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Dokumentation - Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

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<strong>Dokumentation</strong><br />

Fachtagung<br />

„Kindesschutz<br />

gemeinsam<br />

gestalten“<br />

4. April 2008<br />

Wissenschaftspark Gelsenkirchen


Herausgeber:<br />

Landesarbeitsgemeinschaft Öffentliche und Freie Wohlfahrtspflege<br />

des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />

c/o Arbeitsausschuss Familie, Jugend und Frauen der LAG FW<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Rheinland</strong>-<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> e. V.<br />

Geschäftsstelle Münster<br />

Friesenring 32/34<br />

48147 Münster<br />

Bezugsadresse:<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Rheinland</strong>-<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> e. V.<br />

Geschäftsstelle Münster<br />

Monika Nimsgern<br />

Friesenring 32 / 34<br />

48147 Münster<br />

Telefon: 0251 2709-225<br />

Fax: 0251 2709-55225<br />

Gefördert vom:<br />

Ministerium für Generationen, Frauen, Familie und Integration des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>


<strong>Dokumentation</strong><br />

Fachtagung<br />

„Kindesschutz<br />

gemeinsam<br />

gestalten“<br />

4. April 2008<br />

Wissenschaftspark Gelsenkirchen


Inhalt<br />

5<br />

7<br />

12<br />

22<br />

25<br />

30<br />

Eröffnung und Begrüßung<br />

Dr. Uwe Becker, Vorsitzender der LAG Öffentliche und<br />

Freie Wohlfahrtspflege NRW<br />

Begrüßung<br />

Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für<br />

einen verbesserten Kindesschutz in NRW<br />

Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie, Frauen<br />

und Integration des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />

Referat<br />

Kindesschutz im Spannungsfeld zwischen staatlichem<br />

Wächteramt und grundgesetzlich geschütztem Freiraum<br />

der Familie<br />

Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner, Bundesministerium für<br />

Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />

Referat<br />

Notwendige Module und Standards für einen gelingenden<br />

Kindesschutz in der Kommune<br />

Peter Lukasczyk, Jugendamt Stadt Düsseldorf<br />

Statements zur Abschlussdiskussion<br />

"Strukturelle und gesetzliche Rahmenbedingungen für<br />

einen verbesserten Kinderschutz in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>"<br />

Dr. Erwin Jordan, Institut für Soziale Arbeit e. V.<br />

Heike Pape, Städtetag NRW<br />

Maria Loheide, LAG Freie Wohlfahrtspflege<br />

Inhalt<br />

3


4<br />

31<br />

59<br />

70<br />

82<br />

98<br />

Forum 1: „0 – 3“<br />

Kindesschutz bei Säuglingen und Kleinkindern<br />

Möglichkeiten der Kooperation zwischen Gesundheitswesen<br />

und Jugendhilfe<br />

Alexandra Sann, Nationales Zentrum Frühe Hilfen<br />

Forum 2: „3 - 6“<br />

Kindesschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />

und Jugendamt<br />

Dr. Annette Frenzke-Kulbach, Stadt Bochum<br />

Birgit Redzio-Wehr, Stadt Bochum<br />

Forum 3: „6 – 10+“<br />

Kindesschutz im Schulalter<br />

Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe<br />

Gabriele Kemper-Bruns, Osterfeldschule Unna<br />

Jürgen Seitel, Erich-Kästner-Schule, Harsewinkel<br />

Ulrich Engelen, Jugendamt Essen<br />

Forum 4:<br />

Kindesschutz vor Gericht<br />

Eingriffs- und Handlungsmöglichkeiten der Justiz<br />

in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe und Anderen<br />

Hans-Christian Prestien, Amtsgericht Potsdam<br />

Andreas Hornung, Amtsgericht Warendorf<br />

Anlagen: Pressemitteilungen


Eröffnung und Begrüßung<br />

Dr. Uwe Becker J Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft<br />

Öffentliche und Freie Wohlfahrtspflege NRW<br />

Sehr geehrter Herr Minister Laschet,<br />

sehr geehrte Damen und Herren,<br />

ich darf Sie ganz herzlich hier in Gelsenkirchen<br />

zu der Fachtagung „Kindesschutz<br />

gemeinsam gestalten“ begrüßen. Schon<br />

die große Teilnehmerzahl macht deutlich,<br />

wie wichtig diese Veranstaltung ist.<br />

Städte und Gemeinden sowie Kreise – also<br />

die Öffentliche Wohlfahrtspflege – haben<br />

gemeinsam mit der Freien Wohlfahrtspflege<br />

vor etwas mehr als einem halben Jahr entschieden,<br />

gemeinsam das Thema „Kindesschutz“<br />

intensiv zu behandeln. Die Tatsache,<br />

dass Sie, Herr Minister Laschet, diese<br />

Veranstaltung begleiten und fördern, zeigt,<br />

dass auch das Land Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />

die Thematik „Kindesschutz“ ganz groß<br />

schreibt und dazu ja auch ein Handlungskonzept<br />

erstellt hat.<br />

Mit zwei ganz grundlegenden Referaten<br />

wird in diese Thematik eingeführt. Herr<br />

Prof. Dr. Wiesner als einer der Fachleute für<br />

Jugendhilfe überhaupt, wird sich aus Sicht<br />

des Bundesministeriums mit dem Spannungsfeld<br />

zwischen staatlichem Wächteramt<br />

und dem grundgesetzlich geschützten<br />

Lebensraum „Familie“ befassen. In einem<br />

zweiten Hauptreferat wird Herr Lukasczyk<br />

sich intensiv mit Standards und fachlichen<br />

Antworten kommunal verorteter Kinderschutzsysteme<br />

beschäftigen.<br />

Ich möchte mich zunächst bei der Arbeitsgruppe<br />

der vielen Fachleute bedanken, die<br />

diese Tagung vorbereitet haben. Schließlich<br />

ging es von Anfang an nicht darum, einzelne<br />

fachliche Aspekte herauszugreifen, sondern<br />

um die Zielsetzung, in einer umfassend<br />

orientierten Auseinandersetzung alle<br />

Aspekte des Kindesschutzes aufzugreifen.<br />

Deswegen waren in der Vorbereitungszeit<br />

nicht nur die Jugendhilfe beteiligt, sondern<br />

auch Schule und Gesundheitsförderung –<br />

also die kommunalen Gesundheitsämter –<br />

in die Überlegung einbezogen:<br />

Eröffnung und Begrüßung J Dr. Uwe Becker<br />

Eklatante Fälle haben uns aufgeschreckt:<br />

Kinder, die Opfer von Gewalt wurden, Kinder<br />

die nach jahrelanger Vernachlässigung<br />

von Polizei oder Jugendamt aus den Wohnungen<br />

der Eltern herausgeholt wurden.<br />

Die große Zahl von Fällen, in denen Kinder<br />

zu Tode gekommen sind – gleich nach der<br />

Geburt, wenig später, durch Gewalteinwirkung,<br />

Vernachlässigung oder schlichtweg<br />

durch Verhungern und Verdursten.<br />

Der Ruf nach den Verantwortlichen wurde<br />

schnell laut. Jugendämter standen im<br />

Mittelpunkt der Kritik. In Bremen, Rostock<br />

und anderen Orten wurden die Verfahrensweisen<br />

der öffentlichen Jugendhilfe einer<br />

kritischen Betrachtung unterzogen.<br />

Es geht aber auch darum zu fragen, an<br />

welchen Stellen die Gesellschaft Verantwortung<br />

trägt. Zu diskutieren ist über die<br />

Frage, warum so viele Menschen wegschauen.<br />

Wieso heruntergelassene Jalousien,<br />

das häufige Weinen und Jammern von<br />

Kindern und offensichtliche Vernachlässigungen<br />

nicht dazu führen, dass Nachbarn<br />

sich rühren, dass die Gesellschaft aktiv<br />

wird, dass Jugendhilfe eingeschaltet wird.<br />

Wir fragen nach den Ursachen für diese<br />

Ereignisse. Wir müssen die Folgen für die<br />

Kinder klären und Maßnahmen ergreifen.<br />

Außerdem ist darüber zu sprechen, welche<br />

Verantwortung die gesamte Gesellschaft<br />

trägt, was an unserem Gemeinwesen zu<br />

verändern ist.<br />

Schwierige Lebenslagen sind der Jugendhilfe<br />

und der Sozialhilfe seit langem bekannt.<br />

Die professionellen Dienste mussten<br />

immer wieder mit extremen Verwahrlosungssituationen<br />

umgehen. Inzwischen<br />

befinden wir uns aber mitten in der Armutsdiskussion.<br />

Erwachsene Menschen geben<br />

sich selbst auf. Sie lassen ihre Kinder<br />

fallen, sie kümmern sich nicht mehr, der<br />

Tag wird zum Einerlei, an dem Erziehung<br />

und Förderung, oft sogar die notwendige<br />

grundlegende Versorgung, keinen Platz<br />

J Dr. Uwe Becker<br />

„Es geht aber auch<br />

darum zu fragen, an<br />

welchen Stellen<br />

die Gesellschaft Verantwortung<br />

trägt.<br />

Zu diskutieren ist über<br />

die Frage, warum so<br />

viele Menschen<br />

wegschauen.“<br />

5


6<br />

„Zwischen der Geburt<br />

und der Kindertageseinrichtung<br />

liegt ein<br />

ganz wesentlicher Entwicklungszeitraum.“<br />

mehr haben. Wir müssen mit allen unseren<br />

Möglichkeiten gegen eine solche gesellschaftliche<br />

Entwicklung vorgehen. Das<br />

soziale Elend großer Gruppen kann nicht<br />

hingenommen werden. Dies schon gar<br />

nicht, wenn davon auch Kinder betroffen<br />

sind, wenn die Zukunft von jungen Menschen<br />

auf dem Spiel steht.<br />

Die Fachtagung beschäftigt sich heute<br />

nicht nur mit Feststellungen über die<br />

Situation der Gesellschaft. Es geht auch<br />

darum, über Maßnahmen zu reden, handlungsfähig<br />

zu sein und Perspektiven aufzuzeigen.<br />

Die Foren beschäftigen sich mit<br />

unterschiedlichen Ansätzen je nach Alter<br />

der Kinder. Dieser Ansatz scheint mir sehr<br />

interessant zu sein, weil er deutlich macht,<br />

dass je nach Alter der Kinder die Unterstützungsmaßnahmen<br />

sehr unterschiedlich<br />

sein können. Andererseits ist auch entsprechend<br />

dem Alter der Zugang zu Kindern<br />

und Familien von sehr verschiedenartigen<br />

Institutionen geprägt.<br />

Zwischen der Geburt und der Kindertageseinrichtung<br />

liegt ein ganz wesentlicher Entwicklungszeitraum.<br />

Entscheidende Prägungen<br />

der Kinder erfolgen hier. Sprachliche<br />

Förderung, Zuwendung und Geborgenheit<br />

sind wesentliche Elemente dieser Phase.<br />

Das Kind ist zum großen Teil ganz und gar<br />

in der Obhut der Familie, der Mutter und<br />

des Vaters und der Geschwister. Überforderungen<br />

in Familien treten oft schon in<br />

dieser Phase auf.<br />

Konsequenter Kindesschutz verlangt<br />

Beratung und Unterstützung. Er muss aber<br />

auch Formen finden, die in Notlagen den<br />

Zugang zu diesen Familien finden. Dies<br />

führt dazu, dass in vielen Jugendämtern<br />

darüber nachgedacht wird, einen konsequenten<br />

Besuchsdienst nach der Geburt<br />

einzurichten.<br />

Gleichzeitig werden Überlegungen angestellt,<br />

verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen<br />

auch über Sanktionen sicherzustellen.<br />

Die Förderung und Unterstützung von<br />

vernachlässigten Kindern in dieser Altersgruppe<br />

scheint mir besonders schwierig.<br />

Im Zusammenhang mit dem KiBiz versuchen<br />

wir intensiv die Betreuung von Kindern<br />

unter 3 Jahren in Tageseinrichtungen<br />

auszubauen. Wir sind inzwischen soweit,<br />

dass an manchen Orten 100 % aller Kinder<br />

ab dem 3. Lebensjahr eine Kindertageseinrichtung<br />

besuchen. Aus diesem Gesichtspunkt<br />

ist es nur konsequent, diese<br />

Altersgruppe gesondert zu betrachten. Fast<br />

alle Kinder sind in Tageseinrichtungen für<br />

Kinder. Gleichwohl ist uns allen bewusst,<br />

dass es weiterhin schwierig bleibt, Grauzonen<br />

aufzudecken und mit der notwendigen<br />

Sensibilität in das Verhältnis zwischen<br />

Eltern, Kindern und öffentlicher Jugendhilfe<br />

neue Handlungsfelder einzubeziehen.<br />

Das Gleiche gilt für Kinder im Schulalter. Es<br />

besteht Schulpflicht. Alle Kinder müssen<br />

die Schule besuchen. Angesichts dieser<br />

Ausgangslage könnte vermutet werden,<br />

dass Notlagen von Kindern erkannt werden,<br />

dass professionelle Hilfe in Grenzsituationen<br />

immer zur Verfügung steht.<br />

Wir wissen, dass es anders ist. Schule ist<br />

damit überfordert. Schule kann nicht immer<br />

erkennen, in welcher Situation sich Kinder<br />

befinden. Hier ist Unterstützung notwendig.<br />

Eine enge Zusammenarbeit zwischen<br />

Jugendhilfe und Schule muss deutlich verbessert<br />

werden. Wir müssen noch stärker<br />

Kindern helfen, die in schwierigen Lebenslagen<br />

sind. Wir müssen sie fördern, wenn<br />

sie Unterstützungsbedarfe haben. Gleichzeitig<br />

darf weder Schule noch Jugendhilfe<br />

beliebig eingreifen.<br />

Sie sehen, meine Damen und Herren, wir<br />

haben uns mit dieser Tagung viel vorgenommen.<br />

Schließlich sollen nicht nur fachliche<br />

und pädagogische Aspekte diskutiert<br />

werden. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

werden in einer Arbeitsgruppe<br />

diskutiert werden.<br />

Am Ende unserer Tagung steht die Frage,<br />

ob und welche veränderten strukturellen<br />

und gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />

für einen verbesserten Kinderschutz wir in<br />

NRW brauchen.<br />

Ich gehe für mich davon aus, dass ich heute<br />

vieles dazulernen werde.<br />

Ich wünsche der Tagung einen guten Verlauf.


Herausforderungen und<br />

Handlungsmöglichkeiten<br />

für einen verbesserten<br />

Kindesschutz in NRW<br />

Armin Laschet J Minister für Generationen, Familie, Frauen<br />

und Integration des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />

Sehr geehrter Herr Dr. Becker,<br />

sehr geehrte Frau Loheide,<br />

meine Damen und Herren,<br />

auch ich begrüße Sie herzlich zur Fachtagung<br />

der Landesarbeitsgemeinschaft der<br />

Öffentlichen und Freien Wohlfahrtspflege in<br />

Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>. Uns erwarten heute<br />

eine Reihe von interessanten Redebeiträgen<br />

und Diskussionen von Fachleuten. Sie<br />

werden uns teilhaben lassen an ihren Erfahrungen<br />

und uns mit ihren Ergebnissen<br />

Impulse geben.<br />

In letzter Zeit erreichen uns immer wieder<br />

aufs Neue Meldungen, die uns erschrecken.<br />

Es vergeht kaum ein Tag ohne Nachrichten<br />

von Kindesmissbrauch und Kindesverwahrlosung.<br />

Manchmal fragt man<br />

sich: Hat diese Gesellschaft vergessen, wie<br />

sie mit Kindern umgehen muss, was Kinder<br />

brauchen?<br />

Unter dem Eindruck immer neuer Schreckensmeldungen<br />

scheint es so. Aber doch<br />

ist es eigentlich der ganz großen Mehrheit<br />

vollkommen klar: Kinder brauchen ein liebevolles,<br />

positives und gewaltfreies Umfeld.<br />

Sie brauchen einen geschützten Raum, in<br />

dem sie unbeschwert aufwachsen können.<br />

Sie brauchen Zuwendung und Vertrauen.<br />

Sie brauchen Menschen, die sie unterstützen<br />

und fördern. Millionen von Eltern in<br />

Deutschland bieten ihren Kindern diesen<br />

Raum. Auch weil sie wissen, wie ihre eigene<br />

Kindheit war, was sie gestärkt und gefördert<br />

hat. Sie geben heute ihren eigenen Kindern<br />

das Vertrauen wieder, das sie selbst bekommen<br />

haben und das für ihre Entwicklung<br />

maßgeblich war. Es gibt aber auch Eltern,<br />

die ihren Kindern dieses Vertrauen<br />

nicht bieten. Und um sie geht es heute.<br />

Wir leben in einem Zeitalter, in dem Tempo<br />

eine große Rolle spielt. Doch kommen viele<br />

mit dem, lassen Sie es mich „high speed“-<br />

Leben nennen, nicht klar. Sie kommen mit<br />

den schnelleren Anforderungen und mit<br />

den gesellschaftlichen Erwartungen nicht<br />

klar. Sie sind dem Druck, den insbesondere<br />

das moderne Arbeitsleben mit sich bringt,<br />

nicht gewachsen. Die Folge ist nicht selten<br />

Überforderung im Beruf, unter Umständen<br />

auch Arbeitslosigkeit.<br />

Oft sind es dann auch die Kinder, die unter<br />

dem Druck, dem ihre Eltern ausgesetzt<br />

sind, leiden müssen. Wenn alles Schlechte<br />

zusammenkommt – Überforderung im Beruf,<br />

private Probleme, eventuell auch Drogen<br />

– können Verwahrlosung, Desinteresse<br />

am Wohl des Kindes und sogar Gewalt<br />

die schreckliche Folge sein. Teilweise sind<br />

die Berichte dann so erschreckend, dass<br />

man das Gefühl bekommt, sie seien Teil<br />

eines Gruselfilms. Sie sind aber leider Realität.<br />

Nach jeder neuen Meldung über das tragische<br />

Schicksal eines misshandelten, vernachlässigten<br />

oder getöteten Kindes werden<br />

immer die gleichen Fragen gestellt:<br />

Warum hat „der Staat“ zu spät, zu wenig,<br />

nicht konsequent genug oder gar nicht eingegriffen?<br />

Kurz: Warum wurde der Staat<br />

seiner Wächterrolle nicht gerecht?<br />

In der Praxis müssen es die Jugendämter<br />

und die Familiengerichte entscheiden, ob<br />

und wann die „Nicht-Ausübung des natürlichen<br />

Rechts“ der Eltern nach Art. 6 Abs.<br />

2 im Grundgesetz eine Gefahr für das Kind<br />

wird – und dann müssen sie eingreifen.<br />

Denn der Artikel 6 unseres Grundgesetzes<br />

besagt zweierlei:<br />

1. Die Erziehung der Kinder ist das Recht<br />

und die Pflicht der Eltern.<br />

2. Über die Einhaltung wacht der Staat –<br />

zum Wohle des Kindes.<br />

Eröffnung J Armin Laschet<br />

J Armin Laschet<br />

7


8<br />

„Wenn aber Eltern ihrer<br />

Aufgabe nicht gerecht<br />

werden und nicht mit<br />

der Verantwortung<br />

für ihr Kind umgehen<br />

können, dann wird es<br />

zu unserer Pflicht,<br />

Lösungen für das<br />

Kind zu bieten und<br />

zwar direkt und ohne<br />

Zeitverlust!“<br />

Über das „Wie“ wird seit geraumer Zeit<br />

mehrfach und auf verschiedenen Ebenen<br />

diskutiert. Das ist nicht einfach. Denn unser<br />

Ziel kann es generell nicht sein, Eltern zu<br />

bevormunden. Wenn aber Eltern ihrer Aufgabe<br />

nicht gerecht werden und nicht mit<br />

der Verantwortung für ihr Kind umgehen<br />

können, dann wird es zu unserer Pflicht,<br />

Lösungen für das Kind zu bieten und zwar<br />

direkt und ohne Zeitverlust! Was kann dann<br />

Politik auf der Ebene des Landes tun?<br />

Handlungskonzept für einen besseren<br />

und wirksameren Kinderschutz<br />

Bereits im vergangenen Jahr haben wir im<br />

Kabinett das „Handlungskonzept für einen<br />

besseren und wirksameren Kinderschutz in<br />

Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>“ beschlossen.<br />

Damit hat das Ministerium für Generationen,<br />

Familien, Frauen und Integration<br />

des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> ein Bündel<br />

von Maßnahmen und Initiativen zum<br />

Schutz von Kindern auf den Weg gebracht.<br />

Prävention, rasche, zielgenaue Hilfe und<br />

die Vernetzung der verschiedenen Akteure<br />

stehen dabei im Vordergrund.<br />

Ich möchte Ihnen einige dieser Maßnahmen<br />

und Initiativen nennen:<br />

J In Sachen Fort- und Weiterbildung von<br />

pädagogischen Fachkräften haben wir<br />

wichtige Grundlagen für verbesserte<br />

Handlungskompetenz geschaffen. Inzwischen<br />

wurden 750 Lehrerinnen und Lehrer<br />

sowie Fachkräfte aus dem Umfeld der<br />

Offenen Ganztagsschule mit Fragen des<br />

Kinderschutzes vertraut gemacht.<br />

J Darüber hinaus hat mein Haus die Entwicklung<br />

der berufsbegleitenden Zusatzqualifikation<br />

„Zertifizierte Kinderschutzfachkraft“<br />

unterstützt, die inzwischen<br />

bundesweit nachgefragt wird. Diese Fortbildung<br />

bieten der Landesverband Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />

des Deutschen Kinderschutzbundes<br />

e.V. und das Institut für<br />

Soziale Arbeit e.V. gemeinsam mit den<br />

Landesjugendämtern an.<br />

Bis Ende dieses Jahres werden damit<br />

insgesamt 600 Fachkräfte in Nordrhein-<br />

<strong>Westfalen</strong> als Kinderschutzfachkraft zertifiziert<br />

sein.<br />

J Im Frühjahr 2007 legte die von meinem<br />

Haus und dem Ministerium für Schule und<br />

Weiterbildung geförderte Serviceagentur<br />

„Ganztägig lernen in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>“<br />

die Broschüre „Kinderschutz macht<br />

Schule“ vor. Darin werden Handlungsoptionen<br />

und Praxisbeispiele zum Umgang<br />

mit Kindeswohlgefährdungen in der Offenen<br />

Ganztagsschule aufgezeigt.<br />

J In diesem Jahr werden wir für die Jugendämter<br />

in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> ein Elternbegleitbuch<br />

