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Sie marschieren wieder. . .

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Das gestohlene LebenWie Hitler Ruth und Martin getrennt hat – mehr als 60 Jahre langMartin hält Ruths Hand, die ganze „Aida“lang. Das Paar im Publikum der Leipziger Oper,es ist jung und sehr verliebt. Am 11. April 1936ist das gewesen, so hat Ruth es sich in ihrReclam-Heftchen mit den „Aida“-Texten notiert.Am 9. April 2004 waren die beiden <strong>wieder</strong> in derLeipziger Oper und haben die „Aida“ gehört.Dazwischen liegen 68 Jahre, ein ganzesMenschenleben, beinahe jedenfalls. Aber dashaben die beiden nicht gemeinsam gelebt. AdolfHitler hat ihren Traum von einer gemeinsamenZukunft zerstört.„Die von Ihnen erbetene Genehmigung zurEheschließung mit dem deutschblütigenStaatsangehörigen Martin Hauser* wird versagt.Die Entscheidung ist endgültig.“ Das Schreibendes Kreishauptmannes zu Leipzig vom 11. Mai1938 traf Ruth und Martin wie ein Schlag. DieAugen der alten Frau blicken noch heute traurig,wenn sie in ihrer kleinen Mietwohnung imLeipziger Stadtteil Dölitz von diesen Tagenerzählt. 91 Jahre ist Ruth Mählmann*, geboreneJellinek*, jetzt alt. Martin Hauser, der seit 1958 inBremen lebt, hat seinen 90. Geburtstag im August2004 gefeiert.Die junge Ruth und ihr Verlobter Martin wollendie Entscheidung des „Kreishauptmannes zuLeipzig“ nicht akzeptieren. <strong>Sie</strong> reichen Gnadengesucheein und zitieren Zeugen. Die sagen aus,wie rechtschaffen Ruth ist. Und – wie wenigjüdisch. Denn 1935 haben die NürnbergerRassegesetze die Buchhändlerin zum „Mischlingersten Grades“ erklärt:Ruths Mutter war Jüdin. Tochter einerFamilie aus Budapest, die 1890 nach Leipzig zog.Akribisch recherchiert Ruth ihre Familiengeschichte,um die rassistische Wissensgier derNazi-Behörden zu stillen. <strong>Sie</strong> betont, dass ihreMutter starb, als sie, Ruth, erst sechs Jahre altwar. Dass ihre evangelischlutherische Stiefmuttersie christlich erzogen hat. Ruth liebt ihren Martinund will mit ihm eine Familie gründen.Ruth und Martin im Sommer 1938:<strong>Sie</strong> waren verliebt, sie hatten sich verlobt,sie wollten heiraten. <strong>Sie</strong> durften nicht.Ruth und Martin heute: Nach mehr als60 Jahren hat das Paar sich <strong>wieder</strong>gefunden.Die alte Frau streicht über das Klavier, das ander Wand in ihrem Wohnzimmer steht. Auchwenn es sich schon lange nicht mehr stimmenlässt, sie hat sich nie von ihm getrennt. EinAndenken an ihre Mutter, die sich 1919 dasLeben genommen hat. „Keiner weiß, warum“,sagt Ruth Mählmann. Neben dem Klavier hängtein altes Bild. Es zeigt die „Frühlingstraße“ inGarmisch. Auch dieses Bild ist schon viele Jahrealt. Ihr Verlobter hat es ihr 1935 zu ihrem22. Geburtstag geschenkt.Die junge Ruth muss ihrem „Ehegenehmigungsantrag“ein Foto von sich imBadeanzug beilegen. Die Nazis in ihremRassenwahn wollen genau nachsehen, ob dieseFrau, die einen „Deutschblütigen“ heiraten will,„irgendwie jüdisch aussieht“. Der junge Martinschreibt an den Reichsinnenminister: „Ist derNationalsozialismus nicht schon oft großzügiggewesen? Muß er gerade bei uns haltmachen?“,schmiert er den Nazis Honig ums Maul. Er liebtseine Ruth und will mit ihr eine Familie gründen.Ruths Vater schließlich wendet sich im Juli1938 an die „Abteilung für Gnadensachen“ inHitlers Führerhauptquartier. „Nach den Angabender Ärzte hat meine Tochter nicht die geringstenMerkmale einer anderen Rasse“, fleht er. Er verweistauf seine Verdienste im Ersten Weltkrieg.