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Dokumentation - Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

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wicklung“ garantiert. Anderseits muss aber<br />

auch bedacht werden, was es bedeuten<br />

würde, einen Anspruch „auf bestmögliche<br />

Förderung“ konkret einzulösen. Der Staat<br />

müsste dann in jedem Einzelfall beurteilen,<br />

welche Förderung die bestmögliche für das<br />

Kind ist und ob die von den Eltern geleistete<br />

Erziehung oder der von ihnen gewählte Bildungsweg<br />

diesen Anforderungen entspricht.<br />

Im Ergebnis würde damit das Verhältnis von<br />

elterlicher Erziehungsverantwortung und<br />

(subsidiärem) staatlichem Wächteramt umgekehrt<br />

und letztlich der Staat zum eigentlichen<br />

Erziehungsträger gemacht.<br />

Für die Ausübung der staatlichen Mitverantwortung<br />

im Hinblick auf die elterliche<br />

Erziehung bedeutet dies: Der Staat muss<br />

sich bis zur Schwelle einer Kindeswohlgefährdung<br />

auf Angebote an die Eltern beschränken.<br />

Ist die Schwelle überschritten<br />

und sind die Eltern nicht bereit oder in<br />

der Lage, die Gefährdung (ggf. mit öffentlichen<br />

Hilfen) abzuwenden, so ist der Staat<br />

verpflichtet, diese Gefährdung auch gegen<br />

den Willen der Eltern abzuwenden.<br />

Freilich ergibt sich aus der Verfassung nicht<br />

unmittelbar, welche Leistungsverpflichtungen<br />

dem Staat gegenüber dem Kind und<br />

seinen Eltern obliegen. So lassen sich aus<br />

dem Fördergebot des Art. 6 Abs.1 GG konkrete<br />

Ansprüche auf bestimmte staatliche<br />

Leistungen nicht herleiten. 4 Hier hat<br />

der Gesetzgeber einen weiten Spielraum,<br />

wie er seiner Mitverantwortung für das Aufwachsen<br />

von Kindern gerecht werden will<br />

– einen Handlungsspielraum, der wohl bei<br />

weitem nicht ausgeschöpft wird, wenn wir<br />

uns das Leistungsspektrum des SGB VIII,<br />

aber vor allem auch die Umsetzungsdefizite<br />

in der Praxis ansehen. So haben wir in<br />

den letzten Jahren einen kontinuierlichen<br />

Abbau des Leistungsspektrums der Hilfen<br />

zur Erziehung erlebt. Stationäre Hilfen werden<br />

vielfach nicht bedarfsgerecht erbracht,<br />

sondern aufgeschoben. Die Anspruchskriterien<br />

in § 27 SGB VIII werden restriktiv<br />

ausgelegt. So setzt der Rechtsanspruch<br />

auf Hilfe zur Erziehung bewusst unterhalb<br />

der Schwelle der Kindeswohlgefährdung<br />

an, ein Ansatz, der aber in der Praxis häufig<br />

unterlaufen wird. Bevor also über neue<br />

Eingriffsmöglichkeiten in die elterliche<br />

Erziehungsverantwortung oder gar die Senkung<br />

der Eingriffsschwelle nachgedacht<br />

wird, ist zunächst das gesamte Spektrum<br />

Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />

von Hilfen im primär und sekundär präventiven<br />

Bereich in den Blick zu nehmen und<br />

auszuschöpfen.<br />

d) Kindeswohlgefährdung als Interventionsschwelle<br />

Über das breite Spektrum von Leistungen<br />

gibt das SGB VIII den Jugendämtern also<br />

vielfältige Möglichkeiten, frühzeitig auf Eltern<br />

zuzugehen bzw. den Eltern das Recht,<br />

diese Leistungen in Anspruch zu nehmen.<br />

Eine Verpflichtung, von Amts wegen tätig<br />

zu werden, ergibt sich erst im Zusammenhang<br />

mit dem Bekanntwerden wichtiger<br />

Anhaltspunkte für eine Gefährdung des<br />

Kindeswohls (§ 8a SGB VIII). Damit erhält<br />

der Begriff der Kindeswohlgefährdung eine<br />

besondere Bedeutung für die Art und Weise,<br />

in der der Staat seine Mitverantwortung<br />

beim Schutz des Kindes vor Gefahren für<br />

sein Wohl ausübt. Dieser Begriff wird von<br />

vielen Fachdisziplinen in unterschiedlichen<br />

Kontexten verwendet, hat aber als staatliche<br />

Eingriffschwelle in die elterliche Erziehungsautonomie<br />

in der Rechtsprechung<br />

eine spezifische Ausprägung erfahren:<br />

Schon im Jahre 1956 hat der Bundesgerichtshof<br />

darunter „eine gegenwärtig in einem<br />

solchen Maß vorhandene Gefahr“<br />

verstanden, „dass sich bei der weiteren Entwicklung<br />

eine erhebliche Schädigung mit<br />

ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“. 5<br />

Bei der Anwendung dieser Definition auf<br />

den Einzelfall ergeben sich spezifische<br />

fachliche Anforderungen. Zum einen ist die<br />

aktuelle Gefahrenlage im Sinne einer Diagnose<br />

zu erfassen: Liegt eine akute Gefährdung<br />

im Sinne der Definition des Bundesgerichtshofs<br />

vor? Darüber hinaus bedarf es<br />

einer zukunftsbezogenen Einschätzung der<br />

Gefährdungsdynamik („Prognose“). Handlungsleitende<br />

Fragen sind dabei:<br />

J Wie wird sich die Gefährdungssituation<br />

ohne Intervention seitens des Staates<br />

weiter entwickeln?<br />

J Wie werden sich Eltern gegebenenfalls<br />

mit fachlicher Unterstützung und Begleitung<br />

verhalten?<br />

J Ist bei einer Fortdauer des elterlichen<br />

Verhaltens eine Schädigung des Kindeswohls<br />

zu erwarten, auch wenn sie jetzt<br />

noch nicht eingetreten ist? 6<br />

„Der Staat muss sich<br />

bis zur Schwelle einer<br />

Kindeswohlgefährdung<br />

auf Angebote an die<br />

Eltern beschränken. “<br />

4 BVerfGE 82,60, 81. Siehe<br />

auch Jestaedt, Ein Grundrecht<br />

auf Kinderbetreuung?,<br />

ZfJ 2000, 281<br />

5 BGH FamRZ 1956, 350 =<br />

NJW 1956 S. 1434<br />

6 Siehe dazu Schone, Probleme<br />

und Hürden bei der<br />

Umsetzung des § 8a SGB<br />

VIII, IKK-Nachrichten 1-2/<br />

2006, S.20 und Offe, Methoden<br />

zur Beurteilung des Verdachts<br />

auf Kindeswohlgefährdung,<br />

ZKJ 2007, 236.<br />

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