vorlegen, das den Eltern<br />

in Kooperation mit den Kommunen kurz<br />

nach der Geburt eines Kindes überreicht<br />

werden soll und das die wichtigsten Informationen<br />

rund ums Kind enthält.<br />

J Ein sehr wichtiger Baustein sind die „Sozialen<br />

Frühwarnsysteme“, die in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />

seit 2001 entwickelt und<br />

erprobt wurden. Die Angebote in den<br />

Kommunen umfassen den Zeitraum von<br />

der Schwangerschaft und der Geburt<br />

über die ersten Lebensjahre des Kindes<br />

bis hin zu dem Alter, in dem die Kinder<br />

den Kindergarten oder die Schule besuchen.<br />

Das ist auch ein Ziel der Sozialen Frühwarnsysteme:<br />

die systematische Verzahnung<br />

von Gesundheits-, Kinder- und<br />

Jugendhilfe. Die Sozialen Frühwarnsysteme<br />

können und sollen zu einem wichtigen<br />

Instrument der Vorbeugung werden:<br />

Die Zusammenarbeit der verschiedenen<br />

Fachkräfte in einem dichten Netwerk<br />

macht es möglich, problematische Lebenslagen<br />

von Familien rechtzeitig zu erkennen,<br />

zu beurteilen und entsprechend<br />

zu handeln.<br />

Das Land Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> fördert die<br />

überregionale Service- und Kontaktstelle<br />

zur Entwicklung von Sozialen Frühwarnsystemen<br />

in Münster. Die Servicestelle<br />

unterstützt interessierte Kommunen, Institutionen<br />

oder Interessengruppen, die<br />

Sozialen Frühwarnsysteme zu implementieren.<br />

Derzeit gibt es bereits rund 40 Soziale<br />

Frühwarnsysteme vor Ort. Unser Ziel<br />

ist es, dass die Sozialen Frühwarnsysteme<br />

in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> flächendeckend<br />

ausgebaut werden.<br />

Dazu hat das Land im vergangenen Jahr<br />

jedem Jugendamt für die erste Phase der


Projektkoordination zum Aufbau eines sozialen<br />

Frühwarnsystems eine Anschubfinanzierung<br />

gewährt.<br />

Die Landesförderung richtete sich dabei<br />

nach der Anzahl der Kinder (bis einschließlich<br />

sechs Jahre), die in der jeweiligen<br />

Kommune leben. Für die 61<br />

Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf<br />

gab es 2.000 Euro extra.<br />

J Zusätzlich zum Handlungskonzept für einen<br />

wirksamen Kinderschutz fördert das<br />

Land das Modellprojekt „Risikomanagement“.<br />

Den Jugendämtern kommt in diesem<br />

Projekt eine Schlüsselposition zu. Im<br />

Mittelpunkt dieses Modellprojekts steht<br />

die handelnde Fachkraft vor Ort, die,<br />

wenn sie einen Fall von Vernachlässigung<br />

oder Verwahrlosung erkennt, schnell handeln<br />

muss.<br />

Ich sehe auch, dass die Jugendämter<br />

teilweise mehr Personal brauchen, auch<br />

wenn das für die Kommunen nicht immer<br />

einfach zu schultern ist.<br />

Doch auch bei besserer Ausstattung können<br />

die Behörden die Aufgabe nicht alleine<br />

bewältigen. Wir sind auf die Hilfe aller<br />

Bürger angewiesen. Ich betone: Wer dem<br />

Jugendamt einen Tipp gibt, ist weder<br />

Spitzel noch Denunziant! Wir brauchen<br />

die Unterstützung von aufmerksamen<br />

Nachbarn und Bürgern, wir brauchen vorbeugende<br />

Einzelprojekte, Gründung von<br />

tragfähigen Netzwerken, Hinzuziehung<br />

von Trägern der Kinder- und Jugendhilfe,<br />

des öffentlichen Gesundheitsdienstes<br />

und in Extremfällen auch die Herausnahme<br />

des Kindes aus der Familie.<br />

Dazu müssen die Fachkräfte gut geschult<br />

sein und möglichst viele Beratungsansätze<br />

kennen und anwenden können.<br />

Deshalb haben wir im vergangenen Jahr<br />

gemeinsam mit den Landesjugendämtern<br />

eine Workshop-Reihe für das Risikomanagement<br />

initiiert mit dem Ziel, eine praxisorientierte<br />

Handreichung zu erstellen.<br />

Eine Veröffentlichung ist geplant.<br />

J Ein wichtiges Instrument der Früherkennung<br />

und Hilfe sind auch die Familienzentren.<br />

Deutlich wird das, wenn man sich<br />

die Angebote der bislang fast 1.000 Familienzentren<br />

anschaut: Beinahe alle Fa-<br />

milienzentren (78 Prozent) halten ein niedrigschwelliges<br />

Angebot der Beratung und<br />

Unterstützung von Kindern und Familien<br />

vor. Weitere wichtige Angebote der Familienzentren<br />

sind die Familienbildung und<br />

Angebote der Erziehungspartnerschaft,<br />

Unterstützung bei der Suche nach einer<br />

qualifizierten Kindertagespflege und damit<br />

die Erleichterung bei der Vereinbarkeit<br />

von Beruf und Familie.<br />

Beinahe 88 Prozent der Familienzentren<br />

richten ihre Angebote nach dem be-sonderen<br />

Bedarf des Umfeldes aus. Fast alle<br />

(95 Prozent) kooperieren mit lokalen Partnern<br />

und sorgen dafür, dass die Angebote<br />

des Familienzentrums bekannt sind.<br />

Früherkennungsuntersuchungen<br />

Eine Frage wird immer wieder sehr kontrovers<br />

diskutiert: Sollen Früherkennungsuntersuchungen<br />

für Kinder zur gesetzlichen<br />

Pflicht gemacht werden? Einige Bundesländer<br />

wie Bayern, Saarland, <strong>Rheinland</strong>-<br />

Pfalz sind diesen Weg gegangen. Ich habe<br />

an der Wirksamkeit einer solchen Maßnahme<br />

meine Zweifel. Gesetzlich verpflichtende<br />

Früherkennungsuntersuchungen sind<br />

sehr aufwendig und nutzen wenig, wenn es<br />

darum geht, Gewalt gegen Kinder zu verhindern.<br />

Die bisher bekannten Fälle wären<br />

durch eine gesetzliche Verpflichtung<br />

der Eltern nicht zu verhindern gewesen.<br />

Eine Teilnahmeverpflichtung wäre schwer<br />

zu überwachen, und es stellt sich auch die<br />

Frage nach Sanktionen bei einer Nichtteilnahme.<br />

Die Kürzung oder der Entzug von Kindergeld<br />

ist für mich – auch wenn verfassungsrechtliche<br />

Bedenken überwunden werden<br />

könnten – keine Option. Deshalb haben<br />

wir in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> einen anderen<br />

Weg eingeschlagen und eine Meldepflicht<br />

für Ärztinnen und Ärzte beschlossen,<br />

die Früherkennungsuntersuchungen<br />

bei Kindern durchführen. Das heißt, dass<br />

diejenigen Eltern den Kommunen gemeldet<br />

werden müssen, deren Kinder trotz Erinnerung<br />

nicht an einer Früherkennungsuntersuchung<br />

teilnehmen. Ich weiß, dass damit<br />

praktische Probleme, z. B. datenschutzrechtlicher<br />

Art, verbunden sind. Aber diese<br />

Probleme müssen und können überwunden<br />

werden.<br />

Eröffnung J Armin Laschet<br />

„Gesetzlich verpflichtendeFrüherkennungsuntersuchungen<br />

sind<br />

sehr aufwendig und<br />

nutzen wenig, wenn<br />

es darum geht, Gewalt<br />

gegen Kinder zu<br />

verhindern.“<br />

9


„Es wird auch zu<br />

überprüfen sein, wie<br />

die bestehenden<br />

Früherkennungs-<br />

untersuchungen so gestaltet<br />

werden können,<br />

dass Anzeichen von<br />

Gewalt besser erkannt<br />

werden. “<br />

10<br />

Gesetzliche Regelungen allein sind dennoch<br />

nicht ausreichend. Vielmehr müssen<br />

zusätzlich Strukturen entstehen, in denen<br />

die beteiligten Akteure enger zusammen<br />

arbeiten. Beispielsweise bewähren sich in<br />

den Kommunen auch zunehmend präventive<br />

Elternbesuche, bei denen sich die Vertreter<br />

der Kinder- und Jugendeinrichtungen<br />

vorstellen und ein sichtbares Beratungs-<br />

und Informationsangebot unterbreiten.<br />

Es wird auch zu überprüfen sein, wie die<br />

bestehenden Früherkennungsuntersuchungen<br />

so gestaltet werden können, dass Anzeichen<br />

von Gewalt besser erkannt werden.<br />

Das ist eine Aufgabe des Gemeinsamen<br />

Bundesausschusses, entsprechende Untersuchungsroutinen<br />

(z. B. Untersuchungskriterien<br />

oder Untersuchungsintervalle) zu<br />

beschließen. Im vergangenen Jahr habe ich<br />

das mehrmals schriftlich angemahnt. Sinnvoller<br />

als eine Pflicht zur Früherkennungsuntersuchung<br />

wäre es in meinen Augen,<br />

wenn sich die Krankenkassen verpflichten<br />

würden, alle entsprechenden Versicherten<br />

einzuladen und die Teilnahme mit einem<br />

Bonus zu belohnen.<br />

Beschluss der Bundeskanzlerin und<br />

der Regierungschefs der Länder vom<br />

19.12.2007<br />

Das Wohl unserer Kinder und ein wirksamer<br />

Kinderschutz haben höchste Priorität! Deshalb<br />

bin ich auch froh, dass diese Themen<br />

auch auf Bundesebene beraten werden. So<br />

hat die Bundeskanzlerin am 19. Dezember<br />

des letzten Jahres mit den Regierungschefs<br />

der Länder beraten, wie die Grundlagen für<br />

einen wirksamen Kinderschutz in Deutschland<br />

weiterentwickelt werden können.<br />

Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs<br />

der Länder sind sich einig darin, dass<br />

die bestehenden Anstrengungen von Bund,<br />

Ländern und Kommunen verstärkt werden<br />

müssen, um Vernachlässigung, Verwahrlosung<br />

und Misshandlung von Kindern vorzubeugen<br />

und schnell und wirksam Hilfen<br />

für Kinder in Not und für überforderte Eltern<br />

bereit zu stellen. Einig war man sich ebenso<br />

in der Einschätzung, dass die Risiken<br />

in hoch belasteten Familien früher erkannt<br />

werden müssen und dass diese Familien<br />

verlässliche und kontinuierliche Unterstützung,<br />

Begleitung und Hilfen brauchen.<br />

Zwei der Maßnahmen, die ich für besonders<br />

wichtig halte und die auf diesem gemeinsamen<br />

Treffen beschlossen wurden,<br />

möchte ich hervorheben:<br />

J In Zusammenarbeit mit Ländern und<br />

Kommunen wird das Nationale Zentrum<br />

Frühe Hilfen beauftragt, Leitlinien für vernetzte<br />

Strukturen und Frühwarnsysteme<br />

zu entwickeln.<br />

J Die Bundesregierung wird prüfen, welche<br />

Änderungen im Datenschutz erforderlich<br />

sind. Solche Daten müssen zwischen den<br />

zuständigen Melde- und Sozialbehörden,<br />

aber auch mit Blick auf Polizei und Justiz,<br />

leichter fließen können als bisher.<br />

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir<br />

so dazu beitragen können, die Rahmenbedingungen<br />

für einen wirksameren Kinderschutz<br />

in Deutschland zu verbessern. Zur<br />

Umsetzung werden bis zur nächsten Zusammenkunft<br />

der Regierungschefs mit der<br />

Bundeskanzlerin im Juni dieses Jahres drei<br />

Bund-Länder-Arbeitsgruppen konkrete Vorschläge<br />

vorlegen.<br />

Instrumente zielgerecht einsetzen<br />

Bei aller Suche nach Verbesserungen, dürfen<br />

wir eines nicht übersehen: Wir verfügen<br />

bereits über eine Fülle von Maßnahmen<br />

und Konzepten, Trägern, Mitteln und<br />

Erfahrungen. Es geht also nicht unbedingt<br />

um die Entwicklung neuer Instrumente oder<br />

weiterer Maßnahmen, sondern insbesondere<br />

darum, das vorhandene Instrumentarium<br />

gebündelt und abgestimmt einzusetzen.<br />

Das gilt für alle politischen Ebenen: Ob<br />

Bund, Länder oder Kommunen: Wir alle<br />

müssen uns dazu ermahnen, Ressortschranken<br />

zu überwinden – über den<br />

sprichwörtlichen Tellerrand zu schauen.<br />

Denn Gesetze, Strukturen, funktionierende<br />

Ämter und Vernetzungen, das alles sind<br />

wichtige Instrumente, um Eltern zu stärken<br />

und Kinder wirksam zu schützen.<br />

Doch wir müssen auch sehen: Selbst noch<br />

mehr staatliche Fürsorge und gesteigerte<br />

öffentliche Wachsamkeit werden die Unversehrtheit<br />

und das Leben eines jeden<br />

Kindes in unserem Land nicht hundertprozentig<br />

garantieren können. Das hat gesell-


schaftliche Ursachen, über die wir ebenso<br />

engagiert debattieren sollten wie über die<br />

konkreten Instrumente des Kinderschutzes.<br />

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung<br />

vom 25.11.2007 schrieb der Journalist<br />

Richard Wagner einen Satz, den ich<br />

sehr beachtlich finde.<br />

Ich möchte ihn gern zitieren:<br />

„Mitten in unserer Gesellschaft hat sich<br />

eine Zone herausgebildet, in der Verantwortung,<br />

sei es für sich selbst oder für andere,<br />

zum Fremdwort geworden ist.“<br />

Wir sind alle miteinander gefordert, Auswege<br />

aus dieser – wie Wagner es nennt –<br />

„moralischen Verwahrlosung“ zu finden.<br />

Eines ist klar: Wo Familie unter Druck ist,<br />

müssen wir es als unsere gemeinsame Aufgabe<br />

sehen, mit allen uns zur Verfügung<br />

stehenden Instrumenten und Mitteln diesen<br />

Druck zu nehmen und diese Familien<br />

zu stärken.<br />

Ich danke der Landesarbeitsgemeinschaft<br />

der Freien und Öffentlichen Wohlfahrtspflege<br />

in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> sehr für die<br />

Ausrichtung dieser Fachtagung und ganz<br />

besonders für ihr Engagement in Sachen<br />

Kinderschutz. Vermutlich werden wir am<br />

Ende der Fachtagung feststellen, dass unsere<br />

verschiedenen Bausteine an der einen<br />

oder anderen Stelle noch ein wenig bearbeitet<br />

werden müssen, um optimal zueinander<br />

zu passen. Das ist auch Sinn und<br />

Zweck dieses Austausches.<br />

Aber vielleicht haben wir am Ende dann<br />

auch den Eindruck gewonnen, auf dem<br />

richtigen Weg zu sein – ich würde es mir<br />

wünschen. Gemeinsam können wir viel bewegen.<br />

Die Gesundheit, das Leben und die<br />

Zukunft unserer Kinder sollten es uns wert<br />

sein.<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und<br />

uns eine anregende und erfolgreiche Diskussion<br />

Eröffnung J Armin Laschet<br />

11


Prof Dr. Dr. h. c.<br />

Reinhard Wiesner J<br />

1 Böckenförde, Elternrecht<br />

– Recht des Kindes – Recht<br />

des Staates, in: Essener Gespräche<br />

zum Thema Staat<br />

und Kirche, Band 14, 1980<br />

S. 59.<br />

12<br />

Kindesschutz im<br />

Spannungsfeld zwischen<br />

staatlichem Wächteramt und<br />

grundgesetzlich geschütztem<br />

Freiraum der Familie<br />

Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner J Bundesministerium für Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend<br />

Dramatische Fälle von Kindesvernachlässigung<br />

lenken den Blick auf den staatlichen<br />

Schutzauftrag – seinen Inhalt und seine<br />

Grenzen – und damit auch auf die Aufgaben<br />

der Eltern. Wie weit reicht die elterliche<br />

Erziehungsautonomie? Welche Befugnisse,<br />

welche Pflichten hat der Staat, Kinder vor<br />

Gefahren für ihr Wohl zu schützen? Wie tritt<br />

er dabei gegenüber den Eltern auf: in beratender,<br />

unterstützender Funktion oder als<br />

eine Instanz, die Eltern rechtsverbindliche<br />

Vorgaben macht, sie gegebenenfalls sogar<br />

ganz oder teilweise aus ihrer elterlichen<br />

Erziehungsverantwortung entlässt? Dieses<br />

komplexe Thema will ich in den nachfolgenden<br />

Ausführungen etwas näher beleuchten.<br />

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen<br />

Den Ausgangspunkt für diese Betrachtung<br />

bilden die Vorgaben unserer Verfassung.<br />

Zentrale Aussagen dazu enthält Art.<br />

6 Abs.2 GG.<br />

a) Eltern – Kind – Staat<br />

Zunächst garantiert Art. 6 Abs.2 Satz1 GG<br />

den Eltern „Pflege und Erziehung als das<br />

natürliche Recht und die zuvörderst ihnen<br />

obliegende Pflicht“. Damit korrespondiert<br />

das sog. staatliche Wächteramt, wenn es in<br />

Satz 2 heißt. „Über ihre Betätigung wacht<br />

die staatliche Gemeinschaft.“<br />

Das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG<br />

ist ein echtes gegen den Staat gerichtetes<br />

Grundrecht. Adressat und Verpflichtete<br />

sind nicht das Kind oder beliebige Dritte,<br />

sondern die hoheitlich handelnde Staatsgewalt.<br />

Ihr gegenüber wird eine bestimmte<br />

tatsächlich und rechtlich geformte Position,<br />

die Pflege und Erziehung der Kinder, in<br />

dezidierter Form verfassungsrechtlich geschützt<br />

und gewährleistet, wie es der frühere<br />

Staatsrechtslehrer und Richter am<br />

Bundesverfassungsgericht Wolfgang Böckenförde<br />

ausgeführt hat 1 .<br />

Das Elternrecht des Grundgesetzes gewährt<br />

eine einseitige unmittelbare Bestimmungsmöglichkeit<br />

über andere Menschen,<br />

die Kinder, im Hinblick auf deren<br />

Persönlichkeitsentwicklung. Zu Recht verweist<br />

Böckenförde darauf, dass ein solches<br />

Recht eine Form von Herrschaft darstellt.<br />

Zwar muss Herrschaft von bloßer Macht<br />

definitorisch dadurch unterschieden werden,<br />

dass Herrschaft keine beliebige, sondern<br />

eine an legitimierenden Zwecken<br />

ausgerichtete, an Formen und Verfahren<br />

gebundene und rechtlicher Verantwortlichkeit<br />

unterliegende Bestimmungsmacht<br />

darstellt. Grundlage und rechtfertigender<br />

Grund des Elternrechts sind aber nicht das<br />

Interesse und die Freiheitsentfaltung der<br />

Eltern, sondern Interesse und Persönlichkeitsentfaltung<br />

des Kindes. Elternrecht, so<br />

drückt es Böckenförde aus, ist „eine objektiv<br />

notwendige Bedingung für das Seinkönnen<br />

und Mündigwerden des Kindes.“<br />

Das Elternrecht wird deshalb als fremdnütziges<br />

Recht bezeichnet. Zur Entwicklung<br />

und Entfaltung seiner Persönlichkeit ist das<br />

Kind auf Schutz und Pflege, aber auch auf<br />

die erzieherische Lenkung und Bestimmung<br />

durch die Eltern angewiesen.<br />

Dieses Grundrecht weist noch eine weitere<br />

Besonderheit auf. Pflege und Erziehung<br />

der Kinder sind nach Artikel 6 Abs. 2 Satz<br />

1 GG nicht nur das natürliche Recht der Eltern,<br />

sondern auch die „ihnen zuvörderst


obliegende Pflicht“. Dem auf das Kind und<br />

sein Wohl verpflichteten Freiheitsrecht der<br />

Eltern stellt das Grundgesetz auf gleicher<br />

Stufe die Pflicht der Eltern zur Pflege und<br />

Erziehung zur Seite: Dem Elternrecht korrespondiert<br />

die Elternpflicht. Diese Grundpflicht<br />

zur Pflege und Erziehung der Kinder<br />

tritt nicht erst als eine das Grundrecht der<br />

Eltern begrenzende Schranke hinzu, sondern<br />

stellt einen wesensbestimmenden Bestandteil<br />

des Elternrechts dar. Anders als<br />

der pater familias im römischen Recht haben<br />

also Eltern nicht die freie Entscheidung<br />

darüber, ob sie von ihrem Elternrecht Gebrauch<br />

machen wollen oder nicht.<br />

Diese Pflichtbindung des Elternrechts erklärt<br />

sich daraus, dass das Grundgesetz<br />

und zwar wegen der Schutz und Hilfebedürftigkeit<br />

des Kindes (ausnahmsweise)<br />

Personen, nämlich den Eltern, Rechte an<br />

einer anderen Person – dem Kind – einräumt.<br />

Dies erfolgt aber im Hinblick darauf,<br />

dass das Kind selbst mit Menschenwürde<br />

ausgestattet und Grundrechtsträger<br />

ist und nur unter der Maßgabe, dass diese<br />

Rechte pflichtgebunden sind. Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat in einer Grundsatzentscheidung<br />

