus seinerEhefrau glaubt der General, sogar Adolf Hitler als„Juden-Knecht“ entlarvt zu haben. Der Diktatorträgt dem „großen Feldherrn“ den Zwist nichtnach. Als Ludendorff 1937 stirbt, ordnet er einenpompösen Staatsakt an.Witwe Mathilde verfasst bis zu ihrem Tode1966 unverdrossen immer neue Schriften mit wirrenantisemitischen und rassistischen Verschwörungstheorien.„Blutsvermischung“ zwischen„Licht- und Schattenrassen“ führe zum„Volkstod“, glaubt die „Schöpferin der Gotterkenntnis“.1961 verbieten die Innenminister derLänder ihren Bund als verfassungsfeindlich,wegen Verfahrensfehlern heben bayerischeVerwaltungsrichter das Verbot 1977 auf. So spinnendie Ludendorff-Anhänger ihr rassistischesGarn bis heute unbehelligt weiter. Alle Jahre <strong>wieder</strong>laden sie ihresgleichen zu Ostern nachDorfmark bei Fallingbostel ein. Dort wollen sieThemen wie die „multikulturelle Gesellschaft“diskutieren oder sich bei einem „Volkstumsabend“amüsieren.In Hilligenloh ersetzen altgermanischeRunen andernorts übliche Symbole. Von denNazis populär gemachte „Lebens- und Todesrunen“verweisen auf Geburts- und Todesjahr.Auf vielen Steinen fehlt die Todesrune, mancherstellt sich hier schon zu Lebzeiten einen Findlingsamt Inschrift bereit. Statt Familien folgen inHilligenloh „Sippen“ ihren Ahnen ins Jenseits.Ein nur leicht verfremdetes Hakenkreuz„ziert“ diesen Stein in Hilligenloh.Als Ende der 90er Jahre ein evangelischerGemeindepastor auf den Ludendorff-Kult und dieverbotenen Zeichen hinweist und den Trägervereinöffentlich kritisiert, geht ein Rauschen durchden deutschen Zeitungswald. Der Huder Kirchenmanndulde keine Religionsfreiheit, wetternMitglieder des „Ahnenstättenvereins“, im Pfarrhausgehen anonyme Morddrohungen ein. Umaus den Schlagzeilen zu kommen, setzt derGemeinderat einen Arbeitskreis ein. Doch letztlichbleibt alles beim Alten, in Hilligenloh kehrt<strong>wieder</strong> Ruhe ein. Und die Kommune weist weitermit einem Schild auf die „Ahnenstätte“ als Sehenswürdigkeithin.Im benachbarten Ammerland hat die Stättelängst nicht nur Freunde, sondern auch Nachahmergefunden. 1958 kommen in der Kneipe deskleinen Dorfes Conneforde rund 30 Frauen undMänner zusammen, um einen „Ahnenstättenverein“zu gründen. Gerd Brumund, Inhaber derKneipe und Gründungsmitglied, verpachtet demjungen Verein ein Grundstück gleich gegenüber.Darauf entsteht eine Anlage nach dem VorbildHilligenlohs. Als Zeichen wählen die Conneforderden heidnischen Weltbaum, „Irminsul“genannt. Er hängt heute noch über dem Kamin im„Alten Dorfkrug“. Den führt heute längst GerdBrumunds Sohn. Sein Vater hat auf der „Ahnenstätte“einen besonders stattlichen Findling miteiner leicht verfremdeten Wolfsangel bekommen.Alfred Manke aus Bassum im Kreis Diepholzsitzt dem „Ahnenstättenverein“ jahrelang vor.Der heute 76-Jährige meldet sich schon mit 16Jahren freiwillig für ein Panzerjagdkommando inder Hitler-Jugend. Nach 1945 marschiert erweiter stramm rechts:1964 bereitet er die Gründungder NPD mit vor, später ister Mitinitiator der militan-ten „Aktion Widerstand“. Die Gruppe macht1970 Front gegen die Ostverträge von BundeskanzlerWilly Brandt: „Deutsches Land wirdnicht verschenkt, eher wird der Brandt gehenkt!“Weniger militant, aber nicht weniger rechtsengagiert sich Manke im „Bund DeutscherUnitarier“. Was den Ludendorffern die GeneralswitweMathilde ist, ist den Unitariern die extremrechte Religionswissenschaftlerin Sigrid Hunke.<strong>Sie</strong> lehnt das Christentum als „orientalisch“ und„artfremd“ ab. Mit Germanenmythos und Runenkundewill sie „zurück zu Europas eigenerReligion“. Sonst müssen die Deutschen untergehen,prophezeit die 1999 verstorbene unitarischeIdeologin. Ihr Bund trifft sich noch Ende der 90erJahre regelmäßig auch in Bremen.So finden Ultrarechte aus der Hansestadt inConneforde die letzte Ruhe. Hans Hertel zumBeispiel, unter Hitler SS-Offizier, fungiert inden 70er Jahren als Funktionär im rechtsextremen„Stahlhelm“, dem „Bund der Frontsoldaten“. Erliegt gleich neben seinem Namensvetter HeinzHertel begraben, dem einstigen Chef der DVU inBremen.Heidnische Bräuche und germanische Sittenlocken nicht nur Altnazis auf der Suche nach einerGrabstätte ins Ammerländische. Auch Neonaziszieht es nach Conneforde. Der Hamburger AnwaltJürgen Rieger scheint der „Ahnenstätte“ seitJahren verbunden. Der braune Strippenzieherunterhält nicht nur beste Kontakte zum extremistischenNachwuchs, mit seiner „Artgemeinschaft“leitet der Rechtsanwalt seit Jahrzehntenauch eine knallharte Rassisten-Sekte. Von dererwartet er „Gefolgschaft dem besseren Führer“und „Härte und Hass gegen Feinde“. Feinde sindfür den Neuheiden Juden wie Christen: „DasChristentum ist ein Krebs, der sich bislang nochin jedes gesunde Volk hineingefressen hat.“Gerne lauschen Rieger und seine Sekte nochin den 90er Jahren Gertrud Herrs Berichten überdas „Dritte Reich“. Die Holocaust-Leugnerinwar eine der Führerinnen in Hitlers „BundDeutscher Mädel“. <strong>Sie</strong> ist bei den 1998 verbotenenneonazistischen „Hetendorfer Tagungswochen“nahe Celle ein gern gesehener Gast. Genauwie Hermann Thiele. Der langjährige Leiter derunitarischen Landesgemeinde Bremen hat nachseinem Tod wie Gertrud Herr in Conneforde einenFindling bekommen.Der Bremer Altnazi Wilhelm Tietjenruht in Conneforde. Seinen Findling sollder Hamburger Neonazi Jürgen Riegerausgesucht haben.Und noch ein Bremer ruht hier, der Riegerund seiner „Artgemeinschaft“ eng verbunden war:Wilhelm Tietjen. Tietjen ließ dem Neonazi vermutlichMillionen zukommen. Nach ihm ist auchdie britische Stiftung benannt, die im vergangenenJahr den Heisenhof in Dörverden erworben hat.Im Namen des kinderlos verstorbenen Bremerswill Jürgen Rieger in Dörverden demnächst„Fruchtbarkeitsforschung“ betreiben. TietjensFindling ist allerdings ganz schlicht. Bei seinerAuswahl soll Rieger die Kosten genau im Blickgehabt haben – trotz allen mutmaßlichen Erbes.Christine Kröger7677


Verdrehte braune GeschichtenAn NS-Kultstätten im Bremer Umland schworen Nationalsozialisten die Niedersachsen auf ihre Ideologie einDie Niedersachsen galten den Nazis alsPrototyp der „Arier“. Deshalb erklärten sie diehiesigen Landwirte zu den Nachfahren „germanischerWehrbauern“. Vielleicht ist das derGrund, dass sich zwischen Ems und Weser NS-Kultstätten häufen. Orte, an denen die NazisGeschichte beliebig verdrehten, manchmal glatterfanden – und stets für ihre Propaganda missbrauchten.Ihre geistigen Erben machen das nochheute.Die zahlreichen Steingräber und Findlinge inder Region kommen Hitlers ChefideologenAlfred Rosenberg und SS-Reichsführer HeinrichHimmler gerade recht bei ihrem Versuch, dasChristentum durch völkisch-rassistisches Neuheidentumzu ersetzen. Rosenberg ist „Beauftragterdes Führers für die Überwachung der gesamtengeistigen und weltanschaulichen Schulungund Erziehung der NSDAP“. Himmler lässt nacheiner „neugermanischen Ersatzreligion“ forschen,sein SS-Schulungs- und Forschungsorganheißt „Ahnenerbe“. Gemeinsam läuten Rosenbergund Himmler 1935 den NS-Kult um denSachsenhain in Verden ein.Zuvor haben Bauern aus den niedersächsischen„Gauen“ rund 4500 Findlinge nachVerden schaffen müssen – einen für jeden angeblichanno 782 an diesem Ort geköpften Sachsen.Ergriffen vergleicht Rosenberg Hitler mit demheidnischen Sachsenherzog Widukind, der demchristlichen „Sachsenschlächter“ Karl die Stirngeboten habe. Allerdings währt der neue Kult umdas mehr als 1000 Jahre zurückliegende Ereignisnicht lange. 1935 – noch im selben Jahr – präsentiertsich Adolf Hitler auf dem Reichsparteitag inNürnberg als legitimer Erbe „des Schlächters“,der für die Nazis prompt <strong>wieder</strong> „Karl der Große“heißt.Verden bleibt auf den Steinen sitzen. Bisheute reihen sie sich auf mehr als zwei KilometerLänge um eine Wiese – und ziehen nicht nurJogger und Spaziergänger sondern auch Neonazisan. Jürgen Rieger hat dem Sachsenhain bereitseine Broschüre gewidmet, die in der Schriftenreiheseiner „Artgemeinschaft“ erschienen ist.Die Sekte, die sich dem „Kampf gegen dasChristentum“ verschrieben hat, versichert aufihren Internetseiten, „dass wir nicht ruhen nochrasten werden, bis dieser Heidenfriedhof <strong>wieder</strong>in unseren Händen ist“.Dem NS-Kult um die „wehrhaftenStedinger Bauern“ verdankt das DörfchenBookholzberg bei Ganderkesee seinen Namen.Auf der Anhöhe Buchenholzberg – plattdeutschBookholzberg – legen 1934 Rosenberg undHimmler den Grundstein für die Freilichtbühne„Stedingsehre“. 1935 bis 1937 wird hier voreinem großen Publikum das kriegsverherrlichendeDrama „De Stedinge“ des OldenburgerHeimatdichters August Hinrichs aufgeführt.Auf der laut „Gau-Leiter“ Carl Röver größten„nieder-deutschen Kultstätte“ nördlich des Mainswird an die Schlacht von Altenesch erinnert. 1234schlug dort ein Kreuzfahrerheer des BremerDer Sachsenhain in Verden.Erzbischofs die Stedinger Bauern. Die NS-Ideologen verklären die Stedinger zu einemarchaisch deutschen Volk, an dessen fast selbstmörderischesHeldentum gegen ein Heer vonChristen sie anknüpfen wollen.Die Nazis schätzen noch andere Orte rundum Bremen. 1936 machen sie Dötlingen zum„Reichsmusterdorf“. Die Dötlinger habenschließlich schon früh und überdurchschnittlichzahlreich die NSDAP gewählt. 1933 schleppensie als Zeichen ihrer Verbundenheit einen mehrals mannshohen Findling mit einem großenHakenkreuz auf den nahen Gierenberg. NachKriegsende wird das NS-Symbol notdürftig her-ausgemeißelt, der Findling kurzerhand umgedreht.Auf dem Schlageter-Denkmal in einemWäldchen bei Visselhövede nahe Rotenburg istdas verbotene Zeichen dagegen noch zu sehen.Der Bauernsohn Albert Leo Schlageter avanciert1923 zum Symbol deutschen Freiheitskampfes,als er Gleise sprengt und den Transport vonRuhrkohle nach Frankreich verhindert. EinKriegsgericht verurteilt den 29-Jährigen zumTode, am 26. Mai 1923 wird er erschossen. Anvielen Orten errichtet man ihm Denkmäler. Nach1933 stilisieren Hitlers Schergen den „letztenSoldaten“ des Ersten Weltkrieges zum „erstenSoldaten“ des „Dritten Reiches“.Auch der Niedersachsen-Stein in Worpswedegefällt Rechtsextremisten. Er wird auf einschlägigenInternetseiten als Sehenswürdigkeit angepriesen.1915 gibt der Bremer Kaufmann undKunstmäzen Ludwig Roselius bei BildhauerBernhard Hoetger ein „<strong>Sie</strong>gesmal im Heldenhain“auf dem Weyerberg in Auftrag. Nach demverlorenen Ersten Weltkrieg müssen die beidenihren Plan ändern. Aus dem kriegsverherrlichendenMonument wird ein Mahnmal für denFrieden. Statt des geplanten nackten Jünglings,der sich der Sonne entgegenstreckt, entsteht ausrotem Backstein ein 18 Meter hoher, abstraktgeformter Adler. Er will sich offenbar gerade indie Lüfte erheben.Das Denkmal wird auch als völkischesBauwerk gedeutet: das besiegte deutscheKaiserreich, das sich rasch <strong>wieder</strong> aus denFesseln des Versailler Vertrages befreit. Eine naheliegende Interpretation, sind Roselius undHoetger doch schon Jahre vor HitlersMachtergreifung von völkisch-nationalistischenIdeen begeistert. Ideen, die Rechtsradikalen heutenoch gefallen. Die um den Adler gruppierten 173Gedenksteine für im Ersten Weltkrieg gefalleneSoldaten runden das Werk für manchen extremRechten ab.Christine KrögerDer Niedersachsenstein in Worpswedeund das Schlageter-Denkmal bei Visselhövede.7879


