Dokumentation - Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe
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<strong>Dokumentation</strong><br />
Fachtagung<br />
„Kindesschutz<br />
gemeinsam<br />
gestalten“<br />
4. April 2008<br />
Wissenschaftspark Gelsenkirchen
Herausgeber:<br />
Landesarbeitsgemeinschaft Öffentliche und Freie Wohlfahrtspflege<br />
des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />
c/o Arbeitsausschuss Familie, Jugend und Frauen der LAG FW<br />
<strong>Diakonie</strong> <strong>Rheinland</strong>-<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> e. V.<br />
Geschäftsstelle Münster<br />
Friesenring 32/34<br />
48147 Münster<br />
Bezugsadresse:<br />
<strong>Diakonie</strong> <strong>Rheinland</strong>-<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> e. V.<br />
Geschäftsstelle Münster<br />
Monika Nimsgern<br />
Friesenring 32 / 34<br />
48147 Münster<br />
Telefon: 0251 2709-225<br />
Fax: 0251 2709-55225<br />
Gefördert vom:<br />
Ministerium für Generationen, Frauen, Familie und Integration des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>
<strong>Dokumentation</strong><br />
Fachtagung<br />
„Kindesschutz<br />
gemeinsam<br />
gestalten“<br />
4. April 2008<br />
Wissenschaftspark Gelsenkirchen
Inhalt<br />
5<br />
7<br />
12<br />
22<br />
25<br />
30<br />
Eröffnung und Begrüßung<br />
Dr. Uwe Becker, Vorsitzender der LAG Öffentliche und<br />
Freie Wohlfahrtspflege NRW<br />
Begrüßung<br />
Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für<br />
einen verbesserten Kindesschutz in NRW<br />
Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie, Frauen<br />
und Integration des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />
Referat<br />
Kindesschutz im Spannungsfeld zwischen staatlichem<br />
Wächteramt und grundgesetzlich geschütztem Freiraum<br />
der Familie<br />
Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner, Bundesministerium für<br />
Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />
Referat<br />
Notwendige Module und Standards für einen gelingenden<br />
Kindesschutz in der Kommune<br />
Peter Lukasczyk, Jugendamt Stadt Düsseldorf<br />
Statements zur Abschlussdiskussion<br />
"Strukturelle und gesetzliche Rahmenbedingungen für<br />
einen verbesserten Kinderschutz in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>"<br />
Dr. Erwin Jordan, Institut für Soziale Arbeit e. V.<br />
Heike Pape, Städtetag NRW<br />
Maria Loheide, LAG Freie Wohlfahrtspflege<br />
Inhalt<br />
3
4<br />
31<br />
59<br />
70<br />
82<br />
98<br />
Forum 1: „0 – 3“<br />
Kindesschutz bei Säuglingen und Kleinkindern<br />
Möglichkeiten der Kooperation zwischen Gesundheitswesen<br />
und Jugendhilfe<br />
Alexandra Sann, Nationales Zentrum Frühe Hilfen<br />
Forum 2: „3 - 6“<br />
Kindesschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />
und Jugendamt<br />
Dr. Annette Frenzke-Kulbach, Stadt Bochum<br />
Birgit Redzio-Wehr, Stadt Bochum<br />
Forum 3: „6 – 10+“<br />
Kindesschutz im Schulalter<br />
Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe<br />
Gabriele Kemper-Bruns, Osterfeldschule Unna<br />
Jürgen Seitel, Erich-Kästner-Schule, Harsewinkel<br />
Ulrich Engelen, Jugendamt Essen<br />
Forum 4:<br />
Kindesschutz vor Gericht<br />
Eingriffs- und Handlungsmöglichkeiten der Justiz<br />
in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe und Anderen<br />
Hans-Christian Prestien, Amtsgericht Potsdam<br />
Andreas Hornung, Amtsgericht Warendorf<br />
Anlagen: Pressemitteilungen
Eröffnung und Begrüßung<br />
Dr. Uwe Becker J Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft<br />
Öffentliche und Freie Wohlfahrtspflege NRW<br />
Sehr geehrter Herr Minister Laschet,<br />
sehr geehrte Damen und Herren,<br />
ich darf Sie ganz herzlich hier in Gelsenkirchen<br />
zu der Fachtagung „Kindesschutz<br />
gemeinsam gestalten“ begrüßen. Schon<br />
die große Teilnehmerzahl macht deutlich,<br />
wie wichtig diese Veranstaltung ist.<br />
Städte und Gemeinden sowie Kreise – also<br />
die Öffentliche Wohlfahrtspflege – haben<br />
gemeinsam mit der Freien Wohlfahrtspflege<br />
vor etwas mehr als einem halben Jahr entschieden,<br />
gemeinsam das Thema „Kindesschutz“<br />
intensiv zu behandeln. Die Tatsache,<br />
dass Sie, Herr Minister Laschet, diese<br />
Veranstaltung begleiten und fördern, zeigt,<br />
dass auch das Land Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />
die Thematik „Kindesschutz“ ganz groß<br />
schreibt und dazu ja auch ein Handlungskonzept<br />
erstellt hat.<br />
Mit zwei ganz grundlegenden Referaten<br />
wird in diese Thematik eingeführt. Herr<br />
Prof. Dr. Wiesner als einer der Fachleute für<br />
Jugendhilfe überhaupt, wird sich aus Sicht<br />
des Bundesministeriums mit dem Spannungsfeld<br />
zwischen staatlichem Wächteramt<br />
und dem grundgesetzlich geschützten<br />
Lebensraum „Familie“ befassen. In einem<br />
zweiten Hauptreferat wird Herr Lukasczyk<br />
sich intensiv mit Standards und fachlichen<br />
Antworten kommunal verorteter Kinderschutzsysteme<br />
beschäftigen.<br />
Ich möchte mich zunächst bei der Arbeitsgruppe<br />
der vielen Fachleute bedanken, die<br />
diese Tagung vorbereitet haben. Schließlich<br />
ging es von Anfang an nicht darum, einzelne<br />
fachliche Aspekte herauszugreifen, sondern<br />
um die Zielsetzung, in einer umfassend<br />
orientierten Auseinandersetzung alle<br />
Aspekte des Kindesschutzes aufzugreifen.<br />
Deswegen waren in der Vorbereitungszeit<br />
nicht nur die Jugendhilfe beteiligt, sondern<br />
auch Schule und Gesundheitsförderung –<br />
also die kommunalen Gesundheitsämter –<br />
in die Überlegung einbezogen:<br />
Eröffnung und Begrüßung J Dr. Uwe Becker<br />
Eklatante Fälle haben uns aufgeschreckt:<br />
Kinder, die Opfer von Gewalt wurden, Kinder<br />
die nach jahrelanger Vernachlässigung<br />
von Polizei oder Jugendamt aus den Wohnungen<br />
der Eltern herausgeholt wurden.<br />
Die große Zahl von Fällen, in denen Kinder<br />
zu Tode gekommen sind – gleich nach der<br />
Geburt, wenig später, durch Gewalteinwirkung,<br />
Vernachlässigung oder schlichtweg<br />
durch Verhungern und Verdursten.<br />
Der Ruf nach den Verantwortlichen wurde<br />
schnell laut. Jugendämter standen im<br />
Mittelpunkt der Kritik. In Bremen, Rostock<br />
und anderen Orten wurden die Verfahrensweisen<br />
der öffentlichen Jugendhilfe einer<br />
kritischen Betrachtung unterzogen.<br />
Es geht aber auch darum zu fragen, an<br />
welchen Stellen die Gesellschaft Verantwortung<br />
trägt. Zu diskutieren ist über die<br />
Frage, warum so viele Menschen wegschauen.<br />
Wieso heruntergelassene Jalousien,<br />
das häufige Weinen und Jammern von<br />
Kindern und offensichtliche Vernachlässigungen<br />
nicht dazu führen, dass Nachbarn<br />
sich rühren, dass die Gesellschaft aktiv<br />
wird, dass Jugendhilfe eingeschaltet wird.<br />
Wir fragen nach den Ursachen für diese<br />
Ereignisse. Wir müssen die Folgen für die<br />
Kinder klären und Maßnahmen ergreifen.<br />
Außerdem ist darüber zu sprechen, welche<br />
Verantwortung die gesamte Gesellschaft<br />
trägt, was an unserem Gemeinwesen zu<br />
verändern ist.<br />
Schwierige Lebenslagen sind der Jugendhilfe<br />
und der Sozialhilfe seit langem bekannt.<br />
Die professionellen Dienste mussten<br />
immer wieder mit extremen Verwahrlosungssituationen<br />
umgehen. Inzwischen<br />
befinden wir uns aber mitten in der Armutsdiskussion.<br />
Erwachsene Menschen geben<br />
sich selbst auf. Sie lassen ihre Kinder<br />
fallen, sie kümmern sich nicht mehr, der<br />
Tag wird zum Einerlei, an dem Erziehung<br />
und Förderung, oft sogar die notwendige<br />
grundlegende Versorgung, keinen Platz<br />
J Dr. Uwe Becker<br />
„Es geht aber auch<br />
darum zu fragen, an<br />
welchen Stellen<br />
die Gesellschaft Verantwortung<br />
trägt.<br />
Zu diskutieren ist über<br />
die Frage, warum so<br />
viele Menschen<br />
wegschauen.“<br />
5
6<br />
„Zwischen der Geburt<br />
und der Kindertageseinrichtung<br />
liegt ein<br />
ganz wesentlicher Entwicklungszeitraum.“<br />
mehr haben. Wir müssen mit allen unseren<br />
Möglichkeiten gegen eine solche gesellschaftliche<br />
Entwicklung vorgehen. Das<br />
soziale Elend großer Gruppen kann nicht<br />
hingenommen werden. Dies schon gar<br />
nicht, wenn davon auch Kinder betroffen<br />
sind, wenn die Zukunft von jungen Menschen<br />
auf dem Spiel steht.<br />
Die Fachtagung beschäftigt sich heute<br />
nicht nur mit Feststellungen über die<br />
Situation der Gesellschaft. Es geht auch<br />
darum, über Maßnahmen zu reden, handlungsfähig<br />
zu sein und Perspektiven aufzuzeigen.<br />
Die Foren beschäftigen sich mit<br />
unterschiedlichen Ansätzen je nach Alter<br />
der Kinder. Dieser Ansatz scheint mir sehr<br />
interessant zu sein, weil er deutlich macht,<br />
dass je nach Alter der Kinder die Unterstützungsmaßnahmen<br />
sehr unterschiedlich<br />
sein können. Andererseits ist auch entsprechend<br />
dem Alter der Zugang zu Kindern<br />
und Familien von sehr verschiedenartigen<br />
Institutionen geprägt.<br />
Zwischen der Geburt und der Kindertageseinrichtung<br />
liegt ein ganz wesentlicher Entwicklungszeitraum.<br />
Entscheidende Prägungen<br />
der Kinder erfolgen hier. Sprachliche<br />
Förderung, Zuwendung und Geborgenheit<br />
sind wesentliche Elemente dieser Phase.<br />
Das Kind ist zum großen Teil ganz und gar<br />
in der Obhut der Familie, der Mutter und<br />
des Vaters und der Geschwister. Überforderungen<br />
in Familien treten oft schon in<br />
dieser Phase auf.<br />
Konsequenter Kindesschutz verlangt<br />
Beratung und Unterstützung. Er muss aber<br />
auch Formen finden, die in Notlagen den<br />
Zugang zu diesen Familien finden. Dies<br />
führt dazu, dass in vielen Jugendämtern<br />
darüber nachgedacht wird, einen konsequenten<br />
Besuchsdienst nach der Geburt<br />
einzurichten.<br />
Gleichzeitig werden Überlegungen angestellt,<br />
verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen<br />
auch über Sanktionen sicherzustellen.<br />
Die Förderung und Unterstützung von<br />
vernachlässigten Kindern in dieser Altersgruppe<br />
scheint mir besonders schwierig.<br />
Im Zusammenhang mit dem KiBiz versuchen<br />
wir intensiv die Betreuung von Kindern<br />
unter 3 Jahren in Tageseinrichtungen<br />
auszubauen. Wir sind inzwischen soweit,<br />
dass an manchen Orten 100 % aller Kinder<br />
ab dem 3. Lebensjahr eine Kindertageseinrichtung<br />
besuchen. Aus diesem Gesichtspunkt<br />
ist es nur konsequent, diese<br />
Altersgruppe gesondert zu betrachten. Fast<br />
alle Kinder sind in Tageseinrichtungen für<br />
Kinder. Gleichwohl ist uns allen bewusst,<br />
dass es weiterhin schwierig bleibt, Grauzonen<br />
aufzudecken und mit der notwendigen<br />
Sensibilität in das Verhältnis zwischen<br />
Eltern, Kindern und öffentlicher Jugendhilfe<br />
neue Handlungsfelder einzubeziehen.<br />
Das Gleiche gilt für Kinder im Schulalter. Es<br />
besteht Schulpflicht. Alle Kinder müssen<br />
die Schule besuchen. Angesichts dieser<br />
Ausgangslage könnte vermutet werden,<br />
dass Notlagen von Kindern erkannt werden,<br />
dass professionelle Hilfe in Grenzsituationen<br />
immer zur Verfügung steht.<br />
Wir wissen, dass es anders ist. Schule ist<br />
damit überfordert. Schule kann nicht immer<br />
erkennen, in welcher Situation sich Kinder<br />
befinden. Hier ist Unterstützung notwendig.<br />
Eine enge Zusammenarbeit zwischen<br />
Jugendhilfe und Schule muss deutlich verbessert<br />
werden. Wir müssen noch stärker<br />
Kindern helfen, die in schwierigen Lebenslagen<br />
sind. Wir müssen sie fördern, wenn<br />
sie Unterstützungsbedarfe haben. Gleichzeitig<br />
darf weder Schule noch Jugendhilfe<br />
beliebig eingreifen.<br />
Sie sehen, meine Damen und Herren, wir<br />
haben uns mit dieser Tagung viel vorgenommen.<br />
Schließlich sollen nicht nur fachliche<br />
und pädagogische Aspekte diskutiert<br />
werden. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
werden in einer Arbeitsgruppe<br />
diskutiert werden.<br />
Am Ende unserer Tagung steht die Frage,<br />
ob und welche veränderten strukturellen<br />
und gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />
für einen verbesserten Kinderschutz wir in<br />
NRW brauchen.<br />
Ich gehe für mich davon aus, dass ich heute<br />
vieles dazulernen werde.<br />
Ich wünsche der Tagung einen guten Verlauf.