im Jahre 1968 den Begriff<br />

„Elternverantwortung“ geprägt und damit<br />

den besonderen Charakter des Elternrechts<br />

verdeutlicht.<br />

In seiner aktuellen Entscheidung zum sog.<br />

Zwangskontakt vom 01.04.2008 hat das<br />

Bundesverfassungsgericht seiner ständigen<br />

Rechtssprechung folgend ausgeführt:<br />

„Das Elternrecht dem Kind gegenüber findet<br />

seine Rechtfertigung darin, dass das<br />

Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf,<br />

damit es sich zu einer eigenverantwortlichen<br />

Persönlichkeit innerhalb der sozialen<br />

Gemeinschaft entwickeln kann, wie sie<br />

dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht.<br />

Dieses Recht ist deshalb untrennbar<br />

mit der Pflicht der Eltern verbunden,<br />

dem Kind diesen Schutz und diese Hilfe zu<br />

seinem Wohl angedeihen zu lassen.“<br />

In der Presse und auf Veranstaltungen werden<br />

nicht selten Elternrechte und Kindesrechte<br />

in einen Gegensatz miteinander gebracht<br />

und daraus die Forderung erhoben,<br />

die Kindesrechte gegenüber den Elternrechten<br />

stärker zu gewichten oder doch<br />

zwischen den verschiedenen Positionen zu<br />

Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />

vermitteln. Eine solche Sichtweise verkennt<br />

jedoch die Systematik unserer Verfassung.<br />

Diese regelt nämlich nicht das Verhältnis<br />

zwischen Privatpersonen und damit<br />

auch nicht das Verhältnis zwischen Eltern<br />

und Kindern, sondern das Verhältnis zwischen<br />

Privatpersonen und dem Staat. Zum<br />

anderen dient das als Elternverantwortung<br />

charakterisierte Elternrecht – wie schon<br />

ausgeführt – in erster Linie nicht der freien<br />

Entfaltung der Persönlichkeit der Eltern,<br />

sondern der Persönlichkeitsentfaltung des<br />

Kindes. Elternrecht ist damit primär Recht<br />

im Interesse und zum Wohle des Kindes.<br />

Aus dieser Perspektive gibt es keine Kollision<br />

zwischen den Rechten und den Interessen<br />

des Kindes und denen der Eltern, solange<br />

sich die Eltern im Schutzbereich ihres<br />

Elternrechts bewegen. Gerade im Zusammenhang<br />

mit der Gefährdung des Kindeswohls<br />

stellt sich deshalb die Frage nach<br />

den Grenzen des Elternrechts.<br />

b) Grenzen des Elternrechts<br />

Die Grenzen ergeben sich aus Inhalt und<br />

Zielsetzung des Elternrechts. Zum<br />

Einen handelt es sich um eine dynamische<br />

Grenze, die sich unmittelbar aus<br />

dem Zweck des Elternrechts ergibt. Dieses<br />

zielt auf die Erziehung des Kindes zu<br />

einer selbstbestimmten und selbst verantwortlichen<br />

Persönlichkeit. Ist dieses Ziel erreicht,<br />

so entfallen das Ziel und die Rechtfertigung<br />

für das Elternrecht. Entsprechend<br />

formuliert das Bundesverfassungsgericht:<br />

„Das Elternrecht dient als pflichtgebundenes<br />

Recht dem Wohl des Kindes; es muss<br />

seinem Wesen und Zweck nach zurücktreten,<br />

wenn das Kind ein Alter erreicht hat,<br />

in dem es eine genügende Reife zur selbständigen<br />

Beurteilung der Lebensverhältnisse<br />

und zum eigenverantwortlichen Auftreten<br />

im Rechtsverkehr erlangt hat. Als ein<br />

Recht, das um des Kindes und dessen Persönlichkeitsentfaltung<br />

wegen besteht, liegt<br />

es in seiner Struktur begründet, dass es in<br />

dem Maße, in dem das Kind in die Mündigkeit<br />

hineinwächst, überflüssig und gegenstandslos<br />

wird“ 2 . Der Gesetzgeber trägt<br />

dem insbesondere mit Teilmündigkeitsregelungen<br />

Rechnung.<br />

Die zweite Grenze bildet das Kindeswohl<br />

bzw. die Vereinbarkeit elterlichen Handelns<br />

mit dem Kindeswohl. Nur soweit die Eltern<br />

„Elternrecht ist primär<br />

Recht im Interesse<br />

und zum Wohle des<br />

Kindes. “<br />

2 BVerfGE 59, 360, 387<br />

13


„Nun finden wir weder<br />

im Grundgesetz noch<br />

an anderer Stelle in<br />

unserer Rechtsordnung<br />

eine Definition des<br />

Kindeswohls. “<br />

3 Siehe dazu die Stellungnahme<br />

des Bundesjugendkuratoriums<br />

vom Dezember<br />

2007, Jugendamt 2008, 72.<br />

14<br />

ihre Befugnis zum Wohle des Kindes ausüben,<br />

handeln sie im Rahmen ihrer Elternverantwortung<br />

und können sich auf den<br />

Grundrechtsschutz von Artikel 6 Abs. 2<br />

Satz 1 GG berufen; nur insofern lässt sich<br />

die Fremdbestimmung des Kindes durch<br />

seine Eltern vor Art. 2 Abs. 1 in Verbindung<br />

mit Art. 1 Abs. 1 GG (Persönlichkeitsrecht<br />

des Kindes) rechtfertigen. Die Entscheidungsfreiheit<br />

der Eltern endet – nach der<br />

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

– dort, wo sie für ein Handeln in<br />

Anspruch genommen wird, dass selbst bei<br />

weitester Anerkennung ihrer Selbstverantwortlichkeit<br />

nicht mehr als „Pflege oder Erziehung“<br />

gewertet werden kann.<br />

Nun finden wir weder im Grundgesetz noch<br />

an anderer Stelle in unserer Rechtsordnung<br />

eine Definition des Kindeswohls. In vielen<br />

fachlichen Publikationen werden Versuche<br />

unternommen, diesen Begriff zu definieren<br />

oder Mindeststandards zu formulieren.<br />

Dabei wird aber schnell deutlich, dass es<br />

kaum möglich ist, diesen umfassenden Begriff<br />

alters und entwicklungsspezifisch zu<br />

operationalisieren. Die rechtliche Bedeutung<br />

solcher Versuche bliebe zudem begrenzt.<br />

Da Eltern nach unserer Verfassung<br />

grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen<br />

und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen<br />

entscheiden, wie sie die Erziehung ihres<br />

Kindes gestalten und damit ihrer Elternverantwortung<br />

gerecht werden wollen, kommt<br />

dem Staat auch nicht die Befugnis zu, das<br />

Kindeswohl zu definieren. Er hat vielmehr<br />

die Aufgabe der rechtlichen Grenzkontrolle,<br />

nähert sich damit dem Kindeswohl von seiner<br />

negativen Ausprägung her 3 .<br />

c) Das staatliche Wächteramt<br />

Welche Bedeutung hat nun das in Art. 6<br />

Abs. 2 Satz 2 GG formulierte staatliche<br />

Wächteramt? Der Sinn des Wächteramts<br />

liegt darin, das Wohl des Kindes vor Schaden<br />

zu bewahren, und zwar so weit wie<br />

möglich unter Wahrung und Schonung der<br />

verfassungsrechtlich verbürgten Elternbefugnisse.<br />

Es soll objektive Verletzungen<br />

des Wohls des Kindes verhüten – unabhängig<br />

von einem Verschulden der Eltern. Insofern<br />

kann das Wächteramt als Schranke<br />

des Elternrechts qualifiziert werden. Dies<br />

bedeutet: Das staatliche Wächteramt hat<br />

im Hinblick auf das Elternrecht nachrangi-<br />

gen Charakter. Der Staat hat die elterliche<br />

Erziehungsautonomie, soweit sie reicht, zu<br />

respektieren. Die Grenze für diese elterliche<br />

Erziehungsautonomie bildet die Kindeswohlgefährdung.<br />

Nach diesem Verfassungsverständnis muss<br />

die Gesellschaft unterschiedliche Lebensstile<br />

und Erziehungsvorstellungen von Familien<br />

akzeptieren. Der Staat kann zwar<br />

versuchen, Eltern von der Wünschbarkeit<br />

eines anderen Erziehungsverhaltens<br />

zu überzeugen; dies geschieht auch im<br />

Rahmen von Beratung und anderen Erziehungshilfen,<br />

aber er muss letztlich auch<br />

solche Erziehungsformen akzeptieren, die<br />

von einer pädagogisch wünschenswerten<br />

Förderung der Entwicklung von Kindern<br />

entfernt sind, solange diese nicht mit einer<br />

Gefährdung des Kindeswohls einhergehen.<br />

Was ein solches Verständnis von Elternprimat<br />

und staatlicher Befugnis zur Kontrolle<br />

der Grenzen elterlicher Erziehungsverantwortung<br />

konkret bedeutet, dies hat<br />

das Bundesverfassungsgericht vor mehreren<br />

Jahren am Beispiel minderbegabter Eltern<br />

anschaulich gemacht, die ihr Kind nicht<br />

ausreichend fördern (können). Dazu hat es<br />

ausgeführt: „Zwar stellt das Kindeswohl in<br />

der Beziehung zum Kind die oberste Richtschnur<br />

der elterlichen Pflege und Erziehung<br />

dar. Dies bedeutet aber nicht, dass es<br />

zur Ausübung des Wächteramts des Staates<br />

nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gehörte,<br />

gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche<br />

Förderung des Kindes zu sorgen.“<br />

Das Gericht fährt fort: „Das Grundgesetz<br />

hat die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg<br />

des Kindes nach Abschluss der<br />

Grundschule zunächst den Eltern als den<br />

natürlichen Sachwaltern für die Erziehung<br />

des Kindes belassen. Die primäre Entscheidungszuständigkeit<br />

der Eltern beruht auf<br />

der Erwägung, dass die Interessen des Kindes<br />

in aller Regel am besten von den Eltern<br />

wahrgenommen werden. Dabei wird die<br />

Möglichkeit in Kauf genommen, dass das<br />

Kind durch den Entschluss der Eltern wirkliche<br />

oder vermeintliche Nachteile erleidet,<br />

die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben<br />

betriebenen Begabtenauslese vielleicht<br />

vermieden werden könnten“.<br />

Diese Entscheidung stößt immer wieder auf<br />

Unverständnis, weil sie dem Kind eben nicht<br />

eine „bestmögliche Förderung seiner Ent-


wicklung“ garantiert. Anderseits muss aber<br />

auch bedacht werden, was es bedeuten<br />

würde, einen Anspruch „auf bestmögliche<br />

Förderung“ konkret einzulösen. Der Staat<br />

müsste dann in jedem Einzelfall beurteilen,<br />

welche Förderung die bestmögliche für das<br />

Kind ist und ob die von den Eltern geleistete<br />

Erziehung oder der von ihnen gewählte Bildungsweg<br />

diesen Anforderungen entspricht.<br />

Im Ergebnis würde damit das Verhältnis von<br />

elterlicher Erziehungsverantwortung und<br />

(subsidiärem) staatlichem Wächteramt umgekehrt<br />

und letztlich der Staat zum eigentlichen<br />

Erziehungsträger gemacht.<br />

Für die Ausübung der staatlichen Mitverantwortung<br />

im Hinblick auf die elterliche<br />

Erziehung bedeutet dies: Der Staat muss<br />

sich bis zur Schwelle einer Kindeswohlgefährdung<br />

auf Angebote an die Eltern beschränken.<br />

Ist die Schwelle überschritten<br />

und sind die Eltern nicht bereit oder in<br />

der Lage, die Gefährdung (ggf. mit öffentlichen<br />

Hilfen) abzuwenden, so ist der Staat<br />

verpflichtet, diese Gefährdung auch gegen<br />

den Willen der Eltern abzuwenden.<br />

Freilich ergibt sich aus der Verfassung nicht<br />

unmittelbar, welche Leistungsverpflichtungen<br />

dem Staat gegenüber dem Kind und<br />

seinen Eltern obliegen. So lassen sich aus<br />

dem Fördergebot des Art. 6 Abs.1 GG konkrete<br />

Ansprüche auf bestimmte staatliche<br />

Leistungen nicht herleiten. 4 Hier hat<br />

der Gesetzgeber einen weiten Spielraum,<br />

wie er seiner Mitverantwortung für das Aufwachsen<br />

von Kindern gerecht werden will<br />

– einen Handlungsspielraum, der wohl bei<br />

weitem nicht ausgeschöpft wird, wenn wir<br />

uns das Leistungsspektrum des SGB VIII,<br />

aber vor allem auch die Umsetzungsdefizite<br />

in der Praxis ansehen. So haben wir in<br />

den letzten Jahren einen kontinuierlichen<br />

Abbau des Leistungsspektrums der Hilfen<br />

zur Erziehung erlebt. Stationäre Hilfen werden<br />

vielfach nicht bedarfsgerecht erbracht,<br />

sondern aufgeschoben. Die Anspruchskriterien<br />

in § 27 SGB VIII werden restriktiv<br />

ausgelegt. So setzt der Rechtsanspruch<br />

auf Hilfe zur Erziehung bewusst unterhalb<br />

der Schwelle der Kindeswohlgefährdung<br />

an, ein Ansatz, der aber in der Praxis häufig<br />

unterlaufen wird. Bevor also über neue<br />

Eingriffsmöglichkeiten in die elterliche<br />

Erziehungsverantwortung oder gar die Senkung<br />

der Eingriffsschwelle nachgedacht<br />

wird, ist zunächst das gesamte Spektrum<br />

Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />

von Hilfen im primär und sekundär präventiven<br />

Bereich in den Blick zu nehmen und<br />

auszuschöpfen.<br />

d) Kindeswohlgefährdung als Interventionsschwelle<br />

Über das breite Spektrum von Leistungen<br />

gibt das SGB VIII den Jugendämtern also<br />

vielfältige Möglichkeiten, frühzeitig auf Eltern<br />

zuzugehen bzw. den Eltern das Recht,<br />

diese Leistungen in Anspruch zu nehmen.<br />

Eine Verpflichtung, von Amts wegen tätig<br />

zu werden, ergibt sich erst im Zusammenhang<br />

mit dem Bekanntwerden wichtiger<br />

Anhaltspunkte für eine Gefährdung des<br />

Kindeswohls (§ 8a SGB VIII). Damit erhält<br />

der Begriff der Kindeswohlgefährdung eine<br />

besondere Bedeutung für die Art und Weise,<br />

in der der Staat seine Mitverantwortung<br />

beim Schutz des Kindes vor Gefahren für<br />

sein Wohl ausübt. Dieser Begriff wird von<br />

vielen Fachdisziplinen in unterschiedlichen<br />

Kontexten verwendet, hat aber als staatliche<br />

Eingriffschwelle in die elterliche Erziehungsautonomie<br />

in der Rechtsprechung<br />

eine spezifische Ausprägung erfahren:<br />

Schon im Jahre 1956 hat der Bundesgerichtshof<br />

darunter „eine gegenwärtig in einem<br />

solchen Maß vorhandene Gefahr“<br />

verstanden, „dass sich bei der weiteren Entwicklung<br />

eine erhebliche Schädigung mit<br />

ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“. 5<br />

Bei der Anwendung dieser Definition auf<br />

den Einzelfall ergeben sich spezifische<br />

fachliche Anforderungen. Zum einen ist die<br />

aktuelle Gefahrenlage im Sinne einer Diagnose<br />

zu erfassen: Liegt eine akute Gefährdung<br />

im Sinne der Definition des Bundesgerichtshofs<br />

vor? Darüber hinaus bedarf es<br />

einer zukunftsbezogenen Einschätzung der<br />

Gefährdungsdynamik („Prognose“). Handlungsleitende<br />

Fragen sind dabei:<br />

J Wie wird sich die Gefährdungssituation<br />

ohne Intervention seitens des Staates<br />

weiter entwickeln?<br />

J Wie werden sich Eltern gegebenenfalls<br />

mit fachlicher Unterstützung und Begleitung<br />

verhalten?<br />

J Ist bei einer Fortdauer des elterlichen<br />

Verhaltens eine Schädigung des Kindeswohls<br />

zu erwarten, auch wenn sie jetzt<br />

noch nicht eingetreten ist? 6<br />

„Der Staat muss sich<br />

bis zur Schwelle einer<br />

Kindeswohlgefährdung<br />

auf Angebote an die<br />

Eltern beschränken. “<br />

4 BVerfGE 82,60, 81. Siehe<br />

auch Jestaedt, Ein Grundrecht<br />

auf Kinderbetreuung?,<br />

ZfJ 2000, 281<br />

5 BGH FamRZ 1956, 350 =<br />

NJW 1956 S. 1434<br />

6 Siehe dazu Schone, Probleme<br />

und Hürden bei der<br />

Umsetzung des § 8a SGB<br />

VIII, IKK-Nachrichten 1-2/<br />

2006, S.20 und Offe, Methoden<br />

zur Beurteilung des Verdachts<br />

auf Kindeswohlgefährdung,<br />

ZKJ 2007, 236.<br />

15


„Bevor wir deshalb<br />

staatliche Kontrollen<br />

verschärfen, sollten wir<br />

zu allererst eine Kultur<br />

des Hinschauens und<br />

der gesellschaftlichen<br />

Mitverantwortung<br />

fördern.“<br />

7 Von den jährlichen Ausgaben<br />

im Bereich der Kinder-<br />

und Jugendhilfe entfallen<br />

nur 0,4% auf diesen Leistungsbereich.<br />

16<br />

2. Konsequenzen für den Kinderschutz<br />

a) Kinderschutz als gesamtgesellschaftliche<br />

Herausforderung<br />

Die Fokussierung auf eklatante Fälle von<br />

Kindesvernachlässigung und auf die Eingriffsbefugnisse<br />

des Staates verstellt den<br />

Blick für ein weites Verständnis vom Kinderschutz.<br />

Dieser obliegt zunächst den Eltern<br />

im Hinblick auf ihr Kind im Rahmen<br />

ihrer Erziehungsverantwortung. Primäre<br />

Aufgabe des Staates ist es daher, Eltern in<br />

ihrer Erziehungskompetenz zu unterstützen<br />

und zu stärken.<br />

Eltern leben indes nicht auf einer Insel der<br />

Seeligen, sondern mitten in der Gesellschaft.<br />

Diese hat deshalb auch eine Verantwortung<br />

für die nachwachsende Generation.<br />

Bevor wir deshalb staatliche Kontrollen<br />

verschärfen, sollten wir zu allererst eine<br />

Kultur des Hinschauens und der gesellschaftlichen<br />

Mitverantwortung fördern.<br />

Die staatliche Mitverantwortung beschränkt<br />

sich aber nicht auf Hilfe und Schutz im Einzelfall.<br />

Durch die Entwicklung einer kinder<br />

und familienfreundlichen Gesellschaft, die<br />

aktive Bekämpfung von Kinderarmut, durch<br />

Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von<br />

Erwerbstätigkeit und Familie kann der Staat<br />

Zeichen setzen, dass er Erziehung wertschätzt,<br />

und Rahmenbedingungen dafür<br />

schaffen, dass Eltern Entlastung und Unterstützung<br />

erfahren. Kinderschutz ist deshalb<br />

auch eine strukturelle staatliche Aufgabe.<br />

Schließlich muss der Staat die zuständigen<br />

Behörden entsprechend ausstatten, damit<br />

sie in Fällen der Kindeswohlgefährdung die<br />

notwendigen Entscheidungen treffen können.<br />

Der individuelle Schutzauftrag, wie er<br />

in § 8a SGB VIII seinen gesetzlichen Ausdruck<br />

gefunden hat, behält auch dann seine<br />

Bedeutung, wenn die vorab genannten<br />

präventiven und strukturellen Ansätze verstärkt<br />

werden.<br />

b) Strategien im Kinderschutz<br />

Prävention und Intervention<br />

im Kinderschutz<br />

Den dramatischen Fällen von Kindesmisshandlung<br />

und Vernachlässigung, die mit<br />

dem Tod oder der schweren Verletzung von<br />

Kindern verbunden sind, geht immer ein<br />

mehr oder weniger langer Prozess der Destabilisierung<br />

der familialen Lebenssituation<br />

und der eskalierenden Belastung für das<br />

Kind voraus, dessen Anfang kaum genau<br />

identifiziert werden kann. Es erscheint deshalb<br />

notwendig, beim Thema Kinderschutz<br />

nicht sofort den Blick auf die spezifischen<br />

Aufgaben des Jugendamtes bei akuter Kindeswohlgefährdung<br />

zu verengen, sondern<br />

diesen gesamten Entwicklungsprozess und<br />

die Möglichkeiten der Einflussnahme in den<br />

Blick zu nehmen. Dieser Prozess lässt sich<br />

mit der vor allem aus der Medizin bekannten<br />

Terminologie in verschiedene Abschnitte<br />

unterteilen, die freilich im realen Ablauf<br />

nahtlos ineinander übergehen.<br />

Kinderschutz beginnt bereits bei der primären<br />

Prävention, also der Aufklärung und Information<br />

über die Bedürfnisse des Kindes,<br />

bei der Beratung über Pflege und Erziehung,<br />

der Vermittlung von elterlicher Erziehungskompetenz.<br />

Sie kann gar nicht früh<br />

genug beginnen, weshalb immer wieder<br />

auch ein Fach Erziehungslehre in der Schule<br />

gefordert wird. Die Verbesserung der elterlichen<br />

Erziehungskompetenz (in diesem<br />

Frühstadium) ist auch Aufgabe der Kinder<br />

und Jugendhilfe und Ziel der allgemeinen<br />

Förderung der Erziehung in der Familie<br />

nach § 16 SGB VIII. Bewertet man die Bedeutung<br />

dieser Leistung nach den dafür investierten<br />

Mitteln, so führt sie in der Kinder<br />

und Jugendhilfe bis heute ein Schattendasein.<br />

7<br />

Kinderschutz geht dann über in die sekundäre<br />

Prävention, also die Unterstützung<br />

von Eltern in belastenden Lebenssituationen,<br />

die spezifische Risiken für Kinder bergen.<br />

Dazu zählen etwa TeenagerSchwangerschaften<br />

ebenso wie unzureichende<br />

Wohnverhältnisse, die (psychische) Erkrankung<br />

von Eltern(teilen) oder grundlegende<br />

Konflikte in der Partnerschaft. In diesem<br />

Stadium geht es darum, den Zugang<br />

zu solchen Eltern zu finden, um durch helfende<br />

und unterstützende Maßnahmen Belastungen<br />

abzubauen und der Entwicklung<br />

einer weiteren Gefährdungsdynamik rechtzeitig<br />

zu begegnen.<br />

Schließlich sprechen wir von Intervention<br />

im Kinderschutz. Dabei denken wir Juristen<br />

zu allererst an die Schwelle der Kindes-


wohlgefährdung, wie sie dem Auftrag des<br />

Familiengerichts nach § 1666 BGB zugrunde<br />

liegt, aber bereits das Ergebnis der Gefährdungseinschätzung<br />

nach § 8 a SGB VIII<br />

im Jugendamt sein kann und deshalb nicht<br />

zwingend zur Anrufung des Familiengerichts<br />

führt . 8<br />

Die Akteure im Kinderschutz<br />

Nimmt man dieses breite Spektrum des<br />

Kinderschutzes in den Blick, dann wird<br />

auch ein großer Kreis von Personen und<br />

Institutionen sichtbar, der diesem Kinderschutz<br />

verpflichtet ist. Dies sind zu allererst<br />

immer wieder die Eltern, denen<br />

im Rahmen ihrer Erziehungsverantwortung<br />

im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG<br />

auch der Schutz des Kindes vor Gefahren<br />

für ihr Wohl obliegt. Es sind darüber hinaus<br />

die Jugendämter, die als staatliche<br />

Behörden zur Wahrnehmung des Schutzauftrags<br />

bei Kindeswohlgefährdung berufen<br />

sind, sowie die Familiengerichte, denen<br />

nach unserer Rechtsordnung Eingriffe<br />

in die elterliche Erziehungsverantwortung<br />

bei einer Kindeswohlgefährdung vorbehalten<br />

sind. Dem Kinderschutz verpflichtet ist<br />

auch die Polizei, deren Auftrag freilich primär<br />

der Aufrechterhaltung der öffentlichen<br />

Sicherheit und Ordnung und der Strafverfolgung<br />

gilt. Kinderschutz ist aber darüber<br />

hinaus auch Aufgabe der Ärzte und anderer<br />

Berufe im Gesundheitssystem, denen<br />

die Begleitung Schwangerer, die Unterstützung<br />

bei der Säuglingspflege, die Behandlung<br />

von Krankheiten, sowie Früherkennung,<br />

Vorbeugung und Vorsorge obliegen.<br />

Schließlich ist Kinderschutz (jedenfalls implizit)<br />

Aufgabe aller Personen und Dienste,<br />

die vertraglich Beratung, Betreuung oder<br />

Therapie von Kindern oder Jugendlichen<br />

übernehmen.<br />

Bei dieser Auflistung wird aber bereits<br />

deutlich, dass die Aufträge der genannten<br />

Institutionen im Einzelfall unterschiedlich<br />

sind, sich diese Institutionen bzw. Fachdisziplinen<br />

dem Thema Kindesschutz also<br />

aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.<br />

Damit werden sowohl die Notwendigkeit,<br />

aber auch Grenzen der Kooperation<br />

deutlich.<br />

Kinderschutz in diesem weiten Verständnis<br />

erfordert je nach Gefahrenlage unterschiedliche<br />

Zugangswege: Beginnend bei<br />

Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />

der Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für<br />

die Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben<br />

von Kindern über den Kontakt mit schwangeren<br />

Frauen und jungen Müttern über<br />

Hebammen und in Geburtskliniken bis hin<br />

zur Gewährung von sozialpädagogischer<br />

Familienhilfe bei strukturell belasteten Familien<br />

und schließlich dem (im Einzelfall<br />

notwendigen flankierenden) Einsatz der Polizei<br />

bei Herausnahme von Kindern in akuten<br />

Gefährdungssituationen.<br />

Die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen<br />

Institutionen und Professionen führen<br />

auch zu unterschiedlichen fachlichen<br />

Einschätzungen über die notwendigen<br />

Maßnahmen der „Gefahrenabwehr“. Dies<br />

beginnt bereits beim Erkennen und bei<br />

der Beschreibung der jeweils erkennbaren<br />

Symptome. Voraussetzung für jede fachliche<br />

Kommunikation und institutionelle Kooperation<br />

ist daher eine gemeinsame Sprache,<br />

aber auch die Kenntnis des jeweils<br />

eigenen und des anderen Auftrags.<br />

Schließlich erfordern unterschiedliche Gefährdungszustände<br />

auch einen unterschiedlichen<br />

d. h. jeweils situationsangemessenen<br />

Umgang mit sozialen Daten. Die<br />

Fachwelt ist sich darüber einig, dass Kinderschutz<br />

Datenschutz braucht als Basis<br />

für den Zugang und die Vertraulichkeit, und<br />

die Befugnis zur Datenerhebung bzw. Weitergabe<br />

ohne Kenntnis der Eltern erst ab<br />

einer bestimmten Risikoschwelle für das<br />

Kind, nicht aber zur bloßen vorbeugenden<br />

Kontrolle elterlichen Handelns eröffnet<br />

wird. Entsprechendes gilt auch für die ärztliche<br />

Schweigepflicht und deren Grenzen.<br />

Der Zugang zum Familiensystem<br />

Der Zugang zum Familiensystem ist die<br />

zentrale Voraussetzung für das (rechtzeitige)<br />

Erkennen von Risikofaktoren und das<br />

Angebot von Hilfe. Die Zugangsfrage ist<br />

damit die Schlüsselfrage für einen effektiven<br />

Kindesschutz. Während die Inanspruchnahme<br />

ärztlicher Hilfe gesellschaftlich<br />

allseits akzeptiert ist („ich bin krank“)<br />

gilt die Inanspruchnahme von erzieherischer<br />

Hilfe („ich brauche Unterstützung<br />

bei der Erziehung meines Kindes“) immer<br />

noch als Stigma, als Zeichen von Unfähigkeit<br />

oder wird sogar als Indiz für einen<br />

Leistungsmissbrauch angesehen. Die gesellschaftliche<br />

Stigmatisierung von „Hilfe“<br />

„Kinderschutz in diesem<br />

weiten Verständnis<br />

erfordert je nach Gefahrenlageunterschiedliche<br />

Zugangswege.“<br />

8 Siehe dazu im Einzelnen<br />

unter 3 c in diesem Beitrag<br />

17


„Kinderschutz in diesem<br />

weiten Verständnis<br />

erfordert je nach Gefahrenlageunterschiedliche<br />

Zugangswege.“<br />

9 Nähere Informationen sind<br />

unter www.fruehehilfen.de<br />

abrufbar.<br />

18<br />

durch das Jugendamt ist einerseits durch<br />

die lange Tradition einer kontrollierenden<br />

und bevormundenden Jugendhilfe begründet,<br />

erhält aber letztlich immer wieder ihre<br />

Bestätigung durch die strukturelle Ambivalenz<br />

von Hilfe und Kontrolle, die der Aufgabenstellung<br />

des Jugendamts innewohnt.<br />

Bereits aus strategischen Gründen bietet<br />

es sich daher an, den (frühen) Zugang<br />

zum ElternKindSystem über das Gesundheitssystem<br />

zu suchen, dieses gewissermaßen<br />

als „Türöffner“ zu benutzen. Dort<br />

setzen auch die in den letzten Jahren entwickelten<br />

Modellprogramme früher Hilfen<br />

an. Schwangerschaft und Geburt eröffnen<br />

Gelegenheiten zum Kontakt, zur Beratung<br />

und Unterstützung. Dabei gilt es jedoch<br />

deutlich zu machen, dass diese Unterstützung<br />

nicht aufgedrängt und auf diese Weise<br />

Kontrolle durch die Hintertür etabliert<br />

wird. Dies gilt dann auch für den Schutz<br />

des Vertrauens und den Umgang mit den<br />

Sozialdaten.<br />

3. Neuere Entwicklungen im Kinderschutz<br />

a) Modelle Früher Hilfen und Sozialer<br />

Frühwarnsysteme<br />

Mit dem Ziel, Eltern möglichst früh zu erreichen<br />

und damit Vernachlässigung und<br />

Misshandlung von Kindern wirksam vorzubeugen,<br />

wurden in den Ländern und auf<br />

der Bundesebene in den letzten Jahren<br />

verschiedene Modellprogramme etabliert.<br />

Sie setzen bereits in der Zeit der Schwangerschaft<br />

und um die Geburt an und wollen<br />

ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/<br />

Hebamme und der Mutter und ggf. dem<br />

Vater aufbauen. Im Vordergrund stehen Beratung<br />

und Unterstützung in allen Fragen<br />

der Pflege, Ernährung und Förderung des<br />

Kleinkindes. Werden weitergehende Bedarfe,<br />

wie psychosoziale Hilfen erkennbar, so<br />

werden mit dem Einverständnis der Eltern<br />

weitere Hilfen installiert und ggf. der Kontakt<br />

zum Jugendamt hergestellt.<br />

Im Fokus des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen<br />

für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“<br />

des Bundes 9 stehen vor allem<br />

Kinder bis zu etwa drei Jahren, sowie<br />

Schwangere und junge Mütter und Väter in<br />

belastenden Lebenslagen. Um die Zielgruppe<br />

wirkungsvoll zu erreichen und fachlich<br />

kompetent begleiten zu können, müssen<br />

Gesundheitssystem und Kinder und Jugendhilfe<br />

eng miteinander verzahnt werden.<br />

Der Bund stellt für das Programm im Zeitraum<br />

20062010 zehn Millionen Euro bereit.<br />

Die Umsetzung des Programms erfolgt in<br />

enger Abstimmung mit den Ländern und<br />

den Kommunen, in deren Verantwortung<br />

der Schutz von Kindern auf der örtlichen<br />

Handlungsebene liegt. In verschiedenen<br />

Regionen Deutschlands existieren bereits<br />

einzelne lokal begrenzte Projekte und Modelle<br />

zur Unterstützung der Entwicklung<br />

und zu einem besseren Schutz in der frühen<br />

Kindheit.<br />

Um an deren Erfahrungen anzuknüpfen,<br />

hat das Deutsche Jugendinstitut im Auftrag<br />

des Bundesministeriums für Familie, Senioren,<br />

Frauen und Jugend einige gemeinsam<br />

mit den Ländern ausgewählte Projekte<br />

in einer Kurzevaluation hinsichtlich ihrer<br />

Stärken und Schwächen und offener Fragen<br />

untersucht. Auf der Grundlage dieser<br />

Ergebnisse fördert der Bund die wissenschaftliche<br />

Begleitung und Wirkungsevaluation<br />

von Modellprojekten, die in Abstimmung<br />

mit den Bundesländern konzipiert<br />

und ausgewählt wurden. Die in allen Ländern<br />

arbeitenden Modellprojekte entwickeln<br />

und erproben effektive Vernetzungsstrukturen<br />

und erarbeiten Lösungen für<br />

unterschiedliche Fragestellungen.<br />

Ein wesentlicher Baustein in diesem Aktionsprogramm<br />

ist das multiprofessionelle<br />

„Nationale Zentrum Frühe Hilfen“, das im<br />

April 2007 seine Arbeit aufgenommen hat.<br />

Träger sind die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />

Aufklärung (BZgA) und das Deutsche<br />

Jugendinstitut (DJI). Das Zentrum<br />

koordiniert die im Rahmen des Modellprogramms<br />

geförderten Projekte und stellt die<br />

gewonnenen Erkenntnisse und alle relevanten<br />

Informationen rund um die Frühen Hilfen<br />

für Kommunen, Träger und Fachkräfte<br />

bereit.<br />

b) Die Diskussion um Pflichtuntersuchungen<br />

und Alternativen<br />

Vor dem Hintergrund dramatischer Fälle<br />

von Kindesmisshandlung und vernachlässigung<br />

ist in den letzten Jahren immer wieder


gefordert worden, die Kinderuntersuchungen<br />

auch zur Vorbeugung von Kindeswohlgefährdung<br />

zu nutzen oder damit einer bereits<br />

eingetretenen Kindeswohlgefährdung<br />

wirkungsvoll zu begegnen. Innerhalb der<br />

Fachwelt wird kontrovers diskutiert, ob der<br />

Nutzen den Aufwand rechtfertigt, vor allem<br />

aber, ob es nicht wirkungsvollere Alternativen<br />

gibt. Zum einen wird bezweifelt,<br />

ob auf diese Weise gerade diejenigen Eltern<br />

erreicht werden, die sich der Verpflichtung<br />

mit allen Mitteln entziehen wollen. Zudem<br />

sind die Untersuchungsintervalle z. T.<br />

so groß, dass eine kontinuierliche Entwicklungsbegleitung<br />

kaum möglich ist. Schließlich<br />

sind die Ärzte auch nur bedingt, in der<br />

Lage, Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung<br />

zu erkennen.<br />

Der Gemeinsame Bundesausschuss wird<br />

zu diesem Zweck die sog. Kinderrichtlinie<br />

überarbeiten. Einzelne Länder haben inzwischen<br />

die Pflicht zur Teilnahme an den Untersuchungen<br />

gesetzlich geregelt. In anderen<br />

Ländern ist inzwischen das Konzept<br />

des „verbindlichen Einladungswesens“<br />

im Rahmen von Kinderschutzgesetzen installiert<br />

worden. Über die Meldebehörden<br />

werden Eltern zu den Untersuchungen<br />

eingeladen. Von den Ärzten erfolgen Rückmeldungen<br />

über die vorgestellten Kinder.<br />

Durch einen Datenabgleich wird festgestellt,<br />

welche Kinder nicht an der Vorsorgeuntersuchung<br />

teilgenommen haben. Daraufhin<br />

erfolgen nochmalige Einladungen und ggf.<br />

Hausbesuche durch den öffentlichen Gesundheitsdienst<br />

oder das Jugendamt.<br />

c) Die Konkretisierung des Schutzauftrags<br />

der Jugendhilfe in § 8a<br />

SGB VIII<br />

Der durch das Kinder und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz<br />

(KICK) mit Wirkung<br />

vom 01.10.2005 in das SGB VIII eingeführte<br />

neue § 8a strukturiert den bereits bestehenden<br />

Schutzauftrag des Jugendamtes im<br />

Fall einer Kindeswohlgefährdung und verknüpft<br />

ihn mit den Handlungspflichten der<br />

Leistungserbringer (freie Träger). Das Herzstück<br />

der Regelung bildet die Pflicht des<br />

Jugendamtes, bei „gewichtigen Anhaltspunkten<br />

für eine Kindeswohlgefährdung“<br />

eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen<br />

und dabei Eltern und Kind zu beteiligen,<br />

sofern dadurch der wirksame Kindesschutz<br />

nicht in Frage gestellt wird.<br />

Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />

Darüber hinaus verpflichtet die Vorschrift<br />

die Jugendämter, sicherzustellen, dass<br />

die Leistungserbringer „den Schutzauftrag<br />

in entsprechender Weise wahrnehmen“.<br />

Damit wird nicht eine Aufgabe des<br />

Jugendamtes delegiert, sondern deutlich<br />

gemacht, dass die Leistungserbringer im<br />

Rahmen ihrer vertraglich gegenüber den Eltern<br />

zugunsten des Kindes übernommenen<br />

Förderpflichten auch Schutzpflichten übernommen<br />

haben, die im Einzelfall auch eigenverantwortlich<br />

wahrzunehmen sind.<br />

Diese Pflichten sind aufgrund der mangelnden<br />

rechtlichen Ausformung der Verträge<br />

zwischen Eltern und Einrichtungen bzw.<br />

Diensten (z. B. Beratungsstellen, Kindertagesstätten)<br />

nicht im Blickfeld und werden<br />

nun aktiviert. Vor allem die Träger solcher<br />

Einrichtungen und Dienste, die nicht unmittelbar<br />

Hilfen zur Erziehung erbringen und<br />

mit der Problematik einer Gefährdungseinschätzung<br />

weniger vertraut sind, sind nun<br />

gehalten, ihre Fachkräfte zu schulen und<br />

ggf. Unterstützung von Experten zu holen<br />

(„insoweit erfahrene Fachkräfte“ i. S. von<br />

§ 8a Abs.2 SGB VIII).<br />

Erst wenn es ihnen nicht gelingt, Eltern<br />

dazu zu motivieren, fachkundige Hilfe zur<br />

Abwehr der Gefährdung in Anspruch zu<br />

nehmen und ggf. selbst das Jugendamt<br />

aufzusuchen, sind sie berechtigt und verpflichtet,<br />

das Jugendamt zu informieren,<br />

damit dieses mit seinen rechtlichen Möglichkeiten<br />

die weitere Gefährdung des Kindeswohls<br />

abwendet. In Betracht kommen<br />

dabei für das Jugendamt<br />

J das Angebot von Hilfe zur Erziehung,<br />

J die Anrufung des Familiengerichts,<br />

J die Inobhutnahme des Kindes oder Jugendlichen.<br />

d) Die Änderung von § 1666 BGB<br />

Im Bundestag liegt der Entwurf eines „Gesetzes<br />

zur Erleichterung familiengerichtlicher<br />

Maßnahmen bei Gefährdung des<br />

Kindeswohls“ vor 10 . Er enthält sowohl Änderungen<br />

im materiellen wie im Verfahrensrecht<br />

und soll in den nächsten Wochen abschließend<br />

beraten werden. Dabei stützt er<br />

sich auf die Empfehlungen einer vom Bundesministerium<br />

der Justiz eingesetzten Arbeitsgruppe,<br />

die aus multiprofessioneller<br />

Sicht Möglichkeiten zur Verbesserung des<br />

Kindesschutzes erarbeitet hat.<br />

10 Bundestags-Drucks. 16/<br />

6815 vom 24.10.2007<br />

19


20<br />

Verzicht auf Feststellung elterlichen<br />

Erziehungsversagens<br />

Entsprechend dem Votum der Arbeitsgruppe<br />

soll zukünftig die Feststellung eines elterlichen<br />

Erziehungsversagens keine Voraussetzung<br />

mehr für das Tätigwerdens des<br />

Familiengerichts nach § 1666 BGB sein.<br />

Unverändert bestehen bleiben jedoch die<br />

Voraussetzung der Gefährdung des Kindeswohls<br />

und die Feststellung, dass die Eltern<br />

nicht gewillt oder in der Lage sind, die<br />

Gefährdung abzuwenden. Erwartet wird,<br />

dass auf diese Weise eine bessere Kooperation<br />

mit den Eltern im Hinblick auf die anschließend<br />

zu leistenden Hilfen gewährleistet<br />

werden kann.<br />

Konkretisierung der Rechtsfolgen nach<br />

§ 1666 BGB<br />

Bisher findet sich dazu in § 1666 BGB nur<br />

die Aussage, dass das Familiengericht die<br />

erforderlichen Maßnahmen trifft. In der<br />

Praxis steht dem Familiengericht ein breites<br />

Spektrum von Reaktionen zur Verfügung.<br />

Rechtstatsächliche Untersuchungen<br />

haben jedoch deutlich gemacht, dass<br />

das Schwergewicht des richterlichen Eingriffs<br />

bisher im völligen oder teilweisen<br />

Entzug der elterlichen Sorge besteht. Um<br />

die ganze Vielfalt der möglichen Eingriffe<br />

durch die Gerichte besser ausschöpfen<br />

zu lassen und weniger gravierende Maßnahmen<br />

anzuregen, soll ein differenzierter<br />

Katalog richterlicher Reaktionsformen<br />

im Gesetz aufgeführt werden. Allerdings<br />

wird in der Fachpraxis skeptisch beurteilt,<br />

ob nach (der weiterhin notwendigen)<br />

Feststellung einer Kindeswohlgefährdung<br />

„niederschwellige“ Reaktionen in der Regel<br />

überhaupt noch geeignet und ausreichend<br />

sind.<br />

Erörterung der Kindeswohlgefährdung<br />

Um eine verbesserte Kooperation und<br />

eine stärkere Akzeptanz der vorgesehenen<br />

Maßnahmen bei den Eltern zu fördern,<br />

hat der Gesetzgeber eine verfahrensrechtliche<br />

Neuregelung in § 50 FGG vorgesehen.<br />

Danach soll das Gericht im Verfahren<br />

nach den §§ 1666, 1666 a BGB mit den Eltern<br />

und in geeigneten Fällen auch mit den<br />

Kindern erörtern, wie eine Gefährdung des<br />

Kindeswohls abgewendet werden kann.<br />

Die richterliche Autorität soll zu dem Zweck<br />

eingesetzt werden, Eltern für die Annahme<br />

der vom Jugendamt als sinnvoll angesehenen<br />

Leistungen zu gewinnen.<br />

Überprüfungspflicht des Familien-<br />

gerichts<br />

Hat das Familiengericht im Rahmen des<br />

Verfahrens nach § 1666 BGB keine Maßnahmen<br />

getroffen, so soll dem Richter<br />

künftig auferlegt werden, sich nach einer<br />

gewissen Zeit davon zu überzeugen, dass<br />

ein gerichtliches Eingreifen (weiterhin) nicht<br />

erforderlich ist. Damit soll die Autorität des<br />

Gerichts in den Fällen, in denen es „nur“<br />

zu einer Erörterung der Kindeswohlgefährdung<br />

und keiner förmlichen Maßnahme<br />

kommt, weiter gestärkt werden. Zugleich<br />

wird neben dem Jugendamt auch dem Gericht<br />

selbst die Pflicht auferlegt, Hilfeverläufe<br />

in einem gewissen zeitlichen Abstand<br />

noch einmal daraufhin zu überprüfen, ob<br />

die eingeleiteten Maßnahmen wirksam und<br />

ausreichend sind oder familiengerichtliche<br />

Maßnahmen angezeigt sind. Ausdrücklich<br />

nicht intendiert ist damit jedoch eine Dauerbeobachtung<br />

einer einmal im Verfahren<br />

nach § 1666 BGB in Erscheinung getretenen<br />

Familie.<br />

Verfahrensrechtliches Beschleunigungsgebot<br />

Das Familiengericht soll künftig gesetzlich<br />

verpflichtet werden, spätestens einen<br />

Monat nach Einleitung des Verfahrens einen<br />

Termin anzusetzen, in dem die Sache<br />

mit den Beteiligten, deren persönliches Erscheinen<br />

anzuordnen ist, und dem Jugendamt<br />

zu erörtern ist. Das damit verbundene<br />

Ziel kann jedoch in der Praxis nur erreicht<br />

werden, wenn entsprechende personelle<br />

Ressourcen bei den Gerichten (aber auch<br />

bei den Jugendämtern) zur Verfügung gestellt<br />

werden.<br />

e) Neue Ansätze zur Verbesserung<br />

der Erziehungskompetenz der Eltern<br />

Auch im primärpräventiven Segment sind<br />

neue Ansätze erkennbar. Die zentrale Herausforderung<br />

für die Kinder und Jugendhilfe<br />

besteht darin, ihr Angebotsspektrum<br />

zur Verbesserung der Erziehungskompetenz<br />

der Eltern adressatengerecht weiterzuentwickeln,<br />

um auf diese Weise einen<br />

wirksamen Beitrag zur Prävention von Kin-


deswohlgefährdung zu leisten. Dazu zählen<br />

neben niederschwelligen Angeboten von<br />

Elterntraining auch neue Angebotsformen<br />

wie die ElternKindZentren, die darauf abzielen,<br />

sowohl Elternkompetenzen zu stärken,<br />

als auch Kinder zu fördern.<br />

ElternKindZentren wollen eine bedarfsgerechte,<br />

integrierte Angebotsstruktur entwickeln,<br />

mit denen Bildungs und Entwicklungsprozesse<br />

von Kindern gefördert und<br />

Eltern bzw. Familien unterstützt werden.<br />

Mit dem Anschluss an zusätzliche regionale<br />

Angebote und eingebettet in lokale Strukturen<br />

kann ein breit gefächertes Unterstützungssystem<br />

aufgebaut werden. 11<br />

In verschiedenen Bundesländern sind inzwischen<br />

Landesprogramme aufgelegt<br />

worden, um dieses Modell in verschiedenen<br />

Varianten zu fördern: So plant die Landesregierung<br />

hier in Nordrhein<strong>Westfalen</strong><br />

die Weiterentwicklung von 30% der 9.000<br />

Kindertageseinrichtungen bis 2012 zu Familienzentren.<br />

Das Land hat ein Pilotprogramm<br />

aufgelegt, das die Entwicklung<br />

durch wissenschaftliche Begleitung und<br />

Beratungsprozesse unterstützt. Durch ein<br />

konzeptgebundenes Gütesiegel, das erfolgreich<br />

zertifizierte Einrichtungen erhalten,<br />

soll die Unterscheidung zu den Regelkindertagestätten<br />

deutlich werden und der<br />

fachliche Entwicklungsprozess vorangetrieben<br />

werden. Die Einrichtungen werden mit<br />

12.000 Euro pro Jahr unterstützt.<br />

f) Kinderschutz zwischen Öffentlichkeit<br />

und Privatheit<br />

Die Frage, wann und in welcher Weise der<br />

private Lebensraum eines Kindes und einer<br />

Familie vom Staat beobachtet, bewertet<br />

und zum Gegenstand einer Intervention<br />

gemacht werden kann und soll, berührt<br />

nicht nur das Spannungsverhältnis von eigenständigem<br />

Elternrecht und der Gewährleistung<br />

des Kindeswohls, sondern die<br />

grundlegende Frage des Verhältnisses von<br />

Öffentlichkeit und Privatheit, von gesellschaftlicher<br />

Kontrolle und individueller Freiheit.<br />

In diesem Zusammenhang erscheint<br />

es angezeigt, manche der propagierten<br />

Präventionskonzepte auch einmal kritisch<br />

unter die Lupe zunehmen. So einleuchtend<br />

deren Ziel ist, Eltern und Kinder möglichst<br />

früh, also bevor sich Konflikte und Krisen<br />

zuspitzen, zu erreichen, so sehr muss aber<br />

Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />

auch vor der Erwartung gewarnt werden,<br />

damit jedes Kind wirksam schützen zu können.<br />

Schließlich sollte bei allen Bemühungen,<br />

durch Begrüßungspakete, Hausbesuche,<br />

aufsuchende Hilfen etc., Kontakte zu Familien<br />

zu knüpfen, transparent bleiben, in<br />

welcher Rolle Amtspersonen tätig werden:<br />

Im Rahmen von Öffentlichkeitsarbeit<br />

für die Behörde, als Anbieter von Hilfe aufgrund<br />

von Anhaltspunkten für Belastungen<br />

und Risiken in der Familie oder als staatliche<br />

Eingriffsinstanz zur Abwehr einer akuten<br />

Kindeswohlgefährdung.<br />

Im Hinblick auf den Präventionsgedanken<br />

bedeutet dies, dass zu unterscheiden<br />

ist zwischen niederschwelligen Angeboten<br />

und vorverlagerter Kontrolle. Es wäre fatal,<br />

wenn junge Eltern nur noch oder in erster<br />

Linie unter dem Blickwinkel einer potentiellen<br />

künftigen Kindeswohlgefährdung wahrgenommen<br />

würden.<br />

Das Bundesjugendkuratorium bemerkt<br />

dazu:<br />

„Der „präventive Blick“ bedarf der immanenten<br />

Korrektur, weil ansonsten zuvörderst<br />

die Risiken und weniger die Entwicklungspotentiale<br />

markiert werden. In diesem Sinne<br />

muss die Gesellschaft – und hier insbesondere<br />

Akteure aus der Jugendhilfe, aus<br />

der Politik und aus den Medien – ein Bewusstsein<br />

dafür schaffen, dass man – bei<br />

aller notwendigen Prävention – auch „der<br />

Prävention vorbeugen“ muss. Darin eingeschlossen<br />

ist die Entscheidung, mit welchem<br />

Teil von „Risiko“ man zugunsten von<br />

Freiheit leben will.“ 12<br />

Wir alle sind daher aufgerufen, immer wieder<br />

J die Balance zwischen dem Respekt gegenüber<br />

Eltern und ihren Bemühungen zu<br />

suchen,<br />

J für das Wohl ihrer Kinder nach ihren Möglichkeiten<br />

zu sorgen und<br />

J der Verpflichtung, Kinder vor Gefahren für<br />

ihr Wohl zu schützen.<br />

„ElternKindZentren<br />

wollen eine bedarfsgerechte,<br />

integrierte<br />

Angebotsstruktur<br />

entwickeln, mit denen<br />

Bildungs und Entwicklungsprozesse<br />

von<br />

Kindern gefördert und<br />

Eltern bzw. Familien<br />

unterstützt werden.“<br />

11 Siehe dazu Diller in DJI<br />

(Hg.) DJI Bulletin 80 3/4<br />

2007 S. 17 ff. m.w.N.<br />

12 Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums<br />

vom<br />

Dezember 2007, Jugendamt<br />

2008, 72.<br />

21


22<br />

Peter Lukasczyk J<br />

Notwendige Module und<br />

Standards für einen gelingenden<br />

Kindesschutz in der Kommune<br />

Peter Lukasczyk J Jugendamt der Stadt Düsseldorf<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Mein Vortrag soll verdeutlichen, dass die<br />