Aufklären über Nazi-WahnsinnMuseumsdirektor fordert mehr Information zu regionalen NS-KultstättenGerhard Kaldewei,Direktor der StädtischenMuseen in Delmenhorst,erforscht seitJahren NS-Kulte und-Mythen. Im Gesprächmit Christine Krögerfordert er einen offensivenund kritischenUmgang mit den„Gedenkstätten“ derTäter und ihrer geistigenErben.Frage: Herr Dr. Kaldewei, die „Ahnenstätten“in Hilligenloh und Conneforde sindein heikles Thema. Dort liegen schließlichnicht nur Nazis und Rechtsextremisten begraben.Soll man die Trägervereine einfachgewähren lassen?Gerhard Kaldewei: Die Stätten sind eindeutigdem rechten bis rechtsextremen Spektrumzuzuordnen. Sicher ist der Umgang damitschwierig, weil es sich um Friedhöfe handelt.Aber am schlimmsten ist es, gar nichts zu tun.Wie soll man damit umgehen?Aufklären, aufklären und noch mal aufklären.Die Kommunen sollten auf die nationalistischen,rassistischen, antisemitischen und antichristlichenWurzeln der „Ahnenstätten“ hinweisen –statt so zu tun, als habe man es hier mit ganzgewöhnlichen Waldfriedhöfen oder gar besondersschön gelegenen und ansonsten unverdächtigenSehenswürdigkeiten zu tun.Aber macht man Neonazis und andereUltrarechte so nicht erst auf Stätten wie dieseaufmerksam?Das ist ein beliebtes, aber unzutreffendesArgument. Denn interessierte Rechte kennen dieOrte sowieso. Außerdem existieren diese Stättenja nun mal. Wir haben nur die Wahl, ob sie kommentiertoder unkommentiert dastehen.Warum halten <strong>Sie</strong> eine Kommentierungfür wichtig?Grundsätzlich sollte man Geschichte nie verdrängen,sondern aufarbeiten. Das gilt auch fürNS-Kultstätten. Die Gedenkstättenarbeit an ehemaligenKonzentrationslagern und ähnlichenOrten des Schreckens ist wichtig, weil sie eindringlichvor einer Wiederholung des Nazi-Wahnsinns warnt. Aber die Aufklärung über NS-Kultstätten ist ebenso wichtig, weil sie erklärt,wie dieser Wahnsinn möglich wurde. „Hitler hatdie Autobahnen gebaut“ greift viel zu kurz.Was können die NS-Kultstätten zeigen?Die „goldene Seite“ des Regimes, die es biszum Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahr1939 eben auch gab. Die Jahre der ideologischenMobilmachung, als Adolf Hitlers Nationalsozialistenvielen Deutschen dieses fatale Gefühl von„Wir sind <strong>wieder</strong> wer“ eingeimpft haben.Aber der Sachsenhain in Verden oder die„Stedingsehre“ in Bookholzberg sind nicht das„Reichsparteitagsgelände“ in Nürnberg oderdas „Führerhauptquartier“ auf dem Obersalzberg. . .. . . das stimmt. Die regionalen Kultstättensind vergleichsweise unbekannt. Umso wichtigerist es, vor Ort zu informieren.Warum häufen sich diese fragwürdigenSehenwürdigkeiten im Nordwesten?Viele von den Nazis verehrte „Ahnherren derdeutschen Geschichte“ haben in dieser Gegendgelebt. Im Oldenburger Land erzielte die NSDAPzudem ihre erste Mehrheit. Vielleicht hat auch dieländliche Struktur mit ihrer eher bodenständigenBevölkerung die Menschen hier anfälliger fürMythen und Kulte erscheinen lassen.Auf der Freilichtbühne „Stedingsehre“sahen in den 30er Jahren Tausende das Stück„De Stedinge“ des Oldenburger HeimatdichtersAugust Hinrichs.Die „Ahnenstätte“in Hilligenloh:Ihr Trägerverein stehtdem rechtsextremen„Bund fürGotterkenntnis“ nahe.8081


Ein Mord im MusterdorfDötlingen war für die Nationalsozialisten etwas ganz Besonderes – heute will der Ort nichts mehr davon wissenEs ist Mittag in Dötlingen, eine stille Stunde,keiner da. Das schmucke Dorf wirkt wie einFreilichtmuseum außerhalb der Öffnungszeiten.Die alte Kirche, dahinter ein Weiher, auf dem dieEnten schnattern. Ein paar Meter weiter derberühmte Tabkenhof, ein reetgedecktes Bauernhaus,das größte seiner Art in Niedersachsen.Hier, denkt der Besucher, ist die Welt noch inOrdnung.„Wir sind auch heute ein Musterdorf“, sagtdie Vorsitzende des Heimatvereins. So wiedamals, als die Nationalsozialisten am Ruderwaren und den idyllischen Flecken an der Huntezum einzigen Musterdorf im ganzen Reicherklärten. Diese Vergangenheit und ein späterMord, zwei Tage bevor der Krieg zu Ende ging –Dötlingen schweigt darüber oder weiß nichtsdavon. 800 Jahre Dorfgeschichte, fein aufgeschrieben,aber dieser Fleck bleibt blind.Die Alten im Dorf erinnern sich noch genau,wo Willy Rogge damals lag. Achtlos hingeworfenvon seinen Mördern und mit einem Schild unterdem zerschossenen Leib: „Wer sein Volk verrät,stirbt.“ Etwas außerhalb von Dötlingen wardas, dort, wo jetzt Mais wächst und nichts daranerinnert, was an dieser Stelle passiert ist.Eine Hinrichtung. Schüsse von hinten inKopf und Rücken. Willy Rogge musste spät dafürbüßen, ein Gegner der Nazis gewesen zu sein.Viele Jahre hatten sie ihn geduldet, und dann ister doch noch ans Messer geliefert worden.Nachher tat es ihnen natürlich leid. Aber Folgenhatte das nicht. Das Dorf sah offenbar nie dieNotwendigkeit, sich diesem Teil seinerGeschichte zu stellen, die viel Schatten hat, aberauch ein wenig Licht.1936, in Berlin gehen gerade die OlympischenSpiele über die Bühne, wird Dötlingen zumReichsmusterdorf ernannt. Kein Ort sonst inDeutschland trägt diesen Titel. Delegationenkommen zu Besuch, aus dem Ausland sogar, siewollen sehen, wo in dem großen Land alleszusammentrifft, was die neue Ordnung wünschtund befiehlt: Gefolgschaft, Rechtschaffenheit,Naturidylle und bäuerliche Genügsamkeit.Willy Rogge will da nicht mitmachen. Erhasst die neuen Herren in Braun und machtauch keinen Hehl daraus. Einmal, Hitler ist geradean die Macht gekommen, hisst der Bauer amVolkstrauertag die Flagge der Republik.Schwarz-Rot-Gold – die Nazis schäumen. „EineUnverschämtheit leistete sich der 2. Vorsitzendedes Kriegervereins“, notiert das Lokalblatt. EinSA-Trupp zieht die Fahne ein und verbrennt sie.„Der Kriegerverein wird aus dem Verhalten diesesOberdemokraten die notwendigen Schlüsseziehen müssen“, fordert die Zeitung.Das Zitat findet sich in einem Buch <strong>wieder</strong>,das zur 800-Jahr-Feier Dötlingens herausgegebenwurde. Die wenigen Sätze sind Teil einerChronik und bleiben unkommentiert. Was spätermit Willy Rogge geschah – kein Wort. „Ich habedas schlicht nicht gewusst“, sagt der Bürgermeister,Heino Pauka heißt er, und man glaubt esihm. Pauka hat in dem Buch das Grußwortgeschrieben. Er würde den Passus über Roggeheute nicht noch einmal durchgehen lassen – „dakönnen <strong>Sie</strong> sicher sein“. Einen Grund, sich nähermit dem Fall und der Zeit damals zu befassen,sieht Pauka aber nicht.Dötlingen und die Nationalsozialisten: „Fürmich ist das Urgeschichte“, sagt der Bürgermeister.Und dass man die Toten doch ruhen lassensolle. Das Dorf habe damals vielleicht eineSonderstellung gehabt, und da dürfe auch nichtsverniedlicht und verheimlicht werden. „Aber wasuns heute wirklich interessiert, das ist das moderneDötlingen.“ Die Gemeinde sei als einzige inNiedersachsen schuldenfrei, die Parteien im Ratwürden prima zusammenhalten – und dieRechtsextremen hätten keine Chance. „Wenn <strong>Sie</strong>das jetzt alles aufschreiben – meine Sorge ist,dass Neonazis glauben könnten, bei uns alteTraditionen aufleben lassen zu können.“„Musterdorf“ – Marianne Mennen vomHeimatverein meint das natürlich nicht politisch,wenn sie den Ausdruck von damals neu in denMund nimmt. „Dötlingen ist einfach ein sehrschöner Ort“ – so meint sie das. Die Nazizeit, wassoll sie sagen? „Da war ich noch nicht hier.“ Undüberhaupt: „Der Heimatverein muss sich derneuen Zeit stellen, sonst kommen wir bei den jungenLeuten nicht an.“Idylle pur an der Dötlinger Kirche. Dermalerische Ort ist ein Anziehungspunkt fürTouristen. Während der Nazizeit warDötlingen „Reichsmusterdorf“.Für die Nazis und das ganze Dorfein Festtag: Der große Findling mit Hakenkreuzwird den Gierenberg hinaufgefahren.8283