Herausforderungen und<br />
Handlungsmöglichkeiten<br />
für einen verbesserten<br />
Kindesschutz in NRW<br />
Armin Laschet J Minister für Generationen, Familie, Frauen<br />
und Integration des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />
Sehr geehrter Herr Dr. Becker,<br />
sehr geehrte Frau Loheide,<br />
meine Damen und Herren,<br />
auch ich begrüße Sie herzlich zur Fachtagung<br />
der Landesarbeitsgemeinschaft der<br />
Öffentlichen und Freien Wohlfahrtspflege in<br />
Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>. Uns erwarten heute<br />
eine Reihe von interessanten Redebeiträgen<br />
und Diskussionen von Fachleuten. Sie<br />
werden uns teilhaben lassen an ihren Erfahrungen<br />
und uns mit ihren Ergebnissen<br />
Impulse geben.<br />
In letzter Zeit erreichen uns immer wieder<br />
aufs Neue Meldungen, die uns erschrecken.<br />
Es vergeht kaum ein Tag ohne Nachrichten<br />
von Kindesmissbrauch und Kindesverwahrlosung.<br />
Manchmal fragt man<br />
sich: Hat diese Gesellschaft vergessen, wie<br />
sie mit Kindern umgehen muss, was Kinder<br />
brauchen?<br />
Unter dem Eindruck immer neuer Schreckensmeldungen<br />
scheint es so. Aber doch<br />
ist es eigentlich der ganz großen Mehrheit<br />
vollkommen klar: Kinder brauchen ein liebevolles,<br />
positives und gewaltfreies Umfeld.<br />
Sie brauchen einen geschützten Raum, in<br />
dem sie unbeschwert aufwachsen können.<br />
Sie brauchen Zuwendung und Vertrauen.<br />
Sie brauchen Menschen, die sie unterstützen<br />
und fördern. Millionen von Eltern in<br />
Deutschland bieten ihren Kindern diesen<br />
Raum. Auch weil sie wissen, wie ihre eigene<br />
Kindheit war, was sie gestärkt und gefördert<br />
hat. Sie geben heute ihren eigenen Kindern<br />
das Vertrauen wieder, das sie selbst bekommen<br />
haben und das für ihre Entwicklung<br />
maßgeblich war. Es gibt aber auch Eltern,<br />
die ihren Kindern dieses Vertrauen<br />
nicht bieten. Und um sie geht es heute.<br />
Wir leben in einem Zeitalter, in dem Tempo<br />
eine große Rolle spielt. Doch kommen viele<br />
mit dem, lassen Sie es mich „high speed“-<br />
Leben nennen, nicht klar. Sie kommen mit<br />
den schnelleren Anforderungen und mit<br />
den gesellschaftlichen Erwartungen nicht<br />
klar. Sie sind dem Druck, den insbesondere<br />
das moderne Arbeitsleben mit sich bringt,<br />
nicht gewachsen. Die Folge ist nicht selten<br />
Überforderung im Beruf, unter Umständen<br />
auch Arbeitslosigkeit.<br />
Oft sind es dann auch die Kinder, die unter<br />
dem Druck, dem ihre Eltern ausgesetzt<br />
sind, leiden müssen. Wenn alles Schlechte<br />
zusammenkommt – Überforderung im Beruf,<br />
private Probleme, eventuell auch Drogen<br />
– können Verwahrlosung, Desinteresse<br />
am Wohl des Kindes und sogar Gewalt<br />
die schreckliche Folge sein. Teilweise sind<br />
die Berichte dann so erschreckend, dass<br />
man das Gefühl bekommt, sie seien Teil<br />
eines Gruselfilms. Sie sind aber leider Realität.<br />
Nach jeder neuen Meldung über das tragische<br />
Schicksal eines misshandelten, vernachlässigten<br />
oder getöteten Kindes werden<br />
immer die gleichen Fragen gestellt:<br />
Warum hat „der Staat“ zu spät, zu wenig,<br />
nicht konsequent genug oder gar nicht eingegriffen?<br />
Kurz: Warum wurde der Staat<br />
seiner Wächterrolle nicht gerecht?<br />
In der Praxis müssen es die Jugendämter<br />
und die Familiengerichte entscheiden, ob<br />
und wann die „Nicht-Ausübung des natürlichen<br />
Rechts“ der Eltern nach Art. 6 Abs.<br />
2 im Grundgesetz eine Gefahr für das Kind<br />
wird – und dann müssen sie eingreifen.<br />
Denn der Artikel 6 unseres Grundgesetzes<br />
besagt zweierlei:<br />
1. Die Erziehung der Kinder ist das Recht<br />
und die Pflicht der Eltern.<br />
2. Über die Einhaltung wacht der Staat –<br />
zum Wohle des Kindes.<br />
Eröffnung J Armin Laschet<br />
J Armin Laschet<br />
7
8<br />
„Wenn aber Eltern ihrer<br />
Aufgabe nicht gerecht<br />
werden und nicht mit<br />
der Verantwortung<br />
für ihr Kind umgehen<br />
können, dann wird es<br />
zu unserer Pflicht,<br />
Lösungen für das<br />
Kind zu bieten und<br />
zwar direkt und ohne<br />
Zeitverlust!“<br />
Über das „Wie“ wird seit geraumer Zeit<br />
mehrfach und auf verschiedenen Ebenen<br />
diskutiert. Das ist nicht einfach. Denn unser<br />
Ziel kann es generell nicht sein, Eltern zu<br />
bevormunden. Wenn aber Eltern ihrer Aufgabe<br />
nicht gerecht werden und nicht mit<br />
der Verantwortung für ihr Kind umgehen<br />
können, dann wird es zu unserer Pflicht,<br />
Lösungen für das Kind zu bieten und zwar<br />
direkt und ohne Zeitverlust! Was kann dann<br />
Politik auf der Ebene des Landes tun?<br />
Handlungskonzept für einen besseren<br />
und wirksameren Kinderschutz<br />
Bereits im vergangenen Jahr haben wir im<br />
Kabinett das „Handlungskonzept für einen<br />
besseren und wirksameren Kinderschutz in<br />
Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>“ beschlossen.<br />
Damit hat das Ministerium für Generationen,<br />
Familien, Frauen und Integration<br />
des Landes Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> ein Bündel<br />
von Maßnahmen und Initiativen zum<br />
Schutz von Kindern auf den Weg gebracht.<br />
Prävention, rasche, zielgenaue Hilfe und<br />
die Vernetzung der verschiedenen Akteure<br />
stehen dabei im Vordergrund.<br />
Ich möchte Ihnen einige dieser Maßnahmen<br />
und Initiativen nennen:<br />
J In Sachen Fort- und Weiterbildung von<br />
pädagogischen Fachkräften haben wir<br />
wichtige Grundlagen für verbesserte<br />
Handlungskompetenz geschaffen. Inzwischen<br />
wurden 750 Lehrerinnen und Lehrer<br />
sowie Fachkräfte aus dem Umfeld der<br />
Offenen Ganztagsschule mit Fragen des<br />
Kinderschutzes vertraut gemacht.<br />
J Darüber hinaus hat mein Haus die Entwicklung<br />
der berufsbegleitenden Zusatzqualifikation<br />
„Zertifizierte Kinderschutzfachkraft“<br />
unterstützt, die inzwischen<br />
bundesweit nachgefragt wird. Diese Fortbildung<br />
bieten der Landesverband Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />
des Deutschen Kinderschutzbundes<br />
e.V. und das Institut für<br />
Soziale Arbeit e.V. gemeinsam mit den<br />
Landesjugendämtern an.<br />
Bis Ende dieses Jahres werden damit<br />
insgesamt 600 Fachkräfte in Nordrhein-<br />
<strong>Westfalen</strong> als Kinderschutzfachkraft zertifiziert<br />
sein.<br />
J Im Frühjahr 2007 legte die von meinem<br />
Haus und dem Ministerium für Schule und<br />
Weiterbildung geförderte Serviceagentur<br />
„Ganztägig lernen in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>“<br />
die Broschüre „Kinderschutz macht<br />
Schule“ vor. Darin werden Handlungsoptionen<br />
und Praxisbeispiele zum Umgang<br />
mit Kindeswohlgefährdungen in der Offenen<br />
Ganztagsschule aufgezeigt.<br />
J In diesem Jahr werden wir für die Jugendämter<br />
in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> ein Elternbegleitbuch<br />
vorlegen, das den Eltern<br />
in Kooperation mit den Kommunen kurz<br />
nach der Geburt eines Kindes überreicht<br />
werden soll und das die wichtigsten Informationen<br />
rund ums Kind enthält.<br />
J Ein sehr wichtiger Baustein sind die „Sozialen<br />
Frühwarnsysteme“, die in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />
seit 2001 entwickelt und<br />
erprobt wurden. Die Angebote in den<br />
Kommunen umfassen den Zeitraum von<br />
der Schwangerschaft und der Geburt<br />
über die ersten Lebensjahre des Kindes<br />
bis hin zu dem Alter, in dem die Kinder<br />
den Kindergarten oder die Schule besuchen.<br />
Das ist auch ein Ziel der Sozialen Frühwarnsysteme:<br />
die systematische Verzahnung<br />
von Gesundheits-, Kinder- und<br />
Jugendhilfe. Die Sozialen Frühwarnsysteme<br />
können und sollen zu einem wichtigen<br />
Instrument der Vorbeugung werden:<br />
Die Zusammenarbeit der verschiedenen<br />
Fachkräfte in einem dichten Netwerk<br />
macht es möglich, problematische Lebenslagen<br />
von Familien rechtzeitig zu erkennen,<br />
zu beurteilen und entsprechend<br />
zu handeln.<br />
Das Land Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> fördert die<br />
überregionale Service- und Kontaktstelle<br />
zur Entwicklung von Sozialen Frühwarnsystemen<br />
in Münster. Die Servicestelle<br />
unterstützt interessierte Kommunen, Institutionen<br />
oder Interessengruppen, die<br />
Sozialen Frühwarnsysteme zu implementieren.<br />
Derzeit gibt es bereits rund 40 Soziale<br />
Frühwarnsysteme vor Ort. Unser Ziel<br />
ist es, dass die Sozialen Frühwarnsysteme<br />
in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> flächendeckend<br />
ausgebaut werden.<br />
Dazu hat das Land im vergangenen Jahr<br />
jedem Jugendamt für die erste Phase der
Projektkoordination zum Aufbau eines sozialen<br />
Frühwarnsystems eine Anschubfinanzierung<br />
gewährt.<br />
Die Landesförderung richtete sich dabei<br />
nach der Anzahl der Kinder (bis einschließlich<br />
sechs Jahre), die in der jeweiligen<br />
Kommune leben. Für die 61<br />
Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf<br />
gab es 2.000 Euro extra.<br />
J Zusätzlich zum Handlungskonzept für einen<br />
wirksamen Kinderschutz fördert das<br />
Land das Modellprojekt „Risikomanagement“.<br />
Den Jugendämtern kommt in diesem<br />
Projekt eine Schlüsselposition zu. Im<br />
Mittelpunkt dieses Modellprojekts steht<br />
die handelnde Fachkraft vor Ort, die,<br />
wenn sie einen Fall von Vernachlässigung<br />
oder Verwahrlosung erkennt, schnell handeln<br />
muss.<br />
Ich sehe auch, dass die Jugendämter<br />
teilweise mehr Personal brauchen, auch<br />
wenn das für die Kommunen nicht immer<br />
einfach zu schultern ist.<br />
Doch auch bei besserer Ausstattung können<br />
die Behörden die Aufgabe nicht alleine<br />
bewältigen. Wir sind auf die Hilfe aller<br />
Bürger angewiesen. Ich betone: Wer dem<br />
Jugendamt einen Tipp gibt, ist weder<br />
Spitzel noch Denunziant! Wir brauchen<br />
die Unterstützung von aufmerksamen<br />
Nachbarn und Bürgern, wir brauchen vorbeugende<br />
Einzelprojekte, Gründung von<br />
tragfähigen Netzwerken, Hinzuziehung<br />
von Trägern der Kinder- und Jugendhilfe,<br />
des öffentlichen Gesundheitsdienstes<br />
und in Extremfällen auch die Herausnahme<br />
des Kindes aus der Familie.<br />
Dazu müssen die Fachkräfte gut geschult<br />
sein und möglichst viele Beratungsansätze<br />
kennen und anwenden können.<br />
Deshalb haben wir im vergangenen Jahr<br />
gemeinsam mit den Landesjugendämtern<br />
