05.12.2012 Aufrufe

FR A G E N FR A G E N - Kiebitz.net

FR A G E N FR A G E N - Kiebitz.net

FR A G E N FR A G E N - Kiebitz.net

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Eine Lebenserfahrung<br />

Wer seine Muttersprache gut kennt,<br />

lernt leicht deutsch<br />

Mein leben ist ein Beispiel dafür, wie<br />

schnell Kinder, die ihre Muttersprache<br />

beherrschen, Deutsch lernen. Ich bin<br />

eines von den vielen „Gastarbeiter“-<br />

Kindern, die in den 1970er Jahren nach<br />

Deutschland kamen. Damals war ich<br />

gerade in der vierten Klasse der Grundschule<br />

in Rize und gelangte auf dem<br />

Wege der Familienzusammenführung<br />

nach Deutschland.<br />

Meine Ankunft in diesem land fiel<br />

auf ein Wochenende. Sofort am Montag<br />

nahm meine Mutter mich und meinen<br />

Bruder mit, und gemeinsam gingen wir<br />

zu einer Schule, der „Albert-Schweitzer-<br />

Schule Neu-Isenburg“.<br />

In meiner Tasche waren meine Bücher<br />

und Hefte, die ich in der Türkei neu erhalten<br />

und in glänzende Hüllen eingebunden<br />

hatte. Wir gingen in die Schule<br />

hinein … und nach einem fünfzehnminütigen<br />

Akt des Kennenlernens übergab<br />

uns unsere Mutter unserer lehrerin und<br />

ging weg …<br />

In der Klasse bekamen wir alle unsere<br />

Kurse auf Türkisch. Nur an einem Tag<br />

in der Woche gab es einen zweistündigen<br />

Deutschunterricht. In den Pausen<br />

spielten die deutschen Kinder erst<br />

getrennt von uns. Aber wir spielten die<br />

gleichen Spiele. Deswegen wurden wir<br />

mit der Zeit untereinander Freunde, obwohl<br />

wir sehr wenig Deutsch sprachen.<br />

So ging ein Jahr in der Schule dahin.<br />

Wir hatten sehr wenig Gelegenheit,<br />

Deutsch zu lernen. Denn der gesamte<br />

Unterricht erfolgte auf Türkisch.<br />

In der 6. Klasse wurde ich dann in<br />

die Neu-Isenburger „Brüder-Grimm-<br />

Gesamtschule“ aufgenommen. Obwohl<br />

ich keine fleißige Schülerin war und<br />

nicht Deutsch sprach, fühlte ich mich in<br />

meiner neuen Klasse wie ein „Fisch im<br />

Wasser“. Auch wenn das Deutsch, das<br />

ich bis dahin beigebracht bekommen<br />

hatte, nicht ausreichte, um mich mit meinen<br />

Kameraden in der neuen Klasse zu<br />

verständigen. Und das Deutsch, das ich<br />

kannte, wandte ich zunächst nicht einmal<br />

an, aus Furcht, dabei Fehler zu machen.<br />

In meiner Klasse war ich die einzige<br />

Türkin. Ich war nun mehr als ein Jahr in<br />

Deutschland, aber da man den ausländischen<br />

Kindern Unterricht ausschließlich<br />

in ihrer eigenen Sprache gab, hatten<br />

wir zu spät angefangen, die Sprache des<br />

landes zu lernen, in dem wir lebten.<br />

Trotzdem lernten wir, da unser Türkisch<br />

gut war, das Deutsche leicht und in<br />

der richtigen Weise, sobald wir angefangen<br />

hatten, in der gleichen Klasse wie die<br />

Deutschen unterrichtet zu werden. Es<br />

war für uns ein großes Glück, das Türkische<br />

zu beherrschen.<br />

Jetzt ist die Situation ganz anders: Die<br />

Kinder der dritten und vierten Generation<br />

können Deutsch nicht vernünftig lernen,<br />

da sie ihre türkische Muttersprache<br />

nicht gut kennen. Deswegen darf man<br />

den an den Schulen erteilten muttersprachlichen<br />

Unterricht nicht aufheben,<br />

sondern muss ihn ganz im Gegenteil<br />

noch sehr ausbauen. Denn ich weiß aus<br />

meiner eigenen lebenserfahrung: Die<br />

Erfolgschancen an der Schule wachsen<br />

für die Kinder in dem Maße, in dem sie<br />

sich in ihrer eigenen Sprache ausdrücken<br />

können. Ein Kind, das seine Muttersprache<br />

kennt, kann andere Sprachen viel<br />

leichter lernen.<br />

In der Vergangenheit hat die deutsche<br />

Regierung uns in türkische Klassen gesteckt<br />

und uns dort Unterricht auf Türkisch<br />

erteilen lassen. Heute dagegen breitet<br />

sich allgemein die Tendenz aus, den<br />

Muttersprachen-Unterricht, der sowieso<br />

nur noch ein oder zwei Stunden pro Woche<br />

beträgt, ganz abzuschaffen. Mir fällt<br />

es sehr schwer, das zu verstehen.<br />

Allerdings ist das nur die politische<br />

Seite. Es gibt auch die familiäre Seite<br />

der Sache. Und leider zeigen türkischstämmige<br />

Familien hinsichtlich ihrer<br />

Muttersprache nicht die nötige Weitsicht.<br />

Sie legen keinen Wert auf den<br />

muttersprachlichen Unterricht an den<br />

Schulen und setzen sich auch nicht dafür<br />

ein … und damit nehmen sie ihren Kindern<br />

die Möglichkeit, eine Sprache von<br />

Grund auf zu beherrschen.<br />

Dadurch, dass wir als Eltern wenigstens<br />

zu Hause absichtlich unsere eigene<br />

Sprache sprechen, lernt unser Kind auf<br />

die beste Weise sowohl seine Muttersprache<br />

als auch die Sprache des landes, in<br />

dem es lebt.<br />

Man darf nicht an Irrtümern festhalten.<br />

So habe ich mich, nachdem ich<br />

selbst Mutter geworden war, bemüht,<br />

aufzupassen und nicht die Fehler zu machen,<br />

die ich in meiner Kindheit mitbekommen<br />

hatte. Beispielsweise habe ich<br />

mein Kind bis zum dritten lebensjahr<br />

so aufgezogen, dass ich mit ihm ausschließlich<br />

Türkisch gesprochen habe.<br />

Die Früchte dessen ernten wir jetzt: Mit<br />

ihrer Beherrschung beider Sprachen und<br />

ihrem schulischen Erfolg belegt unsere<br />

Tochter Ceren, dass wir rechtzeitig die<br />

richtige Entscheidung getroffen haben.<br />

Sevilay Büber (Schülerinnen-Mutter)<br />

7 Kalem

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!