Ein bisschen zerknirscht ist die Frau aberdoch. Weil sie so wenig weiß von damals und mitden Jahren, sagt sie, auch begriffen hat, bestimmteThemen in Dötlingen besser zu meiden –„gerade als Zugezogene“.Das Dorf wendet sich zwar seiner Geschichtezu, es gibt Bücher darüber, in denen weit zurückgeschautwird, bis hinein in die Zeit, alsDötlingen vor vielen hundert Jahren nochThutelinge hieß. Aber dieses eine, damals dochimmerhin bis weit nach Berlin ausstrahlendeKapitel wird geflissentlich ausgespart oder nuram Rande gestreift.Wie überall im Oldenburger Land erringt dieNSDAP auch in Dötlingen sehr früh schon herausragendgute Wahlergebnisse. Bei derReichstagswahl am 14. September 1930 sind es60 Prozent, im Jahr darauf, bei den Wahlen zumOldenburger Landtag, steigt der Anteil auf fast 80Prozent. Dötlingen ragt nun selbst im OldenburgerLand deutlich heraus. Die Gemeinde steht ander Spitze der braunen Bewegung.Aber wie das nun mal so ist auf dem Dorf –Partei-Pedanten, die mit ideologischemFeuereifer jedes Anderssein sofort ahnden, habendort keine Chance. Dötlingen trägt zwar dasBanner der Nationalsozialisten, mit einigem Stolzsogar. Es glaubt an die große Sache und stellt alsZeichen besonderer Verbundenheit auf einemMit einigem Pomp und unter großerAnteilnahme der Bevölkerung bekam derFindling von den Nazis seine höherenWeihen.Heute liegt der Stein umgestürztan alter Stelle. Überlegungen des Heimatvereins,ihn <strong>wieder</strong> aufzustellen, sind voreinigen Jahren vom Gemeinderat zerstreutworden.Hügel in der Nähe, dem Gierenberg, einen riesigenFindling mit Hakenkreuz auf. Gleichzeitigaber wird auf einen wie Willy Rogge keine Hatzgemacht. Er ist zuerst Bauer, einer von ihnen, underst dann auch ein renitenter Nazi-Gegner.Dass dieser Rest an Miteinander zuletzt keineRolle mehr spielt, und Rogge von Spießgesellender Nazis heimtückisch ermordet wird, ist fürMenschen, die davon wissen, noch heute eineoffene Wunde. Es sind ja Männer aus der Gegend,die die Tat verüben, und einer, der Anstifter,kommt direkt aus dem Dorf.Erwin Metzler* war inDötlingen stellvertretender Ortsgruppenleiterder NSDAP.Menschen, die ihn gekannthaben, schildern den Mann alseine eher schlichte Natur. Er seizwar durch und durch Nazigewesen, schrieb Gustav Orth,ein Nachbar von Metzler, alsZeuge im späteren Gerichtsverfahren.„Aber er war frei vonjenem berüchtigten KZ-Geistund Fanatismus.“ Metzler habeim Dorf geholfen, wo er nurkonnte, und sich nicht seltengegenüber höheren Stellenschützend vor jene gestellt, diees an der gewünschtenGesinnung fehlen ließen.„Vernünftig und anständig“ sei er gewesen, versicherteOrth.Die Aussage des Bankvor-stehers hatteGewicht, er wurde während der Nazijahre von derGestapo bedroht. „Metzler ist immer <strong>wieder</strong> fürmich eingetreten“, schrieb Orth in einer ArtEhrenerklärung für den Angeklagten.Er nennt darin den Namen Theodor Cohn.Der Lehrer war 1933 aufgrund seiner Abstammungaus dem Schuldienst geworfen worden.Nun suchte er eine Anstellung und fand sie in derBank von Gustav Orth. „Metzler machte keineSchwierigkeiten.“ 1944, als Cohn von den Nazisin ein Zwangsarbeiterlager gesteckt wurde, „hatM. alles Menschenmögliche bei der Kreisleitungund anderen hohen Stellen unternommen“.Geholfen hat das nichts, Cohn blieb im Lager,aber er überlebte und wurde später Stadtdirektorin Wildeshausen. Metzler – die Kinder sagten„Onkel“, sie mochten ihn. Metzler war kein wildentschlossener Herrenmensch, der die Vernichtungsideologieseiner Nazi-Kumpane nachbetete.Er war keine Heimsuchung. Aber dann, als dieAlliierten schon vor denToren standen, mussirgendetwas mit ihm passiertsein. Ohne Not undmehr zufällig, so jedenfallsgeht es aus den Prozessaktenhervor, lieferte er denMann ans Messer, der imDorf stets gegen die Nazisgestänkert hatte, und den erbis dahin trotzdem weitgehendin Ruhe ließ.Ein entfernter Bekannterist zu Besuch gekommen,ein Mitgliedder „Kampfgruppe Wichmann“,die direkt derPartei unterstellt ist. DerMann spricht mit Metzlerüber die Lage im Dorf, unddem fällt dabei nichts Besseres ein, als von Roggeanzufangen, der ihm als „unsicheres Element“Sorge bereite. Die Information wird sofortweitergetragen, und noch am Abend gibt es beiMetzler ein weiteres Treffen in größerem Kreis.Zum Schluss dann die entscheidende Frage,nachzulesen in den Gerichtsakten: „Halten <strong>Sie</strong>die Umlegung Rogges für erforderlich und richtig?“Metzler zögert und ringt mit sich. Dann dieserSatz: „Ja, der Mann muss weg!“Einen Tag später ist Rogge tot. <strong>Sie</strong> hatten ihnam Abend unter einem Vorwand aus dem BettKarsten Grashorn ist inDötlingen anfangs angefeindetworden.geholt, in ein Auto verfrachtet und amOrtsausgang erschossen.Die Täter und der Anstifter sind später wegenMordes vor Gericht gestellt worden. Zeitweisemussten sie fürchten, ein Leben lang hinterGittern zu bleiben. Doch am Ende, nach mehrerenVerfahren, setzte sich die Rechtsauffassungdurch, dass die Tat aus der damaligen Zeit herauserklärt werden müsse. Metzler, der während derProzessdauer in Untersuchungshaft saß, erhielteine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und dreiMonaten. Er war nach dem Urteil ein freier Mannund kehrte nach Dötlingen zurück.Ein knappes Jahr nach der Tat versammeltesich das Dorf zu einem Gedenkgottesdienst fürWilly Rogge. „Das Volk brachte nicht die Kraftzum Widerstand gegen die Verbrechen auf, das istseine Schuld“, schrieb der damalige oldenburgischeMinisterpräsident Theodor Tantzen denDötlingern ins Stammbuch. Danach warSchweigen. Bis heute.Einer hat das jetzt alles zusammengetragen.Ein Soldat und gebürtiger Dötlinger, der dieWahrheit sucht. „Ich will wissen, was damalswar, ganz einfach“, sagt Karsten Grashorn, dersich bei der Bundeswehr nebenher auch umMilitärgeschichte kümmert. Am Anfang seinerRecherchen hat er böse Anrufe bekommen. Dasser ein Nestbeschmutzer sei und an etwas rühre,was vergessen gehört. „Die Nazizeit ist hier nieaufgearbeitet worden“, sagt der 43-Jährige.„Viele, auch meine Familie, haben nach demKrieg einfach die Klappe fallen lassen.“Grashorn geht vorsichtig vor, das haben dieDötlinger mittlerweile verstanden und sich einwenig beruhigt. „Ich werde hier doch nicht miterhobenem Zeigefinger herumlaufen. Das maßeich mir nicht an.“ Er will verstehen, wie allesgekommen ist, nur das. Das Dorf wird es ihmvielleicht mal danken. Irgendwann.Jürgen Hinrichs* Name geändert.8485


Gegen das VergessenDas deutsche Verhängnis begann in Oldenburg.Hier kamen die Nationalsozialisten bereits1932 an die Macht. In Bremen rissen sie dieRegierung per Staatsstreich an sich. Was allerortenfolgte, war ein Schreckensregime ausTerror und Mord.8687


Es endete im MassentodBremen und Oldenburg in der NS-Zeit: Absolute Mehrheit, Staatsstreich und täglicher TerrorDas deutsche Verhängnis begann in Oldenburg.Hier gewannen die Nationalsozialistenbereits im Mai 1932 die absolute Mehrheit undkonnten erstmals in einem Land des DeutschenReiches allein regieren. Noch vor der Machtübernahmein Berlin, also noch bevor AdolfHitler zum Reichskanzler berufen wurde. Zufalloder nicht?Die Frage „Wie war Hitler möglich?“ treibtdie Menschen bis heute um. Es fällt nicht leicht,vorurteilsfrei darauf zu antworten, weil die in derNS-Zeit verübten Verbrechen stets auch zueinem moralischen Urteil zwingen. So viel indesist klar: Es gab nicht nur eine Ursache, sondernmehrere, die miteinander verschränkt waren, einanderhochschaukelten. Vor allem aber gab esebenso Momente, in denen alles auf MessersSchneide stand. Der Weg in das Verderben unddie Vernichtung erfolgte Schritt um Schritt. Docher führte über Kreuzungen und an Weggabelungen.Die Entwicklung hätte auch anders verlaufenkönnen, wenn man Hitler beizeitengestoppt hätte.Mehrere Faktoren begünstigten den Aufstiegdes Nationalsozialismus. Da war zum einen derverhängnisvolle Versailler Vertrag von 1919, derden Deutschen drückende Lasten auferlegte. Eindemütigendes und zudem ein dummes Diktat, dasDeutschlands demokratische Kräfte schwächte.<strong>Sie</strong> wurden als Erfüllungsgehilfen diffamiert.Zum anderen geisterte die Furcht vor einer kommunistischenWeltrevolution durch die Lande, die<strong>wieder</strong>um von einem Teil der Arbeiterschaft undnicht wenigen Intellektuellen inbrünstig ersehntwurde. Der Kommunismus versprach dieWunderheilung vom Krebsübel der Zeit – von derMassenarbeitslosigkeit. Dessen ungeachtet betriebendie großen Industriellen und die reichbegüterten Grundbesitzer eine rücksichtsloseInteressenpolitik. Hochkonjunktur in dieserorientierungslosen Zeit erlebten einzig dieIdeologien mit ihren paradiesischen Versprechungen– links wie rechts. Man hing ihnen an inCarl Röver, Leiter des „Gau Weser-Ems“,drosch unentwegt völkische Phrasen.der Hoffnung, so auf die Butterseite des Daseinsgelangen zu können. Was bot dagegen schon derreale Staat? Die Weimarer Republik war nichtimstande, Visionen zu wecken. <strong>Sie</strong> war und bliebungeliebt, verachtet, ja verhasst.In Oldenburg machte sich die wirtschaftlicheKrise in den 20er und Anfang der 30er Jahrenatürlich vor allem in der Landwirtschaftbemerkbar, denn das war der Haupterwerbszweigdieses kleinen Freistaates. Die Veredelungswirtschaftächzte unter den hohen Getreidepreisen,und die Verschuldung samt Zinslastentrieb die Bauern massenweise in oder doch an denRand des Ruins. Betroffen war ebenso der vonder Agrarwirtschaft abhängige Mittelstand. DieNSDAP verstand es geschickt, den Protest fürihre Zwecke zu instrumentalisieren. IhrePropaganda war der linken Agitation überlegenund jeder Information sowieso.Immer vorneweg marschierte im OldenburgerLand Carl Röver, ein vierschrötigerTrunkenbold, der unentwegt völkische Phrasendrosch, wie die Leute sie hören wollten. DieserPlünnenhändler aus der Heiliggeiststraße saß seit1924 im Oldenburger Stadtrat und schloss sich imJahr darauf mit seinem völkischen Anhang derNSDAP an. Als 1928 der NS-Gau Weser-Emsentstand, trat Röver an dessen Spitze.Der am 12. Februar 1889 in Lemwerdergeborene Röver versuchte später damit zu renommieren,einem alten Bauerngeschlecht inStedingen zu entstammen. Sein Vater indes warVerkäufer. Einige Jahre nach der Geburt desSohnes wurde er Geschäftsführer eines Ladens inOldenburg. Dort besuchte Carl Röver die VolksundMittelschule, bevor er in Bremen als Lehrlingin eine Kaffeehandlung eintrat.1911 brach Röver nach Afrika auf. In derdeutschen Kolonie Kamerun arbeitete er für eineFaktorei. Eine schwere Malaria-Erkrankungzwang ihn zur Rückkehr. Im Ersten Weltkriegbrachte es Röver bis zum Unteroffizier undwurde in eine Propagandaabteilung der OberstenHeeresleitung abkommandiert. „Sein Haupttalentwar nun entdeckt: Röver konnte reden, ohne zudenken“, bemerkte dazu einmal der BremerHistoriker Herbert Schwarzwälder.Nach der Kapitulation stand für Röver fest,dass Deutschlands Niederlage durch Juden unddie Roten verschuldet worden sei. In Oldenburg,wo er im Geschäft seines Vaters tätig wurde, fieler vor allem durch primitive antisemitische Hetzeauf. Den Rassendünkel hatte er in Kamerungelernt.Auf Hitlers Geheiß wurde dieser „Volksverhetzerübelster Sorte“ (Schwarzwälder) am 26.Juni 1932 von seinen politischen Kumpanen zumoldenburgischen Ministerpräsidenten gewählt.Bei der Landtagswahl im Mai hatten 46,9 Prozentder Stimmen für die absolute Mehrheit imParlament gereicht: Die Nazis errangen 24 der 46Sitze.Das Konzentrationslager Ochtumsand warzeitweise auf einem ausgemusterten Binnenschiffuntergebracht.Über die Ziele der Nationalsozialisten ließRöver keinen im Unklaren. So erklärte er zumBeispiel am 22. Juli 1932: „<strong>Sie</strong> (die am 20. Juliabgesetzten preußischen SPD-Minister) sollennur nicht glauben, dass man am Ende ist. Es gehterst los. Die Burschen werden noch was erleben,wenn Hitler an der Macht ist. Wir sagen euch,euch wird nichts geschenkt, ihr Lumpen undVolksverräter. Ich garantiere diesen Schweinehunden,dass sie gehenkt werden, und wir werdensie so lange hängen lassen, bis die Krähen siegefressen haben. Das mag grausam sein, aber derNächste soll sich überlegen, ob er daneben hängenwill.“ In Oldenburg war der kommunistischeLandtagsabgeordnete Johann Wilhelm Gerdes daserste Opfer des NS-Regimes. Mehrere SA-Leutelockten ihn am frühen Morgen des 3. März 1933unter einem Vorwand aus seiner Wohnung ineinen Hinterhalt und streckten ihn mit fünfSchüssen nieder.Da war Hitler schon Reichskanzler. Dergreise Reichspräsident Paul v. Hindenburg, dersich lange gegen die Berufung des „böhmischenGefreiten“ gesträubt hatte, war denEinflüsterungen seiner Umgebung und demDrängen der Deutschnationalen erlegen. HitlersErnennung am 30. Januar 1933 rettete vermutlichdie Röver-Regierung in Oldenburg, die sich vonAnfang an als unfähig erwiesen hatte, die StaatsundWirtschaftskrise zu meistern. Schon bei derReichstagswahl im November 1932 verlor dieNSDAP 8,1 Prozent der Stimmen, blieb mit 37,1Prozent allerdings stärkste Partei.Anders als in Oldenburg vollzog sich derMachtwechsel in Bremen in Form einesStaatsstreichs. Am 5. März 1933 war ein neuerReichstag gewählt worden. Dabei kamen dieNSDAP in der Stadt Bremen auf 32,3 Prozent derStimmen, die rechtslastige DNVP beziehungsweiseder „Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot“ auf14,4 Prozent, die SPD auf 30, die KPD auf 13,5und die liberale DVP auf 5,7 Prozent. Tags daraufinszenierten die Nationalsozialisten auf demMarktplatz und auf dem Domshof eineMassenkundgebung, um den Senat unter Druckzu setzen. Noch regierten in Bremen nämlichSPD, DVP und DDP. Diese Koalition indes hatteabgewirtschaftet, wie nicht nur das Ergebnis derReichstagswahl zeigte.Am 6. März 1933 bereiteten sich SA- und SS-Einheiten auf einen Sturm auf das Rathaus vor.Drinnen tagte der Senat. Sollte die Menge draußengewaltsam zerstreut werden, um die verletzteBannmeile zu räumen? Man war unschlüssig.Niemand wollte ein Blutbad riskieren. DieNSDAP verlangte ultimativ den Rücktritt derSPD-Senatoren, die Auflösung der Bürgerschaft,die Ernennung eines Nationalsozialisten zumPolizeichef sowie das Hissen der schwarz-weißrotenund der Hakenkreuzfahne auf demRathaus.Die bürgerlichen Senatoren wurden schwach.Immerhin wollten sie die schwarz-weiß-roteFahne zulassen, woraufhin die drei sozialdemokratischenSenatoren (darunter der spätereBürgermeister Wilhelm Kaisen) zurücktraten.Allerdings weigerte sich der Rumpfsenat weiter,8889