eine Workshop-Reihe für das Risikomanagement<br />
initiiert mit dem Ziel, eine praxisorientierte<br />
Handreichung zu erstellen.<br />
Eine Veröffentlichung ist geplant.<br />
J Ein wichtiges Instrument der Früherkennung<br />
und Hilfe sind auch die Familienzentren.<br />
Deutlich wird das, wenn man sich<br />
die Angebote der bislang fast 1.000 Familienzentren<br />
anschaut: Beinahe alle Fa-<br />
milienzentren (78 Prozent) halten ein niedrigschwelliges<br />
Angebot der Beratung und<br />
Unterstützung von Kindern und Familien<br />
vor. Weitere wichtige Angebote der Familienzentren<br />
sind die Familienbildung und<br />
Angebote der Erziehungspartnerschaft,<br />
Unterstützung bei der Suche nach einer<br />
qualifizierten Kindertagespflege und damit<br />
die Erleichterung bei der Vereinbarkeit<br />
von Beruf und Familie.<br />
Beinahe 88 Prozent der Familienzentren<br />
richten ihre Angebote nach dem be-sonderen<br />
Bedarf des Umfeldes aus. Fast alle<br />
(95 Prozent) kooperieren mit lokalen Partnern<br />
und sorgen dafür, dass die Angebote<br />
des Familienzentrums bekannt sind.<br />
Früherkennungsuntersuchungen<br />
Eine Frage wird immer wieder sehr kontrovers<br />
diskutiert: Sollen Früherkennungsuntersuchungen<br />
für Kinder zur gesetzlichen<br />
Pflicht gemacht werden? Einige Bundesländer<br />
wie Bayern, Saarland, <strong>Rheinland</strong>-<br />
Pfalz sind diesen Weg gegangen. Ich habe<br />
an der Wirksamkeit einer solchen Maßnahme<br />
meine Zweifel. Gesetzlich verpflichtende<br />
Früherkennungsuntersuchungen sind<br />
sehr aufwendig und nutzen wenig, wenn es<br />
darum geht, Gewalt gegen Kinder zu verhindern.<br />
Die bisher bekannten Fälle wären<br />
durch eine gesetzliche Verpflichtung<br />
der Eltern nicht zu verhindern gewesen.<br />
Eine Teilnahmeverpflichtung wäre schwer<br />
zu überwachen, und es stellt sich auch die<br />
Frage nach Sanktionen bei einer Nichtteilnahme.<br />
Die Kürzung oder der Entzug von Kindergeld<br />
ist für mich – auch wenn verfassungsrechtliche<br />
Bedenken überwunden werden<br />
könnten – keine Option. Deshalb haben<br />
wir in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> einen anderen<br />
Weg eingeschlagen und eine Meldepflicht<br />
für Ärztinnen und Ärzte beschlossen,<br />
die Früherkennungsuntersuchungen<br />
bei Kindern durchführen. Das heißt, dass<br />
diejenigen Eltern den Kommunen gemeldet<br />
werden müssen, deren Kinder trotz Erinnerung<br />
nicht an einer Früherkennungsuntersuchung<br />
teilnehmen. Ich weiß, dass damit<br />
praktische Probleme, z. B. datenschutzrechtlicher<br />
Art, verbunden sind. Aber diese<br />
Probleme müssen und können überwunden<br />
werden.<br />
Eröffnung J Armin Laschet<br />
„Gesetzlich verpflichtendeFrüherkennungsuntersuchungen<br />
sind<br />
sehr aufwendig und<br />
nutzen wenig, wenn<br />
es darum geht, Gewalt<br />
gegen Kinder zu<br />
verhindern.“<br />
9
„Es wird auch zu<br />
überprüfen sein, wie<br />
die bestehenden<br />
Früherkennungs-<br />
untersuchungen so gestaltet<br />
werden können,<br />
dass Anzeichen von<br />
Gewalt besser erkannt<br />
werden. “<br />
10<br />
Gesetzliche Regelungen allein sind dennoch<br />
nicht ausreichend. Vielmehr müssen<br />
zusätzlich Strukturen entstehen, in denen<br />
die beteiligten Akteure enger zusammen<br />
arbeiten. Beispielsweise bewähren sich in<br />
den Kommunen auch zunehmend präventive<br />
Elternbesuche, bei denen sich die Vertreter<br />
der Kinder- und Jugendeinrichtungen<br />
vorstellen und ein sichtbares Beratungs-<br />
und Informationsangebot unterbreiten.<br />
Es wird auch zu überprüfen sein, wie die<br />
bestehenden Früherkennungsuntersuchungen<br />
so gestaltet werden können, dass Anzeichen<br />
von Gewalt besser erkannt werden.<br />
Das ist eine Aufgabe des Gemeinsamen<br />
Bundesausschusses, entsprechende Untersuchungsroutinen<br />
(z. B. Untersuchungskriterien<br />
oder Untersuchungsintervalle) zu<br />
beschließen. Im vergangenen Jahr habe ich<br />
das mehrmals schriftlich angemahnt. Sinnvoller<br />
als eine Pflicht zur Früherkennungsuntersuchung<br />
wäre es in meinen Augen,<br />
wenn sich die Krankenkassen verpflichten<br />
würden, alle entsprechenden Versicherten<br />
einzuladen und die Teilnahme mit einem<br />
Bonus zu belohnen.<br />
Beschluss der Bundeskanzlerin und<br />
der Regierungschefs der Länder vom<br />
19.12.2007<br />
Das Wohl unserer Kinder und ein wirksamer<br />
Kinderschutz haben höchste Priorität! Deshalb<br />
bin ich auch froh, dass diese Themen<br />
auch auf Bundesebene beraten werden. So<br />
hat die Bundeskanzlerin am 19. Dezember<br />
des letzten Jahres mit den Regierungschefs<br />
der Länder beraten, wie die Grundlagen für<br />
einen wirksamen Kinderschutz in Deutschland<br />
weiterentwickelt werden können.<br />
Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs<br />
der Länder sind sich einig darin, dass<br />
die bestehenden Anstrengungen von Bund,<br />
Ländern und Kommunen verstärkt werden<br />
müssen, um Vernachlässigung, Verwahrlosung<br />
und Misshandlung von Kindern vorzubeugen<br />
und schnell und wirksam Hilfen<br />
für Kinder in Not und für überforderte Eltern<br />
bereit zu stellen. Einig war man sich ebenso<br />
in der Einschätzung, dass die Risiken<br />
in hoch belasteten Familien früher erkannt<br />
werden müssen und dass diese Familien<br />
verlässliche und kontinuierliche Unterstützung,<br />
Begleitung und Hilfen brauchen.<br />
Zwei der Maßnahmen, die ich für besonders<br />
wichtig halte und die auf diesem gemeinsamen<br />
Treffen beschlossen wurden,<br />
möchte ich hervorheben:<br />
J In Zusammenarbeit mit Ländern und<br />
Kommunen wird das Nationale Zentrum<br />
Frühe Hilfen beauftragt, Leitlinien für vernetzte<br />
Strukturen und Frühwarnsysteme<br />
zu entwickeln.<br />
J Die Bundesregierung wird prüfen, welche<br />
Änderungen im Datenschutz erforderlich<br />
sind. Solche Daten müssen zwischen den<br />
zuständigen Melde- und Sozialbehörden,<br />
aber auch mit Blick auf Polizei und Justiz,<br />
leichter fließen können als bisher.<br />
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir<br />
so dazu beitragen können, die Rahmenbedingungen<br />
für einen wirksameren Kinderschutz<br />
in Deutschland zu verbessern. Zur<br />
Umsetzung werden bis zur nächsten Zusammenkunft<br />
der Regierungschefs mit der<br />
Bundeskanzlerin im Juni dieses Jahres drei<br />
Bund-Länder-Arbeitsgruppen konkrete Vorschläge<br />
vorlegen.<br />
Instrumente zielgerecht einsetzen<br />
Bei aller Suche nach Verbesserungen, dürfen<br />
wir eines nicht übersehen: Wir verfügen<br />
bereits über eine Fülle von Maßnahmen<br />
und Konzepten, Trägern, Mitteln und<br />
Erfahrungen. Es geht also nicht unbedingt<br />
um die Entwicklung neuer Instrumente oder<br />
weiterer Maßnahmen, sondern insbesondere<br />
darum, das vorhandene Instrumentarium<br />
gebündelt und abgestimmt einzusetzen.<br />
Das gilt für alle politischen Ebenen: Ob<br />
Bund, Länder oder Kommunen: Wir alle<br />
müssen uns dazu ermahnen, Ressortschranken<br />
zu überwinden – über den<br />
sprichwörtlichen Tellerrand zu schauen.<br />
Denn Gesetze, Strukturen, funktionierende<br />
Ämter und Vernetzungen, das alles sind<br />
wichtige Instrumente, um Eltern zu stärken<br />
und Kinder wirksam zu schützen.<br />
Doch wir müssen auch sehen: Selbst noch<br />
mehr staatliche Fürsorge und gesteigerte<br />
öffentliche Wachsamkeit werden die Unversehrtheit<br />
und das Leben eines jeden<br />
Kindes in unserem Land nicht hundertprozentig<br />
garantieren können. Das hat gesell-
schaftliche Ursachen, über die wir ebenso<br />
engagiert debattieren sollten wie über die<br />
konkreten Instrumente des Kinderschutzes.<br />
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung<br />
vom 25.11.2007 schrieb der Journalist<br />
Richard Wagner einen Satz, den ich<br />
sehr beachtlich finde.<br />
Ich möchte ihn gern zitieren:<br />
„Mitten in unserer Gesellschaft hat sich<br />
eine Zone herausgebildet, in der Verantwortung,<br />
sei es für sich selbst oder für andere,<br />
zum Fremdwort geworden ist.“<br />
Wir sind alle miteinander gefordert, Auswege<br />
aus dieser – wie Wagner es nennt –<br />
„moralischen Verwahrlosung“ zu finden.<br />
Eines ist klar: Wo Familie unter Druck ist,<br />
müssen wir es als unsere gemeinsame Aufgabe<br />
sehen, mit allen uns zur Verfügung<br />
stehenden Instrumenten und Mitteln diesen<br />
Druck zu nehmen und diese Familien<br />
zu stärken.<br />
Ich danke der Landesarbeitsgemeinschaft<br />
der Freien und Öffentlichen Wohlfahrtspflege<br />
in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> sehr für die<br />
Ausrichtung dieser Fachtagung und ganz<br />
besonders für ihr Engagement in Sachen<br />
Kinderschutz. Vermutlich werden wir am<br />
Ende der Fachtagung feststellen, dass unsere<br />
verschiedenen Bausteine an der einen<br />
oder anderen Stelle noch ein wenig bearbeitet<br />
werden müssen, um optimal zueinander<br />
zu passen. Das ist auch Sinn und<br />
Zweck dieses Austausches.<br />
Aber vielleicht haben wir am Ende dann<br />
auch den Eindruck gewonnen, auf dem<br />
richtigen Weg zu sein – ich würde es mir<br />
wünschen. Gemeinsam können wir viel bewegen.<br />
Die Gesundheit, das Leben und die<br />
Zukunft unserer Kinder sollten es uns wert<br />
sein.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und<br />
uns eine anregende und erfolgreiche Diskussion<br />
Eröffnung J Armin Laschet<br />
11
Prof Dr. Dr. h. c.<br />
Reinhard Wiesner J<br />
1 Böckenförde, Elternrecht<br />
– Recht des Kindes – Recht<br />
des Staates, in: Essener Gespräche<br />
zum Thema Staat<br />
und Kirche, Band 14, 1980<br />
S. 59.<br />
12<br />
Kindesschutz im<br />
Spannungsfeld zwischen<br />
staatlichem Wächteramt und<br />
grundgesetzlich geschütztem<br />
Freiraum der Familie<br />
Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner J Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
Dramatische Fälle von Kindesvernachlässigung<br />
lenken den Blick auf den staatlichen<br />
Schutzauftrag – seinen Inhalt und seine<br />
Grenzen – und damit auch auf die Aufgaben<br />
der Eltern. Wie weit reicht die elterliche<br />
Erziehungsautonomie? Welche Befugnisse,<br />
welche Pflichten hat der Staat, Kinder vor<br />
Gefahren für ihr Wohl zu schützen? Wie tritt<br />
er dabei gegenüber den Eltern auf: in beratender,<br />
unterstützender Funktion oder als<br />
eine Instanz, die Eltern rechtsverbindliche<br />
Vorgaben macht, sie gegebenenfalls sogar<br />