kommunale Praxis in den Jugendämtern<br />

sehr wohl in der Lage wäre, nationale und<br />

internationale Standards in ihrer Arbeit zu<br />

übernehmen. Ich möchte Ihnen zum einen<br />

einen Problemabriss zu den prekären Kinderschutzfällen<br />

geben, im Weiteren die Zusammenarbeit<br />

zwischen Jugendhilfe und<br />

Gesundheitshilfe vorstellen, die Angebote<br />

der Frühen Hilfen in diesem Kontext präsentieren<br />

und die notwendigen Kooperationsvereinbarungen<br />

sowie die Instrumente<br />

zur Gefährdungseinschätzung vorstellen.<br />

Abgerundet wird diese Vorstellung durch<br />

einen Ausblick auf das Thema Risikomanagement<br />

und Qualitätsmanagement, Zertifizierung<br />

und Auditierung sowie einen<br />

Blick auf das Thema Öffentlichkeitsarbeit<br />

im Zusammenhang mit Kinderschutz.<br />

Problemlage<br />

Deutschland ist durch eine Reihe tragischer<br />

Todesfälle von Kindern aufgeschreckt.<br />

Staatliche Organisationen sind unzureichend<br />

vorbereitet, hilfreiche Systeme zur<br />

Verringerung solcher Fälle aufzubauen. Es<br />

gibt bundesweit keine einheitlichen Verfahren.<br />

Die für die Jugend und Gesundheitshilfe<br />

zuständigen Kommunen sind häufig<br />

überfordert. Dazu gehören bekannte Problemlagen,<br />

wie die mangelnde Kooperation<br />

zwischen Gesundheits und Jugendhilfe.<br />

Hierzu lassen sich ergänzende Untersuchungsberichte<br />

zu Todesfällen bei Kindesmisshandlung<br />

sowohl national wie auch international<br />

heranziehen. Kennzeichnend für<br />

diese Situation ist das Nebeneinander der<br />

zuständigen Organisationseinheiten in den<br />

beteiligten Hilfesystemen. Immer wieder<br />

wird deutlich, dass es fehlende oder unzureichende<br />

Instrumente zur Gefährdungseinschätzung<br />

gab. Ein Fehler oder Risikomanagement<br />

fehlte in nahezu allen Fällen.<br />

Hinweise auf fehlende Qualitätsstandards<br />

und die schlechte personelle Ausstattung<br />

bzw. unzureichend qualifiziertes Personal<br />

ergänzen diese Betrachtung. Einer der<br />

wesentlichen Befunde ist der übersteigerte<br />

Wunsch der Kommunen nach eigenen<br />

Wegen und Verfahren. Es scheint in<br />

Deutschland schwierig zu sein, bewährte<br />

best practiceModelle in kommunales Handeln<br />

zu übernehmen. Stattdessen werden<br />

unterschiedliche Hilfesysteme neu zusammengeschoben<br />

und verursachen dadurch<br />

weitere SchnittstellenProbleme, die im<br />

Zweifelsfall zu sehr gefährlichen Mischungen<br />

werden können.<br />

Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe<br />

und Gesundheitshilfe<br />

Hierbei ist eindeutig zu konstatieren, dass<br />

ein gelingender Kinderschutz nur in der Kooperation<br />

von Gesundheitshilfe und Jugendhilfe<br />

zustande kommen kann. Diese<br />

beiden Bereiche stellen die Kernstruktur<br />

sowohl der Hilfeleistung, wie auch der Intervention<br />

dar. Insbesondere bei dem Thema<br />

„Frühe Hilfen und Präventionsarbeit“<br />

ist diese Zusammenarbeit unerlässlich. Dabei<br />

ist die gegenseitige Akzeptanz bei der<br />

Professionen notwendige Voraussetzung<br />

für erfolgreiches Handeln. Einer der ersten<br />

Schritte gilt daher der Entwicklung eines<br />

gemeinsamen Problembewusstseins im<br />

Sinne eines effektiven Kinderschutzes.<br />

Angebote der Frühen Hilfen<br />

In den letzten Jahren hat sich in Deutschland<br />

das Thema der „Frühen Hilfen“ immer<br />

mehr etabliert. Hierbei geht es nicht um einen<br />

primären Präventionsansatz, der sich<br />

grundsätzlich an alle Familien mit Kindern<br />

richtet, sondern vielmehr um die Identifizierung<br />

von Risikofamilien durch verbindliche<br />

Zusammenarbeit. Fest steht hierbei, dass


die Familien in Risikolagen eine besondere<br />

Aufmerksamkeit der Systeme erfordern<br />

und hier ein kooperatives Miteinander unter<br />

Einbeziehung der Familien entwickelt werden<br />

muss. Als Kooperationspartner seien<br />

hier exemplarisch die Geburts- und Kinderkliniken,<br />

die Psychiatrischen Kliniken, die<br />

niedergelassenen Kinderärzte, die niedergelassenen<br />

Hebammen und Geburtshäuser<br />

sowie die niedergelassenen Gynäkologen<br />

und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen<br />

zu nennen. Um diesen Familien adäquate<br />

und strukturelle Hilfeleistungen<br />

anzubieten, bedarf es des Ausbaus der Familienbildungsangebote<br />

durch gezielte und<br />

evaluierte Programme sowie eines den Bedarfen<br />

angepassten Ausbaus der Erziehungs<br />

und Gesundheitsberatungsstellen.<br />

Kooperationsvereinbarungen<br />

Die für den Kinderschutz notwendigen Kooperationsvereinbarungen<br />

bedürfen einer<br />

verbindlichen Partnerschaft und verbindlicher<br />

Inhalte zur Beschreibung der Schnittstellen,<br />

der Beschreibung der gemeinsamen<br />

Prozesse und der Beschreibung der<br />

gemeinsamen Verpflichtungen. Hierbei<br />

eignen sich insbesondere Kooperationsvereinbarungen<br />

des Jugendamtes mit Einrichtungen<br />

und Trägern der Jugendhilfe, mit<br />

dem Schulbereich und der Gesundheitshilfe<br />

sowie der Psychiatrie.<br />

Instrumente zur Gefährdungseinschätzung<br />

Um aus der Vielzahl der Überprüfungen<br />

und Erkenntnisse eine qualifizierte Aussage<br />

zur weiteren Vorgehensweise zu treffen,<br />

bedarf es evaluierter Instrumente zur Gefährdungseinschätzung.<br />

Aufgrund der gesetzlichen<br />

Normierung bedarf es dieser Instrumente,<br />

insbesondere in der Jugendhilfe,<br />

analog der Notwendigkeiten, die im<br />

§ 8 a SGB VIII definiert wurden. Diese Instrumente<br />

zur Gefährdungseinschätzung<br />

bedürfen einer Standardisierung der möglichen<br />

Gefährdungsbeschreibung, eines altersentsprechenden<br />

Clusters, der den unterschiedlichen<br />

Entwicklungsphasen und<br />

Förderungsnotwendigkeiten entspricht und<br />

letztlich müssen bei den Beobachtungsinhalten<br />

unterschiedliche Dimensionen des<br />

Verhaltens berücksichtigt werden.<br />

Risikomanagement<br />

Zum jetzigen Zeitpunkt stellt das Thema Risikomanagement<br />

ein unbeachtetes Thema<br />

in der Jugendhilfe dar. Hierbei handelt es<br />

sich um die systematische Untersuchung<br />

von Fehlerquellen, die mit unterschiedlichen<br />

Methoden herausgearbeitet werden<br />

können. Dazu werden spezielle Workshops<br />

benötigt, die durch systematisierte Interviews<br />

ergänzt werden. Dazu bedarf es allerdings<br />

einer weitestgehend veränderten<br />

Haltung in der Praxis, da dies von der Bereitschaft<br />

abhängt, mit Fehlern oder beinahe<br />

passierten Fehlern geschützt in der<br />

Organisation zu agieren. Neben der Systematisierung<br />

und Untersuchung von Fehlerquellen<br />

bedarf es im Anschluss der Sicherung<br />

von Prozessen durch Methoden und<br />

Instrumente des Qualitätsmanagements.<br />

Einer dieser Punkte wäre die Erstellung eines<br />

Risikokataloges, in dem systematisiert<br />

alle Risikolagen erkannt, definiert und beschrieben<br />

sind. Hierzu zählen insbesondere<br />

regulatorische Risiken, wie z. B. die Nichteinhaltung<br />

von Gesetzen und Arbeitsanweisungen,<br />

das Erkennen von latenten Risiken<br />

und Ereignissen, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit<br />

auftreten, jedoch gravierende<br />

negative Auswirkungen auf die Organisation<br />

haben, wie etwa negative Berichterstattung<br />

in öffentlichen Medien.<br />

Ebenso bedeutsam ist die Untersuchung<br />

strategischer und operativer Organisationsrisiken,<br />

Trends oder Ereignisse mit positiver<br />

oder negativer Auswirkung auf den kurz<br />

oder langfristigen Erfolg. Hierzu zählt z. B.<br />

die öffentliche Wahrnehmung der beteiligten<br />

Organisationen in Kinderschutzfragen.<br />

Qualitätsmanagement<br />

In den mit dem Thema Kinderschutz beauftragten<br />

Organisationseinheiten ist ein<br />

qualifiziertes Qualitätsmanagement zu entwickeln<br />

und durch die Leitungskräfte zu<br />

verantworten. Hierbei gilt es nicht, eigene<br />

Qualitätsprozesse und verfahren zu kreieren,<br />

sondern vielmehr bestehende Qualitätsmanagementmethoden,<br />

wie z. B. TQM<br />

oder ISOVerfahren zu implementieren und<br />

umzusetzen. Insbesondere geht es um die<br />

Beschreibung von gemeinsamen Schlüsselprozessen<br />

zur Sicherung von Verfahren<br />

Referat J Peter Lukasczyk<br />

„Zum jetzigen Zeitpunkt<br />

stellt das Thema<br />

Risikomanagement ein<br />

unbeachtetes Thema in<br />

der Jugendhilfe dar.“<br />

23


24<br />

der Erkennung und der Bearbeitung. Die<br />

Organisation von kontinuierlichen Verbesserungsprozessen<br />

und eine kontinuierliche<br />

Investition in den Fortbildungs und Personalqualifizierungsbereich<br />

ergänzen diese<br />

Aufgabe.<br />

Öffentlichkeitsarbeit<br />

Abschließend soll dem Thema Öffentlichkeitsarbeit<br />

ein besonderer Stellenwert eingeräumt<br />

werden. Zum einen geht es um die<br />

Schaffung eines öffentlichen Klimas, das<br />

das Hinsehen und Einmischen befördert.<br />

Hierbei geht es nicht um ein typisches Meldeverhalten,<br />

sondern vielmehr um die Entwicklung<br />

einer öffentlichen Haltung, Menschen<br />

in Not anzusprechen und ihnen die<br />

Vermittlung von Hilfsleistungen anzubieten.<br />

Außerdem ist eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit<br />

zum Kinderschutz zu entwickeln,<br />

welche sich an die ortsansässigen<br />

unterschiedlichen Medienbereiche wendet.<br />

Ebenso bedeutsam ist die strukturelle Sicherung<br />

der Erreichbarkeit des Jugendamtes<br />

rund um die Uhr.<br />

Peter Lukasczyk ist Abteilungsleiter für die<br />

Sozialen Dienste im Jugendamt der Landeshauptstadt<br />

Düsseldorf und Unternehmensleiter<br />

von JHC Jugendhilfeconsulting<br />

Kontakt unter:<br />

peter.lukasczyk@stadt.duesseldorf.de;<br />

kontakt@jugendhilfe-consulting.de


Statement zur Abschlussdiskussion J Dr. Erwin Jordan<br />

„Strukturelle und gesetzliche<br />

Rahmenbedingungen für einen<br />

verbesserten Kinderschutz in<br />

Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>“<br />

Dr. Erwin Jordan J Institut für Soziale Arbeit e. V., Münster<br />

1. Stichwort: Gesetzliche Rahmenbedingungen<br />

Der Schutzauftrag war und ist für die Kinder-<br />

und Jugendhilfe von jeher ein zentraler<br />

und wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Auch<br />

wenn es nach unserer Verfassungslage das<br />

primäre Recht der Eltern und die ihnen zuförderst<br />

obliegende Pflicht ist, für ihre Kinder<br />

zu sorgen, so gibt es jedoch aus gutem<br />

Grund die staatliche und gesellschaftliche<br />

Verpflichtung, dieses Elternrecht nicht als<br />

schrankenloses, sondern als pflichtgebundenes<br />

Recht anzusehen. Von daher legitimiert<br />

sich auch das staatliche bzw. öffentliche<br />

„Wächteramt“.<br />

Allerdings ist durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz<br />

(KICK)<br />

vom Oktober 2005 hier ein neuer Akzent gesetzt<br />

worden. War das Thema Kinderschutz<br />

bislang nur im einleitenden § 1 SGB VIII und<br />

auch noch allgemein im § 50 Abs. 3 (alt) 13<br />

angesprochen, so ist im Zusammenhang mit<br />

der Weiterentwicklung des SGB VIII (Kinder-<br />

und Jugendhilfe) der Schutzauftrag des Jugendamtes<br />

(und der Träger der freien/privaten<br />

Kinder- und Jugendhilfe) eindeutiger<br />

gefasst worden (vgl. KICK-SGB VIII § 8a).<br />

Mit dieser Gesetzesänderung wird das Jugendamt<br />

zu einer konkreten Einschätzung<br />

des Gefährdungsrisikos im Zusammenwirken<br />

mehrerer Fachkräfte und – bei Vorliegen<br />

gewichtiger Ansatzpunkte für eine<br />

Kindeswohlgefährdung – zur Auswahl der<br />

notwendigen Maßnahmen verpflichtet.<br />

Gleichzeitig soll über Vereinbarungen gesichert<br />

werden, dass alle Träger und Einrichtungen,<br />

die Leistungen nach dem SGB VIII<br />

erbringen, den genannten Schutzauftrag in<br />

entsprechender Weise wahrnehmen.<br />

In der fachlichen Diskussion dieses Gesetzesvorhabens<br />

wurde allgemein akzeptiert,<br />

dass eine Konkretisierung des Schutzauf-<br />

trages der Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll<br />

und erforderlich ist. Zwar wurde auch<br />

schon vor der Verabschiedung des KICK<br />

vielerorts in Jugendämtern daran gearbeitet,<br />

Konkretisierungen, Festlegungen und<br />

Standards in der Kinderschutzarbeit zu entwickeln.<br />

Keinesfalls war dies jedoch schon<br />

flächendeckende Praxis.<br />

Besondere Bedeutung kommt dabei auch<br />

dem Absatz 2 des § 8a (BT-Dr. 15/5616) zu,<br />

der bestimmt, dass „in Vereinbarungen mit<br />

den Trägern und Einrichtungen, die Leistungen<br />

nach diesem Buch erbringen, sicherzustellen<br />

(ist), dass deren Fachkräfte<br />

den Schutzauftrag nach Abs. 1 in entsprechender<br />

Weise wahrnehmen“. Diese Einbeziehung<br />

von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

bei Trägern und Einrichtungen<br />

erscheint sinnvoll, wenn eine bessere Praxis<br />

möglich werden soll.<br />

Gleichwohl haben diese Bestimmungen in<br />

der Praxis zu Irritationen und unterschiedlichen<br />

Lösungsversuchen geführt. Wenn also<br />

der intendierte Gesetzesauftrag von der Praxis<br />

produktiv aufgenommen werden soll, bedarf<br />

es noch differenzierter organisatorischer,<br />

verfahrensbezogener und inhaltlicher Festlegungen,<br />

damit Überreaktionen vermieden,<br />

Unterlassungen möglichst verhindert werden<br />

und vergleichbare Maßstäbe im praktischen<br />

Handeln Berücksichtigung finden.<br />

Auch auf der politischen Ebene wird dieses<br />

Thema seit einiger Zeit mit höchster Priorität<br />

behandelt (vgl. dazu die Konferenz der<br />

Regierungschefs der Länder mit der Bundeskanzlerin<br />

am 19. Dezember 2007 in<br />

Berlin – "Kindergipfel"). Dieses hohe politische<br />

Interesse – wesentlich auch stimuliert<br />

durch die in den letzten Jahren medial aufbereiteten<br />

dramatischen Kinderschutzfälle –<br />

hat auch eine Reihe weiterer gesetzgeberischer<br />

Aktivitäten ausgelöst:<br />

13 „Hält das Jugendamt zur<br />

Abwendung einer Gefährdung<br />

des Wohls des Kindes<br />

oder des Jugendlichen<br />

das Tätigwerden des Gerichts<br />

für erforderlich, so hat<br />

es das Gericht anzurufen.“<br />

(§50 Abs. 3 Satz 1 – alt)<br />

25


14 In Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />

wurde für Ärztinnen und<br />

Ärzte, die Früherkennungsuntersuchungendurchführen,<br />

eine positive Meldepflicht<br />

eingeführt. Der<br />

Gesetzentwurf der Landesregierung<br />

wurde am<br />

14.11.2007 vom Landtag<br />

beschlossen im Rahmen<br />

des Artikelgesetzes zur Umsetzung<br />

der EU-Dienstleistungsrichtlinie.<br />

Das Gesetz<br />

ist seit dem 08.12.2007 in<br />

Kraft. Artikel 23 Nr. 2 des<br />

Gesetzes sieht die Änderung<br />

des § 32 a Heilberufsgesetz<br />

vor: Die gesetzliche<br />

Vorschrift beinhaltet eine Ermächtigung,<br />

die Einzelheiten<br />

zum Meldeverfahren in<br />

einer Verordnung zu regeln;<br />

ein entsprechender Entwurf<br />

ist in Vorbereitung. Das Verfahren<br />

soll zunächst in einigen<br />

Pilotkommunen umgesetzt<br />

und bis Ende 2008<br />

flächendeckend eingeführt<br />

werden.<br />

26<br />

J So den Gesetzentwurf der Bundesregierung<br />

zur Erleichterung familiengerichtlicher<br />

Maßnahmen bei Gefährdung<br />

des Kindeswohls (verabschiedet im April<br />

2008).<br />

J Die Regelung eines „verbindlichen Einladewesens"<br />

zur Sicherung der Teilnahme<br />

von Kindern an den Vorsorgeuntersuchungen<br />

(U 1 bis U 9). (hier Gesetze in<br />

einigen Bundesländern). 14<br />

Erwähnenswert ist hier auch für Nordrhein-<br />

<strong>Westfalen</strong> die Änderung des Schulgesetzes<br />

vom August 2006 („Die Sorge für das<br />

Wohl der Schülerinnen und Schüler erfordert<br />

es, jedem Anschein von Vernachlässigung<br />

oder Misshandlung nachzugehen. Die<br />

Schule entscheidet rechtzeitig über die Einbeziehung<br />

des Jugendamtes oder anderer<br />

Stellen“ (§ 42, Abs. 6 Schulgesetz NRW).<br />

Auch wenn gegenwärtig im Rahmen der<br />

Bund-/Ländergespräche weitere gesetzliche<br />

Änderungen diskutiert werden (z. B.<br />

Verpflichtung der Jugendämter zu Hausbesuchen<br />

und Prüfung, ob die Nichtteilnahme<br />

an Vorsorgeuntersuchungen ein Indiz<br />

für mögliche Kindeswohlgefährdung ist;<br />

Überprüfung der Datenschutzregelungen),<br />

besteht m. E. gegenwärtig nicht in erster<br />

Linie Bedarf an weiteren gesetzlichen Aktivitäten<br />

– zur Konkretisierung und Zuspitzung<br />

von Kontroll- und Überwachungsaufgaben<br />

der Jugendämter. Vielmehr scheint<br />

es mir nunmehr geboten, die gesetzgeberischen<br />

Impulse zunächst einmal in die Praxis<br />

umzusetzen und mit Leben zu füllen.<br />

Dies ist noch nicht überall geschehen. Als<br />

Hinweis hierfür mag gelten, dass gegenwärtig<br />

– mehr als zweieinhalb Jahre nach<br />

Inkraftreten des KICK – die in § 8a, Abs. 2<br />

geforderten Vereinbarungen zwischen den<br />

Jugendämtern und den freien Trägern der<br />

Kinder- und Jugendhilfe zur Sicherung des<br />

Kindesschutzes noch nicht flächendeckend<br />

wirksam geworden (in Kraft getreten) sind.<br />

2. Stichwort: Strukturelle Rahmenbedingungen<br />

Ein verbesserter Kinderschutz auf kommunaler<br />

Ebene setzt immer auch eine<br />

Überprüfung und Weiterentwicklung der<br />

strukturellen Rahmenbedingungen der pädagogischen<br />

Arbeit voraus. Und hier zeigen<br />

die Entwicklungen der jüngsten Zeit, dass<br />

vielerorts tatsächlich und zu Recht Handlungsbedarf<br />

gesehen wird. Dieser besteht<br />

insbesondere in folgenden Bereichen:<br />

a) Passgenaue Hilfen für Eltern von<br />

Anfang an<br />

Eltern wollen in aller Regel gute Eltern sein.<br />

An dieser Bereitschaft müssen Hilfen ansetzen.<br />

Deshalb müssen Familien, die<br />

durch besondere Risiken belastet sind, früh<br />

erkannt und erreicht werden. Sie brauchen<br />

passgenaue, verlässliche und kontinuierliche<br />

Unterstützung, Begleitung und Hilfen<br />

– am besten schon während der Schwangerschaft.<br />

So kann erreicht werden, dass<br />

aus den Anforderungen, ein Kind zu versorgen,<br />

keine Überforderung wird. Hierfür<br />

brauchen wir auch ein flächendeckendes<br />

System aufsuchender Hilfen. Die Risiken<br />

für Kinder in hoch belasteten Familien müssen<br />

früher und zuverlässiger erkannt werden.<br />

Einen wichtigen Beitrag hierzu haben<br />

die in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> schon seit<br />

dem Jahre 2001 erprobten und inzwischen<br />

in vielen Kommunen eingeführten "Sozialen<br />

Frühwarnsysteme" geleistet. Die beabsichtigte<br />

Festschreibung der "Einladungen"<br />

mit der alle Eltern dazu angehalten werden,<br />

die ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen<br />

wahrzunehmen (U1 – U9), ist ein weiterer<br />

Baustein in einem Netzwerk präventiver<br />

Früherkennung.<br />

b) Starke inderdisziplinäre Netze für<br />

Kinder und Eltern aufspannen<br />

Häufig mangelt es nicht an Hilfs- und Unterstützungsangeboten,<br />

aber die verfügbaren<br />

Hilfen sind nicht ausreichend vernetzt<br />

und erreichen oft nicht die Familien in riskanten<br />

Lebenssituationen. Erforderlich ist<br />

daher eine engere Zusammenarbeit zwischen<br />

den Fachleuten im Gesundheitswesen,<br />

in der Kinder- und Jugendhilfe, den<br />

Sozialämtern, der Justiz (Familiengerichte)<br />

und der Polizei. Eine verlässliche und berechenbare<br />

Zusammenarbeit aller, die für das<br />

gesunde Aufwachsen unserer Kinder Verantwortung<br />

tragen, muss personenunabhängig<br />

sichergestellt werden.<br />

Hierin steckt noch einige Arbeit, da im konkreten<br />

Vollzug sichtbar wird, dass es hier<br />

Sprach-, Wahrnehmungs- und Deutungsprobleme<br />

gibt, die einem integrierten und<br />

fein abgestimmten kooperativen Handeln


der Jugendhilfe mit dem Gesundheitswesen<br />

– aber auch mit Schule, Polizei und<br />

Gericht noch entgegensteht.<br />

c) Leistungen zur Förderung der<br />

Erziehungsfähigkeit von Familien<br />

bedarfsgerecht ausbauen<br />

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz nennt<br />

schon heute eine Vielzahl von familienfördernden<br />

Leistungen (Beratung, Familienbildung,<br />

Familienfreizeiten und Familienerholung,<br />

Entlastung bei Betreuung und<br />

Versorgung des Kindes in Notsituationen<br />

etc.). Zu Unrecht führen jedoch diese Hilfen<br />

heute im Gesamtspektrum der Kinder- und<br />

Jugendhilfe eher ein „Schattendasein“. Nur<br />

ein verschwindend geringer Teil der rd. 20<br />

Milliarden Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe<br />

in Deutschland kommen diesen<br />

wichtigen präventiven Leistungen zugute.<br />

d) Ein ausreichendes und bedarfsgerechtes<br />

Angebot der Bildung und<br />

Betreuung bereitstellen<br />

Kindertageseinrichtungen sind die erste<br />

Bildungsinstitution der Kinder. Sie bieten<br />

Raum und Zeit, um Kinder früh und individuell<br />

zu fördern und elternhausbedingte<br />

Nachteile auszugleichen. Gerade auch für<br />

überforderte Eltern sind sie eine dringend<br />

benötigte Entlastung und Unterstützung.<br />

Dies bedeutet vor allem, das Angebot an<br />

Ganztagsplätzen deutlich auszubauen –<br />

und diese nicht nur dann zur Verfügung zu<br />

stellen, wenn dies aufgrund der Berufstätigkeit<br />

der Eltern zwingend erforderlich ist.<br />

Hierzu gehört es auch, Kindertageseinrichtungen<br />

im Regelfall so auszustatten, dass<br />

sie den umfänglichen und anspruchsvollen<br />

Auftrag eines „Familienzentrums“ auch<br />

wirklich wahrnehmen können.<br />

e) Ganztagsschulangebot ausbauen<br />

Im Zusammenwirken mit der Jugendhilfe<br />

muss die Schule den Auftrag von Prävention<br />

und Schutz der Kinder vor Vernachlässigung<br />

und Gewalt wahrnehmen. Durch<br />

eine stärkere Präsenz der Jugendhilfe v. a.<br />

an den Grundschulen und durch die Qualifizierung<br />

der Lehrkräfte wird die Verantwortungsgemeinschaft<br />

aus Schule und Jugendhilfe<br />

zum Wohl der Kinder gestärkt.<br />

Hierzu sind verbindliche Vereinbarungen erforderlich.<br />

Präventiver Schutz von Kindern<br />

Statement zur Abschlussdiskussion J Dr. Erwin Jordan<br />

wird zudem auch durch den Ausbau des<br />

Ganztagsschulangebotes und die Sicherstellung<br />

einer preiswerten Übermittagverpflegung<br />

verbessert.<br />

f) Jugendämter gut ausstatten und<br />

damit handlungsfähig machen<br />

Jugendämter brauchen fachliche Kompetenz<br />

und eine angemessene personelle<br />

Ausstattung, damit sie frühzeitig und präventiv<br />

handeln, aber auch das staatliche<br />

Wächteramt im Interesse der Kinder wahrnehmen<br />

können.<br />

In den fachlichen und medialen Erörterungen<br />

prekärer Fälle (Kindeswohlgefährdung)<br />

wird häufig nach dem individuellen Fehlverhalten<br />

gesucht, aber in einem noch viel zu<br />

geringen Maße die Frage eines möglichen<br />

„Organisationsversagens“ geprüft. Auch<br />

die Organisationsstrukturen in unseren Jugendämtern<br />

müssen auf den Prüfstand,<br />

weil hier möglicherweise Barrieren und Einschränkungen<br />

verankert sind, die einer<br />

sachgerechten Wahrnehmung des Schutzauftrages<br />

zuwiderlaufen (blinde Flecken,<br />

Aufbau eines Risikomanagements).<br />

In der Vergangenheit ist an nicht wenigen<br />

Orten der ASD (der Allgemeine Soziale<br />

bzw. Kommunale Sozialdienst), der Dienst<br />

also, der im Wesentlichen als Außendienst<br />

des Jugendamtes bei Gefährdung des Kindeswohls<br />

und der Sicherung und dem<br />

Schutz von Kindern tätig zu werden hat,<br />

personell ausgedünnt worden bzw. war von<br />

jeher unterbesetzt und mit einer großen<br />

Fallzahl belastet, obschon der ASD im doppelten<br />

Wortsinn der „Schlüsseldienst“ der<br />

Kinder- und Jugendhilfe ist: er leitet Prozesse<br />

ein und begleitet Kinder, Jugendliche<br />

und Familien. Die hier verfügbare und vorfindbare<br />

Eingangsqualität entscheidet nicht<br />

selten über den gelingenden Verlauf von<br />

Unterstützungen und Hilfeprozessen.<br />

Durch die in vielen Kommunen gegenwärtig<br />

diskutierten bzw. auch schon vollzogenen<br />

Personalaufstockungen müssen bessere<br />

Voraussetzungen geschaffen werden,<br />

damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

im ASD der anspruchsvoller gewordenen<br />

Kinderschutzaufgabe gerecht werden<br />

können – auch als Partner für die Fachkräfte<br />

und die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe.<br />

„Hierzu gehört es auch,<br />

Kindertageseinrichtungen<br />

im Regelfall<br />

so auszustatten, dass<br />

sie den umfänglichen<br />

und anspruchsvollen<br />

Auftrag eines ‚Familienzentrums‘<br />

auch wirklich<br />

wahrnehmen können.“<br />

27


„Bei alledem gilt es jedoch<br />

zu beachten, dass<br />

ein guter Kinderschutz<br />

sich immer in einer<br />

Balance von Dienstleistung<br />

(Förderung)<br />

und Schutzauftrag (bei<br />

Kindeswohlgefährdung)<br />

realisiert.“<br />

28<br />

In diesen Zusammenhang gehört auch,<br />

dass – um die anspruchsvolle, schwierige<br />

und auch persönlich herausfordernde Tätigkeit<br />

der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

in diesem Dienst zu würdigen – die Wertschätzung<br />

für den Allgemeinen Sozialen<br />

Dienst wachsen muss. Dies gilt auch mit<br />

Blick auf Eingruppierung und Bezahlung<br />

der hier tätigen Fachkräfte.<br />

Bei alledem gilt es jedoch zu beachten,<br />

dass ein guter Kinderschutz sich immer in<br />

einer Balance von Dienstleistung (Förderung)<br />

und Schutzauftrag (bei Kindeswohlgefährdung)<br />

realisiert. Eine Verkürzung des<br />

Schutzauftrages auf Intervention und Eingriff<br />

wäre nicht nur fachpolitisch ein Rückschritt<br />

gegenüber dem bisher erreichten,<br />

es würde auch die Bereitschaft von hilfsbedürftigen<br />

Eltern beeinträchtigen, sich frühzeitig<br />

an die Kinder- und Jugendhilfe zu<br />

wenden, weil die Angst vor dem Eingriff<br />

und dem Verlust der elterlichen Autonomie<br />

hier überwiegen könnte.<br />

3. Professionelle Rahmenbedingungen<br />

Schließlich sollten bei einer Diskussion<br />

über Wege und Möglichkeiten für einen<br />

verbesserten Schutz von Kindern vor Vernachlässigung,<br />

Gewalt, Misshandlung und<br />

sexuellem Missbrauch auch die professionellen<br />

Rahmenbedingungen in den Blick<br />

genommen werden.<br />

Unter dieser Perspektive ist die Profession<br />

(sind die sozialpädagogischen Fachkräfte)<br />

zunächst selbst gefordert, ihre eigenen<br />

Praxen, Routinen und Verfahrensweisen auf<br />

den Prüfstand zu stellen. In diesem Zusammenhang<br />

gilt es, insbesondere eine Organisationskultur<br />

zu entwickeln, die das Handeln<br />

in diesem schwierigen und prekären<br />

Feld auch als ständig sich fortentwickelnde<br />

Suchbewegung möglich sein lässt. Anstelle<br />

eines formalisierten Abarbeitens von<br />

Dienstanweisungen, Vorgaben und Checklisten,<br />

ist hier Reflexivität und Offenheit gefragt.<br />

Dazu gehört denn auch die Schärfung des<br />

sozialpädagogischen Blicks, d. h. die Ausbildung<br />

einer expliziten und dezidiert "kindbezogenen"<br />

Perspektive. Ich habe hier gelegentlich<br />

den Eindruck, dass insbesondere<br />

auch durch die Durchsetzung und allgemeine<br />

Verbreitung eines „systemischen Ansatzes“<br />

die spezifische und besondere Situation<br />

des Kindes nicht immer herausgehoben<br />

wahrgenommen und der Handlungsauftrag<br />

nicht immer aus den Bedürfnissen und<br />

Deprivationen des Kindes heraus abgeleitet<br />

wird.<br />

Zu der Weiterentwicklung der professionellen<br />

Handlungsbedingungen gehört es auch,<br />

mehr Handlungssicherheit zu gewinnen in<br />

den schwierigen Situationen, in denen einerseits<br />

die Wahrnehmung der Bedürfnisse<br />

und der Situation des Kindes nicht negiert,<br />

andererseits aber die Kommunikation mit<br />

den sorgeverpflichteten Personen nicht in<br />

eine konfrontierende und streitende Auseinandersetzung<br />

abgleiten werden darf (hier<br />

mehr Sicherheit durch Methodentrainings).<br />

Und letztlich gehört in den Bereich der professionellen<br />

Qualifizierung auch ein offenerer<br />

Umgang mit „Kinderschutzfehlern“.<br />

Müssen solche Fehler – die nie ganz vermieden<br />

werden können – geleugnet, vertuscht<br />

und überspielt werden, so kann sich<br />

daraus kein Entwicklungsprozess („aus<br />

Fehlern lernen“) ergeben.<br />

Dies ist natürlich ein schwieriges Unterfangen,<br />

da in der Außenwahrnehmung (Politik,<br />

Medien) von den Institutionen und den in<br />

ihnen tätigen Fachkräften fehlerfreies und<br />

zielführendes Handeln erwartet wird. Zumal<br />

wenn dann noch disziplinarische oder<br />

sogar strafrechtliche Konsequenzen drohen,<br />

ist dies keine gute Voraussetzung und<br />

Basis für einen offenen Umfang mit Fehlern.<br />

Dennoch bleibt richtig, dass sozialpädagogisches<br />

Handeln im Problemfeld Kinderschutz<br />

immer auch eine "gefahrengeneigte"<br />

Tätigkeit ist, in der – aus welchen<br />

Gründen auch immer – nicht immer das<br />

Richtige zum richtigen Zeitpunkt getan<br />

wird. Nicht die vergebliche Fiktion von Perfektion<br />

und Unfehlbarkeit hilft hier weiter,<br />

sondern der produktive Umgang mit dem<br />

eigenen Versagen verbunden mit dem Versprechen,<br />

besser werden zu wollen. Dass<br />

dies ein gelingender Weg sein kann, zeigt<br />

auch die Parallele der gegenwärtig im medizinischen<br />

Bereich offen geführten Diskussion<br />

über "ärztliche Kunstfehler" und über<br />

die richtigen und geeigneten Wege, diese<br />

zu minimieren.