den von der NSDAP nominierten RichardMarkert zum Polizeisenator zu ernennen. Damachte der längst eingeschaltete ReichsinnenministerWilhelm Frick, ein alter NS-Kämpfer, den Staatsstreich perfekt, indem er vonsich aus Markert zum Polizeikommissar berief.Weil Ruhe und Ordnung gefährdet seien, wie esin der Begründung hieß. Und das stimmte sogar.Doch nicht durch die Linke, die sich wie gelähmtan Recht und Verfassung klammerte, sonderndurch die Nazis.Die zeigten nun, was sie unter Ordnung verstanden.Aus politischen Gründen und wegennicht-arischer Abstammung wurden sofort rund170 Personen aus dem öffentlichen Dienst entlassen.Außerdem gab es 160 Versetzungen in denRuhestand.Politische Häftlinge wurden der SA ausgeliefert,die als Hilfspolizei fungierte. Seit April 1933unterhielt sie in den Mißlerhallen an der WalsroderStraße in Findorff ein Konzentrationslager.Dort wurden bis September 1933 rund 200Häftlinge drangsaliert und zum Teil schwer misshandelt.Nach der Auflösung des Lagers bedientesich das Regime eines Kahns beim Ochtumsandund des Marineforts Langlütjensand II beiBremerhaven als KZs. Höchst aktiv war darüberhinaus die Geheime Staatspolizei (Gestapo).Ende 1933 wurde SS-Reichsführer HeinrichHimmler ganz offiziell auch Kommandeur derpolitischen Polizei in Bremen.Ohnehin verlor die Hansestadt zunehmend anEinfluss. Durch das Vorläufige Gesetz zurGleichschaltung der Länder mit dem Reich vom31. März 1933 waren das Ende des Föderalismusund die Abschaffung der Demokratie eingeleitetworden. Gauleiter Carl Röver wurde zumReichsstatthalter für Oldenburg und Bremenernannt. Seine Weisungen erhielt er aus Berlin.Am 13. Mai wurde Röver feierlich „eingeholt“.Von der Landesgrenze in Huchting bis zumMarktplatz standen die Menschen Spalier, Kinderwinkten mit Hakenkreuzfähnchen. Röver indeshatte für Bremen wenig übrig. Um es den feinenPinkeln zu zeigen, fragte er beim Empfang in deroberen Rathaushalle provozierend: „Wo is hierdat Schiethus?“Bremen war keine Hochburg der Nazis. EineHochburg des Widerstands war die Stadt jedochauch nicht. Man passte sich an, man arrangiertesich. Den Nazis mochte dies genügen, so langedie Leute nur parierten.Bremen sei der „größte politischeSchei...haufen in Deutschland“, erklärte Röveram 6. Januar 1939 bei einer Konferenz inInnsbruck. Und Adolf Hitler pflichtete ihm ausdrücklichbei: Bremen sei in der Tat „einSchweineplatz“. Diese offenkundige Abneigunghat die Mär genährt, die Hansestadt sei – imGegensatz etwa zu Oldenburg – eher ein Opferals eine Stadt von Mitläufern und auch vonMittätern gewesen. Und als Beispiel dafür dientelange Zeit der Streit um die Böttcherstraße.Dieser unter der Regie des KaffeekönigsLudwig Roselius umgestaltete Straßenzug sorgtein der NS-Zeit für Aufsehen in ganz Deutschland.Die Nationalsozialisten sahen in dem Projekt einSchandmal des „Kulturbolschewismus“ undverlangten den Abriss, zumindest aber einenUmbau. Der völkische Nationalist Roselius fühltesich völlig missverstanden, hatte er dochbereits 1926 betont: „Die Wiedererrichtung derBöttcherstaße ist ein Versuch, deutsch zu denken.“Und als Garant dafür betrachtete derGroßkaufmann keinen anderen als den Braunenaus Braunau. „In unserem Führer Adolf Hitlererkennen wir einen von Gott dem deutschen VolkGesandten . . . Das ganze deutsche Volk mussnationalsozialistisch werden!“, ließ sich Roseliusam 24. September 1933 vernehmen. DieBöttcherstaße blieb erhalten – weil Hitler es wollte.Und zwar für zukünftige Generationen als„Mahnmal entarteter Kunst“.Ansonsten betrachteten die Nazis Bremenrelativ nüchtern. Schon bald nach der„Machtergreifung“ wurde Bremen systematischzur Rüstungsschmiede des „DeutschenReiches“ ausgebaut. Auf den großen Werften liefenKriegsschiffe vom Stapel. Bis zum Ende desKrieges wurde ein Drittel der deutschen U-Bootein Bremen produziert. Die AG „Weser“ beschäftigtezeitweise 18 000 Mitarbeiter. Aber auch derAutomobilhersteller Borgward und das FlugzeugbauunternehmenFocke-Wulf profitierten von dermassiven Rüstung.Anders als in der Weimarer Republik herrschtenun Arbeitskräftemangel, denn die deutschenMänner waren ja als Soldaten im Krieg. <strong>Sie</strong>wurden ersetzt durch nahezu 40 000 aus ihrerHeimat verschleppte Zwangsarbeiter. Über10 000 von ihnen schufteten im Bunker„Valentin“ in Farge unter unmenschlichenBedingungen. Mindestens 5000 Häftlinge sinddabei ums Leben gekommen.Mit brutaler Gewalt wurde jeder auch nochso geringe politische Widerstand gebrochen. Erstrecht aber galt die Verfolgung jenen, die imUntergrund die Reste der Opposition zu sammelnsuchten. 1934/35 wurden der große Waldheim-Prozess gegen Kommunisten und der Prozessgegen Sozialdemokraten sowie Reichsbannerleuteveranstaltet. Unter den Angeklagten befandensich der spätere Bürgermeister WillyDehnkamp und Hans Hackmack, der nach derBefreiung die Lizenz zur Herausgabe desWESER-KURIER erhielt.Völlig entrechtet wurden im NS-Staat Bürgerjüdischer Herkunft. Schon am 1. April 1933 warzu einem Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufenworden. Dabei kam es zu zahllosen Schikanen.Auf einem über die Oldenburger Straße inDelmenhorst gespannten Spruchband konnte man1935 lesen: „Juden betreten diese Stadt auf eigeneGefahr.“In der von der SA organisierten Pogromnachtvom 9. auf den 10. November 1938, die man ver-harmlosend als „Reichskristallnacht“ bezeichnete,wurden auch in Bremen jüdische Mitbürgerverhaftet, misshandelt und ermordet. AusMünchen erteilte Bremens damaliger Bürgermeister,der SA-Gruppenführer Johann HeinrichBöhmcker den Befehl: „Sämtliche jüdischeGeschäfte sind sofort zu zerstören. Nach derZerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, diedafür zu sorgen hat, daß keinerlei Wertgegenständeentwendet werden können. . . JüdischeSynagogen sind sofort in Brand zu stecken... DieFeuerwehr darf nicht eingreifen . . . Der Führerwünscht, daß die Polizei nicht eingreift . . . BeiWiderstand sofort über den Haufen schießen.“In der Synagoge an der Gartenstraße (heuteKolpingstraße) wurde ein Feuer gelegt, und dasGebäude brannte total aus. Das daneben liegendeRosenackhaus, das als Gemeindezentrum diente,Zerborsten: die Eisenbahnbrücke,die Stephanibrücke, die Lüderitzbrücke (heuteGroße Weserbrücke) und die Kaiserbrücke(heute Bürgermeister-Smidt-Brücke). Bremens„Stadtkommandant“ hatte am 25. April 1945alle Weserübergänge sprengen lassen, die nichtohnehin schon zerstört waren, um denVormarsch der britischen Truppen aufzuhalten.9091