ganz oder teilweise aus ihrer elterlichen<br />
Erziehungsverantwortung entlässt? Dieses<br />
komplexe Thema will ich in den nachfolgenden<br />
Ausführungen etwas näher beleuchten.<br />
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen<br />
Den Ausgangspunkt für diese Betrachtung<br />
bilden die Vorgaben unserer Verfassung.<br />
Zentrale Aussagen dazu enthält Art.<br />
6 Abs.2 GG.<br />
a) Eltern – Kind – Staat<br />
Zunächst garantiert Art. 6 Abs.2 Satz1 GG<br />
den Eltern „Pflege und Erziehung als das<br />
natürliche Recht und die zuvörderst ihnen<br />
obliegende Pflicht“. Damit korrespondiert<br />
das sog. staatliche Wächteramt, wenn es in<br />
Satz 2 heißt. „Über ihre Betätigung wacht<br />
die staatliche Gemeinschaft.“<br />
Das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG<br />
ist ein echtes gegen den Staat gerichtetes<br />
Grundrecht. Adressat und Verpflichtete<br />
sind nicht das Kind oder beliebige Dritte,<br />
sondern die hoheitlich handelnde Staatsgewalt.<br />
Ihr gegenüber wird eine bestimmte<br />
tatsächlich und rechtlich geformte Position,<br />
die Pflege und Erziehung der Kinder, in<br />
dezidierter Form verfassungsrechtlich geschützt<br />
und gewährleistet, wie es der frühere<br />
Staatsrechtslehrer und Richter am<br />
Bundesverfassungsgericht Wolfgang Böckenförde<br />
ausgeführt hat 1 .<br />
Das Elternrecht des Grundgesetzes gewährt<br />
eine einseitige unmittelbare Bestimmungsmöglichkeit<br />
über andere Menschen,<br />
die Kinder, im Hinblick auf deren<br />
Persönlichkeitsentwicklung. Zu Recht verweist<br />
Böckenförde darauf, dass ein solches<br />
Recht eine Form von Herrschaft darstellt.<br />
Zwar muss Herrschaft von bloßer Macht<br />
definitorisch dadurch unterschieden werden,<br />
dass Herrschaft keine beliebige, sondern<br />
eine an legitimierenden Zwecken<br />
ausgerichtete, an Formen und Verfahren<br />
gebundene und rechtlicher Verantwortlichkeit<br />
unterliegende Bestimmungsmacht<br />
darstellt. Grundlage und rechtfertigender<br />
Grund des Elternrechts sind aber nicht das<br />
Interesse und die Freiheitsentfaltung der<br />
Eltern, sondern Interesse und Persönlichkeitsentfaltung<br />
des Kindes. Elternrecht, so<br />
drückt es Böckenförde aus, ist „eine objektiv<br />
notwendige Bedingung für das Seinkönnen<br />
und Mündigwerden des Kindes.“<br />
Das Elternrecht wird deshalb als fremdnütziges<br />
Recht bezeichnet. Zur Entwicklung<br />
und Entfaltung seiner Persönlichkeit ist das<br />
Kind auf Schutz und Pflege, aber auch auf<br />
die erzieherische Lenkung und Bestimmung<br />
durch die Eltern angewiesen.<br />
Dieses Grundrecht weist noch eine weitere<br />
Besonderheit auf. Pflege und Erziehung<br />
der Kinder sind nach Artikel 6 Abs. 2 Satz<br />
1 GG nicht nur das natürliche Recht der Eltern,<br />
sondern auch die „ihnen zuvörderst
obliegende Pflicht“. Dem auf das Kind und<br />
sein Wohl verpflichteten Freiheitsrecht der<br />
Eltern stellt das Grundgesetz auf gleicher<br />
Stufe die Pflicht der Eltern zur Pflege und<br />
Erziehung zur Seite: Dem Elternrecht korrespondiert<br />
die Elternpflicht. Diese Grundpflicht<br />
zur Pflege und Erziehung der Kinder<br />
tritt nicht erst als eine das Grundrecht der<br />
Eltern begrenzende Schranke hinzu, sondern<br />
stellt einen wesensbestimmenden Bestandteil<br />
des Elternrechts dar. Anders als<br />
der pater familias im römischen Recht haben<br />
also Eltern nicht die freie Entscheidung<br />
darüber, ob sie von ihrem Elternrecht Gebrauch<br />
machen wollen oder nicht.<br />
Diese Pflichtbindung des Elternrechts erklärt<br />
sich daraus, dass das Grundgesetz<br />
und zwar wegen der Schutz und Hilfebedürftigkeit<br />
des Kindes (ausnahmsweise)<br />
Personen, nämlich den Eltern, Rechte an<br />
einer anderen Person – dem Kind – einräumt.<br />
Dies erfolgt aber im Hinblick darauf,<br />
dass das Kind selbst mit Menschenwürde<br />
ausgestattet und Grundrechtsträger<br />
ist und nur unter der Maßgabe, dass diese<br />
Rechte pflichtgebunden sind. Das Bundesverfassungsgericht<br />
hat in einer Grundsatzentscheidung<br />
im Jahre 1968 den Begriff<br />
„Elternverantwortung“ geprägt und damit<br />
den besonderen Charakter des Elternrechts<br />
verdeutlicht.<br />
In seiner aktuellen Entscheidung zum sog.<br />
Zwangskontakt vom 01.04.2008 hat das<br />
Bundesverfassungsgericht seiner ständigen<br />
Rechtssprechung folgend ausgeführt:<br />
„Das Elternrecht dem Kind gegenüber findet<br />
seine Rechtfertigung darin, dass das<br />
Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf,<br />
damit es sich zu einer eigenverantwortlichen<br />
Persönlichkeit innerhalb der sozialen<br />
Gemeinschaft entwickeln kann, wie sie<br />
dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht.<br />
Dieses Recht ist deshalb untrennbar<br />
mit der Pflicht der Eltern verbunden,<br />
dem Kind diesen Schutz und diese Hilfe zu<br />
seinem Wohl angedeihen zu lassen.“<br />
In der Presse und auf Veranstaltungen werden<br />
nicht selten Elternrechte und Kindesrechte<br />
in einen Gegensatz miteinander gebracht<br />
und daraus die Forderung erhoben,<br />
die Kindesrechte gegenüber den Elternrechten<br />
stärker zu gewichten oder doch<br />
zwischen den verschiedenen Positionen zu<br />
Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />
vermitteln. Eine solche Sichtweise verkennt<br />
jedoch die Systematik unserer Verfassung.<br />
Diese regelt nämlich nicht das Verhältnis<br />
zwischen Privatpersonen und damit<br />
auch nicht das Verhältnis zwischen Eltern<br />
und Kindern, sondern das Verhältnis zwischen<br />
Privatpersonen und dem Staat. Zum<br />
anderen dient das als Elternverantwortung<br />
charakterisierte Elternrecht – wie schon<br />
ausgeführt – in erster Linie nicht der freien<br />
Entfaltung der Persönlichkeit der Eltern,<br />
sondern der Persönlichkeitsentfaltung des<br />
Kindes. Elternrecht ist damit primär Recht<br />
im Interesse und zum Wohle des Kindes.<br />
Aus dieser Perspektive gibt es keine Kollision<br />
zwischen den Rechten und den Interessen<br />
des Kindes und denen der Eltern, solange<br />
sich die Eltern im Schutzbereich ihres<br />
Elternrechts bewegen. Gerade im Zusammenhang<br />
mit der Gefährdung des Kindeswohls<br />
stellt sich deshalb die Frage nach<br />
den Grenzen des Elternrechts.<br />
b) Grenzen des Elternrechts<br />
Die Grenzen ergeben sich aus Inhalt und<br />
Zielsetzung des Elternrechts. Zum<br />
Einen handelt es sich um eine dynamische<br />
Grenze, die sich unmittelbar aus<br />
dem Zweck des Elternrechts ergibt. Dieses<br />
zielt auf die Erziehung des Kindes zu<br />
einer selbstbestimmten und selbst verantwortlichen<br />
Persönlichkeit. Ist dieses Ziel erreicht,<br />
so entfallen das Ziel und die Rechtfertigung<br />
für das Elternrecht. Entsprechend<br />
formuliert das Bundesverfassungsgericht:<br />
„Das Elternrecht dient als pflichtgebundenes<br />
Recht dem Wohl des Kindes; es muss<br />
seinem Wesen und Zweck nach zurücktreten,<br />
wenn das Kind ein Alter erreicht hat,<br />
in dem es eine genügende Reife zur selbständigen<br />
Beurteilung der Lebensverhältnisse<br />
und zum eigenverantwortlichen Auftreten<br />
im Rechtsverkehr erlangt hat. Als ein<br />
Recht, das um des Kindes und dessen Persönlichkeitsentfaltung<br />
wegen besteht, liegt<br />
es in seiner Struktur begründet, dass es in<br />
dem Maße, in dem das Kind in die Mündigkeit<br />
hineinwächst, überflüssig und gegenstandslos<br />
wird“ 2 . Der Gesetzgeber trägt<br />
dem insbesondere mit Teilmündigkeitsregelungen<br />
Rechnung.<br />
Die zweite Grenze bildet das Kindeswohl<br />
bzw. die Vereinbarkeit elterlichen Handelns<br />
mit dem Kindeswohl. Nur soweit die Eltern<br />
„Elternrecht ist primär<br />
Recht im Interesse<br />
und zum Wohle des<br />
Kindes. “<br />
2 BVerfGE 59, 360, 387<br />
13
„Nun finden wir weder<br />
im Grundgesetz noch<br />
an anderer Stelle in<br />
unserer Rechtsordnung<br />
eine Definition des<br />
Kindeswohls. “<br />
3 Siehe dazu die Stellungnahme<br />
des Bundesjugendkuratoriums<br />
vom Dezember<br />
2007, Jugendamt 2008, 72.<br />
14<br />
ihre Befugnis zum Wohle des Kindes ausüben,<br />
handeln sie im Rahmen ihrer Elternverantwortung<br />
und können sich auf den<br />
Grundrechtsschutz von Artikel 6 Abs. 2<br />
Satz 1 GG berufen; nur insofern lässt sich<br />
die Fremdbestimmung des Kindes durch<br />
seine Eltern vor Art. 2 Abs. 1 in Verbindung<br />
mit Art. 1 Abs. 1 GG (Persönlichkeitsrecht<br />
des Kindes) rechtfertigen. Die Entscheidungsfreiheit<br />
der Eltern endet – nach der<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
– dort, wo sie für ein Handeln in<br />
Anspruch genommen wird, dass selbst bei<br />
weitester Anerkennung ihrer Selbstverantwortlichkeit<br />
nicht mehr als „Pflege oder Erziehung“<br />
gewertet werden kann.<br />
Nun finden wir weder im Grundgesetz noch<br />
an anderer Stelle in unserer Rechtsordnung<br />
eine Definition des Kindeswohls. In vielen<br />
fachlichen Publikationen werden Versuche<br />
unternommen, diesen Begriff zu definieren<br />
oder Mindeststandards zu formulieren.<br />
Dabei wird aber schnell deutlich, dass es<br />
kaum möglich ist, diesen umfassenden Begriff<br />
alters und entwicklungsspezifisch zu<br />
operationalisieren. Die rechtliche Bedeutung<br />
solcher Versuche bliebe zudem begrenzt.<br />
Da Eltern nach unserer Verfassung<br />
grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen<br />
und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen<br />
entscheiden, wie sie die Erziehung ihres<br />
Kindes gestalten und damit ihrer Elternverantwortung<br />
gerecht werden wollen, kommt<br />
dem Staat auch nicht die Befugnis zu, das<br />
Kindeswohl zu definieren. Er hat vielmehr<br />
die Aufgabe der rechtlichen Grenzkontrolle,<br />
nähert sich damit dem Kindeswohl von seiner<br />
negativen Ausprägung her 3 .<br />
c) Das staatliche Wächteramt<br />
Welche Bedeutung hat nun das in Art. 6<br />
Abs. 2 Satz 2 GG formulierte staatliche<br />
Wächteramt? Der Sinn des Wächteramts<br />
liegt darin, das Wohl des Kindes vor Schaden<br />
zu bewahren, und zwar so weit wie<br />
möglich unter Wahrung und Schonung der<br />
verfassungsrechtlich verbürgten Elternbefugnisse.<br />
Es soll objektive Verletzungen<br />
des Wohls des Kindes verhüten – unabhängig<br />
von einem Verschulden der Eltern. Insofern<br />
kann das Wächteramt als Schranke<br />
des Elternrechts qualifiziert werden. Dies<br />
bedeutet: Das staatliche Wächteramt hat<br />