4. Ergebnis<br />

Alles in allem stellen die neuen Anforderungen<br />

zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung<br />

ein herausforderndes, ein<br />

anspruchsvolles – auch nicht ohne zusätzliches<br />

Ressourcen zu habendes – gleichwohl<br />

aber sinnvolles und notwendiges<br />

Handlungsprogramm dar.<br />

Damit hat der Kinderschutz – aus meiner<br />

Sicht – drei tragende Elemente:<br />

J Die Prävention muss verlässlich und tragfähig<br />

gestaltet werden,<br />

J mit Hilfe des Frühwarnsystems sind tragfähige<br />

Netze für Familien insbesondere in<br />

schwierigen Lebenslagen zu knüpfen,<br />

J dort, wo Intervention notwendig ist, ist sie<br />

offensiv und produktiv zu gestalten.<br />

Das sind „drei Baustellen“, auf denen wir<br />

noch reichlich Arbeit haben, bevor wir sagen<br />

können, dass wir das uns Mögliche getan<br />

haben, um möglichst für alle Kinder in<br />

unserer Gesellschaft Mindestbedingungen<br />

für ein gutes und gelingendes Aufwachsen<br />

sicher stellen zu können.<br />

Statement zur Abschlussdiskussion J Dr. Erwin Jordan<br />

29


30<br />

Statements zur<br />

Podiumsdiskussion<br />

Heike Pape J<br />

Städtetag NRW<br />

J Forderungen nach einer Vereinheitlichung<br />

der Vereinbarungen nach § 8a SGB VIII<br />

steht der Städtetag skeptisch gegenüber.<br />

Zwar ist zu beobachten, dass der Abschluss<br />

der Vereinbarungen vor Ort mühsam<br />

und zeitaufwändig war, gleichzeitig<br />

wurden die damit verbundenen Diskussionsprozesse<br />

von vielen Beteiligten als<br />

fruchtbar und notwendig für eine verbesserte<br />

Kooperation wahrgenommen.<br />

J Nach Ansicht des Städtetages besteht<br />

über die bestehenden Gesetze und das<br />

laufende Gesetzesverfahren zur Erleichterung<br />

familiengerichtlicher Maßnahmen hinaus<br />

kein weitergehender bundes- oder landesgesetzgeberischer<br />

Handlungsbedarf.<br />

Die vorhandenen Gesetze sind zu nutzen<br />

und mit Leben zu füllen. Ein lückenloser<br />

Schutz wird nicht realisierbar sein, Eltern<br />

dürfen seitens des Staates nicht unter Generalverdacht<br />

gestellt werden.<br />

J Der ASD nimmt kommunale Kernaufgaben<br />

insbesondere für den Kindesschutz<br />

wahr und ist daher ausreichend auszustatten<br />

und qualitativ zu stärken. Verbindliche<br />

Kooperationen zwischen den Hilfesystemen<br />

sind notwendig und weiter zu<br />

entwickeln.<br />

J Die fachlich begrüßenswerte Forderung<br />

nach einer systematischen Fehleranalyse<br />

bei Fällen, in denen der Kindesschutz<br />

nicht ausreichend gelungen ist,<br />

trifft auf eine öffentliche Diskussion, die<br />

bereits jetzt fehlerzentriert ist und das<br />

Image der Jugendämter erheblich gefährdet.<br />

Die Normalität der Arbeit der Jugendämter,<br />

der erfolgreiche Kindesschutz und<br />

das differenzierte Angebot von Hilfen in<br />

schwierigen Lebenslagen sowie auch die<br />

Komplexität und Schwierigkeiten dieser<br />

Arbeit sind mehr als bisher öffentlichkeitswirksam<br />

darzustellen.<br />

Maria Loheide J<br />

LAG Freie Wohlfahrtspflege<br />

J Die Fachtagung hat gezeigt, dass der Dialog<br />

zwischen den unterschiedlichen<br />

Systemen notwendig ist und fortgesetzt<br />

werden muss – und zwar auf den unterschiedlichen<br />

Verantwortungs- und<br />

Handlungsebenen. Wir brauchen zudem<br />

verstärkte Bemühungen für eine systematische<br />

und strukturierte Kooperation<br />

der unterschiedlichen Organisationen (Jugendhilfe,<br />

Schule, Jugendamt, Gesundheitsamt,<br />

Gerichte etc.).<br />

J Gute Beispiele für gelingende Kooperation<br />

und erfolgreiche Kinderschutzsysteme<br />

müssen weiter verbreitert werden und<br />

Nachahmer finden.<br />

J Die kommunalen Kindesschutzsysteme<br />

sind in ihrer Qualität sehr unterschiedlich<br />

ausgestaltet. Hier muss es zu einem<br />

gleichmäßigen Ausbau und einer Verständigung<br />

über qualitative Standards kommen.<br />

J Die Qualität der Kinderschutzsysteme ist<br />

weiter zu entwickeln, z.B. durch eine systematische<br />

Evaluation und Auswertung<br />

der Vereinbarungen nach § 8a SGB VIII<br />

und der Modelle früher Hilfen.<br />

J Ein Kindesschutzgesetz auf Landesebene,<br />

das allgemeine Formulierungen enthält,<br />

ist nicht zielführend. Notwendig sind<br />

aber verbindliche Verabredungen und Verfahren<br />

über das vorhandene Handlungskonzept<br />

der Landesregierung hinaus.


Forum 1: „0 – 3“<br />

Kindesschutz bei Säuglingen und Kleinkindern. Möglichkeiten<br />

der Kooperation zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe<br />

Moderation: Dr. Rudolf Lange J Gesundheitsamt Kreis Mettmann<br />

Begleitung: Almut Wiemers J Diakonisches Werk <strong>Westfalen</strong><br />

Beiträge: Alexandra Sann J Nationales Zentrum Frühe Hilfen, München<br />

Forum 1 J „0 – 3“<br />

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Forum 1 J „0 – 3“<br />

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Forum 1 J „0 – 3“<br />

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Forum 1 J „0 – 3“<br />

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Forum 1 J „0 – 3“<br />

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Forum 1 J „0 – 3“<br />

57


Forum 2: „3 – 6“<br />

Kindesschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />

und Jugendamt<br />

Moderation: Martina Kriener J Landesjugendamt <strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong><br />

Begleitung: Dr. Remi Stork J Diakonisches Werk <strong>Westfalen</strong><br />

Beiträge: Dr. Annette Frenzke-Kulbach J Stadt Bochum<br />

Birgit Redzio-Wehr J Stadt Bochum<br />

Fast alle Kinder im Vorschulalter besuchen<br />

inzwischen eine Tageseinrichtung. Für die<br />

Erziehenden dort stellt sich die Herausforderung,<br />

Gefährdungshinweise bei Kindern<br />

im Vorschulalter wahrzunehmen und in notwendige<br />

Hilfen zu vermitteln. Mit dem § 8a<br />

SGB VIII war u. a. die Herausforderung verbunden,<br />

zu verbindlichen Kooperationsabsprachen<br />

zwischen Kindertagesbetreuung<br />

und Jugendamt zu kommen. Wie dies, ggf.<br />

auch unter Einbeziehung weiterer Unterstützungssysteme<br />

gelingen kann, war Thema<br />

dieses Forums.<br />

Dabei standen folgende Fragen im Mittelpunkt:<br />

J Welche Erfahrungen werden mit der Umsetzung<br />

des § 8a SGB VIII gemacht?<br />

J Wie nehmen Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung<br />

Gefährdungssituationen<br />

von Kindern wahr?<br />

J Welche Unterstützungsmöglichkeiten und<br />

Hilfeangebote können bei Gefährdungssituationen<br />

von Kindern angeboten werden?<br />

J Wie wird Kindesschutz gemeinsam von<br />

Kindertagesbetreuung und Jugendamt<br />

(und ggf. anderen) gestaltet?<br />

J Welche Herausforderungen und Perspektiven<br />

bestehen für einen verbesserten<br />

Kindesschutz im Vorschulalter?<br />

J Welche Herausforderungen werden in der<br />

Kindertagesbetreuung gesehen?<br />

J Welche Qualifizierungsbedarfe gibt es<br />

bzgl. der Kooperation und Netzwerkgestaltung?<br />

J Was brauchen wir für einen verbesserten<br />

Kinderschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />

und Jugendamt?<br />

Als Referentinnen führten Birgit Redzio-<br />

Wehr (Kindertageseinrichtung der Stadt<br />

Bochum) und Dr. Annette Frenzke-Kulbach<br />

(Steuerungsunterstützung, Qualitätsent-<br />

wicklung und Schutzbeauftragte nach § 8a<br />

SGB VIII beim Jugendamt der Stadt Bochum)<br />

ins Thema ein.<br />

Es folgen:<br />

I. Kinderschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />

und Jugendamt<br />

II. Flussdiagramm zum Verfahrensablauf<br />

Kindertageseinrichtungen; Bochum<br />

III. Zusammenfassung der Diskussion<br />

IV. Anlage: Vorlage „Hilfskonzept“; Bochum<br />

I. Kinderschutz im Schnittfeld von<br />

Kindertagesbetreuung und Jugendamt<br />

1. Einleitung<br />

In der jüngsten Vergangenheit wurden zunehmend<br />

häufiger Fälle von Kindesmisshandlung<br />

und Vernachlässigung diskutiert.<br />

In der Wahrnehmung der öffentlichen<br />

Meinung nehmen solche Delikte ständig<br />

zu. Die Polizeiliche Kriminalstatistik für die<br />

Bundesrepublik Deutschland, geführt vom<br />

BKA Wiesbaden, kann dies nicht bestätigen.<br />

Die Zahl der Kindestötungen sinkt. Im<br />

Jahr 2006 wurden 202 Kinder Opfer von<br />

Tötungsdelikten. Das waren 88 weniger als<br />

im Jahr 2000. In 37 Fällen handelte es sich<br />

um Mord, in 55 Fällen um Totschlag und in<br />

12 Fällen um Körperverletzung mit Todesfolge.<br />

Man kann davon ausgehen, dass<br />

ca. 150 Kinder pro. Jahr an den Folgen von<br />

Vernachlässigung und Misshandlung sterben.<br />

Kritisch anzumerken bleibt jedoch,<br />

dass zwar die tatsächlichen Zahlen nicht<br />

gestiegen sind, jedoch die Geburten rückläufig<br />

sind; somit also die Zahlen proportional<br />

durchaus gestiegen sind. In der Diskussion<br />

um geeignete Schutzmaßnahmen<br />

fällt auf, dass neben sozialen, psychischen<br />

und wirtschaftlichen Risikofaktoren auch<br />

das HelferInnennsystem als solches ein Ri-<br />

Forum 2 J „3 – 6“<br />

59


60<br />

sikofaktor darstellen kann. Nämlich immer<br />

dann, wenn Fehleinschätzungen erfolgen,<br />

und keine geeigneten Maßnahmen folgen<br />

bzw. mangelnde Personalressourcen ein<br />

adäquates Handeln verhindern.<br />

Mit Einführung des § 8a SGB VIII sind seit<br />

dem 01.10.2005 klare Handlungsweisen<br />

im Umgang mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung<br />

allen Fachkräften der öffentlichen<br />

und freien Träger der Jugendhilfe<br />

auferlegt worden. Die öffentliche Jugendhilfe<br />

hat dabei die Planungs- und Gesamtverantwortung<br />

für die Umsetzung des Schutzauftrages.<br />

Unter Berücksichtigung aller<br />

Beteiligten sind Verträge zur Sicherstellung<br />

des Schutzauftrages zu schließen, die auf<br />

drei Säulen basieren:<br />

1. Aufbau von örtlichen Kommunikationsstrukturen<br />

2. Aufbau von örtlichen Kooperationsstrukturen<br />

3. Aufbau einer örtlichen Personalentwicklung.<br />

Das Bochumer Kinderschutzkonzept basiert<br />

auf der Grundlage der Kommunikation<br />

und Kooperation. Allen Abteilungen des Jugendamtes<br />

stehen Bearbeitungsverfahren<br />

im Umgang mit Kindeswohlgefährdung zur<br />

Verfügung. Auf der Grundlage von Schnittstellenanalysen<br />

sind die Bearbeitungsverfahren<br />

zum Sozialen Dienst klar definiert. Die<br />

Ergebnisse fanden Berücksichtigung in Kooperationsgesprächen<br />

mit den freien Trägern<br />

der Jugendhilfe mit dem Ziel, einheitliche<br />

Verfahren zwischen öffentlichen und freien<br />

Trägern der Jugendhilfe im Umgang mit Kindeswohlgefährdung<br />

zu implementieren.<br />

2. Amtsinterne Verfahren nach § 8a<br />

SGB VIII<br />

Die Verfahren im Umgang mit Verdacht auf<br />

Kindeswohlgefährdung sind bereits 2004<br />

unter Moderation des Landesjugendamtes<br />

<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> im Jugendamt Bochum<br />

erarbeitet worden. Nach In-Kraft-Treten des<br />

§ 8a SGB VIII hat das Jugendamt Bochum<br />

in allen Abteilungen Qualitätsentwicklungsprozesse<br />

in Gang gesetzt, so bei<br />

J den Kindertageseinrichtungen/ Tagespflege,<br />

J der Offenen Kinder- und Jugendarbeit/<br />

Begrüßungsteam,<br />

J den Erziehungsberatungsstellen/ Fachstelle<br />

Sorgerecht / Clearing und Diagnostikstelle.<br />

2.1. Die Bearbeitungsverfahren der Kindertagesstätten<br />

nach § 8a SGB VIII<br />

Tageseinrichtungen für Kinder der Träger<br />

der freien und öffentlichen Jugendhilfe haben<br />

aufgrund ihres gesetzlichen Auftrages<br />

und den Bildungsvereinbarungen zahlreiche<br />

Anknüpfungspunkte zum Umgang mit<br />

Kindeswohlgefährdung. Als eine niederschwellige<br />

Institution haben sie besonders<br />

gute Chancen, den Schutz des Kindes in<br />

Kooperation mit den Eltern umzusetzen.<br />

Durch die Bildungsvereinbarungen findet<br />

eine systematische Beobachtung und <strong>Dokumentation</strong><br />

kindlicher Entwicklungsprozesse<br />

statt, die bei der Abschätzung des<br />

Gefährdungsrisikos fachlich einfließen sollte.<br />

Die Bearbeitungsverfahren wurden mit<br />

allen Leitungskräften und weiteren Fachkräften<br />

der Abteilung definiert. Der Prozess<br />

wurde von der Leitungsebene gesteuert<br />

und moderiert. Im Rahmen der MitarbeiterInnenbeteiligung<br />

wurden alle 15 städtischen<br />

Kindertageseinrichtungen beteiligt.<br />

Verfahren<br />

Zusammenwirken mehrer Fachkräfte:<br />

Erhält eine Fachkraft der Tageseinrichtung<br />

für Kinder eine Mitteilung bzw. macht<br />

sie eigene Beobachtungen über eine mögliche<br />

Kindeswohlgefährdung, so schätzt<br />

sie das Gefährdungsrisiko mit mindestens<br />

einer weiteren Fachkraft im kollegialen<br />

Austausch ein. Können die Verdachtsmomente<br />

nicht entkräftet werden, wird die<br />

Gefährdung zusätzlich mit der Leitung der<br />

Tageseinrichtung für Kinder in kollegialer<br />

Reflexion unter Hinzuziehung des Kriterienkataloges<br />

zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung<br />

abgestimmt. Besteht<br />

der Verdacht auf sexualisierte Gewalt, ist<br />

grundsätzlich eine Fachberatungsstelle einzuschalten.<br />

Hinzuziehen einer „insofern erfahrenen<br />

Fachkraft“: Die Fachkräfte der Tageseinrichtung<br />

für Kinder haben bei der Einschätzung<br />

des Gefährdungsrisikos eine „insofern<br />

erfahrene Fachkraft“ der städtischen Erziehungsberatungsstellen<br />

hinzuzuziehen. Bei<br />

einer akuten Kindeswohlgefährdung ist unverzüglich<br />

der Soziale Dienst des Jugend-


amtes einzuschalten (mündlich und später<br />

schriftlich). Der Soziale Dienst übernimmt in<br />

diesem Fall umgehend die Fallverantwortung.<br />

Er muss die Maßnahmen der Inobhutnahme<br />

regeln bzw. Schutzmaßnahmen<br />

einleiten und informiert die Tageseinrichtung<br />

für Kinder zeitnah über die getroffenen<br />

Maßnahmen. Bei einer so genannten mittleren<br />

Kindeswohlgefährdung erarbeitet die<br />

Fachkraft der Tageseinrichtung für Kinder<br />

in Kooperation mit der „insofern erfahrenen<br />

Fachkraft“ ein Hilfskonzept, welches mit<br />

den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten<br />

erörtert wird (siehe Anlage).<br />

Beteiligung der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten<br />

und der Kinder:<br />

Fachkräfte der Tageseinrichtungen für Kinder<br />

kooperieren grundsätzlich mit den Personensorge-<br />

oder Erziehungsberechtigten.<br />

Sie stellen sicher, dass diese im Rahmen<br />

der Risikoeinschätzung beteiligt werden,<br />

sofern der wirksame Schutz nicht in Frage<br />

gestellt ist. Die Transparenz bisheriger<br />

Beobachtungen und das Angebot von notwendigen<br />

und geeigneten Hilfen sind Gegenstand<br />

des persönlichen Gesprächs.<br />

Falls notwendig und geeignet, installiert der<br />

Soziale Dienst des Jugendamtes nach Prüfung<br />

eine Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27<br />

ff. SGB VIII. Die Fachkräfte des Sozialen<br />

Dienstes des Jugendamtes informieren die<br />

Tageseinrichtungen für Kinder über Art und<br />

Umfang der Maßnahmen. Die Tageseinrichtungen<br />

für Kinder werden ebenfalls über<br />

die Beendigung einer Hilfe in Kenntnis gesetzt,<br />

vorausgesetzt sie waren prozessbeteiligt<br />

(Flussdiagramm siehe Anlage).<br />

Schutzkonzept: Falls notwendig, werden<br />

die Tageseinrichtungen für Kinder am<br />

Schutzkonzept beteiligt, welches in Kooperation<br />

mit dem Sozialen Dienst des Jugendamtes<br />

und den Eltern erstellt wird.<br />

Sie übernehmen damit eine Kontrollfunktion<br />

und informieren den Sozialen Dienst<br />

des Jugendamtes bei Nichteinhaltung der<br />

getroffenen Verabredungen. Der Soziale<br />

Dienst des Jugendamtes hat die Federführung.<br />

Er beteiligt die Fachkräfte der Tageseinrichtungen<br />

für Kinder und informiert diese<br />

regelmäßig.<br />

Informationen an das Jugendamt: Falls<br />

die angenommenen Hilfen nicht ausreichend<br />

erscheinen oder von den Personensorge-<br />

oder Erziehungsberechtigten nicht<br />

angenommen werden, um die Gefährdung<br />

abzuwenden, informiert die Leitung der Tageseinrichtung<br />

für Kinder den Sozialen<br />

Dienst des Jugendamtes zeitnah. Die Personensorge-<br />

oder Erziehungsberechtigten<br />

werden von den Fachkräften der Tageseinrichtung<br />

für Kinder vorab informiert mit<br />

dem Ziel, dass sich diese von allein an den<br />

Sozialen Dienst des Jugendamtes wenden.<br />

In einem Kooperationsgespräch zwischen<br />

Tageseinrichtung für Kinder und dem Sozialen<br />

Dienst des Jugendamtes werden die<br />

Informationen über das bisherige Verfahren<br />

und die Gefährdungseinschätzung mitgeteilt.<br />

Die Tageseinrichtungen für Kinder<br />

übergeben dem Sozialen Dienst des Jugendamtes<br />

alle schriftlichen <strong>Dokumentation</strong>en,<br />

die zur Risikoeinschätzung erforderlich<br />

sind. Der Soziale Dienst des Jugendamtes<br />

verändert bzw. erstellt einen Hilfeplan. Die<br />

Tageseinrichtungen für Kinder werden über<br />

die Art und Umfang der Hilfen in Kenntnis<br />

gesetzt. Die Fachkraft des Sozialen Dienstes<br />

des Jugendamtes übernimmt im Rahmen<br />

des Case-Managements umgehend<br />

die Fallverantwortung.<br />

Kriterienkatalog zur Einschätzung einer<br />

Kindeswohlgefährdung: Das Jugendamt<br />

überarbeitet regelmäßig den Kriterienkatalog<br />

zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung.<br />

Das Instrument wird den Tageseinrichtungen<br />

für Kinder zur Verfügung<br />

gestellt und bietet die Grundlage für die Erstellung<br />

einer Gefährdungseinschätzung<br />

(siehe Anlage).<br />

2.2 Instrumente<br />

In Kooperation mit den Fachkräften der<br />

Kindertageseinrichtungen wurden Instrumente<br />

erarbeitet, um eine einheitliche <strong>Dokumentation</strong><br />

und Herangehensweise zu gewährleisten<br />

(siehe Anlage).<br />

J Meldebewertung,<br />

J Vordruck – kollegiale Reflexion,<br />

J Kriterienkatalog zur Einschätzung von<br />

Kindeswohlgefährdung,<br />

J Protokollvordruck-Elterngespräch,<br />

J Hilfskonzept.<br />

2.3 Schnittstelle zum Sozialen Dienst<br />

Der Soziale Dienst hat im Rahmen des<br />

staatlichen Wächteramtes die Aufgabe bei<br />

Kindeswohlgefährdung Kinderschutzmaß-<br />

Forum 2 J „3 – 6“<br />

61


62<br />

nahmen einzuleiten. Aufgrund unterschiedlicher<br />

Arbeitsaufträge, Möglichkeiten und<br />

Grenzen der handelnden AkteurInnen ist<br />

es notwendig, dass die „Spielregeln“ an<br />

den Schnittstellen klar definiert und schriftlich<br />

fixiert werden. Das Jugendamt Bochum<br />

hat mit den AbteilungsleiterInnen, allen<br />

Leitungskräften des Sozialen Dienstes,<br />

den Kindertageseinrichtungen und weiteren<br />

Fachkräften die Schnittstellen beschrieben.<br />

Die Moderation hierzu wurde von Fachkräften<br />

des Landesjugendamtes <strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong><br />

übernommen<br />

Folgende Schnittstellen wurden beschrieben<br />

(siehe Anlage):<br />

1. Nicht-Erreichung der definierten Ziele<br />

2. Akute Kindeswohlgefährdung.<br />

3. Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung<br />

– Kooperation mit den freien<br />

Trägern der Jugendhilfe<br />

Das Jugendamt Bochum hat mit den freien<br />

Trägern der Jugendhilfe eine Generalvereinbarung<br />

zur Sicherstellung des Schutzauftrages<br />

geschlossen. Ergänzend hierzu<br />

wurden für einige „sensible“ Handlungsfelder<br />

„arbeitsfeldspezifische Sondervereinbarungen“<br />

erarbeitet. Die Vereinbarung regelt<br />

folgende Inhalte:


Über die entsprechenden Gremien (z. B. AG nach § 78 SGB VIII) wurden MultiplikatorInnen<br />

benannt, um folgende Schnittstellengespräche zu führen:<br />

Das Jugendamt Bochum hat die freien Träger<br />

der Jugendhilfe aufgefordert, selbst „insofern<br />

erfahrene Fachkräfte“ zu benennen,<br />

die im Rahmen der Risikoeinschätzung zu<br />

beteiligen sind.<br />

Um trägerübergreifende, qualitätsgesicherte<br />

Verfahren im Umgang mit dem Verdacht<br />

auf Kindeswohlgefährdung zu gewährleisten,<br />

hat das Bochumer Jugendamt die Verbände<br />

aufgefordert eine Person zu benennen,<br />

die als Schutzfachkraft beim Träger<br />

bzw. in die Trägergruppen fungiert. Hierfür<br />

erhält der jeweilige Verband eine entsprechende<br />

finanzielle Entschädigung.<br />

Forum 2 J „3 – 6“<br />

63


64<br />

Beispiel:


Um den Schutzauftrag auch für die große<br />

Risikogruppe, Kinder im Alter von<br />

0 – 3 Jahren wahrnehmen zu können, hat<br />

das Sozialdezernat eine Arbeitsgruppe; bestehend<br />

aus VertreterInnen des Jugend-<br />

und des Gesundheitsamts; beauftragt; ein<br />

Präventionskonzept für Eltern von Kindern<br />

im Alter von 0 – 3 Jahren zu entwickeln. Die<br />

Arbeitsgruppe fand Unterstützung durch<br />

eine externe Moderatorin, der die externe<br />

Projektleitung und Moderation übertragen<br />

wurde. Das Präventionskonzept besteht<br />

aus zwei Säulen. Das Begrüßungsteam<br />

besucht im Rahmen von primärer Prävention<br />

alle Eltern von Neugeborenen. Die Eltern<br />

erhalten Begrüßungsgeschenke und<br />

interessante Informationen sowie einen<br />

Gutschein für die Bochumer Elterschule,<br />

welche von der Familienbildungsstätte angeboten<br />

wird.<br />

Der zweite Baustein bezieht sich auf den<br />

Ausbau eines sozialen Frühwarnsystems.<br />

Nach dem Prinzip „wahrnehmen – warnen<br />

– handeln“ soll Familien mir riskanten Entwicklungen<br />

möglichst früh Unterstützung<br />

und Beratung angeboten werden. Die Installierung<br />

eines Kindernotrufes bei der Feu-<br />

erwehr steht für alle BürgerInnenn, Kinder<br />

und Jugendlichen sowie Fachkräfte für<br />

eine Meldung bei Kindeswohlgefährdung<br />

zur Verfügung. Eine weitere Meldemöglichkeit<br />

besteht durch die Bereitstellung eines<br />

einheitlichen Meldebogens, der allen Fachkräften<br />

der Jugendhilfe und Medizin zur<br />

Verfügung steht.<br />

Das Thema Kinderschutz ist als Querschnittsaufgabe<br />

im Jugendamt angesiedelt.<br />

Die Kooperation zwischen dem<br />

Gesundheits- und dem Jugendamt ist sichergestellt.<br />

Feste AnsprechpartnerInnen<br />

und verschiedene Arbeitskreise ermöglichen<br />

die notwendige Kommunikations- und<br />

Kooperationsstruktur, um den Kinderschutz<br />

in einer Gemeinschaftsverantwortung angemessen<br />

gewährleisten zu können.<br />

Forum 2 J „3 – 6“<br />

65


66<br />

II. Flussdiagramm: Verfahrensablauf bei Kindertageseinrichtungen, Bochum<br />

Fortsetzung nächste Seite.


III. Zusammenfassung der Diskussion<br />

„Erfahrungen und Herausforderungen<br />

bzgl. eines gelingenden<br />

Kinderschutzes“:<br />

Im Folgenden werden die zentralen Themen<br />

benannt, die die TeilnehmerInnen des<br />

Forums formulierten und diskutierten. Das<br />

Forum hat sich zu ca. 2/3 aus Mitarbeiterinnen<br />

aus Kindertageseinrichtungen, zu 1/6<br />

aus MitarbeiterInnen aus Jugendämtern<br />

und zu 1/6 aus VertreterInnen von Verbänden<br />

und überörtlichen Behörden zusammengesetzt.<br />

J Einheitliche Definitionen und<br />

Standards:<br />

Einige der Forumsteilnehmerinnen forderten<br />

eine einheitliche Definition von Standards<br />

(z. B. Definition einer insoweit erfahrenen<br />

Fachkraft). Die Uneinheitlichkeit in<br />

Standards und Verfahren führe zu Irritationen<br />

und diene nicht unbedingt der Weiterentwicklung<br />

eines wirksamen Kinderschutzes.<br />

J Standardisierte Verfahren nach § 8a<br />

SGB VIII:<br />

Ähnliches wurde bzgl. der Verfahren im<br />

Rahmen der Vereinbarungen zu § 8a SGB<br />

VIII gefordert. Deutlich wurde auch hier die<br />

große Unterschiedlichkeit kritisiert, ob und<br />

welche Verfahren vorhanden sind. Als sinnvoll<br />

erachtet wurden einheitliche Rahmenstandards,<br />

die örtlichen Spielraum lassen.<br />

Deutlich wurde aber auch, dass die Kommunen<br />

z. T. ihre „eigenen Wege“ gehen<br />

wollen.<br />

J Ausreichende Personalressourcen:<br />

Die vorhandenen Personalressourcen werden<br />

für zu knapp für zusätzliche Aufgaben<br />

wie kollegiale Beratung/Reflexion oder <strong>Dokumentation</strong><br />

gehalten. Ausreichende Personalressourcen<br />

sind Voraussetzung für einen<br />

wirksamen Kinderschutz.<br />

J Qualifizierung der Fachkräfte:<br />

Die Qualifizierung zum Kinderschutz wird<br />

vor allem von den Mitarbeiterinnen der Kindertageseinrichtungen<br />

als gut und weiterhin<br />

als notwendig erachtet.<br />

J Organisationsentwicklung in Kindertageseinrichtungen:<br />

Formuliert wurde der Bedarf an weiterer<br />

Optimierung der Arbeit in den Kindertageeinrichtungen<br />

insbesondere mit Blick auf<br />

die Organisationsentwicklung.<br />

J Austausch von Material:<br />

Angeregt wurde der Austausch von Material<br />

(Konzepte und Instrumente) zum Thema<br />

Kinderschutz in Kindertageseinrichtungen<br />

Forum 2 J „3 – 6“<br />

67


68<br />

bzw. in Kooperation mit dem Jugendamt. Es<br />

können Materialien zum Thema an das Landesjugendamt<br />

<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> (Martina.Kriener@<br />

lwl.org) gesandt werden und dort unter „Materialien<br />

Kinderschutz“ auf der Internetseite des<br />

LWL-LJA eingestellt werden.<br />

J Einbindung der Spitzenverbände:<br />

Die Spitzenverbände der Öffentlichen und Freien<br />

Wohlfahrtspflege sollen sich stärker in der<br />

Entwicklung von gemeinsamen „Rahmenstandards“<br />

zum Kinderschutz engagieren.<br />

„Zentrale Thesen“:<br />

J Jeder muss sich auf den Weg machen. (gemeint<br />

ist hier ein Appell an Akteure sowohl auf<br />

verschiedenen Hierarchieebenen in einer Einrichtung<br />

als auch in verschiedenen Tagesbetreuungseinrichtungen<br />

und Jugendämtern,<br />

nicht gegenseitig auf Aktivitäten zum gemeinsamen<br />

Kinderschutz zu warten)<br />

J Es muss eine systematische Umsetzung des<br />

§ 8a SGB VIII – über kommunale Grenzen hinweg<br />

– und die Entwicklung klarer Standards<br />

erfolgen.<br />

J Erfolgreicher Kinderschutz beruht auf Kommunikation<br />

und auf Kooperation (die bisherigen<br />

Kooperationserfahrungen zwischen<br />

Kindertagesbetreuung und Jugendamt unterstreichen,<br />

dass eine kontinuierliche Kommunikation<br />

eine zentrale Voraussetzung für eine<br />

gelingende Kooperation ist).