wurde verwüstet. Zerstört und geplündert wurdenferner Geschäfte in der Innenstadt.Auf dem Hof des Alten Gymnasiums triebenSA-Leute jene Juden zusammen, derer sie habhaftwerden konnten. Am Morgen wurden dann160 Männer zunächst ins Zuchthaus Oslebshausengebracht und hernach zur Einschüchterungins KZ Sachsenhausen abtransportiert.Schlimmer erging es in dieser Nacht dem67Jahre alten Obermonteur Leopold Sinasohn. Erwurde in seiner Wohnung in Platjenwerbeerschossen. Seine Leiche verscharrte man aufeinem Feld. In Burgdamm erschoss ein SA-Kommando den hoch angesehenen SanitätsratDr. Adolph Goldberg (78) und dessen FrauMartha (65) in ihrem Schlafzimmer. In derNeustadt wurden der Produktenhändler HeinrichRosenblum (46) und Selma Zwienicki (56), dieFrau eines Fahrradhändlers, umgebracht.Für die Juden, die ab Oktober 1941 den gelbenDavidsstern tragen mussten, gab es inDeutschland kein Entrinnen mehr. Im November1941 wurden 440 Bremer Juden nach Minskdeportiert. <strong>Sie</strong> sind im Juli 1942 ermordet worden.Zur selben Zeit wurden die älteren der nochin Bremen verbliebenen jüdischen Bürger nachTheresienstadt gebracht und später einige inAuschwitz getötet. Von den 1933 im LandOldenburg lebenden 841 Juden kamen etwa 400bis 500 in den Vernichtungslagern um, allein 104aus der Stadt Oldenburg, 51 aus Jever und mindestens50 aus Delmenhorst.Trotz aller Gewaltexzesse verhielt sich dieMehrheit großer Bevölkerungsteile loyal gegenüberder NS-Führung. Aber es gab durchausVorbehalte und Ablehnung. Für großeAufmerksamkeit sorgte zum Beispiel der sogenannte Kreuzkampf in Südoldenburg. Am 4.November 1936 hatte der für Schulen undKirchen zuständige oldenburgische MinisterJulius Pauly angeordnet, dass in öffentlichenGebäuden keine kirchlichen oder religiösenSymbole angebracht werden dürften und dieschon vorhandenen zu entfernen seien. Zumal imkatholischen Südoldenburg reagierte die Bevölkerungdarauf mit offenem Widerstand.Unterstützt wurde sie bei allen Aktionen vonihrem Oberhirten Clemens August von Galen,dem Bischof von Münster. Dieser nach demKrieg zum Kardinal ernannte Kleriker, der demnächstvom Papst selig gesprochen werden soll,wandte sich dann ab 1941 in Predigten auchgegen die im Geheimen betriebene Euthanasie,so dass sich der NS-Staat veranlasst sah, denMassenmord zu stoppen. Auch im „Kreuzkampf“obsiegten die Katholiken. Röver musste denErlass zähneknirschend zurücknehmen.Mit der Religion hatte der Gauleiter sowiesowenig am Hut. Das Christentum bezeichnete erals vom jüdischen Geist verseucht; es sei „aus derSch. . . geboren“, sagte er einmal zu dem BremerLandesbischof Heinz Weidemann. Ausgerechnetdieser braune Protestant aber bemühte sichdarum, alles Jüdische aus der Glaubenslehre zutilgen und die Kirche dem Führer dienstbar zumachen. Sein Versuch, Ende 1937 ein neues Gotteshausin Osterholz nach dem „NS-Märtyrer“Horst Wessels zu benennen, scheiterte jedoch anHitler persönlich. Der BischofsdiktatorWeidemann fügte sich widerwillig und ließ dieKirche als Dankeskirche einweihen: „ausDankbarkeit gegen Gott für die wunderbareErrettung unseres Volkes vom Abgrund desjüdisch-materialistischen Bolschewismus durchdie Tat des Führers“. So stand es auch auf einer inder Kirche angebrachten Tafel zu lesen. Noch vordem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ stolperteWeidemann über private Affären. ImOktober 1944 wurde er wegen Anstiftung zumMeineid und Nötigung zu zweieinhalb JahrenZuchthaus verurteilt.„Diesen Krieg verlieren wir mit Pauken undTrompeten“, soll Röver 1941/42 unter vier Augenzu einem guten Bekannten gesagt haben. Zu dieserBemerkung gehörte wenig Scharfsinn, dennder Ausgang war absehbar.Im Krieg hatte Bremen als Rüstungsschmiedebesonders unter den alliierten Luftangriffen zuleiden, die Mitte 1942 begannen. Der schwersteAngriff ereignete sich in der Nacht vom 18. aufden 19. August 1944. Damals starben rund 1000Einwohner, und fast 50 000 Menschen verlorenihre Wohnung. Walle, das Stephaniviertel und dieHäfen wurden nahezu vollständig zerstört.Schließlich standen in der Innenstadt nur noch dasRathaus, der Roland und der Dom unversehrt da –wie durch ein Wunder.Bis heute nicht aufgeklärt ist das Ende CarlRövers. Der Gauleiter erkrankte im Mai 1942. Daer an Tobsuchtsanfällen litt, schaffte man ihn insein Blockhaus bei Ahlhorn, das ihm 1936 vomReichsarbeitsdienst geschenkt worden war. Dortrandalierte er und verkündete den Anwesenden, erwolle ins Führerhauptquartier und im Anschlussnach England fliegen. Da sich Röver nur von seinemHeilpraktiker behandeln lassen wollte, begabsich Mitte Mai Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandtnach Ahlhorn. Brandt befahl dem Heilpraktikerdie Verabreichung von Beruhigungsspritzen, dieer selbst mitgebracht hatte. Röver erschien kurzdarauf in der Halle des Blockhauses und kritisiertein einer Rede die deutsche Politik. Schon ineiner undatierten Denkschrift, die vermutlich ausdem Jahr 1942 stammt, hatte Röver die Parteibürokratiegerügt und sich damit gegen MartinBormann gestellt, der Hitlers rechte Hand in derReichskanzlei war, aber auch gegen SS-ChefHeinrich Himmler.Am 15. Mai wurde Röver in die BerlinerCharité geflogen, in der er nach wenigen Stundenstarb. Das NS-Regime gewährte ihm ein pompösesStaatsbegräbnis. Hans-Günther ThieleAm 1. Mai 1933 hatten die Nazis am BremerDom einen „Altar der Arbeit“ errichtet.Im selben Jahr prangtenantisemitische Schmierereien an jüdischenGeschäften auch in Bremen.9293


Hetzrede sieben Jahre danachTreffen ehemaliger SS-Männer in Verden führte zum EklatWürmer im EssenDer Heisenhof gehörte im Krieg zur Schießpulverfabrik EibiaOktober 1952 in Verden. <strong>Sie</strong>ben Jahre nachKriegsende versammeln sich in der Allerstadtmehrere tausend Angehörige der ehemaligenWaffen-SS, willkommen geheißen vom Bürgermeister.Vier Tage später schreibt BundeskanzlerKonrad Adenauer einen Brief. Darin drückt ersein Bedauern über Äußerungen desFallschirmjäger-Generals Bernhard Ramckeaus, die europaweit für Schlagzeilen sorgen. InFrankreich und England befassen sich dieParlamente mit der Rede.Das erste große Nachkriegstreffen der„Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligenAngehörigen der Waffen-SS“ (HIAG),das vorgeblich dem Suchdienst des DeutschenAls im Oktober 1952 ehemalige SS-Soldatenvor dem Verdener Rathaus aufmarschierten,schauten viele Einwohner interessiert zu.Roten Kreuzes dienen sollte, war vom niedersächsischenInnenminister Richard Borowski(SPD) gebilligt worden. Über den Umfang derVersammlung gibt es unterschiedliche Angaben;manche Quellen berichten von 4000 bis 5000,andere gar von 7000 Teilnehmern aus Niedersachsen,Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein. Initiator war Herbert O. Gille, ein inHannover lebender SS-General a. D.Wie sich der HIAG-Aufmarsch am 25. und26. Oktober gestaltete, geht aus britischenDokumenten hervor, die der Verdener HistorikerJoachim Woock ausgewertet hat. Darin berichtetein Informant, dass die Stadt Verden das Treffenunterstütze, Massenquartiere zur Verfügung stelle,Straßen und Plätze schmückenwolle. Der britische Verbindungsoffizierin Verden meldet,dass sich eine „Gruppe einflussreicherBürger“ der Aufforderungzur Beflaggung widersetzt.Die Stadt selbst trägt dann zurDekoration bei (vier Wochenspäter wird der Bürgermeisternicht <strong>wieder</strong>gewählt werden).Zahlreiche Journalisten ausdem In- und Ausland beobachtendas Treffen, gegen das sich nurwenig Protest geregt hat.Vereinzelt tauchen Schriftzügeauf, hinter denen die KPD vermutetwird: „Wir wollen keineSS-Banditen“. Der Informant derBriten, ein Deutscher, schreibtvom ersten Tag der Zusammenkunft:„Um 20 Uhr versammeltensich cirka 7000 Menschenauf dem Rathausplatz und denanstoßenden Straßen. Auf einemgroßen Lastwagenanhängerspielte das Verdener TrompetenorchesterHorn Märsche, dievor allem von den Einheimischenmit Jubel aufgenommen wurden. DerBürgermeister Verdens sprach einige Begrüßungsworte.“Nach Kameradschaftsabenden in „brechendvollen Sälen“ versammeln sich die ehemaligenSS-Männer am nächsten Morgen im Stadion. DerInformant hat die Lautsprecherdurchsagennotiert: „Bitte nach Divisionen antreten: LAHlinks (nie wurde Leibstandarte Adolf Hitlergesagt) ...“Ex-General Gille erklärt, dass das Wort„Kriegsverbrecher“ nicht auf die Soldaten derWaffen-SS zutreffe. „Wir sind keine neofaschistischeVerschwörung“, die HIAG sei unpolitisch.Bernhard Ramcke hätte nur ein Grußwort derFallschirmjäger überbringen sollen, stattdessenhält er eine fast halbstündige Hetzrede. Zettel,die ihn stoppen sollen, beachtet er nicht. Dieschwarzen Listen der Gegner, auf denen dieTapferen gestanden hätten, würden vielleicht bald<strong>wieder</strong> Ehrenlisten sein, sagt der Ex-General.Und: Die wahren Kriegsverbrecher seien dieVäter des Versailler Vertrages.Zwar bemüht sich General a. D. Felix Steiner,Gründer und Chef der SS-Division Wiking,noch um Schadensbegrenzung, indem er einBekennt-nis zur Demokratie ablegt, doch derEklat ist bereits perfekt. In Paris befasst sich dieNationalversammlung mit Ramckes Rede, im britischenUnterhaus löst sie ebenfalls Besorgnisaus. Zuvor hatte Bundeskanzler Adenauer bereitsan den Hohen Kommissar der Briten in Deutschlandgeschrieben, um die Wogen zu glätten.Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ weiß zuberichten, dass der Verband der ehemaligenFallschirmjäger Ramcke ein einjähriges Redeverbotauferlegt hat. Rund drei Wochen nach Verdenfindet ein weiteres HIAG-Treffen in Gelsenkirchenstatt. Dort versammeln sich am16. November 1952 etwa 2200 Mitglieder derehemaligen Waffen-SS. Anke LandwehrSoldaten bewachten die Zwangsarbeiter undrussischen Kriegsgefangenen, die in derSchießpulverfabrik Eibia gefährliche Arbeitverrichten mussten.Der Heisenhof, auf dem der HamburgerNeonazi Jürgen Rieger rassistische Fruchtbarkeitsforschungbetreiben möchte, hat schon einmalunrühmliche Zeiten erlebt. Während desZweiten Weltkrieges waren hier die Verwaltungder Schießpulverfabrik Eibia und ledige deutscheArbeiter untergebracht. Die eigentlicheProduktion, für die überwiegend Zwangsarbeitereingesetzt wurden, fand auf einem nahe gelegenenWaldgelände statt.Die Schießpulverfabrik „Eibia GmbH für chemischeProdukte“ war eine Tochtergesellschaftder Sprengstofffabrik „Wolff & Co. KGaAWalsrode“. 1936 gegründet, wurden drei Werkegebaut: in Bomlitz, Dörverden und Liebenau. DieGesamtbelegschaft bestand gegen Kriegsende ausetwa 15 000 Beschäftigten, davon waren etwa80 Prozent Zwangsarbeiter – Männer wie Frauen.Als kleinstes Werk nahm die Anlage inDörverden-Barme 1941 die Produktion auf. Auf385 Hektar Waldgelände standen 273 Gebäude,einige davon unterirdisch, mit einem Erdwallumgeben oder mit auf den Dächern angepflanztenBäumen getarnt. In der Fabrik wurden pro Jahrrund 2000 Tonnen Nitrocellulose-Pulver und, ab1943, 50 bis 300 Tonnen des arsenhaltigenKampfstoffes Adamsit hergestellt.In Barme arbeiteten zirka 1800 Menschen,darunter etwa 100 sowjetische Kriegsgefangene.<strong>Sie</strong> waren auf dem Firmengelände untergebracht -zuerst im „Todtlager“, später in Lagerhäusern.31 von ihnen überlebten die Strapazen nicht. <strong>Sie</strong>wurden in der Nähe ihrer Unterkunft verscharrtund erst nach dem Krieg umgebettet.Die rund 1000 Zwangsarbeiter aus 18Nationen lebten eng zusammengepfercht inSteinbaracken im Dörverdener „Steinlager“.Von den 59 Kindern aus fünf Nationen, die imEntbindungsraum der Sanitätsstation zur Weltkamen, starben 27.Auch bei Arbeitsunfällen in der Fabrik kamenMenschen ums Leben. Im Oktober 1942 flog einGebäude in die Luft, ein nebenstehendes Gebäudegeriet in Brand. Dabei wurden vierUkrainerinnen, eine Französin, ein Ukrainer undein Serbe getötet. Unter dem Datum vom 20. Mai1944 vermerkte die Behörde lapidar: „Explosionvon Zellulosestaub. Ein Toter, fünf Schwerverletzte.Kein Produktionsausfall.“ Insgesamtstarben in Dörverden 39 ausländische Zivilarbeiter.Besonders die osteuropäischen Zwangsarbeiterbekamen wenig zu essen, während die„Westarbeiter“ von ihren Familien und dem RotenKreuz aus den Heimatländern gelegentlich Paketemit Nahrung und Kleidung erhielten.Jahrzehnte später berichteten Zeitzeugen ausder Ukraine, wie es ihnen damals erging. AnnaButman: „Warmes Essen gab es nur einmal täglichnach der zwölfstündigen Arbeit. Pro Wocheerhielten wir 400 Gramm Brot, 40 GrammMargarine und 50 Gramm Zucker. . . Durch dieNitro-Dämpfe wurde ich häufig ohnmächtig.Dann wurde ich mit kaltem Wasser übergossen.Weil ich erst 14 Jahre alt war, wurde ich dann alsReinemachefrau ins Lager versetzt.“Annas damals 17-jährige Schwester TaisijaVysockjaja: „Eines Tages gab es eine Explosionin der Fabrik, bei der vier Mädchen aus demGebiet von Mykolajiv ums Leben kamen. Um siezu bestatten, gab uns die Verwaltung einen großenHolzkasten, in den das gelegt wurde, was von denMenschen übrig geblieben war – Köpfe, Teile vonArmen, Stücke des Rumpfs. <strong>Sie</strong> wurden auf demFriedhof von Dörverden beerdigt. Es gab einenTrauerzug. Hinter uns gingen Schüler. <strong>Sie</strong> trugensaubere, tabakfarbene Shorts und Hemden. <strong>Sie</strong>spuckten uns an und schrien: ,RussischeSchweine! Russische Scheiße!‘ “Klavdija Puzyrevskaja wurde mit 19 Jahrendeportiert: „Oft waren Würmer im Essen . . . Unshalfen oft die Ausländer im Lager, die uns Essenzuwarfen. Auch Deutsche warfen Lebensmittelüber den Zaun. Ein deutscher Meister wollte mitmir ein Verhältnis anfangen, ich ging aber nichtdarauf ein. Er schlug mich und drohte mir, mich inein Konzentrationslager zu schicken.“Die meisten Eibia-Gebäude sind durch diebritischen Militärbehörden gesprengt worden. Aufeinem Teil des Produktionsgeländes wurde 1958die inzwischen aufgelöste „Niedersachsen“-Kaserne errichtet. Das Gelände ist heute imBesitz der IVG Management GmbH.Joachim Woock9495