im Hinblick auf das Elternrecht nachrangi-<br />
gen Charakter. Der Staat hat die elterliche<br />
Erziehungsautonomie, soweit sie reicht, zu<br />
respektieren. Die Grenze für diese elterliche<br />
Erziehungsautonomie bildet die Kindeswohlgefährdung.<br />
Nach diesem Verfassungsverständnis muss<br />
die Gesellschaft unterschiedliche Lebensstile<br />
und Erziehungsvorstellungen von Familien<br />
akzeptieren. Der Staat kann zwar<br />
versuchen, Eltern von der Wünschbarkeit<br />
eines anderen Erziehungsverhaltens<br />
zu überzeugen; dies geschieht auch im<br />
Rahmen von Beratung und anderen Erziehungshilfen,<br />
aber er muss letztlich auch<br />
solche Erziehungsformen akzeptieren, die<br />
von einer pädagogisch wünschenswerten<br />
Förderung der Entwicklung von Kindern<br />
entfernt sind, solange diese nicht mit einer<br />
Gefährdung des Kindeswohls einhergehen.<br />
Was ein solches Verständnis von Elternprimat<br />
und staatlicher Befugnis zur Kontrolle<br />
der Grenzen elterlicher Erziehungsverantwortung<br />
konkret bedeutet, dies hat<br />
das Bundesverfassungsgericht vor mehreren<br />
Jahren am Beispiel minderbegabter Eltern<br />
anschaulich gemacht, die ihr Kind nicht<br />
ausreichend fördern (können). Dazu hat es<br />
ausgeführt: „Zwar stellt das Kindeswohl in<br />
der Beziehung zum Kind die oberste Richtschnur<br />
der elterlichen Pflege und Erziehung<br />
dar. Dies bedeutet aber nicht, dass es<br />
zur Ausübung des Wächteramts des Staates<br />
nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gehörte,<br />
gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche<br />
Förderung des Kindes zu sorgen.“<br />
Das Gericht fährt fort: „Das Grundgesetz<br />
hat die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg<br />
des Kindes nach Abschluss der<br />
Grundschule zunächst den Eltern als den<br />
natürlichen Sachwaltern für die Erziehung<br />
des Kindes belassen. Die primäre Entscheidungszuständigkeit<br />
der Eltern beruht auf<br />
der Erwägung, dass die Interessen des Kindes<br />
in aller Regel am besten von den Eltern<br />
wahrgenommen werden. Dabei wird die<br />
Möglichkeit in Kauf genommen, dass das<br />
Kind durch den Entschluss der Eltern wirkliche<br />
oder vermeintliche Nachteile erleidet,<br />
die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben<br />
betriebenen Begabtenauslese vielleicht<br />
vermieden werden könnten“.<br />
Diese Entscheidung stößt immer wieder auf<br />
Unverständnis, weil sie dem Kind eben nicht<br />
eine „bestmögliche Förderung seiner Ent-
wicklung“ garantiert. Anderseits muss aber<br />
auch bedacht werden, was es bedeuten<br />
würde, einen Anspruch „auf bestmögliche<br />
Förderung“ konkret einzulösen. Der Staat<br />
müsste dann in jedem Einzelfall beurteilen,<br />
welche Förderung die bestmögliche für das<br />
Kind ist und ob die von den Eltern geleistete<br />
Erziehung oder der von ihnen gewählte Bildungsweg<br />
diesen Anforderungen entspricht.<br />
Im Ergebnis würde damit das Verhältnis von<br />
elterlicher Erziehungsverantwortung und<br />
(subsidiärem) staatlichem Wächteramt umgekehrt<br />
und letztlich der Staat zum eigentlichen<br />
Erziehungsträger gemacht.<br />
Für die Ausübung der staatlichen Mitverantwortung<br />
im Hinblick auf die elterliche<br />
Erziehung bedeutet dies: Der Staat muss<br />
sich bis zur Schwelle einer Kindeswohlgefährdung<br />
auf Angebote an die Eltern beschränken.<br />
Ist die Schwelle überschritten<br />
und sind die Eltern nicht bereit oder in<br />
der Lage, die Gefährdung (ggf. mit öffentlichen<br />
Hilfen) abzuwenden, so ist der Staat<br />
verpflichtet, diese Gefährdung auch gegen<br />
den Willen der Eltern abzuwenden.<br />
Freilich ergibt sich aus der Verfassung nicht<br />
unmittelbar, welche Leistungsverpflichtungen<br />
dem Staat gegenüber dem Kind und<br />
seinen Eltern obliegen. So lassen sich aus<br />
dem Fördergebot des Art. 6 Abs.1 GG konkrete<br />
Ansprüche auf bestimmte staatliche<br />
Leistungen nicht herleiten. 4 Hier hat<br />
der Gesetzgeber einen weiten Spielraum,<br />
wie er seiner Mitverantwortung für das Aufwachsen<br />
von Kindern gerecht werden will<br />
– einen Handlungsspielraum, der wohl bei<br />
weitem nicht ausgeschöpft wird, wenn wir<br />
uns das Leistungsspektrum des SGB VIII,<br />
aber vor allem auch die Umsetzungsdefizite<br />
in der Praxis ansehen. So haben wir in<br />
den letzten Jahren einen kontinuierlichen<br />
Abbau des Leistungsspektrums der Hilfen<br />
zur Erziehung erlebt. Stationäre Hilfen werden<br />
vielfach nicht bedarfsgerecht erbracht,<br />
sondern aufgeschoben. Die Anspruchskriterien<br />
in § 27 SGB VIII werden restriktiv<br />
ausgelegt. So setzt der Rechtsanspruch<br />
auf Hilfe zur Erziehung bewusst unterhalb<br />
der Schwelle der Kindeswohlgefährdung<br />
an, ein Ansatz, der aber in der Praxis häufig<br />
unterlaufen wird. Bevor also über neue<br />
Eingriffsmöglichkeiten in die elterliche<br />
Erziehungsverantwortung oder gar die Senkung<br />
der Eingriffsschwelle nachgedacht<br />
wird, ist zunächst das gesamte Spektrum<br />
Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />
von Hilfen im primär und sekundär präventiven<br />
Bereich in den Blick zu nehmen und<br />
auszuschöpfen.<br />
d) Kindeswohlgefährdung als Interventionsschwelle<br />
Über das breite Spektrum von Leistungen<br />
gibt das SGB VIII den Jugendämtern also<br />
vielfältige Möglichkeiten, frühzeitig auf Eltern<br />
zuzugehen bzw. den Eltern das Recht,<br />
diese Leistungen in Anspruch zu nehmen.<br />
Eine Verpflichtung, von Amts wegen tätig<br />
zu werden, ergibt sich erst im Zusammenhang<br />
mit dem Bekanntwerden wichtiger<br />
Anhaltspunkte für eine Gefährdung des<br />
Kindeswohls (§ 8a SGB VIII). Damit erhält<br />
der Begriff der Kindeswohlgefährdung eine<br />
besondere Bedeutung für die Art und Weise,<br />
in der der Staat seine Mitverantwortung<br />
beim Schutz des Kindes vor Gefahren für<br />
sein Wohl ausübt. Dieser Begriff wird von<br />
vielen Fachdisziplinen in unterschiedlichen<br />
Kontexten verwendet, hat aber als staatliche<br />
Eingriffschwelle in die elterliche Erziehungsautonomie<br />
in der Rechtsprechung<br />
eine spezifische Ausprägung erfahren:<br />
Schon im Jahre 1956 hat der Bundesgerichtshof<br />
darunter „eine gegenwärtig in einem<br />
solchen Maß vorhandene Gefahr“<br />
verstanden, „dass sich bei der weiteren Entwicklung<br />
eine erhebliche Schädigung mit<br />
ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“. 5<br />
Bei der Anwendung dieser Definition auf<br />
den Einzelfall ergeben sich spezifische<br />
fachliche Anforderungen. Zum einen ist die<br />
aktuelle Gefahrenlage im Sinne einer Diagnose<br />
zu erfassen: Liegt eine akute Gefährdung<br />
im Sinne der Definition des Bundesgerichtshofs<br />
vor? Darüber hinaus bedarf es<br />
einer zukunftsbezogenen Einschätzung der<br />
Gefährdungsdynamik („Prognose“). Handlungsleitende<br />
Fragen sind dabei:<br />
J Wie wird sich die Gefährdungssituation<br />
ohne Intervention seitens des Staates<br />
weiter entwickeln?<br />
J Wie werden sich Eltern gegebenenfalls<br />
mit fachlicher Unterstützung und Begleitung<br />
verhalten?<br />
J Ist bei einer Fortdauer des elterlichen<br />
Verhaltens eine Schädigung des Kindeswohls<br />
zu erwarten, auch wenn sie jetzt<br />
noch nicht eingetreten ist? 6<br />
„Der Staat muss sich<br />
bis zur Schwelle einer<br />
Kindeswohlgefährdung<br />
auf Angebote an die<br />
Eltern beschränken. “<br />
4 BVerfGE 82,60, 81. Siehe<br />
auch Jestaedt, Ein Grundrecht<br />
auf Kinderbetreuung?,<br />
ZfJ 2000, 281<br />
5 BGH FamRZ 1956, 350 =<br />
NJW 1956 S. 1434<br />
6 Siehe dazu Schone, Probleme<br />
und Hürden bei der<br />
Umsetzung des § 8a SGB<br />
VIII, IKK-Nachrichten 1-2/<br />
2006, S.20 und Offe, Methoden<br />
zur Beurteilung des Verdachts<br />
auf Kindeswohlgefährdung,<br />
ZKJ 2007, 236.<br />
15
„Bevor wir deshalb<br />
staatliche Kontrollen<br />
verschärfen, sollten wir<br />
zu allererst eine Kultur<br />
des Hinschauens und<br />
der gesellschaftlichen<br />
Mitverantwortung<br />
fördern.“<br />
7 Von den jährlichen Ausgaben<br />
im Bereich der Kinder-<br />
und Jugendhilfe entfallen<br />
nur 0,4% auf diesen Leistungsbereich.<br />
16<br />
2. Konsequenzen für den Kinderschutz<br />
a) Kinderschutz als gesamtgesellschaftliche<br />
Herausforderung<br />
Die Fokussierung auf eklatante Fälle von<br />
Kindesvernachlässigung und auf die Eingriffsbefugnisse<br />
des Staates verstellt den<br />
Blick für ein weites Verständnis vom Kinderschutz.<br />
Dieser obliegt zunächst den Eltern<br />
im Hinblick auf ihr Kind im Rahmen<br />
ihrer Erziehungsverantwortung. Primäre<br />
Aufgabe des Staates ist es daher, Eltern in<br />
ihrer Erziehungskompetenz zu unterstützen<br />
und zu stärken.<br />
Eltern leben indes nicht auf einer Insel der<br />
Seeligen, sondern mitten in der Gesellschaft.<br />
Diese hat deshalb auch eine Verantwortung<br />
für die nachwachsende Generation.<br />
Bevor wir deshalb staatliche Kontrollen<br />
verschärfen, sollten wir zu allererst eine<br />
Kultur des Hinschauens und der gesellschaftlichen<br />
Mitverantwortung fördern.<br />
Die staatliche Mitverantwortung beschränkt<br />
sich aber nicht auf Hilfe und Schutz im Einzelfall.<br />
Durch die Entwicklung einer kinder<br />
und familienfreundlichen Gesellschaft, die<br />
aktive Bekämpfung von Kinderarmut, durch<br />
Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von<br />
Erwerbstätigkeit und Familie kann der Staat<br />
Zeichen setzen, dass er Erziehung wertschätzt,<br />
und Rahmenbedingungen dafür<br />
schaffen, dass Eltern Entlastung und Unterstützung<br />
erfahren. Kinderschutz ist deshalb<br />
auch eine strukturelle staatliche Aufgabe.<br />
Schließlich muss der Staat die zuständigen<br />
Behörden entsprechend ausstatten, damit<br />
sie in Fällen der Kindeswohlgefährdung die<br />
notwendigen Entscheidungen treffen können.<br />
Der individuelle Schutzauftrag, wie er<br />
in § 8a SGB VIII seinen gesetzlichen Ausdruck<br />
gefunden hat, behält auch dann seine<br />
Bedeutung, wenn die vorab genannten<br />
präventiven und strukturellen Ansätze verstärkt<br />
werden.<br />
b) Strategien im Kinderschutz<br />
Prävention und Intervention<br />
im Kinderschutz<br />
Den dramatischen Fällen von Kindesmisshandlung<br />
und Vernachlässigung, die mit<br />
dem Tod oder der schweren Verletzung von<br />
Kindern verbunden sind, geht immer ein<br />