IV. Anlage<br />

Hilfskonzept<br />

Name der Kindertageseinrichtung: Datum:<br />

Personalien:<br />

Mutter:<br />

Wohnort:<br />

Vater:<br />

Wohnort:<br />

Kind:<br />

Wohnort:<br />

Beteiligte Fachkräfte:<br />

Risikoeinschätzung:<br />

Aus Sicht der Mutter:<br />

Aus Sicht des Vaters:<br />

Aus Sicht der Fachkräfte der Kindertageseinrichtung:<br />

Aus Sicht der insofern erfahrenen Fachkraft:<br />

Soziale Diagnose:<br />

Angebot von Hilfen:<br />

Wem wird welche Hilfe angeboten?<br />

Durch wen kann die Hilfe angeboten werden?<br />

Was soll durch die Hilfe bewirkt werden?<br />

Wer sind mögliche Kooperationspartner?<br />

Sind die Eltern bereit Hilfen anzunehmen? Wenn nein, was spricht dagegen?<br />

Wer tut was?<br />

Überprüfung der Wirksamkeit nach ……………. durch die Leitung bzw. die Fachkraft der<br />

Kindertageseinrichtung.<br />

Unterschrift der Fachkraft Unterschrift der Personensorgeberechtigten<br />

Forum 2 J „3 – 6“<br />

69


70<br />

Forum 3: „6 – 10+“<br />

Kindesschutz im Schulalter – Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe<br />

Moderation: Christian Jung J Kreisdirektion Gütersloh<br />

Begleitung: Maria Loheide J Diakonisches Werk <strong>Westfalen</strong><br />

Beiträge: Gabriele Kemper-Bruns J Osterfeldschule Unna<br />

Jürgen Seitel J Erich-Kästner-Schule, Harsewinkel<br />

Ulrich Engelen J Jugendamt Essen<br />

Kinderschutz als Interessenschutz<br />

bei Kindern mit hohem<br />

sonderpädagogischem Förderbedarf<br />

ESE<br />

Jürgen Seitel J Erich-Kästner-Schule, Harsewinkel


Forum 3 J „6 – 10 +“<br />

71


Forum 3 J „6 – 10 +“<br />

73


74<br />

Kooperationsvereinbarung<br />

zwischen den Schulen der<br />

Stadt Essen und den Sozialen<br />

Diensten des Jugendamtes zu<br />

§ 42 Abs. 6 Schulgesetz NRW<br />

und § 8a SGB VIII<br />

Ulrich Engelen J Jugendamt Essen<br />

1. Präambel<br />

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen<br />

vor drohender Gefährdung wird aktuell in<br />

allen Handlungsfeldern der Jugendhilfe und<br />

im Schulbereich diskutiert. Anlass hierfür<br />

sind die erschreckenden Fälle von Verwahrlosung,<br />

Misshandlung und Kindestötungen<br />

der letzten Monate. Der Gesetzgeber<br />

hat mit Einfügung des § 8a in das SGB VIII<br />

(Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung)<br />

und § 42 Abs. 6 Schulgesetz-NRW (Prävention<br />

und Intervention bei Vernachlässigung)<br />

allen pädagogischen Fachkräften<br />

zur Pflicht gemacht, Hinweisen auf Kindeswohlgefährdungen<br />

konsequent nachzugehen.<br />

Zur Sicherstellung des Schutzauftrages<br />

und zu einem eindeutigen Umgang mit<br />

Hinweisen auf Kindeswohlgefährdungen<br />

waren deshalb zwischen Jugendhilfe und<br />

Schule Verfahrensstandards zu erarbeiten,<br />

die der besonderen Verantwortung der pädagogischen<br />

Fachkräfte in diesem Problembereich<br />

Rechnung tragen.<br />

Bereits im Jahr 2005 wurde eine Kooperationsvereinbarung<br />

zwischen den Schulen<br />

der Stadt Essen und den Sozialen Diensten<br />

des Jugendamtes Essen über eine verbindliche<br />

und transparente Zusammenarbeit<br />

im Zusammenhang mit der Problematik<br />

„Schulverweigerer“ abgeschlossen. Ziel<br />

dieser Vereinbarung war, auf unregelmäßige<br />

oder bereits länger andauernde Schulversäumnisse<br />

mit einer gemeinsamen Interventionshaltung<br />

zu reagieren und Kinder<br />

und Jugendliche kurzfristig wieder an einen<br />

regelmäßigen Schulbesuch heranzuführen.<br />

Wiederkehrende Schulversäumnisse und<br />

Schulverweigerung wurden gemeinschaft-<br />

lich als wesentliche Indikatoren für eine<br />

drohende oder bereits bestehende Gefährdung<br />

des Wohls von Kindern- und Jugendlichen<br />

definiert.<br />

Die Konkretisierungen des Schutzauftrages<br />

in den gesetzlichen Regelungen des SGB<br />

VIII und des Schulgesetzes machen es erforderlich,<br />

über den Bereich Schulversäumnisse<br />

bzw. Schulverweigerung hinaus gemeinsame<br />

Verfahrensstandards zu einem<br />

umfassenden Schutz von Kindern und Jugendlichen<br />

festzulegen.<br />

Aufbauend auf die rechtlichen und methodischen<br />

Arbeitsansätze der Kooperationsvereinbarung<br />

„Schulverweigerung“ wurden<br />

deshalb die nachfolgenden Vereinbarungen<br />

zu einem einheitlichen Umgang mit Hinweisen<br />

auf Kindeswohlgefährdungen entwickelt.<br />

Sie lösen die bestehende Kooperationsvereinbarung<br />

„Schulverweigerung“<br />

ab und bilden die Grundlage für ein abgestimmtes<br />

und zeitnahes Handeln aller Verantwortlichen<br />

in Fällen von drohender oder<br />

bereits bestehender Kindeswohlgefährdung.<br />

2. Ziel<br />

J Schutz von Kindern und Jugendlichen vor<br />

Gefährdung<br />

J Erfüllung des Bildungsauftrages<br />

J Sicherstellung eines regelmäßigen Schulbesuch<br />

J Erlangung eines Schulabschlusses<br />

J Einbeziehung und Unterstützung der Eltern<br />

bei ihrer Erziehungsaufgabe


3. Zielgruppe<br />

J Kinder an Grundschulen<br />

J Kinder und Jugendliche an weiterführenden<br />

Schulen<br />

J Kinder und Jugendliche an Förderschulen<br />

J Eltern oder sonstige Personensorgeberechtigte<br />

4. Rahmenbedingungen für eine effektive<br />

Kooperation<br />

Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit<br />

zur Sicherstellung des Schutzauftrages<br />

bei Kindeswohlgefährdung ist eine vertrauensvolle<br />

Kooperation zwischen Schule und<br />

Jugendhilfe auf Grundlage der bestehenden<br />

Datenschutzbestimmungen. Um diese<br />

zu erreichen, ist es von großer Bedeutung,<br />

dass die Institutionen einen guten Kontakt<br />

zueinander haben und ihre gegenseitigen<br />

Ressourcen kennen und nutzen.<br />

Folgende verbindliche sozialraumbezogene<br />

Strukturen begünstigen die gemeinsame<br />

Arbeit:<br />

J Fallunabhängiger Austausch: z. B. Teilnahme<br />

an Stadtteilkonferenzen, Bezirkskonferenzen,<br />

J Aufbau zielgruppenorientierter und innovativer<br />

Formen der Zusammenarbeit (z.<br />

B. FuN-Projekt, Anti-Aggressionstraining,<br />

Sprachkurse, Spielgruppen) zur Förderung<br />

von Kindern, Jugendlichen und Eltern<br />

durch gemeinsame Angebote,<br />

J wechselseitige Informationen über die Arbeitsfelder/<br />

Aufgabengebiete (z. B. Konferenzen,<br />

gemeinsame Fortbildungen, gemeinsame<br />

Fachtagungen etc.),<br />

J gegenseitige Weitergabe von Informationen<br />

auf dem aktuellen Stand (z. B. Schulerfahrungstage,<br />

Ganztagskonzepte,<br />

Zuständigkeitsliste der Bezirkssozialarbeiterinnen<br />

und Bezirkssozialarbeiter),<br />

J gemeinsame Durchführung von Veranstaltungen<br />

mit Eltern (z. B. Elternabenden, Informationsveranstaltungen<br />

zu Erziehungsthemen<br />

etc.),<br />

J bei Bedarf: Institutionalisierte Form der<br />

Kontakte zwischen Schule und Sozialen<br />

Diensten (z. B. Sprechstunde der Sozialen<br />

Dienste in der Schule, regelmäßige Kooperationsgespräche),<br />

J Ermutigung von Personensorgeberech-<br />

tigten durch die Schule, bei Beratungsbedarf<br />

frühzeitig Kontakt zu Sozialen Diensten<br />

aufzunehmen,<br />

J Einbindung der Kooperationspartner in<br />

Konferenzen, Erziehungsgesprächen oder<br />

Hilfeplangesprächen,<br />

J Beteiligung der bezirklichen Ansprechpartner<br />

Jugendhilfe und Schule (siehe<br />

auch Punkt 7.),<br />

J Einbeziehung der Beratungslehrer, die es<br />

an fast allen Essener Schulen gibt.<br />

5. Einbeziehung der Jugendhilfe zur<br />

Abwendung einer Kindeswohlgefährdung<br />

Ablaufplan<br />

Voraussetzung:<br />

Werden bei einem Kind im schulischen<br />

Kontext Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung<br />

deutlich, so ist zunächst zwischen<br />

Klassenleitung und Schulleitung und ggf.<br />

der Beratungslehrerkraft das weitere Vorgehen<br />

abzustimmen. Insbesondere ist zu prüfen,<br />

ob und in welchem Umfang den Eltern<br />

Hilfemöglichkeiten eröffnet werden können.<br />

Bleiben trotz dieser im Vorfeld stattgefundenen<br />

pädagogischen Beratung zwischen<br />

Schule und Erziehungsberechtigten gravierende<br />

Problemfelder offen, so sind die folgenden<br />

Arbeitsschritte einzuleiten.<br />

Arbeitsschritte:<br />

J Die Klassenleitung füllt den <strong>Dokumentation</strong>sbogen<br />

zur Risikoabschätzung aus.<br />

J Sie nimmt telefonisch Kontakt zum Sozialen<br />

Dienst des Jugendamtes (bzw. zur Arbeiterwohlfahrt<br />

bei libanesischen Schülerinnen<br />

und Schülern) auf und faxt den <strong>Dokumentation</strong>sbogen<br />

zur zuständigen Bezirksstellenleitung.<br />

Wenn der Schutz des Kindes<br />

dadurch nicht gefährdet wird, werden die<br />

Erziehungsberechtigten über die Einschaltung<br />

der Sozialen Dienste informiert.<br />

J In einem Erstgespräch (Fallberatung) zwischen<br />

Sozialen Diensten und Schule wird<br />

über die Situation des Kindes oder Jugendlichen<br />

beraten, die Gefährdung eingeschätzt<br />

und die weitere Vorgehensweise<br />

organisiert.<br />

Inhalte der Fallberatung:<br />

J Austausch über die bestehende Situation<br />

J Abklärung von Interventionsmöglichkeiten<br />

Forum 3 J „6 – 10 +“<br />

75


76<br />

J Festlegung von Zielen und Maßnahmen<br />

J Entscheidung über die fallführende Institution<br />

J Terminierung der nächsten Fallberatung<br />

Der <strong>Dokumentation</strong>sbogen – Fallberatung<br />

(s. Anlage 2) wird durch die Schule ausgefüllt<br />

und den Beteiligten zugesandt. Jede<br />

Institution informiert seinen Kooperationspartner<br />

kontinuierlich über Veränderungen<br />

und erfolgte Handlungen (z. B. Inobhutnahme<br />

bei eskalierender Krisensituation in der<br />

Familie).<br />

Die nächste Fallberatung zwischen Jugendamt<br />

und Schule findet statt, um zu<br />

klären, ob und mit welchen Konsequenzen<br />

ein Kontakt zu der Familie stattgefunden<br />

hat. Falls notwendig werden weitere Handlungsschritte<br />

zwischen Schule und den Sozialen<br />

Diensten vereinbart. Möglicherweise<br />

sind weitere Institutionen zum Beispiel Regionale<br />

Schulberatungsstelle, Polizei, Familiengericht<br />

etc. hinzuzuziehen.<br />

In einem Auswertungsgespräch wird geprüft,<br />

ob die durchgeführten Maßnahmen<br />

ausreichend sind.<br />

6. Bewertung der Kooperation<br />

Am Ende des Jahres erfolgt die jährliche<br />

Bewertung jedes Einzelfalls, diese wird von<br />

jeder Institution einzeln abgegeben.<br />

Die bezirklichen Ansprechpartner Jugendhilfe<br />

und Schule erhalten die Bögen zur<br />

Auswertung.<br />

7. Aufgabe der bezirklichen Ansprechpartner<br />

Jugendhilfe und<br />

Schule<br />

Die Neuausrichtung der auf die Kooperation<br />

von Schule und Jugendhilfe im Sozialen<br />

Raum ausgerichtete Struktur der „Bezirklichen<br />

Ansprechpartner“ nach einer ersten<br />

Erprobungsphase in den Jahren 2004<br />

bis 2006 fokussiert diese wichtige Vernetzungsaufgabe<br />

innerhalb der Jugendhilfe<br />

auf das ambulante Sachgebiet bei den Sozialen<br />

Diensten. Das Ambulante Sachgebiet<br />

bildet damit die jeweilige Partnerstruktur<br />

für die Lehrerinnen und Lehrer aus den<br />

verschiedenen Schulformen in den neun<br />

Essener Stadtbezirken. Zentrale Aufgabe<br />

dieser Kooperationsstruktur wird weiterhin<br />

die gegenseitige Information und Vermittlungstätigkeiten<br />

zwischen den beiden pädagogischen<br />

Systemen in Jugendhilfe und<br />

Schule darstellen.<br />

Für beide Bereiche ist in der fachpolitischen<br />

Debatte die Notwendigkeit zum<br />

Austausch, gegenseitiger Information und<br />

damit einer verbesserten Kooperation deutlich<br />

formuliert worden. Dabei fällt dem Ambulanten<br />

Sachgebiet, als eine Art „vorgelagerter<br />

Fachdienst der Sozialen Dienste“,<br />

deren Kernaufgabe in dem Aufbau und<br />

Pflege von Netzwerkstrukturen auf der Sozialraumebene<br />

besteht, die wichtige Aufgabe<br />

der Anlaufstelle für die Kooperation mit<br />

dem jeweiligen Schulsystem und den verschiedensten<br />

Schulformen im Bezirk zu.<br />

Aufgabe der Bezirksteams wird es also<br />

sein, gegenseitige Übersetzungstätigkeiten<br />

zur Verbesserung der Kooperation von<br />

Jugendhilfe und Schule als Bildungs-, Betreuungs-<br />

und Erziehungsstruktur zu leisten.<br />

Dabei beziehen sie sich auf die vor Ort<br />

existierenden Arbeitsformen und nutzen<br />

diese im Sinne einer Herstellung einer gemeinsamen<br />

und vollständigen Sicht auf die<br />

Kinder und Jugendlichen in den Essener<br />

Stadtbezirken. Sie stellen damit, unabhängig<br />

von der personenbezogenen Kooperationsstruktur,<br />

eine systematische „Geschäftsführung<br />

in Sachen Kooperation von<br />

Jugendhilfe und Schule“ auf dieser räumlichen<br />

Kooperationsebene sicher.<br />

Sie bilden ebenfalls ein zentrales Instrument<br />

für die Verbreitung von wichtigen inhaltlichen<br />

Impulsen, die für beide Systeme<br />

gleichermaßen von Bedeutung sind. (z. B.<br />

auch diese Kooperationsvereinbarung zwischen<br />

den Schulen der Stadt Essen und<br />

den Sozialen Diensten des Jugendamtes<br />

zu § 42 Abs. 6 Schulgesetz NRW und § 8a<br />

SGB VIII).