Überleben wie durch ein WunderDie Familie Abraham fand in dem kleinen Dorf Bockel Schutz vor der JudenverfolgungDas Gut der von Hammersteins in Bockel.Der Herr Abraham hat gerne Geige gespielt,daran können sich die Nachbarn noch erinnern.Auch dass er immer ein wenig verängstigt wirkte,aber das ist kein Wunder, denn August EphraimAbraham musste ständig fürchten, abgeholt zuwerden.Er war Jude von Herkunft und lebte mit seinerFamilie während der letzten beiden Nazi-Jahre versteckt in einem kleinen Dorf beiRotenburg. Alle dort wussten von ihm, und keinerhat ihn verraten. Wie durch ein Wunder habendie Abrahams überlebt. Heute erst wird ihreGeschichte bekannt: ein wohl einzigartiger Fallvon Mut und Menschlichkeit im nationalsozialistischenDeutschland.Bockel – das ist das Gut der Familie vonHammerstein und ein paar Häuser drumherum.Unmöglich, hier irgendetwas vor den Nachbarnverborgen zu halten. Und es wurde auch gar nichterst versucht. Ein falscher Name für dieBehörden, sonst aber führten die Abrahams einLeben wie alle anderen in dem 50-Seelen-Dorf.„Wir haben sie aufgenommen wie Kriegsflüchtlinge“,erinnert sich Hildur von Marschall, einegeborene von Hammerstein. Den damaligenDecknamen der Familie kennt sie bis heute nicht.„Für uns hießen sie Abraham.“August, seine Frau Marie, die Kinder Anni,Karl und Hedwig und die Pflegetochter Hannelore– sie gehörten in Bockel einfach dazu.Nichts, was den Nachbarn von Haus Nr. 6 a, indem die Abrahams untergebracht worden waren,ungewöhnlich vorgekommen wäre. ElfriedeHelmke zum Beispiel ist mit der kleinen Hedwigjeden Tag den langen Weg zur Schule nachGyhum gelaufen. <strong>Sie</strong> haben zusammen gespielt,Streiche ausgeheckt und alles das getan, wasKinder eben so tun. „Großartig Gedankengemacht haben wir uns damals nicht“, erzählt die67-Jährige. Das Klima im Dorf sei sehr familiärgewesen und waschechte Nazis – „nein, die gabes bei uns nicht, höchstens mal einenBauernführer“, sagt sie.Das war ungewöhnlich für die sonst so tiefbrauneGegend zwischen Rotenburg und Zeven.Lange vor der Machtübernahme im Reich hattedie nationalsozialistische Partei dort großeErfolge erzielt. Bei der letzten Reichstagswahl imMärz 1933 lag die Zustimmung in manchenDörfern bei über 80 Prozent. Damit einher gingein ausgeprägter und sofort auch militanterAntisemitismus. Die Juden wurden angefeindet,ihre Geschäfte boykottiert, und wer sich nichtfügte, musste sehr früh schon mit Schlimmeremrechnen. Einen ersten Höhepunkt erreichte dieGewalt in der so genannten „Reichskristallnacht“am 9. und 10. November 1938. Am Ende standfür die Juden in Zeven und Umgebung Vertreibungund Mord.Die Abrahams waren 1944 aus Bremen nachBockel gekommen, geflüchtet vor den Schergender Nazis. August Abraham hatte zu der Zeitschon keine Arbeit mehr. Er musste seine Stelleals Schlosser in einem Betrieb in der BremerNeustadt aufgeben, obwohl er eigentlich nochgebraucht wurde. „Ich kann dich nicht mehrschützen“, hatte sein Chef ihm gesagt.Es wurde dramatisch eng damals. Die Muttervon August Abraham, seine drei Brüder und eineSchwester waren bereits deportiert worden. <strong>Sie</strong>gehörten zum Transport vom 18. November 1941,als 440 jüdische Bürger aus Bremen von denNazis ins Vernichtungslager nach Minsk verschlepptwurden. Weil August Abraham mit einerFrau verheiratet war, die keine jüdischen Wurzelnhatte, blieb er von dieser Reise in den sicherenTod vorerst verschont. Doch das konnte sich täglichändern, und tatsächlich sind später auch solcheJuden deportiert worden, die einen, wie dieNazis es nannten, arischen Ehepartner hatten.Darunter drei weitere Schwestern von AugustAbraham, die im Februar 1945 ins Konzentrationslagernach Theresienstadt kamen, dort abergerade noch rechtzeitig befreit werden konnten.Ein Feuer in dem Haus, das die Abrahams imBremer Stephaniviertel bewohnten, und der Todeines Menschen brachten der Familie die entscheidendeChance. Das Opfer des Brandes, einallein stehender Schneidermeister, der in derDachkammer gelebt hatte, wurde gegenüber denBehörden als August Abraham ausgegeben. DieGestapo ließ sich hinters Licht führen und strichAbraham von ihrer Liste. Er musste verschwindenund setzte sich mit seiner Familie nach Bockel ab,weil er dort <strong>wieder</strong> auf die Unterstützung seinesehemaligen Chefs bauen konnte, der in der Näheeinen zweiten Betrieb unterhielt.Doch wie vor den Behörden unentdeckt bleiben?Das ging nur mit Hilfe der Dorfbewohner.Die Familie von Hammerstein nahm dieAbrahams unter ihre Fittiche, und die anderenBockeler zogen wie selbstverständlich mit. DerArbeitgeber von August Abraham ging dasWagnis ein, ihn im benachbarten Mulmshornunter falschem Namen weiter zu beschäftigen.Später konnte sich sein Schützling revanchieren.Der Unternehmer wurde nach Kriegsende verhaftet,weil er Rüstungsgüter produziert hatte unddazu auch Mitglied der nationalsozialistischenPartei war. Abraham legte ein gutes Wort für ihnein und erreichte die Freilassung.Gerda Eckhoff, noch jemand aus Bockel, diesich erinnern kann, hat das Schlusskapitel diesertragischen und zugleich glücklichen GeschichteWiedersehen in Bockel:Sara-Ruth Schumann, Gerda Eckhoff,Hildur von Marschall und Elfriede Henke(von rechts).aufgeschrieben: „Das Kriegsende erlebte dieFamilie Abraham im Keller des Hauses der WitweGesche Eichholz in Bockel. Als englischeSoldaten den Keller nach deutschen Männerndurchsuchten, bekannte sich Herr Abraham zumJudentum.“August Abraham kann seine Geschichte unddie seiner Familie nicht mehr erzählen. Er ist 1969im Alter von 65 Jahren gestorben. Seine FrauMarie hat bis 1985 gelebt und ist 82 Jahre altgeworden. Sohn Karl starb mit nur 14 Jahren imFebruar 1945 nach einem Tieffliegerangriff. Anni,die älteste Tochter, und Hannelore, die Pflegetochter,leben heute in Bremen. Die Mutter vonHannelore und ihr Vater, ein Bruder von AugustAbraham, sind im Vernichtungslager in Minskermordet worden. Hedwig Abraham schließlich,die 1938 geborene jüngste Tochter, führt heuteden Namen Sara-Ruth Schumann und istVorsitzende der Jüdischen Gemeinde inOldenburg. Als ihr vor drei Jahren das Bundesverdienstkreuzverliehen wurde, kam dieGeschichte mit Bockel heraus.Viele Details lassen sich nach sechsJahrzehnten nur noch vage rekonstruieren, weil esso gut wie keine Aufzeichnungen gibt. Doch dasind die Töchter, die sich erinnern, und die dreiFrauen aus Bockel, die Kontakt zu den Abrahamshatten. Sara-Ruth Schumann hat diese Frauenbesucht. Gemeinsames Kaffeetrinken auf GutHammerstein. Es wurde viel gelacht, als nach undnach die Kindheitserinnerungen hochkamen. Fastkonnte man meinen, sie alle hätten eine unbeschwerteZeit gehabt, auch Sara-Ruth. Nur kurzzwischendurch ein paar stillere Momente, wenndas Gespräch dann doch mal auf Verfolgung undMord kam oder auf den Antisemitismus, der fürdie Abrahams nach den Schilderungen der jüngstenTochter mit der Befreiung vom Nationalsozialismusnoch längst nicht ausgestanden war.Dass die heute 67-jährige Frau überhauptnoch einmal nach Bockel zurückgekommen ist,war ein schwerer Schritt. Jahre vorher hatte sie esschon einmal versucht, musste den Besuch aberabbrechen, weil die Erinnerungen sie überwältigthatten. Sara-Ruth Schumann wollte, wie sie sagt,in Gegenwart und Zukunft leben und sich nichtmit den Schrecken der Vergangenheit beschweren.Jetzt war sie aber doch froh, ihre Spielkameradinnenvon damals <strong>wieder</strong> getroffen zu haben.Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.Jürgen Hinrichs9697