mehr oder weniger langer Prozess der Destabilisierung<br />
der familialen Lebenssituation<br />
und der eskalierenden Belastung für das<br />
Kind voraus, dessen Anfang kaum genau<br />
identifiziert werden kann. Es erscheint deshalb<br />
notwendig, beim Thema Kinderschutz<br />
nicht sofort den Blick auf die spezifischen<br />
Aufgaben des Jugendamtes bei akuter Kindeswohlgefährdung<br />
zu verengen, sondern<br />
diesen gesamten Entwicklungsprozess und<br />
die Möglichkeiten der Einflussnahme in den<br />
Blick zu nehmen. Dieser Prozess lässt sich<br />
mit der vor allem aus der Medizin bekannten<br />
Terminologie in verschiedene Abschnitte<br />
unterteilen, die freilich im realen Ablauf<br />
nahtlos ineinander übergehen.<br />
Kinderschutz beginnt bereits bei der primären<br />
Prävention, also der Aufklärung und Information<br />
über die Bedürfnisse des Kindes,<br />
bei der Beratung über Pflege und Erziehung,<br />
der Vermittlung von elterlicher Erziehungskompetenz.<br />
Sie kann gar nicht früh<br />
genug beginnen, weshalb immer wieder<br />
auch ein Fach Erziehungslehre in der Schule<br />
gefordert wird. Die Verbesserung der elterlichen<br />
Erziehungskompetenz (in diesem<br />
Frühstadium) ist auch Aufgabe der Kinder<br />
und Jugendhilfe und Ziel der allgemeinen<br />
Förderung der Erziehung in der Familie<br />
nach § 16 SGB VIII. Bewertet man die Bedeutung<br />
dieser Leistung nach den dafür investierten<br />
Mitteln, so führt sie in der Kinder<br />
und Jugendhilfe bis heute ein Schattendasein.<br />
7<br />
Kinderschutz geht dann über in die sekundäre<br />
Prävention, also die Unterstützung<br />
von Eltern in belastenden Lebenssituationen,<br />
die spezifische Risiken für Kinder bergen.<br />
Dazu zählen etwa TeenagerSchwangerschaften<br />
ebenso wie unzureichende<br />
Wohnverhältnisse, die (psychische) Erkrankung<br />
von Eltern(teilen) oder grundlegende<br />
Konflikte in der Partnerschaft. In diesem<br />
Stadium geht es darum, den Zugang<br />
zu solchen Eltern zu finden, um durch helfende<br />
und unterstützende Maßnahmen Belastungen<br />
abzubauen und der Entwicklung<br />
einer weiteren Gefährdungsdynamik rechtzeitig<br />
zu begegnen.<br />
Schließlich sprechen wir von Intervention<br />
im Kinderschutz. Dabei denken wir Juristen<br />
zu allererst an die Schwelle der Kindes-
wohlgefährdung, wie sie dem Auftrag des<br />
Familiengerichts nach § 1666 BGB zugrunde<br />
liegt, aber bereits das Ergebnis der Gefährdungseinschätzung<br />
nach § 8 a SGB VIII<br />
im Jugendamt sein kann und deshalb nicht<br />
zwingend zur Anrufung des Familiengerichts<br />
führt . 8<br />
Die Akteure im Kinderschutz<br />
Nimmt man dieses breite Spektrum des<br />
Kinderschutzes in den Blick, dann wird<br />
auch ein großer Kreis von Personen und<br />
Institutionen sichtbar, der diesem Kinderschutz<br />
verpflichtet ist. Dies sind zu allererst<br />
immer wieder die Eltern, denen<br />
im Rahmen ihrer Erziehungsverantwortung<br />
im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG<br />
auch der Schutz des Kindes vor Gefahren<br />
für ihr Wohl obliegt. Es sind darüber hinaus<br />
die Jugendämter, die als staatliche<br />
Behörden zur Wahrnehmung des Schutzauftrags<br />
bei Kindeswohlgefährdung berufen<br />
sind, sowie die Familiengerichte, denen<br />
nach unserer Rechtsordnung Eingriffe<br />
in die elterliche Erziehungsverantwortung<br />
bei einer Kindeswohlgefährdung vorbehalten<br />
sind. Dem Kinderschutz verpflichtet ist<br />
auch die Polizei, deren Auftrag freilich primär<br />
der Aufrechterhaltung der öffentlichen<br />
Sicherheit und Ordnung und der Strafverfolgung<br />
gilt. Kinderschutz ist aber darüber<br />
hinaus auch Aufgabe der Ärzte und anderer<br />
Berufe im Gesundheitssystem, denen<br />
die Begleitung Schwangerer, die Unterstützung<br />
bei der Säuglingspflege, die Behandlung<br />
von Krankheiten, sowie Früherkennung,<br />
Vorbeugung und Vorsorge obliegen.<br />
Schließlich ist Kinderschutz (jedenfalls implizit)<br />
Aufgabe aller Personen und Dienste,<br />
die vertraglich Beratung, Betreuung oder<br />
Therapie von Kindern oder Jugendlichen<br />
übernehmen.<br />
Bei dieser Auflistung wird aber bereits<br />
deutlich, dass die Aufträge der genannten<br />
Institutionen im Einzelfall unterschiedlich<br />
sind, sich diese Institutionen bzw. Fachdisziplinen<br />
dem Thema Kindesschutz also<br />
aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.<br />
Damit werden sowohl die Notwendigkeit,<br />
aber auch Grenzen der Kooperation<br />
deutlich.<br />
Kinderschutz in diesem weiten Verständnis<br />
erfordert je nach Gefahrenlage unterschiedliche<br />
Zugangswege: Beginnend bei<br />
Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />
der Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für<br />
die Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben<br />
von Kindern über den Kontakt mit schwangeren<br />
Frauen und jungen Müttern über<br />
Hebammen und in Geburtskliniken bis hin<br />
zur Gewährung von sozialpädagogischer<br />
Familienhilfe bei strukturell belasteten Familien<br />
und schließlich dem (im Einzelfall<br />
notwendigen flankierenden) Einsatz der Polizei<br />
bei Herausnahme von Kindern in akuten<br />
Gefährdungssituationen.<br />
Die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen<br />
Institutionen und Professionen führen<br />
auch zu unterschiedlichen fachlichen<br />
Einschätzungen über die notwendigen<br />
Maßnahmen der „Gefahrenabwehr“. Dies<br />
beginnt bereits beim Erkennen und bei<br />
der Beschreibung der jeweils erkennbaren<br />
Symptome. Voraussetzung für jede fachliche<br />
Kommunikation und institutionelle Kooperation<br />
ist daher eine gemeinsame Sprache,<br />
aber auch die Kenntnis des jeweils<br />
eigenen und des anderen Auftrags.<br />
Schließlich erfordern unterschiedliche Gefährdungszustände<br />
auch einen unterschiedlichen<br />
d. h. jeweils situationsangemessenen<br />
Umgang mit sozialen Daten. Die<br />
Fachwelt ist sich darüber einig, dass Kinderschutz<br />
Datenschutz braucht als Basis<br />
für den Zugang und die Vertraulichkeit, und<br />
die Befugnis zur Datenerhebung bzw. Weitergabe<br />
ohne Kenntnis der Eltern erst ab<br />
einer bestimmten Risikoschwelle für das<br />
Kind, nicht aber zur bloßen vorbeugenden<br />
Kontrolle elterlichen Handelns eröffnet<br />
wird. Entsprechendes gilt auch für die ärztliche<br />
Schweigepflicht und deren Grenzen.<br />
Der Zugang zum Familiensystem<br />
Der Zugang zum Familiensystem ist die<br />
zentrale Voraussetzung für das (rechtzeitige)<br />
Erkennen von Risikofaktoren und das<br />
Angebot von Hilfe. Die Zugangsfrage ist<br />
damit die Schlüsselfrage für einen effektiven<br />
Kindesschutz. Während die Inanspruchnahme<br />
ärztlicher Hilfe gesellschaftlich<br />
allseits akzeptiert ist („ich bin krank“)<br />
gilt die Inanspruchnahme von erzieherischer<br />
Hilfe („ich brauche Unterstützung<br />
bei der Erziehung meines Kindes“) immer<br />
noch als Stigma, als Zeichen von Unfähigkeit<br />
oder wird sogar als Indiz für einen<br />
Leistungsmissbrauch angesehen. Die gesellschaftliche<br />
Stigmatisierung von „Hilfe“<br />
„Kinderschutz in diesem<br />
weiten Verständnis<br />
erfordert je nach Gefahrenlageunterschiedliche<br />
Zugangswege.“<br />
8 Siehe dazu im Einzelnen<br />
unter 3 c in diesem Beitrag<br />
17
„Kinderschutz in diesem<br />
weiten Verständnis<br />
erfordert je nach Gefahrenlageunterschiedliche<br />
Zugangswege.“<br />
9 Nähere Informationen sind<br />
unter www.fruehehilfen.de<br />
abrufbar.<br />
18<br />
durch das Jugendamt ist einerseits durch<br />
die lange Tradition einer kontrollierenden<br />
und bevormundenden Jugendhilfe begründet,<br />
erhält aber letztlich immer wieder ihre<br />
Bestätigung durch die strukturelle Ambivalenz<br />
von Hilfe und Kontrolle, die der Aufgabenstellung<br />
des Jugendamts innewohnt.<br />
Bereits aus strategischen Gründen bietet<br />
es sich daher an, den (frühen) Zugang<br />
zum ElternKindSystem über das Gesundheitssystem<br />
zu suchen, dieses gewissermaßen<br />
als „Türöffner“ zu benutzen. Dort<br />
setzen auch die in den letzten Jahren entwickelten<br />
Modellprogramme früher Hilfen<br />
an. Schwangerschaft und Geburt eröffnen<br />
Gelegenheiten zum Kontakt, zur Beratung<br />
und Unterstützung. Dabei gilt es jedoch<br />
deutlich zu machen, dass diese Unterstützung<br />
nicht aufgedrängt und auf diese Weise<br />
Kontrolle durch die Hintertür etabliert<br />
wird. Dies gilt dann auch für den Schutz<br />
des Vertrauens und den Umgang mit den<br />
Sozialdaten.<br />
3. Neuere Entwicklungen im Kinderschutz<br />
a) Modelle Früher Hilfen und Sozialer<br />
Frühwarnsysteme<br />
Mit dem Ziel, Eltern möglichst früh zu erreichen<br />
und damit Vernachlässigung und<br />
Misshandlung von Kindern wirksam vorzubeugen,<br />
wurden in den Ländern und auf<br />
der Bundesebene in den letzten Jahren<br />
verschiedene Modellprogramme etabliert.<br />
Sie setzen bereits in der Zeit der Schwangerschaft<br />
und um die Geburt an und wollen<br />
ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/<br />
Hebamme und der Mutter und ggf. dem<br />
Vater aufbauen. Im Vordergrund stehen Beratung<br />
und Unterstützung in allen Fragen<br />
der Pflege, Ernährung und Förderung des<br />
Kleinkindes. Werden weitergehende Bedarfe,<br />
wie psychosoziale Hilfen erkennbar, so<br />
werden mit dem Einverständnis der Eltern<br />
weitere Hilfen installiert und ggf. der Kontakt<br />
zum Jugendamt hergestellt.<br />
Im Fokus des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen<br />
für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“<br />
des Bundes 9 stehen vor allem<br />
Kinder bis zu etwa drei Jahren, sowie<br />
Schwangere und junge Mütter und Väter in<br />
belastenden Lebenslagen. Um die Zielgruppe<br />
wirkungsvoll zu erreichen und fachlich<br />
kompetent begleiten zu können, müssen<br />
Gesundheitssystem und Kinder und Jugendhilfe<br />
eng miteinander verzahnt werden.<br />
Der Bund stellt für das Programm im Zeitraum<br />
20062010 zehn Millionen Euro bereit.<br />
Die Umsetzung des Programms erfolgt in<br />
enger Abstimmung mit den Ländern und<br />
den Kommunen, in deren Verantwortung<br />
der Schutz von Kindern auf der örtlichen<br />
Handlungsebene liegt. In verschiedenen<br />
Regionen Deutschlands existieren bereits<br />
einzelne lokal begrenzte Projekte und Modelle<br />
zur Unterstützung der Entwicklung<br />
und zu einem besseren Schutz in der frühen<br />
Kindheit.<br />