Forum 3 J „6 – 10 +“<br />

77


Ergebnisse aus dem Forum 3<br />

Christian Jung J Kreisdirektor Gütersloh<br />

1. Vorgesehene Inhalte und beabsichtigte<br />

Ziele des Forums<br />

Mit Blick auf Kinder im Grundschulalter<br />

sollte von vornherein der Schwerpunkt auf<br />

Möglichkeiten und Grenzen in der Zusammenarbeit<br />

zwischen Schule und Jugendhilfe<br />

gelegt werden. Die einzelnen Kurzvorträge<br />

sollten vor allen Dingen die schulische<br />

Wirklichkeit beleuchten und daraus ein intensives<br />

Gespräch über Handlungsbedarfe<br />

entstehen lassen.<br />

Frau Gabriele Kemper-Bruns von der Osterfeldschule<br />

in Unna stellte zunächst die<br />

Situation ihrer Schule dar. Es handelt sich<br />

um eine zweizügige Grundschule. Sie erläuterte,<br />

in welchen Fallgestaltungen und<br />

in welchem Umfang sie Unterstützungsbedarfe<br />

aus anderen Fachkompetenzen sieht<br />

und wo sie sich mit Ihren Kolleginnen und<br />

Kollegen im Hinblick auf Verhaltensweisen<br />

und Auffälligkeiten von Kindern ihrer Schule<br />

überfordert fühlt.<br />

Herr Seitel, als Leiter einer Förderschule<br />

für emotionale und soziale Entwicklung<br />

der Primarstufe, stellte die besonderen Anforderungen<br />

dar, die eine solche Schulform<br />

mit sich bringt. Herrn Seitel ging es<br />

insbesondere darum, deutlich zu machen,<br />

dass trotz einer sehr günstigen Schüler/<br />

Lehrer-Relation (1:11) Schule angesichts<br />

der Kinder, die zu fördern sind, schnell an<br />

die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten<br />

kommt. Das Besondere an der Erich-Kästner-Schule<br />

ist, dass diese für die Hälfte der<br />

ca. 50 Schülerinnen und Schüler den Offenen<br />

Ganztag im Zusammenhang mit einem<br />

Träger der Erziehungshilfe anbieten kann.<br />

Hier werden 25 Kinder von 4 Fachkräften<br />

betreut.<br />

Herr Engelen vom Jugendamt Essen stellte<br />

das Beispiel einer sehr strukturierten Zusammenarbeit<br />

zwischen den Schulen in<br />

Essen und dem Jugendamt dar. Über eine<br />

entsprechend fachlich verabredete <strong>Dokumentation</strong>,<br />

die die Schulen ausfüllen, wird<br />

eine Einschätzung der Problemlage des<br />

Kindes für die Schule vorgenommen. Bei<br />

Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung<br />

wird diese <strong>Dokumentation</strong> den jeweils<br />

festgelegten Partnern im Jugendamt<br />

zur Verfügung gestellt, um gemeinsam den<br />

Handlungsbedarf zu klären.<br />

2. Zusammenfassung der Vortragsinhalte:<br />

Frau Kemper-Bruns erläuterte sehr anschaulich<br />

den Alltag einer Schule mit Bedingungen,<br />

die nicht von extremer Belastung<br />

geprägt ist (Migration / besonders<br />

schwierige soziale Schichten). Gleichwohl<br />

sieht sich die Schule in der Situation, bei<br />

den Kindern ganz verschiedenartige individuelle<br />

Hilfebedarfe zu sehen, die nicht primär<br />

den Kern schulischer Aufgaben bilden.<br />

Unterschiedlichste Verhaltensstörungen,<br />

mangelnde Teilnahme, geringe Konzentrationsfähigkeit<br />

aber auch Aspekte, die den<br />

Schluss zulassen, dass der familiäre Hintergrund<br />

nicht gerade zur Stärkung der Kinder<br />

beiträgt, prägen das Bild, das die Schule<br />

von den Kindern gewonnen hat.<br />

Die Schule versucht mit ihren Möglichkeiten<br />

von individuellen Angeboten, von<br />

interessanter Gruppenarbeit und von<br />

unterschiedlichsten Förder- und Bildungsmöglichkeiten<br />

im außerschulischen Bereich<br />

dem mehr entgegen zu steuern. Die Schule<br />

erklärt, dass trotz der Überschaubarkeit<br />

der relativ kleinen Schule die Problemlagen<br />

so vielfältig sind und offensichtlich auch<br />

die zu geringe Unterstützung im häuslichen<br />

Bereich so stark wirkt, dass Schule allein<br />

überfordert ist, diese Kinder konsequent<br />

zu fördern und die nötigen Bildungsziele<br />

für jeden zu erreichen. Die Schule sieht Lösungsmöglichkeiten<br />

in einem konsequenten<br />

Ganztagsangebot und den personellen<br />

und fachlichen Möglichkeiten für mehr Elternarbeit.<br />

Herr Seitel hat anhand der Folien, die in der<br />

Anlage beigefügt sind, die besondere Si-<br />

Forum 3 J „6 – 10 +“<br />

79


80<br />

tuation seiner Schule und die spezifischen<br />

Lebenslagen der Schülerinnen und Schüler<br />

erläutert. Hier kommen zwei ganz wesentliche<br />

Handlungsfelder zusammen: Der<br />

größte Teil der Familien aus denen die Kinder<br />

stammen, hat selbst mit erheblichen innerfamiliären<br />

Problemen zu tun. Es handelt<br />

sich um Familien mit wechselnden Partnerbeziehungen,<br />

mit Arbeitslosigkeit, Sucht<br />

oder anderen Schwierigkeiten. Nur ein geringer<br />

Teil des familiären Hintergrundes<br />

kann als „normal“ bezeichnet werden.<br />

Kinder, die aus derartig schwierigen und<br />

prägenden Verhältnissen kommen, sind<br />

dann in der Erich-Kästner-Schule zu fördern<br />

Diese Kinder zeigen entsprechend<br />

sehr unterschiedliche Auffälligkeiten. Die<br />

Feststellung eines Förderbedarfs für emotionale<br />

und soziale Entwicklung bereits in<br />

der Primarschule setzt frühe Erkenntnisse<br />

über deutlich abweichendes Verhalten<br />

voraus. Die Schule ist damit konfrontiert,<br />

dass teilweise in den schulischen Raum<br />

sehr massive Konfliktlagen hineingetragen<br />

werden. Auffälligstes bis extremes Verhalten<br />

der Schülerinnen und Schüler, das auch<br />

alle anderen betrifft, prägt den Schulalltag.<br />

Die Schule sieht sich selbst trotz der sehr<br />

guten Schüler/Lehrer-Relation kaum in der<br />

Lage, den Unterricht konsequent durchzuführen<br />

und das Unterrichtsziel der Grundschule<br />

zu erreichen. Die Schule ist fachlich<br />

extrem gefordert, weil sie in intensiver<br />

Form vor allen Dingen im Bereich Diagnose<br />

und Kooperation mit der Jugendpsychiatrie<br />

gefordert ist, ebenso wie in enger Zusammenarbeit<br />

mit der Jugendhilfe. Etwa<br />

die Hälfte der Schülerinnen und Schüler erhalten<br />

gleichzeitig selbst oder in der Familie<br />

Leistungen der Jugendhilfe.<br />

Insgesamt ist unter dem Aspekt Kinder-<br />

und Jugendschutz an dieser Schule eine<br />

Grenzsituation erreicht, die für eine konsequente<br />

Förderung der Kinder ein deutliches<br />

Mehr an umfassender Elternarbeit sowie an<br />

individueller Betreuung der Schülerinnen<br />

und Schüler verlangen würde. Herr Seitel<br />

hält deshalb auch ergänzende Schulsozialarbeit<br />

für erforderlich.<br />

Herr Ulrich Engelen stellte das Konzept der<br />

Stadt Essen vor, in dem Schule und Jugendamt<br />

eine enge Kooperation eingegangen<br />

sind. Die Zielsetzung der Kooperation<br />

bezieht sich im Wesentlichen auf Maßnahmen<br />

des Kinderschutzes nach § 8 a SGB<br />

VIII. Es geht hierbei darum, im schulischen<br />

Alltag Hinweise auf Kindeswohlgefährdung<br />

aufzugreifen und in einem systematischen<br />

Zusammenhang zu erfassen. Dabei soll<br />

vermieden werden, dass Warnsignale übersehen<br />

werden. Genau so ist zu verhindern,<br />

dass subjektive Fehleinschätzungen zu voreiligem<br />

Handeln führen. Der abgestimmte<br />

<strong>Dokumentation</strong>sbogen ist von der Schule<br />

sorgfältig auszufüllen und führt im Ergebnis<br />

zu der Feststellung, ob Hinweise auf Kindeswohlgefährdung<br />

vorliegen. Ist dies der<br />

Fall, so ist ein festes Verfahren mit dem Jugendamt<br />

verabredet, dass die Einschaltung<br />

der örtlich zuständigen Bezirkssozialarbeit<br />

oder anderer Fachkräfte vorsieht.<br />

3. Schwerpunkte der Diskussion im<br />

Workshop<br />

Nach den kurzen einleitenden Vorträgen<br />

wurde in der Arbeitsgruppe intensiv über<br />

Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit Jugendhilfe<br />

/ Schule diskutiert. Allerdings erfolgte<br />

noch eine Reihe von Hinweisen über<br />

positive Beispiele, die eine enge Zusammenarbeit<br />

der unterschiedlichen Fachbereiche<br />

in letzter Zeit ermöglicht haben.<br />

Insgesamt wurde beklagt, dass die Zielsetzung<br />

von Schule und Jugendhilfe weiterhin<br />

außerordentlich verschieden sei und<br />

es deswegen immer wieder grundlegende<br />

Verständigungsschwierigkeiten gebe.<br />

Die Schule sehe sich vor die Notwendigkeit<br />

gestellt, in einer größeren Gruppe (Klasse)<br />

durch unterrichtliche Vorgaben verschiedene<br />

Bildungsziele zu erreichen. Jede abweichende<br />

Verhaltensweise (vor allen Dingen<br />

Störung) führe zu einer Behinderung schulischer<br />

Ziele. Aus diesem Grunde könne sich<br />

die Schule nicht davon lösen, mit Hilfe externer<br />

Fachlichkeiten in gewissem Maße<br />

schulische Ordnung herzustellen.<br />

Hieraus entstünden Anforderungen an Jugendhilfe,<br />

aber auch an andere Fachkräfte<br />

(Schulpsychologie, Psychiatrie, Heilpädagogik).<br />

Insgesamt wurde die Feststellung<br />

getroffen, dass offensichtlich in den letzten<br />

Jahren von allen Beteiligten eine Zunahme<br />

von Schwierigkeiten und Störungen<br />

bei Kindern in der Grundschule konstatiert<br />

wird. Hierzu gehören auch Lernstörungen,<br />

die sich vor allen Dingen durch Schulver-


weigerung und offensichtliche Abwesenheit<br />

(Weghören/Träumen) im Unterricht auszeichnen.<br />

Auf die besonderen Probleme der Erich-<br />

Kästner-Schule als Förderschule wurde weniger<br />

eingegangen, da die Situation einer<br />

solchen Schule offensichtlich als Sondersituation<br />

betrachtet wird. Die enge Zusammenarbeit<br />

zwischen dem Jugendamt der<br />

Stadt Essen und den Schulen wurde als<br />

sehr interessantes Modellprojekt gesehen.<br />

Insgesamt wurde aber hinterfragt, ob eine<br />

detailhafte <strong>Dokumentation</strong> die sich sehr<br />

stark an äußeren Erscheinungsbildern orientiert<br />

(z. B. pünktlicher Schulbesuch o. A.)<br />

tatsächlich ausreichende und qualifizierte<br />

Indikatoren dafür bildet, eine Kindeswohlgefährdung<br />

zu sehen. Darüber hinaus wurde<br />

die Frage gestellt, ob es hier ausschließlich<br />

um Kindeswohlgefährdung geht, da<br />

schließlich die Eingriffsmöglichkeiten relativ<br />

extreme Problemlagen erfordern – oder, ob<br />

es nicht vielmehr um unterschiedliche, individuelle<br />

Förderbedarfe gehen sollte.<br />

Im Ergebnis konnte festgehalten werden,<br />

dass sich die Situation in der Grundschule<br />

als durchweg schwierig darstellt, selbst<br />

dort, wo Schulen sich mit Kindern aus der<br />

sozialen Mittelschicht auseinandersetzen<br />

müssen. Es wurde festgehalten, dass<br />

Schulen mit der aktuellen Lehrerausstattung<br />

ihre Ziele nicht erreichen können. Sie<br />

benötigen hierfür deutlich mehr Zeit (Ganztagsschule)<br />

und eine deutlich bessere Personalausstattung<br />

einschließlich der Unterstützung<br />

von zusätzlichen Fachkräften mit<br />

Erfahrungen aus der Heilpädagogik oder<br />

der Erziehungshilfe.<br />

4. Ergebnis des Workshops<br />

Als Ergebnis des Workshops wurde in dem<br />

Plenumsbericht festgehalten, dass die Situation<br />

in der Grundschule nicht von extremen<br />

Verhaltensweisen und von herausragenden<br />

Problemen der Erziehungshilfe<br />

geprägt ist. Es geht weniger darum, gewalttätige,<br />

kaum zu bändigende Kinder mit<br />

Maßnahmen der Erziehungshilfe zur Entlastung<br />

von Schulen in den Griff zu bekommen.<br />

Die durchschnittliche Situation der<br />

Grundschulen ist vielmehr geprägt von unterschiedlichsten<br />

Störungsbildern und Auffälligkeiten,<br />

die sowohl den schulischen<br />

Alltag stören als auch die individuelle Förderung<br />

der Kinder äußerst schwierig machen.<br />

Die Gruppe derjenigen Kinder, die<br />

diese verschiedenartigen Einschränkungen<br />

aufweisen ist relativ groß und wurde im<br />

Workshop auf etwa 20 – 30 % geschätzt.<br />

Als Ergebnis wurde festgehalten, dass die<br />

Fachkompetenz der Lehrerinnen und Lehrer<br />

in der Grundschule für eine Entscheidung<br />

darüber, welche Förderbedarfe die<br />

Kinder haben, durchweg nicht ausreicht.<br />

Eine deutliche Stärkung von Fachlichkeit<br />

durch Beratung, Supervision und andere<br />

Hilfestellungen sind zwingend erforderlich.<br />

Grundlage für eine kompetente Aufgabenwahrnehmung<br />

der Grundschule ist<br />

ein anderer zeitlicher Rahmen (echte Ganztagsschule)<br />

und eine andere Personalausstattung<br />

bzw. bessere Schüler/Lehrer-Relation.<br />

Forum 3 J „6 – 10 +“<br />

81


82<br />

Forum 4: Kindesschutz vor<br />

Gericht<br />

Eingriffs- und Handlungsmöglichkeiten der Justiz in Zusammenarbeit<br />

mit der Jugendhilfe und Anderen<br />

Moderation: Wolfgang Rüting J Jugendamt Kreis Warendorf<br />

Begleitung: Anika Lebek J Jugendamt Kreis Warendorf<br />

Beiträge: Hans-Christian Prestien J Amtsgericht Potsdam<br />

Andreas Hornung J Amtsgericht Warendorf<br />

Hans-Christian Prestien J<br />

Amtsgericht Potsdam<br />

I. Der Auftrag<br />

1. Allgemeine Verpflichtung<br />

„Die Verpflichtung des Staates (das Wächteramt<br />

nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG wahrzunehmen)<br />

ergibt sich in erster Linie daraus,<br />

dass das Kind als Grundrechtsträger<br />

selbst Anspruch auf den Schutz des Staates<br />

hat. Das Kind ist ein Wesen mit eigener<br />

Menschenwürde und dem eigenen Recht<br />

auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit im<br />

Sinne der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG.<br />

Eine Verfassung, welche die Würde des<br />

Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertsystems<br />

stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher<br />

Beziehungen grundsätzlich<br />

niemandem Rechte an der Person<br />

eines anderen einräumen, die nicht zugleich<br />

pflichtgebunden sind und die Menschenwürde<br />

des anderen respektieren.<br />

In diesem Sinne bildet das Wohl des Kindes<br />

den Richtpunkt für den Auftrag des<br />

Staates gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG.<br />

Das bedeutet nicht, dass jedes Versagen<br />

oder jede Nachlässigkeit den Staat berechtigt,<br />

die Eltern von der Pflege und Erziehung<br />

auszuschalten oder gar selbst diese<br />

Aufgabe zu übernehmen; vielmehr muss er<br />

stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern<br />

Rechnung tragen. Zudem gilt auch hier<br />

der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Art<br />

und Ausmaß des Eingriffs bestimmen sich<br />

nach dem Ausmaß des Versagens der Eltern<br />

und danach, was für das Interesse des<br />

Kindes geboten ist.<br />

Der Staat muss daher nach Möglichkeit<br />

versuchen, durch helfende, unterstützende,<br />

auf Herstellung oder Wiederherstellung<br />

eines verantwortungsbewussten Verhaltens<br />

der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen<br />

sein Ziel zu erreichen ...“(BVerfGE<br />

Bd. 24, 119 ff, 144; dazu auch BVerfG NJW<br />

1982,1379)<br />

2. Das Stufenmodell<br />

Die Hierarchie der Interventionsformen bei<br />

Hinweisen auf Gefährdung der gesunden<br />

körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung<br />

des Kindes:<br />

1. Stufe: Konfliktlösung durch außergerichtliche<br />

Information und Beratung<br />

der Kindeseltern durch Mitarbeiter der Ki-<br />

Tas, Kindergärten, Schulen und freien (insbesondere<br />

Beratungsstellen) und öffentlichen<br />

Träger der Jugendhilfe. Allen ist<br />

gemeinsam: Ihre Möglichkeiten, Kinder vor<br />

ernsthaften Schädigungen zu bewahren,<br />

sind durch die Bereitschaft der Eltern bzw.<br />

verantwortlichen Bezugspersonen des Kindes,<br />

Hilfe anzunehmen und notwendige<br />

Veränderungen zu veranlassen, begrenzt.<br />

Sie verfügen nicht über die Macht, die Erwachsenen<br />

an einen Tisch zu bringen, geschweige<br />

denn, rechtliche Verantwortlichkeiten<br />

zu verändern oder gar zu entziehen.<br />

Der Inhaber des staatlichen Wächteramtes,<br />

der über diese Qualität verfügt, ist das Gericht.<br />

2. Stufe: Konfliktlösung durch Information<br />

und Beratung durch das Gericht<br />

„Der Staat muss daher nach Möglichkeit<br />

versuchen, durch helfende, unterstützende,<br />

auf Herstellung oder Wiederherstellung ei-


nes verantwortungsbewussten Verhaltens<br />

der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen<br />

sein Ziel zu erreichen ...“(BVerfGE Bd.<br />

24, 144)<br />

§ 52 Abs. 1 FGG nimmt dies auf und formuliert:<br />

„In einem die Person eines Kindes<br />

betreffenden Verfahren soll dass Gericht so<br />

früh wie möglich und in jeder Lage des Verfahrens<br />

auf ein Einvernehmen der Beteiligten<br />

hinwirken.“<br />

3. Stufe: Konfliktlösung durch einstweilige<br />

Anordnungen und Rückdelegation<br />

des Problems in die Beratungsebene<br />

4. Stufe: Ultima ratio durch eine Endentscheidung<br />

möglichst mit konkreten<br />

Vorgaben und ggf. Überprüfungsmöglichkeiten<br />

sowie Eröffnung oder Inaussichtstellung<br />

weiterer Verfahren.<br />

II. Werkzeuge der praktischen Umsetzung<br />

1. Gesetzliche Rahmenbedingungen<br />

– der „Giftschrank“<br />

Das Verfahrensrecht trennt die einzelnen,<br />

das Kind betreffenden Störungsfelder entsprechend<br />

der Etikettierung im BGB voneinander.<br />

Die einzelnen Bereiche finden sich<br />

bei Gericht in voneinander abgegrenzten<br />

und getrennten Akten wieder, vergleichbar<br />

mit den Schubladen eines „Giftschrankes“,<br />

die einzeln vom Richter geöffnet werden<br />

müssen, um überhaupt eine entsprechende<br />

Bearbeitung auf diesem jeweiligen Sektor<br />

auszulösen. Die Öffnung der Schubladen<br />

wird vom Gericht vorgenommen, wenn<br />

entweder ein dazu Berechtigter einen dazu<br />

passenden Antrag stellt bzw. eine Anregung<br />

von außen kommt, von Amts wegen<br />

(v. A. w.) tätig zu werden.<br />

Alle Maßnahmen des Gerichts sind stets<br />

danach auszurichten, was dem Wohl des<br />

Kindes am besten entspricht – § 1697 a<br />

BGB – und haben den eingangs skizzierten<br />

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.<br />

Bei der Anwendung der Vorschriften sind<br />

die vom Gesetz aufgestellten Leitlinien des<br />

Gesetzes zur Gestaltung des Eltern-Kind-<br />

Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

Verhältnisses zu beachten. An ihnen muss<br />

sich die Maßnahme orientieren.<br />

Die obersten Fächer des Giftschrankes<br />

könnten damit folgende Aufschriften tragen:<br />

§ 1618 a<br />

Eltern und Kinder sind einander Beistand<br />

und Rücksicht schuldig<br />

1626 Abs. 2<br />

Berücksichtigung der wachsenden Fähigkeit<br />

des Kindes zu verantwortungsbewusstem<br />

Handeln<br />

§ 1631Abs. 2<br />

Gewaltverbot<br />

§ 1684 Abs. 2<br />

Verbot der Störung des Eltern-Kind-<br />

Verhältnisses<br />

Die weiteren Schubladen und ihre Aufschriften<br />

im Einzelnen:<br />

§ 1627<br />

Stichentscheid bei gemeinsamem Sorgerecht<br />

(nur auf Antrag)<br />

§§ 1671 / 1672<br />

Übertragung des Sorgerechts oder Teile<br />

(nur auf Antrag)<br />

§ 1631 Abs. 3<br />

Unterstützung der Eltern bei Erziehung (nur<br />

auf Antrag)<br />

§§ 1684 – 1626 Abs. 3<br />

Umgangsrecht des Kindes mit Eltern (auf<br />

Antrag u. v. A. w.)<br />

§§ 1666/ 1666 a<br />

Gefährdung des Kindeswohls (v. A. w.)<br />

§§ 1685 – 1626 Abs. 3<br />

Umgangsrecht des Kindes mit Geschwister<br />

u. a. (auf Antrag u. v. A. w.)<br />

§§ 8a / 42 SGB VIII<br />

Inobhutnahme (v. A. w.)<br />

§ 1632 Abs. 4<br />

Verbleib in Pflege (auf Antrag u. v. A. w.)<br />

§ 1631 b<br />

Unterbringung der Kinder (auf Antrag)<br />

83


84<br />

§ 1680<br />

Tod oder Entzug<br />

§ 1630 Abs. 3<br />

Übertrag Sorgerecht auf Pflegepersonen<br />

(auf Antrag)<br />

§§ 1673 / 1674 – 1678<br />

Ruhe der Sorgerecht<br />

§ 1696<br />

Abänderung<br />

Ist eine Schublade geöffnet, liegt dem<br />

Richter also ein Antrag bei den „Antragsverfahren“<br />

oder eine Anregung bei den<br />

„von Amts wegen“ zu betreibenden Verfahren<br />

vor oder ist er z. B. aufgrund anderer<br />

Verfahren in diesen Bereichen auf einen<br />

möglichen Gefährdungstatbestand gestoßen,<br />

„hat das Gericht von Amts wegen die<br />

zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen<br />

Ermittlungen zu veranstalten und die<br />

geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen.“<br />

(§ 12 FGG)<br />

Im Giftschrank sind §§ 1666 und § 1666a<br />

BGB die zentralen Vorschriften. Sie sind<br />

gedanklich bei allen anderen „Schubladen“<br />

als Hypothese mitzulesen. Verfahren in allen<br />

anderen die Sorge für ein Kind betreffenden<br />

Bereichen sind in sich Indiz für eine<br />

mögliche Gefährdungslage.<br />

§ 1666 Abs. 1 BGB:<br />

(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische<br />

Wohl des Kindes<br />

– das kursiv gedruckte soll nach dem Gesetzentwurf<br />

zur Erleichterung familiengerichtlicher<br />

Maßnahmen bei Gefährdung des<br />

Kindeswohls entfallen –<br />

durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen<br />

Sorge, durch Vernachlässigung<br />

des Kindes, durch unverschuldetes Versagen<br />

der Eltern oder durch das Verhalten eines<br />

Dritten<br />

gefährdet, so hat das Familiengericht,<br />

wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in<br />

der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die<br />

zur Abwendung der Gefahr erforderlichen<br />

Maßnahmen zu treffen.<br />

(2)<br />

(3) in der Fassung des Entwurfs:<br />

„Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach<br />

Absatz 1 gehören insbesondere<br />

1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel<br />

Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe<br />

und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch<br />

zu nehmen,<br />

2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht<br />

zu sorgen,<br />

3. Verbote, vorübergehend oder auf bestimmte<br />

Zeit die Familienwohnung oder<br />

eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem<br />

bestimmten Umkreis der Wohnung<br />

aufzuhalten oder zu bestimmende andere<br />

Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind<br />

regelmäßig aufhält,<br />

4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen<br />

oder ein Zusammentreffen mit dem<br />

Kind herbeizuführen,<br />

5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers<br />

der elterlichen Sorge,<br />

6. die teilweise oder vollständige Entziehung<br />

der elterlichen Sorge.“<br />

In § 1666 a Abs. 1 BGB heißt es u. a.:<br />

„Maßnahmen, mit denen eine Trennung des<br />

Kindes von der elterlichen Familie verbunden<br />

ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr<br />

nicht auf andere Weise, auch nicht durch<br />

öffentliche Hilfen begegnet werden kann…“<br />

Abs. 2: „Die gesamte Personensorge darf<br />

nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen<br />

erfolglos geblieben sind oder<br />

wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung<br />

der Gefahr nicht ausreichen.“<br />

Der Entwurf eines Gesetzes zur „Erleichterung<br />

familiengerichtlicher Maßnahmen<br />

bei Gefährdung des Kindeswohls“ enthält<br />

für Verfahren auf Umgang, Aufenthalt<br />

und Herausgabe sowie allgemein wegen<br />

Gefährdung ein ausdrückliches „Vorrang-<br />

und Beschleunigungsgebot“ (§ 50 e Abs.1<br />

FGG-E). Der Termin zur umfassenden<br />

mündlichen Erörterung mit den Beteiligten<br />

und dem Jugendamt soll innerhalb eines<br />

Monats nach Beginn des Verfahrens stattfinden<br />

(Abs.2). Der Erlass einer einstweiligen<br />

Anordnung ist in Verfahren wegen Gefährdung<br />

des Kindeswohls „unverzüglich“<br />

zu prüfen (Abs. 4). In Umgangsverfahren<br />

sollen einstweilige Anordnungen zum Umgang<br />

in einem solchen Erörterungstermin<br />

stets ergehen (§ 52 Abs. 3 FGG-E).


Zum Inhalt der Erörterungen in Kinderschutzfällen<br />

schreibt § 50 f Abs. 1 FGG-E<br />

vor: „In Verfahren nach den §§ 1666, 1666a<br />

BGB soll das Gericht mit den Eltern und in<br />

geeigneten Fällen auch mit dem Kind erörtern,<br />

wie einer möglichen Gefährdung des<br />

Kindeswohls begegnet werden kann, insbesondere<br />

durch öffentliche Hilfen, und<br />

welche Folgen die Nichtannahme notwendiger<br />

Hilfen haben kann. Das Gericht soll<br />

das Jugendamt zu dem Termin laden.“<br />

Die Frage der Vertretung des Kindes durch<br />

einen eigenen Beistand (Verfahrenspfleger)<br />

ist im Rahmen des § 50 FGG in jeder Lage<br />

des Verfahrens zu überprüfen und ggf.<br />

vom Gericht anzuordnen.<br />

Mit den angeführten Vorschriften wird die<br />

herausragende Bedeutung eines effektiven<br />

Kinderschutzes unterstrichen. Es fragt<br />

sich jedoch, ob allein mit diesen Vorgaben<br />

des Gesetzes im Einzelfall hinreichend<br />

gewährleistet ist, dass das Kind und seine<br />

konkrete Bedürftigkeit auch tatsächlich<br />

im familiengerichtlichen Verfahren stets im<br />

Mittelpunkt stehen.<br />

2. Die Situation und personelle Ausstattung<br />

der Familiengerichte<br />

Mit den genannten Vorschriften sind die<br />

Handlungsanweisungen für einen effektiveren<br />

Kinderschutz verfeinert worden, bzw.<br />

befinden sich entsprechende Vorgaben in<br />

Vorbereitung.<br />

Was bisher allerdings nicht verbessert wurde,<br />

ist die Situation der Familienrichter.<br />

2.1. Die Ausbildung<br />

Der Jurist – und dies gilt auch für alle FamilienrichterInnen<br />

– hat in seiner Ausbildung<br />

gelernt, in der Vergangenheit liegende abgeschlossene<br />

Sachverhalte (Retrospektive)<br />

mit den Mitteln des Beweisrechtes aufzuklären,<br />

diese dabei durchgängig auf das<br />

rechtlich Beachtliche zu reduzieren (Selektion)<br />

und Streitfragen der Bewertung mit<br />

statischer Wirkung (Statik) zu entscheiden.<br />

Über Entwicklungsverläufe, Belastbarkeit<br />

von und Risikofaktoren bei Kindern aus<br />

psychologischer Sicht ist er zielgerichtet<br />

ebenso wenig geschult, wie darin ausge-<br />

Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

bildet, zukünftige Entwicklungen bei Kindern<br />

unter den jeweils vorhandenen oder<br />

möglichen Rahmenbedingungen entsprechend<br />

vorauszusehen (Prospektive), dabei<br />

gewissermaßen mit den Augen des Kindes<br />

alle dafür bedeutsamen Faktoren aufzunehmen<br />

(Ganzheitliche Betrachtung) und<br />

Maßnahmen so zu treffen, dass einer freien<br />

Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes<br />

unter der eigenen Verantwortung der Eltern<br />

soweit wie möglich Raum gegeben wird.<br />

Das danach anzustrebende Ziel: Eine richterliche<br />

eingreifende Entscheidung ist überflüssig<br />

geworden. Das Verfahren ist ohne<br />

förmlichen Abschluss beendet. Die Entwicklung<br />

bleibt dynamisch offen.<br />

Eine gezielte pädagogische Ausbildung zur<br />

Kontaktaufnahme und Gesprächsführung<br />

mit Kindern entsprechend ihrer jeweiligen<br />

Befindlichkeit und Bedürftigkeit ist ihm<br />

ebenso wenig zu Teil geworden wie eine<br />

solche zur Befriedung von strittigen Elternteilen<br />

oder Eltern-Pflegeelternsystemen.<br />

2.2. Das Übergewicht der Konflikte von<br />

Erwachsenen gegeneinander<br />

Der Familienrichter ist überfrachtet mit<br />

Streitigkeiten von Erwachsenen, denen es<br />

um die eigene materielle Zukunftssicherung<br />

unter Ausgrenzung des – noch – Partners/<br />

Ehemannes/Ehefrau geht. In diesem Rahmen<br />

ist das Kind in der Gefahr, für die streitenden<br />

Erwachsenen eher zum Mittel der<br />

Durchsetzung sonst nicht begründbarer<br />

Ansprüche zu werden. In diesem Zusammenhang<br />

erschwert die Gruppendynamik<br />

den richterlichen Blick auf das Kind und<br />

seine Bedürftigkeit zusätzlich.<br />

Dem Richter als Einzelperson stehen z.<br />

B. im Scheidungsgeschehen bis zu 4 negativ<br />

geeinte Personen gegenüber, deren<br />

Ziel eben in erster Linie das eigene Individualinteresse<br />

und nicht die Sicherung des<br />

Kindeswohls ist. Mindestens 80 % seiner<br />

Arbeitskraft dürften von Auseinandersetzungen<br />

zwischen Erwachsenen in Anspruch<br />

genommen werden.<br />

2.3 Die fehlende Verbindung zwischen<br />

familien- und jugendgerichtlichen<br />

Fragestellungen<br />

Der Familienrichter wird nicht „mit den Folgen<br />

eigenen Handelns“ konfrontiert. Wenn<br />

85


86<br />

die Kriminologen längst herausgefunden<br />

haben, dass etwa ¾ aller Fälle von Kinder-<br />

und Jugenddelinquenz von einem broken-home-milieu<br />

in der früheren Kindheit<br />

des Täters gekennzeichnet sind, so bleibt<br />

diese Konsequenz unterbliebener Kinderschutzmaßnahmen<br />

ihm in der Regel verborgen,<br />

da es eine Personalunion zwischen<br />

Jugend- und Familiengericht in der Regel<br />

nicht gibt. Er erfährt ja – entgegen den<br />

MISTRA – häufig nicht einmal, wenn Anklagen<br />

gegen Jugendliche erhoben werden.<br />

2.4 Die Folge<br />

Der Zufall des Anfangsbuchstabens des<br />

Familiennamens entscheidet aus meiner<br />

Sicht darüber,<br />

J ob das jeweilige Familiengericht sich auf<br />

die konkrete Situation eines Kindes einstellt,<br />

J ob das Kind als ein den Erwachsenen<br />

gleichwertiges Rechtssubjekt behandelt<br />

wird,<br />

J ob Hinweise auf Gefährdungslagen in jeder<br />

denkbaren Form auch von Amts wegen<br />

aufgegriffen und zum Anlass aktiven<br />

richterlichen Handelns genommen werden,<br />

J ob das familiengerichtliche Verfahren an<br />

dem Ziel ausgerichtet ist, die konkrete<br />

Kindsituation unterstützend zu verbessern,<br />

bevor eingegriffen wird oder ob das<br />

Heil von vornherein in einer möglichst raschen<br />

statisch wirkenden und Rechte und<br />

Verantwortlichkeiten konkret beschneidenden<br />

Entscheidung gesucht wird.<br />

3. Die Steuerungsfunktion der<br />

Jugendhilfe<br />

Bei der Suche nach Verbesserung des Kinderschutzes<br />

ergibt sich zwingend die Forderung<br />

nach einem „Schulterschluss“ der<br />

beteiligten Professionen. Der Richter hat<br />

die Macht, im Krisenfall alle für das betroffene<br />

Kind Verantwortlichen an einen Tisch<br />

zu holen.<br />

Eine Verhandlungsführung mit dem durchgängigen<br />

Anspruch, soviel Sicherung der<br />

gesunden Kindesentwicklung wie möglich<br />

bei so wenig Eingriff wie tatsächlich zum<br />

Kinderschutz nötig, ist von ihm jedoch nur<br />

zu erwarten, wenn<br />

J ihm Hinweise für die Notwendigkeit eines<br />

konkreten Verfahrens in einer Form<br />

übermittelt werden, die einerseits von ihm<br />

verstanden wird, andererseits außergerichtlich<br />

wichtige Jugendhilfeleistungen<br />

nicht torpediert. Hier wird es darum gehen<br />

müssen, neben der öffentlichen Jugendhilfe<br />

die weiteren Institutionen, die<br />

mit Kindern zu tun haben, also insbesondere<br />

die Erzieher und Lehrer, als Alarmgeber<br />

zu aktivieren.<br />

J Anregungen zur Einrichtung einer Verfahrenspflegschaft<br />

zugleich mit den ersten<br />

Hinweisen gegeben und, soweit diese<br />

von der öffentlichen oder freien Jugendhilfe<br />

kommen, geeignet erscheinende Verfahrenspfleger<br />

benannt werden. Bereits<br />

im ersten Termin von Seiten der Jugendhilfe<br />

darauf aufbauend und die persönlichen<br />

Eindrücke der Anhörung der Eltern<br />

oder Beteiligten aufgreifend Hypothesen<br />

für Gefährdungsverläufe konkret dargestellt<br />

werden, wobei das Augenmerk neben<br />

den leichter darzustellenden körperlichen<br />

und geistigen besonders den<br />

seelischen Gefährdungslagen zugewandt<br />

werden sollte.<br />

J In jeder Lage des Verfahrens Anregungen<br />

zur Eröffnung weiterer Verfahren gegeben<br />

werden (z. B. bei Umgangsstreitigkeiten<br />

bzw. die Frage der elterlichen Sorge thematisiert<br />

wird, bzw. umgekehrt im Sorgeverfahren<br />

angeregt wird, ein besonderes<br />

Umgangsverfahren von Amts wegen zu<br />

eröffnen).<br />

J Angebote weiterführender und das Verfahren<br />

eventuell erledigende Jugendhilfeleistungen<br />

den Eltern oder sonstigen<br />

Beteiligten in jeder Lage des Verfahrens<br />

unterbreitet werden. In diesem Fall sollten<br />

dem Gericht Hinweise und Anregungen<br />

für die Zeitdauer einer Verfahrensunterbrechung<br />

und sichernder einstweiliger<br />

Anordnungen gegeben werden.<br />

J Hinweise auf Möglichkeit, Sinnhaftigkeit,<br />

Ort und Setting einer nicht schädigenden<br />

Einbeziehung des Kindes durch richterliche<br />

Anhörung in Kooperation mit dem<br />

Verfahrenspfleger gegeben werden.<br />

J Bei Eintritt in Stufe 4: Verdeutlichung der<br />

Folgen kindesschädlichen Verhaltens aus<br />

sozialwissenschaftlicher wie aus strafrechtlicher<br />

Sicht (§ 171 StGB u. a.).<br />

J Benennung geeigneter Sachverständiger<br />

sowie Anregung zielführender, nach Möglichkeit<br />

lösungsorientierter Auftragsformen.


Ein Beispiel für entsprechende Fragestellungen<br />

an Sachverständige:<br />

A) Bei Gefährdungslagen im Trennungs-<br />

und Scheidungsgeschehen, insbesondere<br />

im Hinblick auf das seelische<br />

und geistige Kindeswohl<br />

Der Sachverständige (x, y) wird beauftragt,<br />

die Eltern über die objektiven und subjektiven<br />

Bedürfnisse des Kindes im Hinblick<br />

auf seine Betreuung durch beide und Beziehungsgestaltung<br />

zu beiden Elternteilen<br />

zu informieren und beide Elternteile gegebenenfalls<br />

bei der Erarbeitung eines daran<br />

orientierten einvernehmlichen Konzeptes<br />

zur Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung<br />

zu unterstützen. Falls dies nicht<br />

gelingt, wird der Sachverständige gebeten,<br />

zunächst in einem nach Abschluss seiner/<br />

ihrer Ermittlungen anzuberaumenden Termin<br />

zur mündlichen Erörterung dem Gericht<br />

folgende Fragen zu beantworten:<br />

J Welches sind die objektiven und subjektiven<br />

Bedürfnisse des Kindes im Hinblick<br />

auf seine Betreuung durch beide und Beziehungsgestaltung<br />

zu beiden Elternteilen?<br />

J Welche Bindungsqualitäten des Kindes<br />

bestehen zu beiden Eltern?<br />

J Inwieweit sind zu Lasten der seelischen,<br />

geistigen oder leiblichen Situation schädliche<br />

Fehlentwicklungen zu erwarten,<br />

wenn die festgestellte Situation unverändert<br />

bleibt?<br />

J Lässt sich die Gefährdungslage bei entsprechender<br />

Bereitschaft der Eltern durch<br />

konkrete ambulante oder stationäre Jugendhilfeleistungen<br />

– ggf. welche? – aufheben?<br />

J Wie sind Erziehungseignung und -fähigkeit<br />

der Eltern, insbesondere ihre Förderungsfähigkeit,<br />

Bindungstoleranz und Betreuungskompetenz<br />

zu bewerten?<br />

J Bestehen Möglichkeiten, die Beziehungskontinuität<br />

zwischen Kind und dem nicht<br />

betreuenden Elternteil herzustellen, zu ermöglichen<br />

oder zu festigen? Falls ja, welche<br />

Maßnahmen sind dafür geeignet?<br />

J Erscheinen einstweilige Anordnungen<br />

zum Aufenthalt und / oder der Beziehungsgestaltung<br />

erforderlich?<br />

Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

B) Bei Gefährdungslagen im Übrigen<br />

Der Sachverständige wird beauftragt, ein<br />

schriftliches Gutachten zu der Frage zu erstellen,<br />

inwieweit die seelische, geistige<br />

oder leibliche gesunde Entwicklung des<br />

Kindes gefährdet ist.<br />

Hinweise auf sofort zu treffende Maßnahmen<br />

oder einstweilige Anordnungen zur<br />

Verhinderung weiterer Gefährdung oder<br />

Schädigung soll d. Sachverständige dem<br />

Gericht unverzüglich anzeigen.<br />

Zusammenfassend lässt sich die Aufgabenstellung<br />

der Jugendhilfe wie folgt umreißen:<br />

Die Jugendhilfe nimmt Hinweise<br />

auf Gefährdungen auf, bindet etwaige Interessenvertreter<br />

der Erwachsenen bereits<br />

außergerichtlich in den Beratungs-/Hilfeprozess<br />

mündlich ein, verstärkt den Hilfeprozess<br />

ggf. durch Anregung eines Gerichtsverfahrens<br />

(§ 8a SGBVIII), sorgt für<br />

die kindzentrierte Unterstützung des Hilfeprozesses<br />

durch gleichzeitiges Ersuchen<br />

auf Bestellung eines konkreten dazu geeigneten<br />

Verfahrenspflegers (vgl. auch § 53<br />

SGB VIII), steuert das Verfahren durch gezielte<br />

Anregungen (z. B. Sachverständige/<br />

einstweilige Anordnung), gewährleistet mit<br />

Rechtsmitteleinlegung eine weitere nötige<br />

Hilfeleistung über die erste Instanz hinaus.<br />

Für Lehrerschaft und Betreuer von Kindern<br />

gelten diese Hinweise mit Ausnahme der<br />

Beschwerdeeinlegung entsprechend. Bei<br />

der gegebenen fachlichen und personellen<br />

Ausstattung der Öffentlichen Jugendhilfe<br />

dürfte jedoch ein entsprechendes Vorgehen<br />

eher zufallsabhängig sein.<br />

III. Konsequenzen<br />

1. Örtliche Vernetzung der den Kindern<br />

verpflichteten Berufe<br />

Die qualifizierte und kindorientierte Kooperation<br />

zwischen den Institutionen, die im<br />

Auftrag der Gesellschaft für die Belange der<br />

Kinder berufen sind, muss in jedem Einzelfall<br />

eines Gerichtsverfahrens – in Terminen<br />

stets in mündlicher Präsenz – erfolgen.<br />

Zu einer beispielhaften praktischen Kooperationsform<br />

möchte ich auf die nachfolgende<br />

Darstellung einer Kooperations-<br />

87


88<br />

vereinbarung aller am Verfahren beteiligten<br />

Professionen des Kollegen Hornung verweisen.<br />

2. Initiierung oder Unterstützung von<br />

Projekten zur Qualifizierung der<br />

Interessenvertretung von Kindern<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner<br />

jüngsten Entscheidung vom 01.04.2008<br />

das Recht eines jeden Kindes auf Achtung<br />

seiner Menschenwürde ebenso unterstrichen<br />

wie seinen Anspruch, in jeder<br />

Lage des Gerichtsverfahrens, bei dem es<br />

um seine Rechte geht, rechtliches Gehör<br />

zu erhalten. Da ihm jedoch aufgrund seiner<br />

Minderjährigkeit nicht möglich ist, diese<br />

Ansprüche selbst geltend zu machen, ist es<br />

auf einen Interessenvertreter angewiesen,<br />

dessen vornehmste Aufgabe es ist, seinen<br />

„Mandanten“ vor Gefahren für sein Wohl zu<br />

schützen.<br />

Eine Verfahrenspflegschaft, durch die eine<br />

qualifizierte Vertretung der Grundrechte<br />

und der Interessen des Kindes vor Gericht<br />

in allen Gerichtsverfahren, bei denen es um<br />

seinen Schutz vor Gefährdung geht, gewährleistet<br />

ist, existiert jedoch (noch) nicht.<br />

Ob und welche Personen den Gerichten<br />

überhaupt als VerfahrenspflegerInnen zur<br />

Verfügung stehen, ob sie entsprechend der<br />

jeweiligen Aufgabe hinreichend qualifiziert<br />

sind, ob der einzelne Richter überhaupt<br />

Kenntnis davon hat, all dies unterliegt noch<br />

dem Zufallsprinzip.<br />

In der Verantwortung – zumindest auch –<br />

der Jugendhilfe liegt es, das Instrument der<br />

Verfahrenspflegschaft zumindest auch als<br />

Einrichtung der Jugendhilfe zu begreifen<br />

und verantwortlich für den gezielten und<br />

qualifizierten Aufbau einer organisierten<br />

und unabhängigen Anwaltschaft für das<br />

Kind einzutreten, bzw. diese mit zu gestalten<br />

(vgl. dazu auch § 53 Abs. 1 SGB VIII).<br />

Eine qualitativ im Interesse des Kindes arbeitende<br />

Verfahrenspflegschaft dürfte neben<br />

dem dadurch verbesserten Kinderschutz<br />

auch den Effekt haben, Jugendhilfe<br />

ebenso wie Justiz zu entlasten.<br />

3. Verbesserung der gesetzlichen<br />

Rahmenbedingungen<br />

3.1 Verbesserungen im vorgesehenen<br />

Entwurf des Verfahrensrechts<br />

Die Stellung des Kindes im Verfahren muss<br />

gemäß Art. 1 und 103 GG aufgewertet werden.<br />

Das Kind muss formal als Beteiligter<br />

des Verfahrens, bei dem es um seine Rechte<br />

geht, wie jeder andere Bürger auch, anerkannt<br />

werden.<br />

Der Verfahrensbeistand - § 158-E: Der Interessenvertreter<br />

des Kindes sollte ähnlich<br />

wie die Rechtsanwälte der erwachsenen<br />

Beteiligten „seines Verfahrens“<br />

a) sachlich und personell unabhängig sein<br />

und<br />

b) über eine gezielt erworbene Qualifikation<br />

für das Erkennen, Aufgreifen und Einbringen<br />

der konkreten Kindposition in allen<br />

möglichen Variablen verfügen. Ein wichtiger<br />

Schritt dahin könnte folgende Fassung des<br />

vorgesehenen § 158 sein:<br />

„(1) Das Gericht hat dem minderjährigen<br />

Kind in allen Kindschaftssachen, die seine<br />

Person betreffen, einen geeigneten Verfahrensbeistand<br />

zu bestellen. Dies gilt auch für<br />

entsprechende Vollstreckungsverfahren.<br />

(6) Die Bestellung endet<br />

1. mit der Rechtskraft der das Verfahren<br />

abschließenden Entscheidung oder<br />

2. mit dem sonstigen Abschluss des Verfahrens.<br />

(7) Der Verfahrensbeistand erhält Ersatz für<br />

seine Aufwendungen und Vergütung wie<br />

ein Sachverständiger“.<br />

In einer besonderen Vorschrift sollte klargestellt<br />

werden, dass es keines besonderen<br />

Grades einer Gefährdung des Kindes<br />

bedarf, um ein Verfahren nach § 1666 BGB<br />

überhaupt einleiten zu dürfen, wie es offenbar<br />

noch verbreitet angenommen wird:<br />

Verfahren nach §§ 1666, 1666 a BGB werden<br />

vom Gericht eingeleitet, sobald dieses<br />

Kenntnis von konkreten Anhaltspunkten<br />

dafür erhält, dass das Kindeswohl gefährdet<br />

sein kann. Das Gericht soll mit den Eltern<br />

und in geeigneten Fällen auch mit dem<br />

Kind…(weiter wie der vorliegende Entwurf)