„Oft hat es geheißen, der Dank des Vaterlandes istuns gewiß. Jetzt hätte ich ihn nötig!“ Aber HitlersVasallen bleiben hart.Ruth Mählmann holt tief Luft. „Gott, wiehaben wir uns damals klein gemacht.“ <strong>Sie</strong> magsich nicht mehr erinnern „an diese Barbarei – undan die ewige Angst“. Daran, wie die Gestapo sieeinbestellt hat. <strong>Sie</strong> habe sich von ihrem Verlobtenzu trennen, sagt der Gestapo-Mann. Falls sie mitihm „in wilder Ehe“ lebe, hätten beide mit „staatspolizeilichenMaßnahmen“ zu rechnen. Es bleibtnicht das einzige Mal, dass die junge Frau zuHitlers gefährlichen Spitzeln muss.Auch Martin haben sie im Visier. Sein Vaterkommt eines Tages aufgeregt in die Firma, in derder junge Mann als Versicherungskaufmannarbeitet. „Du musst damit rechnen, dass sie dichholen“, warnt er seinen Sohn. Die Gestapo hatMartins Zimmer im Elternhaus durchwühlt. ZweiMänner, einer in Zivil, der andere in Uniform. DerZivile liest dem Uniformierten aufgebracht ausMartins Tagebuch vor. Doch der wiegelt ab. „Ichhatte damals wohl großes Glück“, sagt MartinHauser heute.Anfang 1942 verlieren sich Ruth und Martinaus den Augen. „Ich habe mich von Ruthgetrennt“, gibt der 90-Jährige zu. „Ich hatteAngst.“ Sein Chef, der ihm auch ein väterlicherFreund ist, hat dem jungen Martin damals zurTrennung geraten. „Junge“, sagt er, „du bringstdein Mädchen ins Konzentrationslager und dichin die Strafkompanie.“Ruth ist allein. Martin muss in Hitlers Kriegziehen. Erst nach Frankreich, später wird seineKompanie nach Russland verlegt. Er wird nichtzurückkommen, auch wenn er diesen Krieg überlebt.Jedenfalls nicht zu ihr. Ruth leidet. Und siehat Angst. Ihr Bruder wird als „wehrunwürdig“aus der Wehrmacht entlassen, er muss für dieberüchtigte „Organisation Todt“ arbeiten. <strong>Sie</strong>selbst darf längst nicht mehr als Buchhändlerintätig sein. In einem Leipziger Rüstungsunternehmenfindet Ruth eine neue Stelle.Ihr neuer Chef stellt viele „Mischlinge“ ein.Heute nennt Ruth Mählmann ihn einen „wunderbarenMenschen“, einen „Schindler im Kleinen“.Er kommt bei einem der letzten Bombenangriffeauf Leipzig 1945 ums Leben. „Nach dem Kriegmachen sie Seife aus uns“, haben Ruth und ihrejüdischen Kollegen damals gesagt. Dann ist derKrieg tatsächlich vorbei, Hitler hat ihn verloren.Ruth und ihre Familie haben überlebt. „Ich hattedamals großes Glück“, sagt die alte Frau. Aberihre Stimme klingt traurig.Als Martin 1945 aus dem Krieg heimkehrt,findet er eine Anstellung in Düsseldorf. Er lerntseine spätere Frau kennen. 1950 heiraten die beiden.Nein, an Ruth hat er in diesen Nachkriegsjahrennicht oft gedacht. „Man hatte andereSorgen“, sagt Martin Hauser, der heute Witwer ist.„Zum Beispiel, wo es Lebensmittel gibt.“1958 versetzt seine Firma ihn nach Bremen,ruhigere Zeiten brechen an. Zeiten, in denen ihmseine ehemalige Verlobte immer mal <strong>wieder</strong> inden Sinn kommt, und er hat ein schlechtesGewissen. Doch da ist er ja längst verheiratet undhat zwei Töchter.Auch Ruth hat Martin nach dem Krieg nichtgesucht. „Ich war doch froh, als ich die Trennungüberwunden hatte“, sagt sie. 1948 heiratet auchsie einen anderen Mann, er stirbt 1965. Ruth kehrt9899

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