Standardsprache Rumantsch Grischun99 Am 14. Juni 2004 haben sich 180 romanischsprachige Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kulturund Bildung in einem offenen Brief an die Regierung Graubündens gegen eine integrale Einführungdes RG in der Schule ab dem Jahre 2010 ausgesprochen (vgl.«Südostschweiz» vom 12. 6. 2004; «LaQuotidiana» vom 15. 6. 2004). Die Regierung wird darin aufgefordert, auf eine aktive Einführung desRG als Schulsprache, welche eine falsche Entwicklung in der Sprachpolitik sei und sowohl denIdiomen als auch dem RG mehr schade als nütze, zu verzichten. In einer Sitzung vom 20. Juni 2004 hat sich auch die romanische Gruppe des Bündner Grossen Rates(rund 40 Mitglieder) für eine pragmatische Lösung in der Frage RG in der Schule im Sinne der LR-Stellungnahme ausgesprochen. Im Frühjahr 2003 hatte <strong>Lia</strong> <strong>Rumantscha</strong> die Schulbehörden desMünstertals und der Gemeinden Donath (Sutselva) und Trin (Surselval eingeladen, dem Erziehungsdepartementihre Interessen für einen Schulversuch mit RG anzumelden. Die «Corporaziun regiunalaVal Müstair» (Lehrerschaft, Schulrat und Gemeindepräsidenten des Münstertals) ist der Einladunggefolgt: Am 8. 10. 2003 hat sie beim zuständigen Departement einen Schulversuch mit RGbeantragt und die <strong>Lia</strong> <strong>Rumantscha</strong> mit der Erarbeitung eines Konzepts beauftragt. Aufgrund desheftigen Widerstands aus Kreisen der Lehrerschaft und Politik hat das Erziehunsgdepartement dieMünstertaler in einem Schreiben vom 12. 12. 2003 gebeten, mit der Einführung von RG in ihrenSchulen bis Ende der Planungs- und Vorbereitungsphase (2007) zuzuwarten. Bereits im Oktober2002 hatte sich die sutselvische Gemeinde Zillis (Schamsertal) als erste romanische Gemeindeüberhaupt für die Einführung von RG auf der Volksschul-Oberstufe ausgesprochen.Rumantsch Grischun im europäischen KontextDie Standardisierung von Sprachen ist seit einigen Jahrzehnten ein bedeutender Zweig der Sprachwissenschaft,während die Normalisierung der sprachlichen Situation und die Verwendung einer Spracheeinen wesentlichen Bestandteil der Soziolinguistik darstellen. Zunächst auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländerzugeschnitten, hat die Erforschung der Standardisierungs- und Normalisierungsprozessezunehmend auch auf Europa übergegriffen. Die LR hat ihre Sprachplanung von Anbeginn auf die wissenschaftlicherprobten Methoden und Prozesse der modernen Sprachplanung abgestützt und regelmässiginternationale wissenschaftliche Kolloquien und Kongresse zur Frage der Sprachstandardisierungbesucht (2002 in Urtijëi/Dolomiten, organisiert durch das Istitut Cultural Ladin/ SPELL) und auch selbstorganisiert (1991 in Chur/Parpan in Zusammenarbeit mit der nationalen Kommission der UNESCO, cf.Lüdi 1994; 1998 in Chur in Zusammenarbeit mit dem Verein für Angewandte Linguistik der Schweiz/VALS, cf. Dazzi/Mondada 1999). Dieser Erfahrungsaustausch ist wichtig. Er zeigt, dass das <strong>Romanisch</strong>ein der Frage der Standardiserung beileibe nicht allein dasteht und bringt den Sprachminderheiten neueErkenntnisse, die gerade in der Strategie der Verbreitung einer überregionalen Schriftsprache nützlich sind.Lit: Darms, G., Sprachnormierung und Standardsprache, in: Holtus, G. et al., LRL, 3 (1989), 827– 53; Darms, G./Dazzi,A.-A. et al.: Pledari Grond, Cuira 1993; Dazzi, A.-A./Gross, M./Mondada, L. (Hrsg.), Minderheitensprachen im Kontext,Bd. 1, 69/1, 1999; Decurtins, A., Die Bestrebungen zur schriftsprachlichen Vereinheitlichung der bündnerromanischenIdiome, in: Romanica Raetica 8 (1993), 341 – 63; Furer, J.-J., La mort dil romontsch…, 1981; Gloor, H. et al., FünfIdiome – eine Schriftsprache? Die Frage einer gemeinsamen Schriftsprache im Urteil der romanischen Bevölkerung,1996; Iliescu, M./Plangg, G.A./Videsott, P. (Hrsg.), Die vielfältige Romania, Gs. für Heinrich Schmid (1921 – 1999),2001; Lüdi, G. (Hrsg.), Sprachstandardisierung. 12. Kolloquium der SAGW, 1994; Schmid, H., Richtlinien für die Gestaltungeiner gesamtbündnerromanischen Schriftsprache RG, 1982; Schmid, H., Eine einheitliche Schriftsprache: Luxus oderNotwendigkeit?, 1982; Solèr, C., Minderheitssprachen und ihre Verschriftlichung – Das Rätoromanische, in: BJb 2004.
100 Das Dicziunari Rumantsch Grischun –Thesaurus des <strong>Romanisch</strong>enMit der Gründung des Mundartwörterbuchs DRG im Jahr 1904 verwirklichen die Societad Retorumantschain Chur und der Indogermanist Robert von Planta ein gemeinsames Vorhaben: Aufnahme desSprachgutes von <strong>Romanisch</strong>bünden, Darstellung und Erklärung des gesamten Wortschatzes allerDialekte der bedrohten Sprache.Wortschatz und Lautbestand eines repräsentativen Teils der damals 130 romanischen GemeindenGraubündens werden mit Hilfe von Korrespondenten und Fragebogenaktionen systematisch erfasst.Die ersten Redaktoren Florian Melcher und Chasper Pult führen die Sammlungs- und Ordnungstätigkeitfort. Daneben beginnen sie mit Auszügen aus allen Gattungen der (ab 1560) gedruckten und ungedrucktenLiteratur.1939 erscheint der erste DRG-Faszikel, Andrea Schorta wird Chefredaktor, Rückwirkungen des DRGauf Sprachleben und Selbstbewusstsein der Bündnerromanen werden spürbar. Die Sprachbewegungprofitiert zunehmend vom Institut des DRG als Dokumentations- und Informationsstelle für sprachförderndeArbeit: bei der Erstellung von regionalen Wörterbüchern und Grammatiken, der Bildung vonsprachlichen Neuschöpfungen (Neologismen) usw.Das DRG als nationales Wörterbuch wird von 1975 bis 1995 hauptsächlich vom NF (SchweizerischerNationalfonds), ab 1996 von der SAGW (Schweizerische Akademie der Geisteswissenschaften), beidein Bern, finanziert. Eine Philologische Kommission gewährleistet die wissenschaftliche Beratung desRedaktionsstabes. Dieser besteht nach dem Weggang von Hans Stricker und der Pensionierung vonDas «Dicziunari Rumantsch Grischun»: Das bedeutendste wortgeschichtliche Grundlagenwerk, in dem die verschiedenenbündnerromanischen Mundarten und Schriftidiome nach lautlichen, semantischen, sachlichen, ethnologischen,soziologischen und etymologischen Gesichtspunkten erfasst, durchleuchtet und dargestellt werden.