Zur Anhörung – besser vielleicht – Einbeziehung<br />

des Kindes sollte § 159 Abs.2 E<br />

klarstellend die Fassung bekommen, wie<br />

sie das Bundesverfassungsgericht als Inhalt<br />

der Kindesanhörung bereits 1980 (NJW<br />

1981, 217) formuliert hat:<br />

„ (1)......<br />

(2).....<br />

Dabei ist dem Kind Gelegenheit zu geben,<br />

seine persönlichen Beziehungen zu den<br />

übrigen Familienmitgliedern erkennbar werden<br />

zu lassen.<br />

Der Verfahrensbeistand ist bei der Anhörung<br />

anwesend. Ein Sachverständiger soll<br />

hinzugezogen werden, falls Anhaltspunkte<br />

für eine erhebliche Abweichung von der<br />

Normalentwicklung des Kindes bestehen.“<br />

§ 159 a E sollte eingefügt werden. Es muss<br />

sichergestellt werden, dass Kenntnisse<br />

über die konkrete Situation des Kindes, die<br />

bei den Fachleuten zu erwarten sind, die<br />

außer den Familienmitgliedern die größte<br />

Nähe zum Kind haben, im Einzelfall auch<br />

abgerufen werden.<br />

„Das Gericht soll bei Auffälligkeiten oder<br />

Leistungsminderungen des Kindes zur Einschätzung<br />

seines Entwicklungsstandes die<br />

schriftliche Stellungnahme der Betreuer,<br />

Erzieher oder Lehrer des Kindes einholen<br />

oder diese persönlich anhören.“<br />

Die Stellung des Jugendamtes ist in § 162<br />

E in eine formale Beteiligtenstellung für das<br />

gesamte Verfahren aufzuwerten. Es kann<br />

nicht im Belieben des Gerichtes liegen, ob<br />

das Jugendamt z. B. zu einem Termin geladen<br />

wird oder „nur“ eine Terminnachricht<br />

erhält.<br />

„(1) Das Jugendamt ist in Verfahren, die die<br />

Person eines Kindes betreffen, beteiligt.<br />

Unterbleibt eine Anhörung des Jugendamtes<br />

vor einer Entscheidung wegen Gefahr<br />

im Verzug, ist sie unverzüglich nachzuholen.<br />

(2) (wie bisher Abs. 3)“<br />

In § 163 E muss der Sachverständige klarstellend<br />

zu einem echten Gehilfen des Gerichtes<br />

werden.<br />

Eine mögliche Fassung:<br />

Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

(1) Das Gericht kann auch im Rahmen der<br />

§§ 89, 90, 156, 157, 159 und 165 einen<br />

Sachverständigen hinzuziehen.<br />

(2) Der Sachverständige hat die Bezugspersonen<br />

des Kindes vor einer Gutachtenerstellung<br />

zu Fragen der elterlichen Sorge<br />

und des Umgangs auf die objektiven und<br />

subjektiven Kindesbedürfnisse hinzuweisen<br />

und bei der Erarbeitung eines einvernehmlichen<br />

an den Kindesinteressen orientierten<br />

Konzeptes zur Handhabung der elterlichen<br />

Sorge und Beziehungsgestaltung zu unterstützen.<br />

(3) Ein Gutachten soll in der Regel zunächst<br />

mündlich erstattet werden.<br />

(4) Wird schriftliche Begutachtung angeordnet,<br />

setzt das Gericht dem Sachverständigen<br />

zugleich eine Frist, innerhalb derer er<br />

das Gutachten einzureichen hat (wie bisher<br />

Abs. 1).<br />

Das Vermittlungsverfahren muss aus Gründen<br />

der Verhältnismäßigkeit ein Verfahren<br />

werden, das von Amts wegen eröffnet<br />

werden kann, wenn Hinweise auf das Kind<br />

belastende Beziehungsstörungen bekannt<br />

werden.<br />

§ 165 E sollte lauten:<br />

(1) Macht ein Elternteil oder das Jugendamt<br />

geltend,…vermittelt das Gericht auf Antrag<br />

eines Elternteils oder von Amts wegen zwischen<br />

den Eltern…<br />

(2)...<br />

3.2. Veränderungen im Hinblick auf Aus-<br />

und Fortbildung der mit familienrechtlichen<br />

Kindschaftssachen befassten<br />

RichterInnen sowie der<br />

Gerichtsorganisation.<br />

3.2.1. Gesetzliche Vorgaben zur Aus- und<br />

Fortbildung der Richter, die mit<br />

Kindschaftssachen betraut werden.<br />

Im GVG sollte danach gesetzlich vorgeschrieben<br />

werden, dass mit Kindschaftssachen<br />

von den Präsidien der Gerichte nur<br />

betraut werden darf, wer konkret vorzusehende<br />

Aus- und Fortbildungsgänge im<br />

Bereich der Psychologie und Pädagogik<br />

erfolgreich besucht hat und sich zu berufsbegleitenden<br />

Fortbildungsmaßnahmen verpflichtet.<br />

89


90<br />

Herauslösung der Verfahren ein Kind betreffend<br />

aus dem Scheidungsverbund<br />

und Zuweisung dieses Bereiches zum<br />

Jugendgericht – Etablierung eines Erziehungsgerichtes<br />

A ngst nehmen<br />

B eziehungen des Kindes sichern<br />

C hancen einer gesunden Kindesentwicklung<br />

eröffnen<br />

durch<br />

K onferenz zur<br />

S icherung zur<br />

Z usammenarbeit der<br />

E ltern<br />

Literatur:<br />

Prestien: Wirksamer Kinderschutz in Zeitschrift<br />

für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe<br />

in ZKJ 2008, 59 ff, 61;<br />

Schulze: Familienrichter zwischen Entscheidungszentrierung<br />

und Kindperspektive<br />

in ZKJ 2006, 539 f; Wustrauer Forderungen<br />

in www. v-a-k.de


Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

91


92<br />

Warendorfer<br />

Praxis<br />

Andreas Hornung<br />

Sämtliche Bezeichnungen der Beteiligten<br />

verstehen sich im Folgenden als neutral<br />

formuliert und umfassen stets das weibliche<br />

und das männliche Geschlecht.<br />

I. Vorbemerkung:<br />

Diese Praxis ist von Jugendämtern, Familiengerichten,<br />

Rechtsanwälten, Verfahrenspflegern<br />

sowie Beratungs- und Hilfestellen<br />

des Kreises Warendorf in Anlehnung an das<br />

und Weiterentwicklung des sogenannten<br />

„Cochemer Modells“ erarbeitet worden, um<br />

eine möglichst einheitliche außergerichtliche<br />

und gerichtliche Handhabung der oben<br />

näher bezeichneten Verfahrens im gesamten<br />

Gebiet des Kreises Warendorf zu erzielen.<br />

Sie stellt keine verbindlichen Regeln dar<br />

– das verbietet sich schon mit Rücksicht auf<br />

die richterliche Unabhängigkeit sowie die<br />

Eigenständigkeit und teilweisen Interessengegensätze<br />

der weiteren oben genannten<br />

Beteiligten – soll aber dazu beitragen, in den<br />

oben genannten Verfahren angemessene,<br />

insbesondere am Wohl der betroffenen Kinder<br />

und Jugendlichen, aber auch der betroffenen<br />

Eltern orientierte Lösungen zu finden,<br />

ohne den Spielraum einzuengen, der erforderlich<br />

ist, um den jeweiligen Besonderheiten<br />

des Einzelfalls gerecht zu werden.<br />

II. Unterscheidung zwischen Regelverfahren<br />

und sonstigen familienrechtlichen,<br />

das Kindeswohl betreffenden<br />

Verfahren:<br />

Bei den folgenden Verfahrensgrundsätzen<br />

wird zwischen Regelverfahren und sonstigen<br />

familienrechtlichen, das Kindeswohl<br />

betreffenden Verfahren unterschieden:<br />

1. Bei den Regelverfahren handelt es sich<br />

um die im Rahmen einer Trennung oder<br />

Scheidung der Kindeseltern auf Antrag üblicherweise<br />

zu regelnden Sorgerechts- oder<br />

Umgangsregelungsverfahren einschließlich<br />

einer im Einzelfall erforderlichen Kindesherausgabe.<br />

2. Hiervon abzugrenzen sind die sonstigen<br />

das Kindeswohl betreffenden Verfahren, bei<br />

denen das Regelverfahren nicht ohne weiteres<br />

zur Anwendung kommen kann, insbesondere<br />

die Verfahren nach den §§ 1666,<br />

1666 a BGB und andere Fälle, in denen das<br />

Kindeswohl durch Gewaltanwendung gefährdet<br />

ist, namentlich Verfahren nach dem<br />

Gewaltschutzgesetz.<br />

3. Die nachfolgende Praxis gilt grundsätzlich<br />

für die Regelverfahren und für die<br />

sonstigen Verfahren nur mit den nachfolgend<br />

in den einzelnen Punkten aufgeführten<br />

Modifikationen.<br />

4. Vorrangiges Ziel aller Verfahrensbeteiligten<br />

in den Regelverfahren ist es, nach dem<br />

Grundsatz „Schlichten statt Richten“ zeitnah<br />

auf eine Einigung der Kindeseltern hinzuwirken<br />

und nur im Ausnahmefall eine<br />

streitige Entscheidung herbeizuführen.<br />

III. Außergerichtliche Verfahrensweise<br />

in Sorgerechts- und Umgangsregelungsverfahren<br />

vor gerichtlichen<br />

Verfahren:<br />

1. Sucht ein Elternteil das zuständige Jugendamt<br />

oder einen Rechtsanwalt in einer<br />

das Sorgerecht oder das Umgangsrecht<br />

seines Kindes / seiner Kinder betreffenden<br />

Angelegenheit auf, die unter die oben genannten<br />

Regelverfahren fällt, informiert der<br />

Jugendamtsmitarbeiter oder Rechtsanwalt<br />

zunächst umfassend über die außergerichtlichen<br />

Beratungsangebote und sonstigen<br />

Hilfestellungen, die das Jugendamt sowie<br />

die öffentlichen und freien Beratungs- und<br />

Hilfestellen, insbesondere die Träger der<br />

Jugendhilfe, vorhalten. Der Jugendamtsmitarbeiter<br />

bzw. Rechtsanwalt wirkt darauf<br />

hin, dass der ihn aufsuchende Elternteil<br />

zunächst – in den Regelverfahren soweit<br />

möglich unter Einbeziehung eines gemeinsamen<br />

Gesprächs mit dem anderen Elternteil<br />

– die Beratungs- und Hilfeangebote des<br />

Jugendamtes bzw. der anderen genannten<br />

Träger der Jugendhilfe in Anspruch nimmt.<br />

2. Vorstehende Regelungen greifen nicht,<br />

wenn sich die antragstellende Person direkt<br />

mit einem eigenen schriftlichen Antrag<br />

oder über die Rechtsantragsstelle an das<br />

Gericht wendet.


3. Dieser „Warendorfer Praxis“ liegt eine<br />

nach der jeweiligen Aufgabenstellung und<br />

den jeweiligen Angeboten geordnete alphabetische<br />

Aufstellung aller wichtigen an der<br />

Umsetzung der Praxis beteiligten Institutionen<br />

im Kreis Warendorf und der näheren<br />

Umgebung (Gerichte, Jugendämter, Beratungs-<br />

und Hilfestellen, Rechtsanwälte,<br />

Verfahrenspfleger) mit Namen, Anschriften,<br />

Telefonnummern und – soweit vorhanden<br />

und von der betreffenden Institution freigegeben<br />

– E-Mail-Anschrift an.<br />

4. Kinder und Jugendliche sollen ihrem jeweiligen<br />

individuellen Reifegrad entsprechend<br />

in die außergerichtlichen Beratungs-<br />

und Hilfegespräche einbezogen werden,<br />

spätestens ab der vom BGB und FGG in<br />

verschiedenen Vorschriften als wichtige<br />

Grenze gezogenen Vollendung des 14. Lebensjahres,<br />

regelmäßig bei entsprechender<br />

Reife aber auch bereits ab dem Alter<br />

des Besuchs einer Schule. Bei Kindern vor<br />

oder im Kindergartenalter hängt es von Art<br />

und Umfang des zu lösenden Sorgerechts-<br />

oder Umgangsregelungskonflikts ab, ob<br />

und inwieweit die Jugendamtsmitarbeiter<br />

und Mitarbeiter der öffentlichen oder freien<br />

Träger das Kind persönlich anhören bzw. in<br />

Augenschein nehmen.<br />

5. Gelingt in den Regelverfahren eine außergerichtliche<br />

Regelung des Sorgerechts-<br />

oder Umgangsregelungskonflikts der Kindeseltern<br />

nach dem Erstkontakt mit dem<br />

Jugendamt oder dem Rechtsanwalt und<br />

der Inanspruchnahme außergerichtlicher<br />

Beratung nicht, steht es den Eltern frei, ein<br />

familiengerichtliches Verfahren einzuleiten.<br />

IV. Verfahrensweise in Sorgerechts-<br />

und Umgangsregelungsverfahren<br />

während des gerichtlichen Verfahrens:<br />

1. Die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens<br />

durch den beauftragten Rechtsanwalt<br />

erfolgt in den Regelverfahren durch eine<br />

Antragsschrift, die sich auf die Statusangaben<br />

der Beteiligten und die knappe Darstellung<br />

des wesentlichen Sachstands zur<br />

Begründung der beantragten Sorgerechts-<br />

oder Umgangsregelung konzentrieren und<br />

nicht durch den anderen Elternteil angreifende<br />

Ausführungen konfliktverschärfend<br />

formuliert werden soll.<br />

Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

2. In den Verfahren nach den §§ 1666,<br />

1666 a BGB sowie anderen Verfahren, in<br />

denen das Kindeswohl durch Gewaltanwendung<br />

gefährdet ist bzw. dieses glaubhaft<br />

gemacht ist (z. B. Verfahren nach dem<br />

Gewaltschutzgesetz), schildert der Antragsteller<br />

(Jugendamt, Elternteil oder Rechtsanwalt)<br />

hingegen ausführlich und unter<br />

Angabe von Beweismitteln diejenigen Umstände,<br />

auf Grund derer zum Kindeswohl<br />

eine Entscheidung nach den §§ 1666, 1666<br />

a BGB oder dem Gewaltschutzgesetz geboten<br />

erscheint. Auch in sämtlichen in dieser<br />

Ziffer genannten Verfahren sollen die<br />

Verfahrensbeteiligten trotz der vorgenannten<br />

Erfordernisse in ihren Schriftsätzen an<br />

das Gericht das Sachlichkeitsgebot einhalten.<br />

Jugendämter und Beratungs-/Hilfestellen<br />

beabsichtigen, gemeinsame Standards<br />

zu entwickeln, wann ein Fall der Gewaltanwendung<br />

im Sinne dieser Ziffer vorliegt.<br />

3. Im Regelverfahren beraumt der zuständige<br />

Familienrichter<br />

a) im Hauptsacheverfahren auf einen Zeitpunkt,<br />

der in der Regel spätestens zwei bis<br />

maximal drei Wochen nach Antragseingang<br />

bei Gericht liegt,<br />

b) im Falle eines zeitgleichen, einstweiligen<br />

Anordnungsverfahrens auf einen Zeitpunkt,<br />

der in der Regel eine Woche bis spätestens<br />

10 Tage nach Antragseingang bei Gericht<br />

liegt,<br />

einen Anhörungs- und Verhandlungstermin<br />

an, zu dem er die Kindeseltern, deren Verfahrensbevollmächtigte<br />

und das zuständige<br />

Jugendamt lädt. Der Familienrichter soll<br />

die Verfahren soweit möglich auf einen den<br />

übrigen Institutionen bekannten festen Terminstag<br />

mit festen Terminsstunden legen<br />

und die Beteiligten soweit erforderlich vorab<br />

per Telefax laden.<br />

Dem Antragsgegner bzw. seinem Verfahrensvertreter<br />

ist freigestellt, ob er sich<br />

schriftsätzlich vor dem Termin zur Sache<br />

äußert – wobei für ihn die gleichen Regeln<br />

wie für den Antragsteller(-Vertreter) unter IV.<br />

1. gelten – oder in dem Anhörungstermin<br />

selbst mündlich Stellung nimmt.<br />

Wird der Sorgerechts- oder Umgangsregelungsantrag<br />

im Scheidungsverbundverfahren<br />

gestellt, gelten die obigen Maßgaben<br />

zur Terminsanberaumung entsprechend.<br />

Die Beteiligten sollen Abtrennung beantra-<br />

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94<br />

gen; wird Abtrennung beantragt, muss das<br />

Gericht diese anordnen (§ 623 Abs. 2 Satz<br />

2 ZPO).<br />

4. Der Jugendamtsmitarbeiter nimmt in<br />

der Zeit bis zum Verhandlungstermin möglichst<br />

mit beiden Elternteilen und dem betroffenen<br />

Kind oder Jugendlichen Kontakt<br />

auf, um die Problemschwerpunkte zu erfassen<br />

und die Eltern auf den Termin und<br />

die Beratung im Falle der Nichteinigung im<br />

ersten Termin vorzubereiten. Der Jugendamtsmitarbeiter<br />

nimmt an der gerichtlichen<br />

Anhörung teil und erstattet seinen Bericht<br />

im Regelfall mündlich. Der Familienrichter<br />

protokolliert den Bericht in dem nach<br />

den Umständen des Einzelfalles notwendigen<br />

Umfang. Im Ausnahmefall erstellt der<br />

Jugendamtsmitarbeiter auf besondere gerichtliche<br />

Bitte vor dem Verhandlungstermin<br />

einen schriftlichen Bericht – wobei er<br />

auch in diesem Falle an dem Anhörungstermin<br />

teilnimmt.<br />

5. Der Familienrichter entscheidet im Einzelfall,<br />

wann, wo und wie er das betroffene<br />

Kind anhört, wobei die „Warendorfer Praxis“<br />

folgende Vorgehensweise empfiehlt:<br />

Der Richter lädt – bis zur Vollendung des<br />

14. Lebensjahres über den Elternteil, bei<br />

dem das Kind lebt, danach direkt – das<br />

Kind zur persönlichen Anhörung und Inaugenscheinnahme,<br />

und zwar im Regelfall bei<br />

Kindern ab dem Kindergartenalter (etwa<br />

Vollendung des zweiten bis dritten Lebensjahres).<br />

In sachlich begründeten Ausnahmefällen<br />

kann einerseits die Anhörung des<br />

Kindes zunächst unterbleiben und andererseits<br />

auch ein noch jüngeres Kind richterlich<br />

in Augenschein genommen werden.<br />

Der Familienrichter entscheidet hierüber<br />

nach freiem Ermessen. Im Regelfall ist eine<br />

Anhörung des Kindes an einem gesonderten<br />

vorherigen oder ausnahmsweise auch<br />

nachträglichen Termin – ggf. in der gewohnten<br />

Umgebung des Kindes – geboten.<br />

Nur wenn es sachdienlich (etwa zur Beobachtung<br />

der Interaktion des Kindes mit den<br />

Eltern) und mit dem Kindeswohl vereinbar<br />

ist, wird im Ausnahmefall das Kind zur<br />

Anhörung auf den Tag und die Uhrzeit des<br />

Verhandlungstermins geladen. Im Falle der<br />

§§ 1666, 1666 a BGB sowie sonstigen Fällen<br />

der Kindeswohlgefährdung durch Gewaltanwendung<br />

(auch des einen Elternteils<br />

gegen den anderen Elternteil) soll stets ein<br />

gesonderter vorheriger Kindesanhörungstermin<br />

erfolgen.<br />

Der Richter teilt den übrigen Beteiligten in<br />

den Regelverfahren vorab den Kindesanhörungszeitpunkt<br />

und -ort mit, damit die Beteiligten<br />

im Bedarfsfalle Änderungen der<br />

Vorgehensweise anregen können. Die Anhörung<br />

des Kindes soll in der Regel allein<br />

in Anwesenheit des Kindes und des Familienrichters<br />

erfolgen, wobei nach den Umständen<br />

die gleichzeitige Anwesenheit<br />

Dritter zugelassen werden kann (z. B. ausnahmsweise<br />

Teilnahme des Jugendamtmitarbeiters)<br />

oder muss (insbesondere eines<br />

Verfahrenspflegers, siehe unten 7.c).<br />

Die Kindesanhörung dient vorrangig dem<br />

Kennenlernen des Kindes, seines Lebensalltags<br />

sowie seiner Wünsche und Bedürfnisse<br />

und weniger der Positionierung des<br />

Kindes in dem Streit der erwachsenen Verfahrensbeteiligten.<br />

Der Familienrichter gibt<br />

das wesentliche Ergebnis der Kindesanhörung<br />

den Verfahrensbeteiligten so rechtzeitig<br />

bekannt, dass diese zu dem Ergebnis in<br />

der mündlichen Verhandlung vor dem Erlass<br />

verfahrensfördernder gerichtlicher Anordnungen<br />

Stellung nehmen können.<br />

6. In der ersten mündlichen Verhandlung<br />

hört der Familienrichter die Kindeseltern<br />

an und wirkt sodann gemeinsam mit<br />

dem anwesenden Jugendamtsmitarbeiter<br />

und den als Verfahrensvertretern der Kindeseltern<br />

beteiligten Rechtsanwälten darauf<br />

hin, eine gemeinsame einvernehmliche<br />

Lösung zu finden, die von allen Beteiligten<br />

getragen und vom Gericht als Vereinbarung/Vergleich<br />

protokolliert wird. Soweit<br />

die Vereinbarung eine Einigung über die<br />

Übertragung der elterlichen Sorge oder eines<br />

Teilbereichs beinhaltet, erlässt das Gericht<br />

im Anschluss einen entsprechenden<br />

Beschluss.<br />

Eine Umgangsregelungsvereinbarung kann<br />

das Gericht auf Wunsch eines Verfahrensbeteiligten<br />

durch Beschluss zum Gegenstand<br />

einer vollziehbaren gerichtlichen Anordnung<br />

im Sinne des § 33 FGG machen,<br />

wenn die inhaltlichen Voraussetzungen für<br />

eine der Vereinbarung entsprechende Beschlussfassung<br />

vorliegen.<br />

7. Kommt es in den Regelverfahren in dem<br />

ersten Verhandlungstermin nicht zu einer


Einigung der Kindeseltern, trifft das Familiengericht<br />

im Regelfall die folgenden Maßnahmen:<br />

a) Eine streitige Sachentscheidung in der<br />

Hauptsache ergeht in der Regel nicht. In<br />

begründeten Ausnahmefällen kann bei Entscheidungsreife<br />

bereits jetzt eine Hauptsacheentscheidung<br />

ergehen.<br />

b) Das Familiengericht wirkt darauf hin,<br />

dass die Kindeseltern spätestens zwei bis<br />

drei Wochen nach dem Verhandlungstermin<br />

öffentliche oder freie Beratungs- oder<br />

Hilfestellen (zumindest eine Beratungsstelle<br />

der öffentlichen oder freien Jugendhilfe,<br />

ggf. jeweils auch eine Beratungsstelle<br />

für die betroffene Mutter oder den betroffenen<br />

Vater) aufsuchen und die dortigen Beratungs-<br />

und Hilfsangebote mit mehreren<br />

Gesprächsterminen und dem Ziel einer einvernehmlichen<br />

außergerichtlichen Einigung<br />

für die Dauer von im Regelfall bis zu drei<br />

Monaten ab dem ersten Verhandlungstermin<br />

in Anspruch nehmen. Soweit die Kindeseltern<br />

sie von ihrer Schweigepflicht entbinden<br />

(hierauf sollen die Beratungsstellen<br />

beim Erstkontakt hinweisen und auf eine<br />

möglichst sofort von beiden Eltern zu unterschreibendeSchweigepflichtentbindungserklärung<br />

hinwirken), berichten die<br />

Mitarbeiter der Beratungs- oder Hilfestellen<br />

dem Jugendamt vor Ablauf von drei Monaten<br />

schriftlich über den zeitlichen Verlauf<br />

ihrer Beratungs- und Hilfetätigkeit und<br />

ob eine Einigung erzielt werden konnte. Für<br />

den Fall einer Einigung informieren die Eltern<br />

nach Beendigung der Beratung selbst<br />

das Jugendamt über den Inhalt der erreichten<br />

Einigung auf der Grundlage einer gemeinsam<br />

erarbeiteten und von beiden Elternteilen<br />

unterschriebenen Vereinbarung.<br />

Für den Fall, dass keine Einigung erzielt<br />

worden ist, berichten die Mitarbeiter der<br />

Beratungs- oder Hilfestellen dem Jugendamt<br />

kurz schriftlich über den wesentlichen<br />

Verlauf und das Ergebnis der Beratung. Bei<br />

Bedarf kann das Gericht den Beratungs-<br />

und Hilfezeitraum auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten<br />

um längstens drei Monate<br />

verlängern.<br />

c) Das Familiengericht kann dem Kind nach<br />

dem Maßstab des § 50 FGG einen in Sorgerechts-<br />

und Umgangsfragen fachlich,<br />

insbesondere pädagogisch geschulten<br />

und erfahrenen Verfahrenspfleger bestellen<br />

Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

mit dem Auftrag, unmittelbar an den ersten<br />

Verhandlungstermin anschließend mit<br />

der Exploration des Kindeswillens und des<br />

Kindeswohls durch Kontaktaufnahme und<br />

Gespräche mit dem Kind, beiden Elternteilen,<br />

dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter<br />

sowie den unter b) genannten weiteren<br />

Institutionen und Bezugspersonen zu<br />

beginnen und vor Ablauf von drei Monaten<br />

dem Jugendamt schriftlich zu berichten,<br />

wobei die Ausführungen unter b) zur<br />

Schweigepflichtentbindung entsprechend<br />

gelten. Aufgabe und Ziel der Tätigkeit des<br />

Verfahrenspflegers ist es einerseits, das<br />

Kind als eigenständige Person mit seinen<br />

Grundrechten ernst zu nehmen, seine<br />

Rechte wahrzunehmen und zu vertreten,<br />

seine Gefühle ernst zu nehmen, das kindliche<br />

Zeitempfinden (insbesondere bei Umgangsfragen)<br />

zu berücksichtigen und die<br />

Kindeswünsche ungefiltert ohne Rücksicht<br />

auf ihre Realisierbarkeit mitzuteilen sowie<br />

andererseits, in Zusammenarbeit mit den<br />

anderen Beteiligten und unter Vermittlung<br />

zwischen den Elternteilen auf eine einvernehmliche<br />

Lösung hinzuwirken, dem Kind<br />

für den Fall einer zukünftig erforderlich werdenden<br />

streitigen Entscheidung aber auch<br />

zu verdeutlichen, dass seine Wünsche zwar<br />

einen hohen Stellenwert haben, die endgültige<br />

Entscheidung aber in den Händen der<br />

Sorgeberechtigten bzw. des Gerichts liegt.<br />

d) Der zuständige Jugendamtsmitarbeiter<br />

berichtet nach Gesprächen mit den Eltern<br />

und dem Kind sowie mündlicher oder<br />

schriftlicher Anhörung der Beteiligten zu b)<br />

und c) spätestens nach drei Monaten ab<br />

dem Verhandlungstermin schriftlich in der<br />

Hauptsache über den Verlauf und das Ergebnis<br />

des Beratungsprozesses unter Bündelung<br />

und Beifügung der Stellungnahmen<br />

der Beteiligten zu b) und c). Soweit er binnen<br />

drei Monaten keinen abschließenden<br />

Bericht vorlegen kann, erstattet er dem Familiengericht<br />

einen inhaltlich aussagefähigen<br />

Zwischenbericht über seine bisherigen<br />

Erkenntnisse und beantragt eine Fristverlängerung,<br />

die das Familiengericht im Regelfall<br />

bewilligt, wenn diese weitere drei<br />

Monate nicht übersteigt. Ist es auf Grund<br />

des Beratungsprozesses zu einer Einigung<br />

der Verfahrensbeteiligten gekommen, erschöpft<br />

sich der Bericht des Jugendamtes<br />

in der Wiedergabe des Ergebnisses der Einigung.<br />

Bei Bedarf führt der Jugendamtsmitarbeiter<br />

mit den Beteiligten parallel zu<br />

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96<br />

den Beratungsgesprächen ein gemeinsames<br />

Fachgespräch.<br />

e) Soweit dies nach richterlichem Ermessen<br />

zum Kindeswohl geboten erscheint, ergeht<br />

auf Antrag oder von Amts wegen ein<br />

einstweiliger Anordnungsbeschluss, der im<br />

Regelfall die vorläufige Regelung des Umgangs<br />

des Elternteils mit dem Kind, bei<br />

dem es nicht lebt, für die Dauer des weiteren<br />

Hauptsacheverfahrens und nur ausweise<br />

eine vorläufige Regelung insbesondere<br />

des Aufenthaltsbestimmungsrechts zum<br />

Gegenstand hat.<br />

f) In den vom Regelverfahren abweichenden<br />

Verfahren (siehe oben II. 2.), die nach<br />

der ersten Kindes- und Elternanhörung einer<br />

weiteren Beweisaufnahme bedürfen,<br />

kann ebenfalls auf Antrag oder von Amts<br />

wegen eine einstweilige Anordnungsregelung<br />

getroffen werden (insbesondere Inobhutnahme<br />

und vorläufige Übertragung<br />

des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen<br />

hoheitlichen oder berufsmäßigen Pfleger).<br />

In den Verfahren nach den §§ 1666,<br />

1666 a BGB und in anderen Fällen, in denen<br />

das Kindeswohl durch Gewaltanwendung<br />

gefährdet ist (dies kann auch im Falle<br />

der Gewaltanwendung gegen den anderen<br />

Elternteil gegeben sein), kommt die vorläufige<br />

Regelung des Umgangs beider Eltern<br />

oder des anderen Elternteils mit dem Kind<br />

grundsätzlich nur in begleiteter Form nach<br />

§ 1684 Abs. 4 Satz 3 BGB durch einen Mitarbeiter<br />

des Jugendamtes, einen freien Träger<br />

oder durch eine geeignete – ggf. freiberuflich<br />

in diesem Bereich tätige oder von<br />

beiden Eltern angegebene, zuverlässig erscheinende<br />

– Privatperson in Betracht. Das<br />

Jugendamt ist verpflichtet, im Bedarfsfall<br />

eine fachlich ordnungsgemäße Umgangsbegleitung<br />

in angemessen kurzer Zeit sicherzustellen.<br />

Die beteiligten Institutionen<br />

beabsichtigen, einheitliche Standards für<br />

den begleiteten Umgang zu entwickeln.<br />

g) In schwerwiegenden Fällen kann das<br />

Familiengericht auf Antrag oder von Amts<br />

wegen durch einstweilige Anordnung das<br />

Recht beider Eltern oder eines Elternteils<br />

auf persönlichen Umgang für die Dauer<br />

des Hauptsacheverfahrens gemäß § 1684<br />

Abs. 4 Satz 1 und 2 BGB ganz ausschließen,<br />

wenn dies zum Ausschluss einer erheblichen<br />

Kindeswohlgefährdung unerlässlich<br />

erscheint.<br />

h) In den Fällen der §§ 1666, 1666 a BGB<br />

und sonstigen Fällen von Gewaltanwendung<br />

berichten nicht nur das Jugendamt,<br />

sondern auch die übrigen beteiligten Institutionen<br />

(insbesondere Beratungs- und Hilfeträger,<br />

Verfahrenspfleger) dem Gericht<br />

unmittelbar und ausführlich schriftlich.<br />

V. Verfahrensweise in Sorgerechts-<br />

und Umgangsregelungsverfahren<br />

am Ende des gerichtlichen Verfahrens:<br />

Endet das Regelverfahren nicht mit einer<br />

Einigung im ersten Verhandlungstermin,<br />

sondern kommt es zu der unter IV. 7. näher<br />

beschriebenen Verfahrensweise, hat das<br />

Familiengericht nach dem Vorliegen des<br />

Berichts des Jugendamtes folgende Möglichkeiten<br />

zur Beendigung des gerichtlichen<br />

Verfahrens:<br />

1. Auf gerichtliche Anfrage erklären die beteiligten<br />

Kindeseltern bzw. ihre Verfahrensvertreter<br />

das Verfahren im Hinblick auf die<br />

nach Beratung und Vermittlung erfolgte<br />

außergerichtliche Einigung und Regelung<br />

schriftlich für erledigt und das Gericht entscheidet<br />

nur noch über die Verfahrenskosten.<br />

2. Soweit Beteiligte dies beantragen, macht<br />

das Gericht die Einigung im Regelfall aufgrund<br />

einer zweiten mündlichen Verhandlung<br />

oder im schriftlichen Verfahren nach<br />

Anhörung der übrigen Verfahrensbeteiligten<br />

zum Gegenstand eines gerichtlichen<br />

Vergleichs, eines Beschlusses (z. B. beim<br />

Sorgerecht) oder einer gerichtlichen Anordnung<br />

(z. B. zur Vollstreckbarkeit einer<br />

Umgangsvereinbarung).<br />

3. Gelingt eine Einigung innerhalb der oben<br />

genannten Fristen nicht, hat das Familiengericht<br />

die folgenden Möglichkeiten:<br />

a) Es entscheidet nach einer zweiten Verhandlung<br />

auf Grund einer erneuten Anhörung<br />

der Eltern, des Kindes, des Jugendamtes<br />

und des Verfahrenspflegers durch<br />

streitigen Beschluss.<br />

b) Es entscheidet im Falle der Zustimmung<br />

aller Beteiligten nach dem Ablauf einer gesetzten<br />

Stellungnahmefrist durch streitigen<br />

Beschluss im schriftlichen Verfahren.


c) Es ordnet im schriftlichen Verfahren auf<br />

Antrag oder von Amts wegen weitere Beweiserhebungen,<br />

insbesondere die Einholung<br />

eines familienpsychologischen und/<br />

oder – soweit durch konkrete Anhaltspunkte<br />

hinsichtlich des Kindes oder der Eltern<br />

angezeigt – eines fachpsychiatrischen<br />

schriftlichen Sachverständigengutachtens<br />

an und entscheidet nach dessen/deren<br />

Vorlage aufgrund einer weiteren mündlichen<br />

Verhandlung, in der im Falle von Einwendungen<br />

gegen das Gutachten oder<br />

sonstigem Klärungsbedarf der Sachverständige<br />

ergänzend anzuhören ist.<br />

Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />

97


Pressemitteilungen<br />

98<br />

Westfälische Rundschau, 4. April 2008


epd, 4. April 2008<br />

Pressemitteilungen<br />

99


Pressemitteilungen<br />

100<br />

Ruhr Nachrichten, 5. April 2008


Westfälische Rundschau, 5. April 2008<br />

Pressemitteilungen<br />

101


Pressemitteilungen<br />

102<br />

Stadtspiegel<br />

Gelsenkirchen,<br />

9. April 2008

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