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Sie marschieren wieder. . .

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Überleben wie durch ein WunderDie Familie Abraham fand in dem kleinen Dorf Bockel Schutz vor der JudenverfolgungDas Gut der von Hammersteins in Bockel.Der Herr Abraham hat gerne Geige gespielt,daran können sich die Nachbarn noch erinnern.Auch dass er immer ein wenig verängstigt wirkte,aber das ist kein Wunder, denn August EphraimAbraham musste ständig fürchten, abgeholt zuwerden.Er war Jude von Herkunft und lebte mit seinerFamilie während der letzten beiden Nazi-Jahre versteckt in einem kleinen Dorf beiRotenburg. Alle dort wussten von ihm, und keinerhat ihn verraten. Wie durch ein Wunder habendie Abrahams überlebt. Heute erst wird ihreGeschichte bekannt: ein wohl einzigartiger Fallvon Mut und Menschlichkeit im nationalsozialistischenDeutschland.Bockel – das ist das Gut der Familie vonHammerstein und ein paar Häuser drumherum.Unmöglich, hier irgendetwas vor den Nachbarnverborgen zu halten. Und es wurde auch gar nichterst versucht. Ein falscher Name für dieBehörden, sonst aber führten die Abrahams einLeben wie alle anderen in dem 50-Seelen-Dorf.„Wir haben sie aufgenommen wie Kriegsflüchtlinge“,erinnert sich Hildur von Marschall, einegeborene von Hammerstein. Den damaligenDecknamen der Familie kennt sie bis heute nicht.„Für uns hießen sie Abraham.“August, seine Frau Marie, die Kinder Anni,Karl und Hedwig und die Pflegetochter Hannelore– sie gehörten in Bockel einfach dazu.Nichts, was den Nachbarn von Haus Nr. 6 a, indem die Abrahams untergebracht worden waren,ungewöhnlich vorgekommen wäre. ElfriedeHelmke zum Beispiel ist mit der kleinen Hedwigjeden Tag den langen Weg zur Schule nachGyhum gelaufen. <strong>Sie</strong> haben zusammen gespielt,Streiche ausgeheckt und alles das getan, wasKinder eben so tun. „Großartig Gedankengemacht haben wir uns damals nicht“, erzählt die67-Jährige. Das Klima im Dorf sei sehr familiärgewesen und waschechte Nazis – „nein, die gabes bei uns nicht, höchstens mal einenBauernführer“, sagt sie.Das war ungewöhnlich für die sonst so tiefbrauneGegend zwischen Rotenburg und Zeven.Lange vor der Machtübernahme im Reich hattedie nationalsozialistische Partei dort großeErfolge erzielt. Bei der letzten Reichstagswahl imMärz 1933 lag die Zustimmung in manchenDörfern bei über 80 Prozent. Damit einher gingein ausgeprägter und sofort auch militanterAntisemitismus. Die Juden wurden angefeindet,ihre Geschäfte boykottiert, und wer sich nichtfügte, musste sehr früh schon mit Schlimmeremrechnen. Einen ersten Höhepunkt erreichte dieGewalt in der so genannten „Reichskristallnacht“am 9. und 10. November 1938. Am Ende standfür die Juden in Zeven und Umgebung Vertreibungund Mord.Die Abrahams waren 1944 aus Bremen nachBockel gekommen, geflüchtet vor den Schergender Nazis. August Abraham hatte zu der Zeitschon keine Arbeit mehr. Er musste seine Stelleals Schlosser in einem Betrieb in der BremerNeustadt aufgeben, obwohl er eigentlich nochgebraucht wurde. „Ich kann dich nicht mehrschützen“, hatte sein Chef ihm gesagt.Es wurde dramatisch eng damals. Die Muttervon August Abraham, seine drei Brüder und eineSchwester waren bereits deportiert worden. <strong>Sie</strong>gehörten zum Transport vom 18. November 1941,als 440 jüdische Bürger aus Bremen von denNazis ins Vernichtungslager nach Minsk verschlepptwurden. Weil August Abraham mit einerFrau verheiratet war, die keine jüdischen Wurzelnhatte, blieb er von dieser Reise in den sicherenTod vorerst verschont. Doch das konnte sich täglichändern, und tatsächlich sind später auch solcheJuden deportiert worden, die einen, wie dieNazis es nannten, arischen Ehepartner hatten.Darunter drei weitere Schwestern von AugustAbraham, die im Februar 1945 ins Konzentrationslagernach Theresienstadt