Um an deren Erfahrungen anzuknüpfen,<br />
hat das Deutsche Jugendinstitut im Auftrag<br />
des Bundesministeriums für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend einige gemeinsam<br />
mit den Ländern ausgewählte Projekte<br />
in einer Kurzevaluation hinsichtlich ihrer<br />
Stärken und Schwächen und offener Fragen<br />
untersucht. Auf der Grundlage dieser<br />
Ergebnisse fördert der Bund die wissenschaftliche<br />
Begleitung und Wirkungsevaluation<br />
von Modellprojekten, die in Abstimmung<br />
mit den Bundesländern konzipiert<br />
und ausgewählt wurden. Die in allen Ländern<br />
arbeitenden Modellprojekte entwickeln<br />
und erproben effektive Vernetzungsstrukturen<br />
und erarbeiten Lösungen für<br />
unterschiedliche Fragestellungen.<br />
Ein wesentlicher Baustein in diesem Aktionsprogramm<br />
ist das multiprofessionelle<br />
„Nationale Zentrum Frühe Hilfen“, das im<br />
April 2007 seine Arbeit aufgenommen hat.<br />
Träger sind die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />
Aufklärung (BZgA) und das Deutsche<br />
Jugendinstitut (DJI). Das Zentrum<br />
koordiniert die im Rahmen des Modellprogramms<br />
geförderten Projekte und stellt die<br />
gewonnenen Erkenntnisse und alle relevanten<br />
Informationen rund um die Frühen Hilfen<br />
für Kommunen, Träger und Fachkräfte<br />
bereit.<br />
b) Die Diskussion um Pflichtuntersuchungen<br />
und Alternativen<br />
Vor dem Hintergrund dramatischer Fälle<br />
von Kindesmisshandlung und vernachlässigung<br />
ist in den letzten Jahren immer wieder
gefordert worden, die Kinderuntersuchungen<br />
auch zur Vorbeugung von Kindeswohlgefährdung<br />
zu nutzen oder damit einer bereits<br />
eingetretenen Kindeswohlgefährdung<br />
wirkungsvoll zu begegnen. Innerhalb der<br />
Fachwelt wird kontrovers diskutiert, ob der<br />
Nutzen den Aufwand rechtfertigt, vor allem<br />
aber, ob es nicht wirkungsvollere Alternativen<br />
gibt. Zum einen wird bezweifelt,<br />
ob auf diese Weise gerade diejenigen Eltern<br />
erreicht werden, die sich der Verpflichtung<br />
mit allen Mitteln entziehen wollen. Zudem<br />
sind die Untersuchungsintervalle z. T.<br />
so groß, dass eine kontinuierliche Entwicklungsbegleitung<br />
kaum möglich ist. Schließlich<br />
sind die Ärzte auch nur bedingt, in der<br />
Lage, Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung<br />
zu erkennen.<br />
Der Gemeinsame Bundesausschuss wird<br />
zu diesem Zweck die sog. Kinderrichtlinie<br />
überarbeiten. Einzelne Länder haben inzwischen<br />
die Pflicht zur Teilnahme an den Untersuchungen<br />
gesetzlich geregelt. In anderen<br />
Ländern ist inzwischen das Konzept<br />
des „verbindlichen Einladungswesens“<br />
im Rahmen von Kinderschutzgesetzen installiert<br />
worden. Über die Meldebehörden<br />
werden Eltern zu den Untersuchungen<br />
eingeladen. Von den Ärzten erfolgen Rückmeldungen<br />
über die vorgestellten Kinder.<br />
Durch einen Datenabgleich wird festgestellt,<br />
welche Kinder nicht an der Vorsorgeuntersuchung<br />
teilgenommen haben. Daraufhin<br />
erfolgen nochmalige Einladungen und ggf.<br />
Hausbesuche durch den öffentlichen Gesundheitsdienst<br />
oder das Jugendamt.<br />
c) Die Konkretisierung des Schutzauftrags<br />
der Jugendhilfe in § 8a<br />
SGB VIII<br />
Der durch das Kinder und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz<br />
(KICK) mit Wirkung<br />
vom 01.10.2005 in das SGB VIII eingeführte<br />
neue § 8a strukturiert den bereits bestehenden<br />
Schutzauftrag des Jugendamtes im<br />
Fall einer Kindeswohlgefährdung und verknüpft<br />
ihn mit den Handlungspflichten der<br />
Leistungserbringer (freie Träger). Das Herzstück<br />
der Regelung bildet die Pflicht des<br />
Jugendamtes, bei „gewichtigen Anhaltspunkten<br />
für eine Kindeswohlgefährdung“<br />
eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen<br />
und dabei Eltern und Kind zu beteiligen,<br />
sofern dadurch der wirksame Kindesschutz<br />
nicht in Frage gestellt wird.<br />
Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />
Darüber hinaus verpflichtet die Vorschrift<br />
die Jugendämter, sicherzustellen, dass<br />
die Leistungserbringer „den Schutzauftrag<br />
in entsprechender Weise wahrnehmen“.<br />
Damit wird nicht eine Aufgabe des<br />
Jugendamtes delegiert, sondern deutlich<br />
gemacht, dass die Leistungserbringer im<br />
Rahmen ihrer vertraglich gegenüber den Eltern<br />
zugunsten des Kindes übernommenen<br />
Förderpflichten auch Schutzpflichten übernommen<br />
haben, die im Einzelfall auch eigenverantwortlich<br />
wahrzunehmen sind.<br />
Diese Pflichten sind aufgrund der mangelnden<br />
rechtlichen Ausformung der Verträge<br />
zwischen Eltern und Einrichtungen bzw.<br />
Diensten (z. B. Beratungsstellen, Kindertagesstätten)<br />
nicht im Blickfeld und werden<br />
nun aktiviert. Vor allem die Träger solcher<br />
Einrichtungen und Dienste, die nicht unmittelbar<br />
Hilfen zur Erziehung erbringen und<br />
mit der Problematik einer Gefährdungseinschätzung<br />
weniger vertraut sind, sind nun<br />
gehalten, ihre Fachkräfte zu schulen und<br />
ggf. Unterstützung von Experten zu holen<br />
(„insoweit erfahrene Fachkräfte“ i. S. von<br />
§ 8a Abs.2 SGB VIII).<br />
Erst wenn es ihnen nicht gelingt, Eltern<br />
dazu zu motivieren, fachkundige Hilfe zur<br />
Abwehr der Gefährdung in Anspruch zu<br />
nehmen und ggf. selbst das Jugendamt<br />
aufzusuchen, sind sie berechtigt und verpflichtet,<br />
das Jugendamt zu informieren,<br />
damit dieses mit seinen rechtlichen Möglichkeiten<br />
die weitere Gefährdung des Kindeswohls<br />
abwendet. In Betracht kommen<br />
dabei für das Jugendamt<br />
J das Angebot von Hilfe zur Erziehung,<br />
J die Anrufung des Familiengerichts,<br />
J die Inobhutnahme des Kindes oder Jugendlichen.<br />
d) Die Änderung von § 1666 BGB<br />
Im Bundestag liegt der Entwurf eines „Gesetzes<br />
zur Erleichterung familiengerichtlicher<br />
Maßnahmen bei Gefährdung des<br />
Kindeswohls“ vor 10 . Er enthält sowohl Änderungen<br />
im materiellen wie im Verfahrensrecht<br />
und soll in den nächsten Wochen abschließend<br />
beraten werden. Dabei stützt er<br />
sich auf die Empfehlungen einer vom Bundesministerium<br />
der Justiz eingesetzten Arbeitsgruppe,<br />
die aus multiprofessioneller<br />
Sicht Möglichkeiten zur Verbesserung des<br />
Kindesschutzes erarbeitet hat.<br />
10 Bundestags-Drucks. 16/<br />
6815 vom 24.10.2007<br />
19
20<br />
Verzicht auf Feststellung elterlichen<br />
Erziehungsversagens<br />
Entsprechend dem Votum der Arbeitsgruppe<br />
soll zukünftig die Feststellung eines elterlichen<br />
Erziehungsversagens keine Voraussetzung<br />
mehr für das Tätigwerdens des<br />
Familiengerichts nach § 1666 BGB sein.<br />
Unverändert bestehen bleiben jedoch die<br />
Voraussetzung der Gefährdung des Kindeswohls<br />
und die Feststellung, dass die Eltern<br />
nicht gewillt oder in der Lage sind, die<br />
Gefährdung abzuwenden. Erwartet wird,<br />
dass auf diese Weise eine bessere Kooperation<br />
mit den Eltern im Hinblick auf die anschließend<br />
zu leistenden Hilfen gewährleistet<br />
werden kann.<br />
Konkretisierung der Rechtsfolgen nach<br />
§ 1666 BGB<br />
Bisher findet sich dazu in § 1666 BGB nur<br />
die Aussage, dass das Familiengericht die<br />
erforderlichen Maßnahmen trifft. In der<br />
Praxis steht dem Familiengericht ein breites<br />
Spektrum von Reaktionen zur Verfügung.<br />
Rechtstatsächliche Untersuchungen<br />
haben jedoch deutlich gemacht, dass<br />
das Schwergewicht des richterlichen Eingriffs<br />
bisher im völligen oder teilweisen<br />
Entzug der elterlichen Sorge besteht. Um<br />
die ganze Vielfalt der möglichen Eingriffe<br />
durch die Gerichte besser ausschöpfen<br />
zu lassen und weniger gravierende Maßnahmen<br />
anzuregen, soll ein differenzierter<br />
Katalog richterlicher Reaktionsformen<br />
im Gesetz aufgeführt werden. Allerdings<br />
wird in der Fachpraxis skeptisch beurteilt,<br />
ob nach (der weiterhin notwendigen)<br />
Feststellung einer Kindeswohlgefährdung<br />
„niederschwellige“ Reaktionen in der Regel<br />
überhaupt noch geeignet und ausreichend<br />
sind.<br />
Erörterung der Kindeswohlgefährdung<br />
Um eine verbesserte Kooperation und<br />
eine stärkere Akzeptanz der vorgesehenen<br />
Maßnahmen bei den Eltern zu fördern,<br />
hat der Gesetzgeber eine verfahrensrechtliche<br />
Neuregelung in § 50 FGG vorgesehen.<br />
Danach soll das Gericht im Verfahren<br />
nach den §§ 1666, 1666 a BGB mit den Eltern<br />
und in geeigneten Fällen auch mit den<br />
Kindern erörtern, wie eine Gefährdung des<br />
Kindeswohls abgewendet werden kann.<br />
Die richterliche Autorität soll zu dem Zweck<br />
eingesetzt werden, Eltern für die Annahme<br />
der vom Jugendamt als sinnvoll angesehenen<br />
Leistungen zu gewinnen.<br />
Überprüfungspflicht des Familien-<br />
gerichts<br />
Hat das Familiengericht im Rahmen des<br />
Verfahrens nach § 1666 BGB keine Maßnahmen<br />
getroffen, so soll dem Richter<br />
künftig auferlegt werden, sich nach einer<br />
gewissen Zeit davon zu überzeugen, dass<br />
ein gerichtliches Eingreifen (weiterhin) nicht<br />
erforderlich ist. Damit soll die Autorität des<br />
Gerichts in den Fällen, in denen es „nur“<br />
zu einer Erörterung der Kindeswohlgefährdung<br />
und keiner förmlichen Maßnahme<br />
kommt, weiter gestärkt werden. Zugleich<br />
wird neben dem Jugendamt auch dem Gericht<br />
selbst die Pflicht auferlegt, Hilfeverläufe<br />
in einem gewissen zeitlichen Abstand<br />
noch einmal daraufhin zu überprüfen, ob<br />
die eingeleiteten Maßnahmen wirksam und<br />
ausreichend sind oder familiengerichtliche<br />
Maßnahmen angezeigt sind. Ausdrücklich<br />
nicht intendiert ist damit jedoch eine Dauerbeobachtung<br />
einer einmal im Verfahren<br />
nach § 1666 BGB in Erscheinung getretenen<br />
Familie.<br />
Verfahrensrechtliches Beschleunigungsgebot<br />
Das Familiengericht soll künftig gesetzlich<br />
verpflichtet werden, spätestens einen<br />
Monat nach Einleitung des Verfahrens einen<br />
Termin anzusetzen, in dem die Sache<br />
mit den Beteiligten, deren persönliches Erscheinen<br />
anzuordnen ist, und dem Jugendamt<br />
zu erörtern ist. Das damit verbundene<br />
Ziel kann jedoch in der Praxis nur erreicht<br />
werden, wenn entsprechende personelle<br />
Ressourcen bei den Gerichten (aber auch<br />
bei den Jugendämtern) zur Verfügung gestellt<br />
werden.<br />
e) Neue Ansätze zur Verbesserung<br />
der Erziehungskompetenz der Eltern<br />
