70IN MEMORIAMERICH JOOßDie Bilder und die StilleNachruf auf Max BolligerAls ich vor einigen Jahren meine bis dahin vor der Öffentlichkeit zurückgehaltenenGedichte publizieren wollte, kam eine Mitarbeiterin des Verlages auf mich zu mit derAnregung, doch über ein Vorwort nachzudenken. Lyriker äußern sich nicht gerne zuihren Gedichten; schon gar nicht wollen sie ihren Lesern die Deutung abnehmen. Alsobat ich die Mitarbeiterin, einmal bei Max Bolliger, dem fernen Freund, anzufragen.Selbst wollte ich das nicht tun, es erschien mir zu aufdringlich. Aber Bolliger warensolche Bedenken fremd. Er antwortete mit einer Einführung in meine Gedichte, in derer – wie öfters – die „Distanz zwischen unseren Wohnorten und Wirkungskreisen“ bedauerteund gleichzeitig unsere innere Verwandtschaft hervorhob. Dabei überging ergroßmütig, dass ich in diesem Verhältnis lange Zeit der Lernende gewesen bin und bisheute die Prägnanz seiner Sprache und den – bei aller Absichtslosigkeit und Leichtigkeit– immer vorhandenen ethischen Ernst seiner Texte bewundere.Die Welt der <strong>Kinder</strong>literatur ist überschaubar, jeder kennt fast jeden. Max Bolligergehörte nicht zu jenen selbstbewussten Verkäufern der eigenen Bücher, an die Verlageheutzutage gerne ihren Vertrieb delegieren. Er war eher ein Beobachter, zurückhaltendbis zur (freundlich) spürbaren Distanz, manchmal sogar bis zur Unsichtbarkeit. Sichselbst zählte er keinesfalls unter die Virtuosen, er verstand sich dezidiert als ein Handwerkerder Sprache. Doch dieses Handwerk beherrschte er meisterhaft, darin vermutlichnicht unähnlich seinem Großvater, einem Seidendrucker, und seinem Vater, einemSchreiner, der in Frankreich gelernt hatte, alte Möbel zu restaurieren. Aus der väterlichenWelt stammte auch ein Vergleich, auf den er bei seinen Vorträgen des öfteren zurückkam:<strong>Kinder</strong>, so führte er bedächtig aus, müssen nicht unbedingt zu Lesern werden.Sie können ohne Bücher genauso glücklich sein, beispielsweise als Schreiner. Nurum dann listig hinzuzufügen: Wer freilich Kunstschreiner werden will, muss spätestensdann die Geschichte seines Handwerks studieren und imstande sein, die alten Vorlagenzu lesen. Ein wenig an sich dürfte Max Bolliger auch gedacht haben, als er das Gebetdes Jacob Böhme schrieb: „Und hier, Herr“, sagt der Schuhmacher und Mystiker ausGörlitz, „sind meine Hände und tun geringe Arbeit.“Im gleichen Gebet spricht Jacob Böhme liebevoll-andächtig vom „Spinnweb“, daser seit Tagen hütet. Max Bolliger, der die kleinen Dinge, die einfachen Welten liebt,berief sich im Gespräch immer wieder auf das „sanfte Gesetz“ von Adalbert Stifter. Erwar darin sehr gewollt ein „Unzeitgemäßer“. Seine Geschichten und seine <strong>Kinder</strong>gedichte,von denen einige zum Besten der deutschsprachigen <strong>Kinder</strong>literatur zählen, habeneine ganz eigene, fast zärtliche Art der Annäherung an ihre Gegenstände und The-