Das gestohlene LebenWie Hitler Ruth und Martin getrennt hat – mehr als 60 Jahre langMartin hält Ruths Hand, die ganze „Aida“lang. Das Paar im Publikum der Leipziger Oper,es ist jung und sehr verliebt. Am 11. April 1936ist das gewesen, so hat Ruth es sich in ihrReclam-Heftchen mit den „Aida“-Texten notiert.Am 9. April 2004 waren die beiden <strong>wieder</strong> in derLeipziger Oper und haben die „Aida“ gehört.Dazwischen liegen 68 Jahre, ein ganzesMenschenleben, beinahe jedenfalls. Aber dashaben die beiden nicht gemeinsam gelebt. AdolfHitler hat ihren Traum von einer gemeinsamenZukunft zerstört.„Die von Ihnen erbetene Genehmigung zurEheschließung mit dem deutschblütigenStaatsangehörigen Martin Hauser* wird versagt.Die Entscheidung ist endgültig.“ Das Schreibendes Kreishauptmannes zu Leipzig vom 11. Mai1938 traf Ruth und Martin wie ein Schlag. DieAugen der alten Frau blicken noch heute traurig,wenn sie in ihrer kleinen Mietwohnung imLeipziger Stadtteil Dölitz von diesen Tagenerzählt. 91 Jahre ist Ruth Mählmann*, geboreneJellinek*, jetzt alt. Martin Hauser, der seit 1958 inBremen lebt, hat seinen 90. Geburtstag im August2004 gefeiert.Die junge Ruth und ihr Verlobter Martin wollendie Entscheidung des „Kreishauptmannes zuLeipzig“ nicht akzeptieren. <strong>Sie</strong> reichen Gnadengesucheein und zitieren Zeugen. Die sagen aus,wie rechtschaffen Ruth ist. Und – wie wenigjüdisch. Denn 1935 haben die NürnbergerRassegesetze die Buchhändlerin zum „Mischlingersten Grades“ erklärt:Ruths Mutter war Jüdin. Tochter einerFamilie aus Budapest, die 1890 nach Leipzig zog.Akribisch recherchiert Ruth ihre Familiengeschichte,um die rassistische Wissensgier derNazi-Behörden zu stillen. <strong>Sie</strong> betont, dass ihreMutter starb, als sie, Ruth, erst sechs Jahre altwar. Dass ihre evangelischlutherische Stiefmuttersie christlich erzogen hat. Ruth liebt ihren Martinund will mit ihm eine Familie gründen.Ruth und Martin im Sommer 1938:<strong>Sie</strong> waren verliebt, sie hatten sich verlobt,sie wollten heiraten. <strong>Sie</strong> durften nicht.Ruth und Martin heute: Nach mehr als60 Jahren hat das Paar sich <strong>wieder</strong>gefunden.Die alte Frau streicht über das Klavier, das ander Wand in ihrem Wohnzimmer steht. Auchwenn es sich schon lange nicht mehr stimmenlässt, sie hat sich nie von ihm getrennt. EinAndenken an ihre Mutter, die sich 1919 dasLeben genommen hat. „Keiner weiß, warum“,sagt Ruth Mählmann. Neben dem Klavier hängtein altes Bild. Es zeigt die „Frühlingstraße“ inGarmisch. Auch dieses Bild ist schon viele Jahrealt. Ihr Verlobter hat es ihr 1935 zu ihrem22. Geburtstag geschenkt.Die junge Ruth muss ihrem „Ehegenehmigungsantrag“ein Foto von sich imBadeanzug beilegen. Die Nazis in ihremRassenwahn wollen genau nachsehen, ob dieseFrau, die einen „Deutschblütigen“ heiraten will,„irgendwie jüdisch aussieht“. Der junge Martinschreibt an den Reichsinnenminister: „Ist derNationalsozialismus nicht schon oft großzügiggewesen? Muß er gerade bei uns haltmachen?“,schmiert er den Nazis Honig ums Maul. Er liebtseine Ruth und will mit ihr eine Familie gründen.Ruths Vater schließlich wendet sich im Juli1938 an die „Abteilung für Gnadensachen“ inHitlers Führerhauptquartier. „Nach den Angabender Ärzte hat meine Tochter nicht die geringstenMerkmale einer anderen Rasse“, fleht er. Er verweistauf seine Verdienste im Ersten Weltkrieg.„Oft hat es geheißen, der Dank des Vaterlandes istuns gewiß. Jetzt hätte ich ihn nötig!“ Aber HitlersVasallen bleiben hart.Ruth Mählmann holt tief Luft. „Gott, wiehaben wir uns damals klein gemacht.“ <strong>Sie</strong> magsich nicht mehr erinnern „an diese Barbarei – undan die ewige Angst“. Daran, wie die Gestapo sieeinbestellt hat. <strong>Sie</strong> habe sich von ihrem Verlobtenzu trennen, sagt der Gestapo-Mann. Falls sie mitihm „in wilder Ehe“ lebe, hätten beide mit „staatspolizeilichenMaßnahmen“ zu rechnen. Es bleibtnicht das einzige Mal, dass die junge Frau zuHitlers gefährlichen Spitzeln muss.Auch Martin haben sie im Visier. Sein Vaterkommt eines Tages aufgeregt in die Firma, in derder junge Mann als Versicherungskaufmannarbeitet. „Du musst damit rechnen, dass sie dichholen“, warnt er seinen Sohn. Die Gestapo hatMartins Zimmer im Elternhaus durchwühlt. ZweiMänner, einer in Zivil, der andere in Uniform. DerZivile liest dem Uniformierten aufgebracht ausMartins Tagebuch vor. Doch der wiegelt ab. „Ichhatte damals wohl großes Glück“, sagt MartinHauser heute.Anfang 1942 verlieren sich Ruth und Martinaus den Augen. „Ich habe mich von Ruthgetrennt“, gibt der 90-Jährige zu. „Ich hatteAngst.“ Sein Chef, der ihm auch ein väterlicherFreund ist, hat dem jungen Martin damals zurTrennung geraten. „Junge“, sagt er, „du bringstdein Mädchen ins Konzentrationslager und dichin die Strafkompanie.“Ruth ist allein. Martin muss in Hitlers Kriegziehen. Erst nach Frankreich, später wird seineKompanie nach Russland verlegt. Er wird nichtzurückkommen, auch wenn er diesen Krieg überlebt.Jedenfalls nicht zu ihr. Ruth leidet. Und siehat Angst. Ihr Bruder wird als „wehrunwürdig“aus der Wehrmacht entlassen, er muss für dieberüchtigte „Organisation Todt“ arbeiten. <strong>Sie</strong>selbst darf längst nicht mehr als Buchhändlerintätig sein. In einem Leipziger Rüstungsunternehmenfindet Ruth eine neue Stelle.Ihr neuer Chef stellt viele „Mischlinge“ ein.Heute nennt Ruth Mählmann ihn einen „wunderbarenMenschen“, einen „Schindler im Kleinen“.Er kommt bei einem der letzten Bombenangriffeauf Leipzig 1945 ums Leben. „Nach dem Kriegmachen sie Seife aus uns“, haben Ruth und ihrejüdischen Kollegen damals gesagt. Dann ist derKrieg tatsächlich vorbei, Hitler hat ihn verloren.Ruth und ihre Familie haben überlebt. „Ich hattedamals großes Glück“, sagt die alte Frau. Aberihre Stimme klingt traurig.Als Martin 1945 aus dem Krieg heimkehrt,findet er eine Anstellung in Düsseldorf. Er lerntseine spätere Frau kennen. 1950 heiraten die beiden.Nein, an Ruth hat er in diesen Nachkriegsjahrennicht oft gedacht. „Man hatte andereSorgen“, sagt Martin Hauser, der heute Witwer ist.„Zum Beispiel, wo es Lebensmittel gibt.“1958 versetzt seine Firma ihn nach Bremen,ruhigere Zeiten brechen an. Zeiten, in denen ihmseine ehemalige Verlobte immer mal <strong>wieder</strong> inden Sinn kommt, und er hat ein schlechtesGewissen. Doch da ist er ja längst verheiratet undhat zwei Töchter.Auch Ruth hat Martin nach dem Krieg nichtgesucht. „Ich war doch froh, als ich die Trennungüberwunden hatte“, sagt sie. 1948 heiratet auchsie einen anderen Mann, er stirbt 1965. Ruth kehrt9899


Die „Nürnberger Gesetze“NSDAP goss Rassenwahn in Paragrafenin ihren Beruf zurück, später arbeitet sie imLektorat eines Verlages.„Der kleine Rosengarten“ hat RuthMählmann durch all die Jahrzehnte begleitet.Dabei gehört ihr das Büchlein mit Versen vonHermann Löns gar nicht, es ist nur geliehen. 1941muss Martin es ihr wohl gegeben haben, kurzbevor sie ihre Verlobung lösten. Vor wenigenMonaten hat sich die alte Frau doch noch vondem Band getrennt. Leichten Herzens. Nachmehr als 60 Jahren konnte sie ihn seinemEigentümer zurückgeben.Martin Hauser in Bremen erinnert sich sofort,als er im Sommer 2002 einen kurzen Briefbekommt. „Lieber Martin“, steht darin, „Freunde,denen ich aus meinem langen Leben berichtete,boten sich an, nach Deiner Adresse zu forschen,und hatten Erfolg. So schicke ich nun diesenBrief auf die Reise und frage an, ob nochInteresse an dem Bändchen ,Der kleineRosengarten‘ besteht – und wie mehr als ein halbesJahrhundert an Dir vorüber gegangen ist.Grüße aus Leipzig von Ruth Mählmann, geb.Jellinek.“Silvester 2003 haben Martin Hauser undRuth Mählmann sich zum ersten Mal <strong>wieder</strong>gesehen. Mit einem mulmigen Gefühl ist Martinin Leipzig angekommen. „Wir wussten ja nicht,ob wir uns überhaupt noch sympathisch sind“,Aus der Traum voneinem gemeinsamenLeben: Die Nazisverboten Ruth undMartin die Ehe.lächelt der Bremer. Aber das Eis ist schnellgebrochen. Noch am Bahnhof kauft er Ruth einenStrauß Rosen. Zu seinem Geburtstag soll sie ihnbesuchen. Martin schaut Ruth fragend an. Diewill „erst einmal eine ordentliche Einladungbekommen“. Die beiden necken sich. Fast wie einaltes und glückliches Ehepaar. Vielleicht wäredas aus ihnen geworden, wenn . . . Resolutwischt die sonst so sanfte Frau solche Gedankenweg. „So darf man nicht denken.“Das alles sei doch gar nicht der Rede wert,meint Ruth Mählmann. Ihr Leben, das sie „ganzgewöhnlich“ findet. Ein Leben, das ein andereshätte sein können. Auch wenn die bescheideneFrau in ihrer kleinen Wohnung in einem dieservielen Mietblocks in Dölitz darüber nicht nachdenkenwill. Vergessen und vorbei. „Aber schön“,sagt sie, „schön ist es doch“, dass sie ihren Martinnach all den Jahren <strong>wieder</strong>gefunden hat.Christine Kröger* Namen geändert.Der Nürnberger Parteitag der NSDAP verabschiedeteam 15. September 1935 das „Blutschutzgesetz“und das „Reichsbürgergesetz“. Das„Blutschutzgesetz“ verbot Eheschließungen zwischenNicht-Juden und Juden sowie außerehelichenGeschlechtsverkehr zwischen ihnen.Zuwiderhandlungen wurden mit Gefängnis oderZuchthaus bestraft.Das „Blutschutzgesetz“ als Ausfluss dernationalsozialistischen Rassenkunde teilte Menschenin Angehörige „höher- und minderwertigerRassen“ ein. Das Blut galt als Träger dieser„Rasseneigenschaften“.Das „Reichsbürgergesetz“ machte alledeutschen Staatsangehörigen jüdischen Glaubensoder mit Großeltern jüdischen Glaubens zuMenschen mit eingeschränkten Rechten. Als„Volljude“ galt, wer mindestens drei jüdischeGroßeltern hatte. „Halbjude“ oder „Mischlingersten Grades“ war, wer von zwei jüdischenGroßeltern abstammte. Zum „Vierteljuden“oder „Mischling zweiten Grades“ machte das GesetzMenschen mit einem jüdischen Großelternteil.Zum „Reichsbürgergesetz“ ergingen insgesamt13 Durchführungsverordnungen sowie vieleErlasse und Bestimmungen. Bis ins Einzelne undin den privaten Bereich hinein wurden ArbeitsundLebensbedingungen der jüdischen Bürgerund ihrer Abkömmlinge eingeschränkt.Christine KrögerDunkle Zeiten: In Nürnberg hielt HitlersNSDAP von 1933 bis 1938 alljährlichihren „Reichsparteitag“ ab. 1935beschloss der Parteitag die rassistischen„Nürnberger Gesetze“.100101