kamen, dort abergerade noch rechtzeitig befreit werden konnten.Ein Feuer in dem Haus, das die Abrahams imBremer Stephaniviertel bewohnten, und der Todeines Menschen brachten der Familie die entscheidendeChance. Das Opfer des Brandes, einallein stehender Schneidermeister, der in derDachkammer gelebt hatte, wurde gegenüber denBehörden als August Abraham ausgegeben. DieGestapo ließ sich hinters Licht führen und strichAbraham von ihrer Liste. Er musste verschwindenund setzte sich mit seiner Familie nach Bockel ab,weil er dort <strong>wieder</strong> auf die Unterstützung seinesehemaligen Chefs bauen konnte, der in der Näheeinen zweiten Betrieb unterhielt.Doch wie vor den Behörden unentdeckt bleiben?Das ging nur mit Hilfe der Dorfbewohner.Die Familie von Hammerstein nahm dieAbrahams unter ihre Fittiche, und die anderenBockeler zogen wie selbstverständlich mit. DerArbeitgeber von August Abraham ging dasWagnis ein, ihn im benachbarten Mulmshornunter falschem Namen weiter zu beschäftigen.Später konnte sich sein Schützling revanchieren.Der Unternehmer wurde nach Kriegsende verhaftet,weil er Rüstungsgüter produziert hatte unddazu auch Mitglied der nationalsozialistischenPartei war. Abraham legte ein gutes Wort für ihnein und erreichte die Freilassung.Gerda Eckhoff, noch jemand aus Bockel, diesich erinnern kann, hat das Schlusskapitel diesertragischen und zugleich glücklichen GeschichteWiedersehen in Bockel:Sara-Ruth Schumann, Gerda Eckhoff,Hildur von Marschall und Elfriede Henke(von rechts).aufgeschrieben: „Das Kriegsende erlebte dieFamilie Abraham im Keller des Hauses der WitweGesche Eichholz in Bockel. Als englischeSoldaten den Keller nach deutschen Männerndurchsuchten, bekannte sich Herr Abraham zumJudentum.“August Abraham kann seine Geschichte unddie seiner Familie nicht mehr erzählen. Er ist 1969im Alter von 65 Jahren gestorben. Seine FrauMarie hat bis 1985 gelebt und ist 82 Jahre altgeworden. Sohn Karl starb mit nur 14 Jahren imFebruar 1945 nach einem Tieffliegerangriff. Anni,die älteste Tochter, und Hannelore, die Pflegetochter,leben heute in Bremen. Die Mutter vonHannelore und ihr Vater, ein Bruder von AugustAbraham, sind im Vernichtungslager in Minskermordet worden. Hedwig Abraham schließlich,die 1938 geborene jüngste Tochter, führt heuteden Namen Sara-Ruth Schumann und istVorsitzende der Jüdischen Gemeinde inOldenburg. Als ihr vor drei Jahren das Bundesverdienstkreuzverliehen wurde, kam dieGeschichte mit Bockel heraus.Viele Details lassen sich nach sechsJahrzehnten nur noch vage rekonstruieren, weil esso gut wie keine Aufzeichnungen gibt. Doch dasind die Töchter, die sich erinnern, und die dreiFrauen aus Bockel, die Kontakt zu den Abrahamshatten. Sara-Ruth Schumann hat diese Frauenbesucht. Gemeinsames Kaffeetrinken auf GutHammerstein. Es wurde viel gelacht, als nach undnach die Kindheitserinnerungen hochkamen. Fastkonnte man meinen, sie alle hätten eine unbeschwerteZeit gehabt, auch Sara-Ruth. Nur kurzzwischendurch ein paar stillere Momente, wenndas Gespräch dann doch mal auf Verfolgung undMord kam oder auf den Antisemitismus, der fürdie Abrahams nach den Schilderungen der jüngstenTochter mit der Befreiung vom Nationalsozialismusnoch längst nicht ausgestanden war.Dass die heute 67-jährige Frau überhauptnoch einmal nach Bockel zurückgekommen ist,war ein schwerer Schritt. Jahre vorher hatte sie esschon einmal versucht, musste den Besuch aberabbrechen, weil die Erinnerungen sie überwältigthatten. Sara-Ruth Schumann wollte, wie sie sagt,in Gegenwart und Zukunft leben und sich nichtmit den Schrecken der Vergangenheit beschweren.Jetzt war sie aber doch froh, ihre Spielkameradinnenvon damals <strong>wieder</strong> getroffen zu haben.Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.Jürgen Hinrichs9697

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