Die Vereinigung „Gegen Vergessen – FürDemokratie“, deren Vorsitzender ich lange warund mit der ich nach wie vor eng verbunden bin,bemüht sich seit mehr als zehn Jahren intensiv,dem Rechtsextremismus entschlossenen Widerstandentgegenzusetzen. Ein wesentlicher Teil derArbeit besteht darin, die Geschehnisse der nationalsozialistischenVergangenheit nicht in Vergessenheitgeraten zu lassen. Gerade angesichts deroben beschriebenen Situation ist die Aufmerksamkeitdafür zu schärfen, wie es zu den unvorstellbarenVerbrechen des Nationalsozialismuskommen konnte. Es gilt, aus Fehlern undVersäumnissen jener Zeit zu lernen und nachfolgendenGenerationen zu zeigen, wie verführbarund schwach der Mensch sein kann.Die Weimarer Republik ist 1933 nicht untergegangen,weil die NSDAP so stark war, sondernweil nicht genügend Menschen in unserem Landefür die Demokratie, die Verfassung, die Republikund die Menschenrechte eingetreten sind. Dahermuss man sich auch heute noch erinnern – unddarüber nachdenken, was heute und morgen undübermorgen zu tun ist, damit sich ein solchesstaatsbürgerliches Versagen nicht <strong>wieder</strong>holt. Esgibt verschiedene Wege, diese Aufgabe zu bewältigen.Ein Weg ist, die Menschen daran zu erinnern,was damals geschehen ist.Es geht uns nicht darum, Betroffenheit zuerzwingen oder Schuld zuzuweisen, sondern esgeht um Erinnerung im Sinne Lessings:Erinnerung soll nicht das Gedächtnis belasten,sondern den Verstand erleuchten. Inzwischensind viele dieser Ereignisse aufgearbeitet.Dennoch: Wir müssen weiter mit aller Kraft inSchule, Gesellschaft und Staat Gewissensschärfungbetreiben, Erinnerung lebendig halten – undZiele für morgen definieren, die auf ein anderesmitmenschliches Zusammenleben gründen.Mit der Erinnerung können wir der jungenGeneration zeigen, was es bedeutet, wennMenschen nicht mehr geachtet oder gar massenhaftermordet werden. Und sie kann begreifen:Wenn das damals möglich war, könnte es <strong>wieder</strong>geschehen. Denn nichts auf der Erde istun<strong>wieder</strong>holbar.Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieAuseinandersetzung mit dem Nationalsozialismusund dem Holocaust in Schule und außerschulischerBildung keineswegs „automatisch“zur Einsicht führt, rechtsextreme, fremdenfeindliche,rassistische und antisemitische Haltungenund Einstellungen abzulehnen. Denn jedeAuseinandersetzung mit Geschichte findet aufder Grundlage der eigenen politischen und moralischenOrientierungen statt. Diese können durchhistorische Wissensvermittlung ebenso wenigdirekt beeinflusst werden wie durch gegenwartsbezogeneInformationen und Argumente. Hinzukommt, dass der Rechtsextremismus in seinerjugendkulturellen Ausprägung in erster Linie eineAuseinandersetzung mit aktuellen Lebensbedingungenist – auch wenn in Symbolik und Spracheauf den historischen Nationalsozialismus zurückgegriffenwird.Die Erinnerungsarbeit in der von mirbeschriebenen Tradition stößt hier an ihre Grenzen.Dennoch kann man auch Jugendliche, dieAngebote der historisch-politischen Bildungablehnen, pädagogisch erreichen. Es kommt daraufan, wie man Kenntnisse über die nationalsozialistischeVergangenheit vermittelt. ManchenJugendlichen fehlt ein entwickeltes moralischesund historisches Bewusstsein. Ein Appell an obenerwähnte politische, soziale und ethische Normenverfehlt diese Zielgruppe häufig und erstarrt zukontraproduktiver „Betroffenheitspädagogik“.Gerade wer Respekt und Achtung gegenüber denOpfern fordert, sollte an die konkrete ErfahrungsundLebenswelt der Jugendlichen anknüpfen.Die Jugendlichen müssen durch entdeckendesund erforschendes Lernen die Mechanismenerkennen, die Menschen zu überzeugtenNationalsozialisten oder zu Mitläufern gemachthaben. Eine alltagsgeschichtliche Sicht auf dieEreignisse hilft Jugendlichen mehr als Daten undFakten aus Geschichtsbüchern. Ihnen muss klarwerden, dass beispielsweise die Verführbarkeitder Masse und die Neigung zu unreflektierterAnerkennung von Symbolen nichts ist, was es inder Vergangenheit einmal gab, sondern dass derMensch in seiner Unvollkommenheit jederzeit<strong>wieder</strong> verführbar ist. Ein Vergleich der Wirkungvon Lichteffekten bei Rockkonzerten mit demLichtdom von Albert Speer ist ein methodischesBeispiel unter vielen.Die Kontrastierung spezifischer Erfahrungenmit historischem Wissen, ein kontinuierliches,zuverlässiges Gesprächsangebot und die uneingeschränkteBereitschaft zum offenen Dialog kannJugendliche zu einer verinnerlichten und handlungsleitendenErkenntnis führen. Dabei darfman die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismusallerdings nicht als abschließbarenProzess verstehen. Erinnerungsarbeit bedeutetnicht nur Vergangenheitsbewältigung, sonderndie mühsame Entwicklung eines eigenständigenVerhältnisses zur Geschichte.Wir, die Mitglieder der Vereinigung „GegenVergessen – Für Demokratie“, wollen dazu beitragen.Der Autor: Bremens ehemaliger BürgermeisterHans Koschnick war bis November 2004Vorsitzender der Vereinigung „Gegen Vergessen –für Demokratie“. Informationen zu der Vereinigunggibt es unter der Adresse: Gegen Vergessen– Für Demokratie e.V., Stauffenbergstraße 13–14,10785 Berlin, oder im Internet www.gegen-vergessen.de.Am Ende des Nazi-Wahnsinns: Bremenkaputt – wohinder kleine Jungeauch blickt.104105
Diese Publikation haben unterstützt:Bremische BürgerschaftLandeszentrale für politische Bildung, BremenPAPP Werbeagentur, BremenBerlin-Druck, AchimBuchbinderei Düdden & Runge, BremenImpressum:Herausgeber und Verlag: Bremer Tageszeitungen AGTexte: Christine Kröger, Anke Landwehr, Hans-Günther Thiele, Jürgen Hinrichs, Andrea Röpke,André Aden, Lena Wendte, Joachim WoockFotos: Recherche-Nord, Bernd Karwasz, agentur attenzione, Andrea Röpke, Lena Wendte,Wiebke Stegmann, Anke Landwehr, Jürgen Hinrichs, Christine Kröger, Hans-Henning Hasselberg,Jochen Stoss, Archiv der Bremer Tageszeitungen AG, Otto Borchers, Eberhard Jäckh, Hinrich Meyer,Rosemarie Rospek, Aschenbeck & Holstein, Burda Druck und Verlag, Ullstein Archiv, Tele BunkRedaktion: Christine KrögerBildredaktion: André Aden, Christine KrögerGestaltung: Bremer Tageszeitungen AG, PAPP Werbeagentur GmbHDruck: BerlinDruck GmbH & Co.KGWeiterverarbeitung: Buchbinderei Düdden & Runge GmbHBremen, im April 2005 · ISBN 3-938795-00-X · Schutzgebühr 2,50 Euro106 107