Warum Erinnerung notwendig istEin Gastbeitrag von Hans KoschnickGelegentlich sagen mir Menschen, man solledie Zeit zwischen 1933 und 1945 doch endlichruhen lassen oder den Historikern überlassen. <strong>Sie</strong>seien es leid, sich schuldig zu fühlen – für Taten,die Angehörige früherer Generationen begangenhaben. Je mehr ich aber merke, dass in Teilen derdeutschen Bevölkerung Einstellungen undGedanken an Kraft gewinnen, die Fremdes oderjüdische Mitbürger ablehnen, je öfter ich sehenmuss, dass Behinderte oder Menschen, die wohnungslosgeworden sind, im einen oder anderenTeil unseres Landes nicht mehr die Chancehaben, als Mitbürger akzeptiert und respektiert zuwerden, umso sicherer bin ich, dass dieErinnerung an die Geschehnisse jener Zeit nichtdem Verdrängen oder Vergessen anheim fallendürfen.Seit einiger Zeit etabliert sich die NPDhöchst erfolgreich in einzelnen Regionen derBundesrepublik. Das Wahlergebnis in Sachsenzeigt dies besonders deutlich. Der hohe Anteil,den die Partei unter den Erst- und Jungwählernerzielt hat, zeigt, dass es der NPD offenbar regionalgelungen ist, sich die kulturelle Dominanz inSchulen, Jugendverbänden und Jugendarbeit zusichern.Es wäre falsch zu glauben, wir hätten es miteinem auf Ostdeutschland oder auf abweichendes,jugendliches Verhalten begrenzten Problemzu tun. Nach einer Umfrage der ForschungsgruppeWahlen können sich bundesweit sechsProzent aller Wahlberechtigten vorstellen, einBündnis aus NPD und DVU zu wählen –damit säßen Extremisten im Bundestag.Der erstarkte Rechtsextremismus ist eineWarnung für alle Bürger der Bundesrepublik.Und genau wie öffentlich geführte Diskurse, dielatentem Alltagsrassismus und der Ausgrenzungvon Minderheiten Vorschub leisten, ist eineHaltung, die Meinungsfreiheit und Toleranz mitGleichgültigkeit gleichsetzt, Wasser auf dieMühlen rechter Menschenfänger. Der Rechtsextremismusbezieht einen großen Teil seinerKraft aus der stillen Zustimmung weiter Teile derBevölkerung und aus der Gleichgültigkeit andererTeile der Bevölkerung. Wo der Rechtsextremismusstark ist, ist die Demokratie schwach.Es erfordert sehr viel Aufwand, hier Überzeugungsarbeitzu leisten. Denn in Deutschland gibtes Regionen, in denen demokratische Werte kaumverankert zu sein scheinen. Stattdessen ist inTeilen der Gesellschaft ein „ideologischerFlickenteppich“ erkennbar. Er setzt sich zusammenaus Fremdenangst, völkischem Denken,Der Wahnsinn kam in Massen:die Wehrmacht unter dem Hakenkreuz.<strong>Sie</strong> waren die letzte „Truppe“, diedie Nazis um Bremen kämpfen ließen:Kinder, denen die Angst ins Gesichtgeschrieben steht.Autoritarismus, allgemeinen Ungleichwertigkeitsvorstellungenund einer stark ausgeprägtenNeidkultur. Ökonomische Perspektivlosigkeit,hohe Arbeitslosigkeit, starke Landflucht beziehungsweiseWegzug der mobilen, jungen undbesser Qualifizierten, Schulschließungen, Beschränkungder Jugendarbeit und die individuelleher negativ bewertete Erfahrung der Nachwendezeitergeben eine Gemengelage, die dieseMenschen der Demokratie gegenüber skeptischmacht.Wie gut der organisierte Rechtsextremismusmit populistischer Agitation Akzeptanz undSympathie gewinnt, ist an der inzwischen überzwei Generationen stabilisierten rechten Jugendkulturzu erkennen. <strong>Sie</strong> ist geprägt von einer sehrmodern und wirtschaftlich organisierten rechten„Kulturindustrie“, die über den Vertrieb undVerkauf von Magazinen, Kleidung, Tonträgernund vor allem durch die Veranstaltung vonKonzerten Ideologie liefert. Das verbindendeElement ist eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit;Hass auf Ausländer und Andersdenkende isthier normal; Gewalt gilt als attraktive „Lösung“.Die Jugendlichen verstehen sich häufig als völkischeAvantgarde, die etwas ändert.102103


Die Vereinigung „Gegen Vergessen – FürDemokratie“, deren Vorsitzender ich lange warund mit der ich nach wie vor eng verbunden bin,bemüht sich seit mehr als zehn Jahren intensiv,dem Rechtsextremismus entschlossenen Widerstandentgegenzusetzen. Ein wesentlicher Teil derArbeit besteht darin, die Geschehnisse der nationalsozialistischenVergangenheit nicht in Vergessenheitgeraten zu lassen. Gerade angesichts deroben beschriebenen Situation ist die Aufmerksamkeitdafür zu schärfen, wie es zu den unvorstellbarenVerbrechen des Nationalsozialismuskommen konnte. Es gilt, aus Fehlern undVersäumnissen jener Zeit zu lernen und nachfolgendenGenerationen zu zeigen, wie verführbarund schwach der Mensch sein kann.Die Weimarer Republik ist 1933 nicht untergegangen,weil die NSDAP so stark war, sondernweil nicht genügend Menschen in unserem Landefür die Demokratie, die Verfassung, die Republikund die Menschenrechte eingetreten sind. Dahermuss man sich auch heute noch erinnern – unddarüber nachdenken, was heute und morgen undübermorgen zu tun ist, damit sich ein solchesstaatsbürgerliches Versagen nicht <strong>wieder</strong>holt. Esgibt verschiedene Wege, diese Aufgabe zu bewältigen.Ein Weg ist, die Menschen daran zu erinnern,was damals geschehen ist.Es geht uns nicht darum, Betroffenheit zuerzwingen oder Schuld zuzuweisen, sondern esgeht um Erinnerung im Sinne Lessings:Erinnerung soll nicht das Gedächtnis belasten,sondern den Verstand erleuchten. Inzwischensind viele dieser Ereignisse aufgearbeitet.Dennoch: Wir müssen weiter mit aller Kraft inSchule, Gesellschaft und Staat Gewissensschärfungbetreiben, Erinnerung lebendig halten – undZiele für morgen definieren, die auf ein anderesmitmenschliches Zusammenleben gründen.Mit der Erinnerung können wir der jungenGeneration zeigen, was es bedeutet, wennMenschen nicht mehr geachtet oder gar massenhaftermordet werden. Und sie kann begreifen:Wenn das damals möglich war, könnte es <strong>wieder</strong>geschehen. Denn nichts auf der Erde istun<strong>wieder</strong>holbar.Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieAuseinandersetzung mit dem Nationalsozialismusund dem Holocaust in Schule und außerschulischerBildung keineswegs „automatisch“zur Einsicht führt, rechtsextreme, fremdenfeindliche,rassistische und antisemitische Haltungenund Einstellungen abzulehnen. Denn jedeAuseinandersetzung mit Geschichte findet aufder Grundlage der eigenen politischen und moralischenOrientierungen statt. Diese können durchhistorische Wissensvermittlung ebenso wenigdirekt beeinflusst werden wie durch gegenwartsbezogeneInformationen und Argumente. Hinzukommt, dass der Rechtsextremismus in seinerjugendkulturellen Ausprägung in erster Linie eineAuseinandersetzung mit aktuellen Lebensbedingungenist – auch wenn in Symbolik und Spracheauf den historischen Nationalsozialismus zurückgegriffenwird.Die Erinnerungsarbeit in der von mirbeschriebenen Tradition stößt hier an ihre Grenzen.Dennoch kann man auch Jugendliche, dieAngebote der historisch-politischen Bildungablehnen, pädagogisch erreichen. Es kommt daraufan, wie man Kenntnisse über die nationalsozialistischeVergangenheit vermittelt. ManchenJugendlichen fehlt ein entwickeltes moralischesund historisches Bewusstsein. Ein Appell an obenerwähnte politische, soziale und ethische Normenverfehlt diese Zielgruppe häufig und erstarrt zukontraproduktiver „Betroffenheitspädagogik“.Gerade wer Respekt und Achtung gegenüber denOpfern fordert, sollte an die konkrete ErfahrungsundLebenswelt der Jugendlichen anknüpfen.Die Jugendlichen müssen durch entdeckendesund erforschendes Lernen die Mechanismenerkennen, die Menschen zu überzeugtenNationalsozialisten oder zu Mitläufern gemachthaben. Eine alltagsgeschichtliche Sicht auf dieEreignisse hilft Jugendlichen mehr als Daten undFakten aus Geschichtsbüchern. Ihnen muss klarwerden, dass beispielsweise die Verführbarkeitder Masse und die Neigung zu unreflektierterAnerkennung von Symbolen nichts ist, was es inder Vergangenheit einmal gab, sondern dass derMensch in seiner Unvollkommenheit jederzeit<strong>wieder</strong> verführbar ist. Ein Vergleich der Wirkungvon Lichteffekten bei Rockkonzerten mit demLichtdom von Albert Speer ist ein methodischesBeispiel unter vielen.Die Kontrastierung spezifischer Erfahrungenmit historischem Wissen, ein kontinuierliches,zuverlässiges Gesprächsangebot und die uneingeschränkteBereitschaft zum offenen Dialog kannJugendliche zu einer verinnerlichten und handlungsleitendenErkenntnis führen. Dabei darfman die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismusallerdings nicht als abschließbarenProzess verstehen. Erinnerungsarbeit bedeutetnicht nur Vergangenheitsbewältigung, sonderndie mühsame Entwicklung eines eigenständigenVerhältnisses zur Geschichte.Wir, die Mitglieder der Vereinigung „GegenVergessen – Für Demokratie“, wollen dazu beitragen.Der Autor: Bremens ehemaliger BürgermeisterHans Koschnick war bis November 2004Vorsitzender der Vereinigung „Gegen Vergessen –für Demokratie“. Informationen zu der Vereinigunggibt es unter der Adresse: Gegen Vergessen– Für Demokratie e.V., Stauffenbergstraße 13–14,10785 Berlin, oder im Internet www.gegen-vergessen.de.Am Ende des Nazi-Wahnsinns: Bremenkaputt – wohinder kleine Jungeauch blickt.104105


Diese Publikation haben unterstützt:Bremische BürgerschaftLandeszentrale für politische Bildung, BremenPAPP Werbeagentur, BremenBerlin-Druck, AchimBuchbinderei Düdden & Runge, BremenImpressum:Herausgeber und Verlag: Bremer Tageszeitungen AGTexte: Christine Kröger, Anke Landwehr, Hans-Günther Thiele, Jürgen Hinrichs, Andrea Röpke,André Aden, Lena Wendte, Joachim WoockFotos: Recherche-Nord, Bernd Karwasz, agentur attenzione, Andrea Röpke, Lena Wendte,Wiebke Stegmann, Anke Landwehr, Jürgen Hinrichs, Christine Kröger, Hans-Henning Hasselberg,Jochen Stoss, Archiv der Bremer Tageszeitungen AG, Otto Borchers, Eberhard Jäckh, Hinrich Meyer,Rosemarie Rospek, Aschenbeck & Holstein, Burda Druck und Verlag, Ullstein Archiv, Tele BunkRedaktion: Christine KrögerBildredaktion: André Aden, Christine KrögerGestaltung: Bremer Tageszeitungen AG, PAPP Werbeagentur GmbHDruck: BerlinDruck GmbH & Co.KGWeiterverarbeitung: Buchbinderei Düdden & Runge GmbHBremen, im April 2005 · ISBN 3-938795-00-X · Schutzgebühr 2,50 Euro106 107


Geschichte verjährt nicht: Es geht nicht um Schuld, es geht um Verantwortung.


ISBN 3-938795-00-XSag nein!

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