IN MEMORIAM 71men. Das Verletzliche gibt sich in den Büchern von Bolliger als das wahrhaft Unverletzlichezu erkennen. Weit mehr als ein Kunstgriff war <strong>für</strong> den Autor dabei die Rückbesinnungauf die sogenannten einfachen Erzählformen: die Märchen, Legenden undFabeln, die Geschichten der Bibel. Dort fand er jene helfenden und heilenden Bilder,die er zum Zentrum der eigenen Texte machte. Er wusste, dass in solchen elementarenBildern – von ihm in neue Zusammenhänge gerückt – das ganze Menschheitswisseneingeschlossen ist. Der Schweizer Schriftsteller hat die Brüche und Krisen ernst genommen,vor denen niemand sicher ist, schon gar nicht das Kind. Stummel (1999), derkleine Hase, wird von einem „Lebensbild“ in das nächste geschickt, bis an die Grenzedes Todes. Unversehens wächst sich die Fabel zu einem großen Gleichnis aus, zur Bildererzählungvon einer langen und schwierig-schönen Menschwerdung.Vor allem das Interesse <strong>für</strong> die Legenden hat uns beide freundschaftlich verbunden.Max Bolliger störte sich nie daran, dass wir gleichzeitig an und mit den gleichen Heiligenstoffenarbeiteten, gelegentlich sogar unter dem gleichen Verlagsdach. Konkurrenzneidschien ihm völlig fremd zu sein. Vielleicht war ihm auch bewusst, worin erunerreicht bleiben würde: in der Reduktion des Erzählten, in der ganz und gar unprätentiösenKargheit seiner Sätze. Deren hart erarbeitete Armut entwickelt einen Sog, dersich erst beim Vorlesen erschließt. Damit kommt Bolliger dem ursprünglichen Anliegender Legende sehr nahe. Er war aber nicht nur ein genialer Wiederentdecker undNacherzähler scheinbar abgestorbener Erzählstoffe, er hat auch die historisch-kritischeAnnäherung an die hagiographischen Überlieferungen beherrscht. Am sinnfälligstengelang ihm dies mit der Zweiteilung der „Tatsachen und Geschichten aus dem Lebendes Franz von Assisi“, die sein Buch Euer Bruder Franz (1<strong>98</strong>2) zu einem Klassikernicht bloß der Jugendliteratur machte. Legenden, auf solche Weise in unsere Zeit hinübergerettet,sind kein Mittel zum Zweck. Sie dienen weder der Revitalisierung unsereskulturellen Gedächtnisses noch wollen sie an längst verschüttete christliche Lehrgeschichtenerinnern. In ihnen leuchtet, vielleicht zum letzten Mal, das Paradies auf, daswir verloren haben. So gesehen, sind es ganz handfeste Traumgeschichten …Das gilt auch <strong>für</strong> die Weihnachtslegenden, die schon lange vor Max Bolliger auserzähltschienen und denen der Schweizer Autor trotzdem immer neue Facetten abgewann.Keine der Geschichten, so schreibt er in dem Nachwort zu dem SammelbandEin Duft von Weihrauch und Myrrhe (2009) „ist auf fremden Wunsch oder als Auftragentstanden. Ich meine, sie sind mir zugefallen, Geschenke.“ Weihnachten selbst erscheintin diesen Legenden als ein großes, unbegreifliches Geschenk an alle Geschöpfe.Selbst der Narr, der mit leeren Händen vor der Krippe steht, wird beschenkt: „VollVertrauen / legte Maria / das Kind auf seine Arme.“ Und am Ende der Wintergeschichtesagt der hartherzige Mann zu dem Jungen, der frierend mit ihm von der Krippe zurückkehrt:„Komm ins Haus … ich habe Holz genug, / wir wollen die Wärme teilen.“Dieser Schluss erscheint mir bezeichnend <strong>für</strong> viele Weihnachtslegenden von Max Bolliger.Sie strahlen etwas aus, was ich am liebsten mit dem Begriff der „heiligen Nüchternheit“bezeichnen möchte. Da ist keine Ernüchterung spürbar, schon gar kein desillusioniertesErwachen. Stattdessen schildert Bolliger, wie die Menschen in der harten,sternenlosen Wirklichkeit, die auf die wunderbare Nacht in Betlehem folgt, neu anfangen.Sie waren Zeugen eines Geheimnisses, jetzt sehen sie sich mit anderen Augen an.
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