Sprachgeographie27Das romanische SprachgebietDas Einzugsgebiet des <strong>Romanisch</strong>en in Graubünden umfasst die Regionen am Vorderrhein (Surselva),Teilgebiete am Hinterrhein (Sutselva), das Oberhalbstein und das Albulatal (Surmeir), das Oberengadinsowie das Unterengadin und das Münstertal. Jede dieser Regionen besitzt ihr eigenes Idiom. Diefünf Idiome gelten als romanische Schriftsprachen. Das gesamte Spektrum aller lokalen Mundartenkönnen diese Schriftsprachen aber bei weitem nicht einfangen. Dutzende von Ortsdialekten machendie romanische Sprachlandschaft zu einem verwirrenden Mikrokosmos.Seit 1982 existiert mit dem Rumantsch Grischun eine überregionale romanische Schriftsprache, welche1996 zur offiziellen Verwaltungs- und Gerichtssprache des Bundes und des Kantons Graubündenerklärt wurde (vg. Kapitel «Rumantsch Grischun», S. 92f.).Verwendungsgebiete der fünf regionalen Schriftidiome:SurselvischGemeinden mittelbündnerischer Mundarten mit schriftlichem Gebrauch des SurselvischenSutselvischSurmeirischPuterGemeinden mittelbündnerischer Mundarten mit schriftlichem Gebrauch des PuterVallader
28 SprachgeographieVom Bauerntum, Handwerk und Gewerbe zum TourismusBis zum zweiten Weltkrieg war die romanische Kultur eine reiche, vom Bauerntum, Handwerk undGewerbe getragene Kultur, die auch die Sprache selbst weitgehend geprägt hat. Heute sind die traditionellenWirtschaftszweige in <strong>Romanisch</strong>bünden vielerorts einer touristischen Monokultur gewichen.Die wirtschaftliche Entwicklung hat die Romanen auch sprachlich «entwurzelt»: Die alte Sprache derBauern und Handwerker ist ihnen fremd geworden und die moderne Welt dringt meist in deutschem(neuerdings auch in englischem) Gewand in die romanischen Täler.Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen wirken sich verheerend auf die romanischeSprache aus: Die Sprachstruktur löst sich auf, das <strong>Romanisch</strong>e wird mit fremdsprachigen Ausdrückendurchsetzt, die Sprachkompetenz schwindet und das Sprachbewusstsein nimmt entsprechendrasch ab. Zum ständigen Sprachgebietsverlust (vgl. «Aktuelle Lage des <strong>Romanisch</strong>en», S. 32) geselltsich so ein «innerer Zerfall» der Sprache, der letztlich weit schwerer wiegt als der alle zehn Jahreerrechnete statistische Sprecherschwund.Kein romanisches IdentitätsgefühlIm Schutz der Bergmassive haben sich in Rätien fünf romanische Sprachidiome herausgebildet, dieteilweise so unterschiedlich sind, dass sich die Leute untereinander auf Anhieb kaum in der eigenenSprache verständigen können. Es braucht eine gewisse Gewöhnung, bis z.B. ein Engadiner und eineBündner Oberländerin einander sprachlich verstehen können, ohne gleich auf die beiden Sprecherngeläufige deutsche Sprache zurückzugreifen.Die Abgeschiedenheit der Idiome und der spärliche Kontakt unter den Romanen der verschiedenenTalschaften hat dazu geführt, dass sich bis heute kein wirkliches romanisches Identitätsgefühl entwickelnkonnte. Die Sprachgruppen sind einander, der modernen Kommunikation zum Trotz, weitgehend«fremd» geblieben. Das Fehlen einer romanischen Identität zeigt sich in aller Schärfe, wenn esdarum geht, überregionale Projekte zur Förderung der Sprache, wie z.B. eine Standardsprache odereine gemeinsame Tageszeitung, durchzusetzen. Dabei hätte das <strong>Romanisch</strong>e gerade solche Projektedringend nötig: Die Tageszeitung «La Quotidiana» (vgl. S. 65) als Mittel für die tägliche Lektüre (dieja bekanntlich die beste Sprachförderung ist), die Standardsprache «Rumantsch Grischun» als Vermittlerinzwischen den verschiedenen Sprachregionen und der modernen Welt, als Lieferantin neuerWörter und Begriffe.Jeder zweite Ehepartner ist fremsprachigFast die Hälfte aller verheirateten Romanen schlossen das Ehebündnis mit einem anderssprachigenPartner. Und die Tendenz zu diesen «Mischehen» ist steigend. In noch intakten Sprachregionen werdendie zugezogenen fremdsprachigen Partner integriert, in anderen, v.a. in Tourismus- und Industrieregionen,findet die sprachliche Integration kaum noch statt. Auch die berufsbedingte Einwanderungwirkt sich immer nachteiliger auf das <strong>Romanisch</strong>e aus, zumal ein Zwang zur sprachlichen Integrationin <strong>Romanisch</strong>bünden nicht besteht.