Auch im primärpräventiven Segment sind<br />
neue Ansätze erkennbar. Die zentrale Herausforderung<br />
für die Kinder und Jugendhilfe<br />
besteht darin, ihr Angebotsspektrum<br />
zur Verbesserung der Erziehungskompetenz<br />
der Eltern adressatengerecht weiterzuentwickeln,<br />
um auf diese Weise einen<br />
wirksamen Beitrag zur Prävention von Kin-
deswohlgefährdung zu leisten. Dazu zählen<br />
neben niederschwelligen Angeboten von<br />
Elterntraining auch neue Angebotsformen<br />
wie die ElternKindZentren, die darauf abzielen,<br />
sowohl Elternkompetenzen zu stärken,<br />
als auch Kinder zu fördern.<br />
ElternKindZentren wollen eine bedarfsgerechte,<br />
integrierte Angebotsstruktur entwickeln,<br />
mit denen Bildungs und Entwicklungsprozesse<br />
von Kindern gefördert und<br />
Eltern bzw. Familien unterstützt werden.<br />
Mit dem Anschluss an zusätzliche regionale<br />
Angebote und eingebettet in lokale Strukturen<br />
kann ein breit gefächertes Unterstützungssystem<br />
aufgebaut werden. 11<br />
In verschiedenen Bundesländern sind inzwischen<br />
Landesprogramme aufgelegt<br />
worden, um dieses Modell in verschiedenen<br />
Varianten zu fördern: So plant die Landesregierung<br />
hier in Nordrhein<strong>Westfalen</strong><br />
die Weiterentwicklung von 30% der 9.000<br />
Kindertageseinrichtungen bis 2012 zu Familienzentren.<br />
Das Land hat ein Pilotprogramm<br />
aufgelegt, das die Entwicklung<br />
durch wissenschaftliche Begleitung und<br />
Beratungsprozesse unterstützt. Durch ein<br />
konzeptgebundenes Gütesiegel, das erfolgreich<br />
zertifizierte Einrichtungen erhalten,<br />
soll die Unterscheidung zu den Regelkindertagestätten<br />
deutlich werden und der<br />
fachliche Entwicklungsprozess vorangetrieben<br />
werden. Die Einrichtungen werden mit<br />
12.000 Euro pro Jahr unterstützt.<br />
f) Kinderschutz zwischen Öffentlichkeit<br />
und Privatheit<br />
Die Frage, wann und in welcher Weise der<br />
private Lebensraum eines Kindes und einer<br />
Familie vom Staat beobachtet, bewertet<br />
und zum Gegenstand einer Intervention<br />
gemacht werden kann und soll, berührt<br />
nicht nur das Spannungsverhältnis von eigenständigem<br />
Elternrecht und der Gewährleistung<br />
des Kindeswohls, sondern die<br />
grundlegende Frage des Verhältnisses von<br />
Öffentlichkeit und Privatheit, von gesellschaftlicher<br />
Kontrolle und individueller Freiheit.<br />
In diesem Zusammenhang erscheint<br />
es angezeigt, manche der propagierten<br />
Präventionskonzepte auch einmal kritisch<br />
unter die Lupe zunehmen. So einleuchtend<br />
deren Ziel ist, Eltern und Kinder möglichst<br />
früh, also bevor sich Konflikte und Krisen<br />
zuspitzen, zu erreichen, so sehr muss aber<br />
Referat J Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner<br />
auch vor der Erwartung gewarnt werden,<br />
damit jedes Kind wirksam schützen zu können.<br />
Schließlich sollte bei allen Bemühungen,<br />
durch Begrüßungspakete, Hausbesuche,<br />
aufsuchende Hilfen etc., Kontakte zu Familien<br />
zu knüpfen, transparent bleiben, in<br />
welcher Rolle Amtspersonen tätig werden:<br />
Im Rahmen von Öffentlichkeitsarbeit<br />
für die Behörde, als Anbieter von Hilfe aufgrund<br />
von Anhaltspunkten für Belastungen<br />
und Risiken in der Familie oder als staatliche<br />
Eingriffsinstanz zur Abwehr einer akuten<br />
Kindeswohlgefährdung.<br />
Im Hinblick auf den Präventionsgedanken<br />
bedeutet dies, dass zu unterscheiden<br />
ist zwischen niederschwelligen Angeboten<br />
und vorverlagerter Kontrolle. Es wäre fatal,<br />
wenn junge Eltern nur noch oder in erster<br />
Linie unter dem Blickwinkel einer potentiellen<br />
künftigen Kindeswohlgefährdung wahrgenommen<br />
würden.<br />
Das Bundesjugendkuratorium bemerkt<br />
dazu:<br />
„Der „präventive Blick“ bedarf der immanenten<br />
Korrektur, weil ansonsten zuvörderst<br />
die Risiken und weniger die Entwicklungspotentiale<br />
markiert werden. In diesem Sinne<br />
muss die Gesellschaft – und hier insbesondere<br />
Akteure aus der Jugendhilfe, aus<br />
der Politik und aus den Medien – ein Bewusstsein<br />
dafür schaffen, dass man – bei<br />
aller notwendigen Prävention – auch „der<br />
Prävention vorbeugen“ muss. Darin eingeschlossen<br />
ist die Entscheidung, mit welchem<br />
Teil von „Risiko“ man zugunsten von<br />
Freiheit leben will.“ 12<br />
Wir alle sind daher aufgerufen, immer wieder<br />
J die Balance zwischen dem Respekt gegenüber<br />
Eltern und ihren Bemühungen zu<br />
suchen,<br />
J für das Wohl ihrer Kinder nach ihren Möglichkeiten<br />
zu sorgen und<br />
J der Verpflichtung, Kinder vor Gefahren für<br />
ihr Wohl zu schützen.<br />
„ElternKindZentren<br />
wollen eine bedarfsgerechte,<br />
integrierte<br />
Angebotsstruktur<br />
entwickeln, mit denen<br />
Bildungs und Entwicklungsprozesse<br />
von<br />
Kindern gefördert und<br />
Eltern bzw. Familien<br />
unterstützt werden.“<br />
11 Siehe dazu Diller in DJI<br />
(Hg.) DJI Bulletin 80 3/4<br />
2007 S. 17 ff. m.w.N.<br />
12 Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums<br />
vom<br />
Dezember 2007, Jugendamt<br />
2008, 72.<br />
21
22<br />
Peter Lukasczyk J<br />
Notwendige Module und<br />
Standards für einen gelingenden<br />
Kindesschutz in der Kommune<br />
Peter Lukasczyk J Jugendamt der Stadt Düsseldorf<br />
Sehr geehrte Damen und Herren!<br />
Mein Vortrag soll verdeutlichen, dass die<br />
kommunale Praxis in den Jugendämtern<br />
sehr wohl in der Lage wäre, nationale und<br />
internationale Standards in ihrer Arbeit zu<br />
übernehmen. Ich möchte Ihnen zum einen<br />
einen Problemabriss zu den prekären Kinderschutzfällen<br />
geben, im Weiteren die Zusammenarbeit<br />
zwischen Jugendhilfe und<br />
Gesundheitshilfe vorstellen, die Angebote<br />
der Frühen Hilfen in diesem Kontext präsentieren<br />
und die notwendigen Kooperationsvereinbarungen<br />
sowie die Instrumente<br />
zur Gefährdungseinschätzung vorstellen.<br />
Abgerundet wird diese Vorstellung durch<br />
einen Ausblick auf das Thema Risikomanagement<br />
und Qualitätsmanagement, Zertifizierung<br />
und Auditierung sowie einen<br />
Blick auf das Thema Öffentlichkeitsarbeit<br />
im Zusammenhang mit Kinderschutz.<br />
Problemlage<br />
Deutschland ist durch eine Reihe tragischer<br />
Todesfälle von Kindern aufgeschreckt.<br />
Staatliche Organisationen sind unzureichend<br />
vorbereitet, hilfreiche Systeme zur<br />
Verringerung solcher Fälle aufzubauen. Es<br />
gibt bundesweit keine einheitlichen Verfahren.<br />
Die für die Jugend und Gesundheitshilfe<br />
zuständigen Kommunen sind häufig<br />
überfordert. Dazu gehören bekannte Problemlagen,<br />
wie die mangelnde Kooperation<br />
zwischen Gesundheits und Jugendhilfe.<br />
Hierzu lassen sich ergänzende Untersuchungsberichte<br />
zu Todesfällen bei Kindesmisshandlung<br />
sowohl national wie auch international<br />
heranziehen. Kennzeichnend für<br />
diese Situation ist das Nebeneinander der<br />
zuständigen Organisationseinheiten in den<br />
beteiligten Hilfesystemen. Immer wieder<br />
wird deutlich, dass es fehlende oder unzureichende<br />
Instrumente zur Gefährdungseinschätzung<br />
gab. Ein Fehler oder Risikomanagement<br />
fehlte in nahezu allen Fällen.<br />
Hinweise auf fehlende Qualitätsstandards<br />
und die schlechte personelle Ausstattung<br />
bzw. unzureichend qualifiziertes Personal<br />
ergänzen diese Betrachtung. Einer der<br />
wesentlichen Befunde ist der übersteigerte<br />
Wunsch der Kommunen nach eigenen<br />
Wegen und Verfahren. Es scheint in<br />
Deutschland schwierig zu sein, bewährte<br />
best practiceModelle in kommunales Handeln<br />
zu übernehmen. Stattdessen werden<br />
unterschiedliche Hilfesysteme neu zusammengeschoben<br />
und verursachen dadurch<br />
weitere SchnittstellenProbleme, die im<br />
Zweifelsfall zu sehr gefährlichen Mischungen<br />
werden können.<br />
Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe<br />
und Gesundheitshilfe<br />
Hierbei ist eindeutig zu konstatieren, dass<br />
ein gelingender Kinderschutz nur in der Kooperation<br />
von Gesundheitshilfe und Jugendhilfe<br />
zustande kommen kann. Diese<br />
beiden Bereiche stellen die Kernstruktur<br />
sowohl der Hilfeleistung, wie auch der Intervention<br />
dar. Insbesondere bei dem Thema<br />
„Frühe Hilfen und Präventionsarbeit“<br />
ist diese Zusammenarbeit unerlässlich. Dabei<br />
ist die gegenseitige Akzeptanz bei der<br />
Professionen notwendige Voraussetzung<br />
für erfolgreiches Handeln. Einer der ersten<br />
Schritte gilt daher der Entwicklung eines<br />
gemeinsamen Problembewusstseins im<br />
Sinne eines effektiven Kinderschutzes.<br />
Angebote der Frühen Hilfen<br />
In den letzten Jahren hat sich in Deutschland<br />
das Thema der „Frühen Hilfen“ immer<br />
mehr etabliert. Hierbei geht es nicht um einen<br />
primären Präventionsansatz, der sich<br />
grundsätzlich an alle Familien mit Kindern<br />
richtet, sondern vielmehr um die Identifizierung<br />
von Risikofamilien durch verbindliche<br />
Zusammenarbeit. Fest steht hierbei, dass
die Familien in Risikolagen eine besondere<br />
Aufmerksamkeit der Systeme erfordern<br />
und hier ein kooperatives Miteinander unter<br />
Einbeziehung der Familien entwickelt werden<br />
muss. Als Kooperationspartner seien<br />
hier exemplarisch die Geburts- und Kinderkliniken,<br />
die Psychiatrischen Kliniken, die<br />
niedergelassenen Kinderärzte, die niedergelassenen<br />
Hebammen und Geburtshäuser<br />
sowie die niedergelassenen Gynäkologen<br />
und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen<br />
zu nennen. Um diesen Familien adäquate<br />
und strukturelle Hilfeleistungen<br />
anzubieten, bedarf es des Ausbaus der Familienbildungsangebote<br />
durch gezielte und<br />
evaluierte Programme sowie eines den Bedarfen<br />
angepassten Ausbaus der Erziehungs<br />
und Gesundheitsberatungsstellen.<br />
Kooperationsvereinbarungen<br />
Die für den Kinderschutz notwendigen Kooperationsvereinbarungen<br />
bedürfen einer<br />
verbindlichen Partnerschaft und verbindlicher<br />
Inhalte zur Beschreibung der Schnittstellen,<br />
der Beschreibung der gemeinsamen<br />
Prozesse und der Beschreibung der<br />
gemeinsamen Verpflichtungen. Hierbei<br />
eignen sich insbesondere Kooperationsvereinbarungen<br />
des Jugendamtes mit Einrichtungen<br />
und Trägern der Jugendhilfe, mit<br />
dem Schulbereich und der Gesundheitshilfe<br />
sowie der Psychiatrie.<br />
Instrumente zur Gefährdungseinschätzung<br />
Um aus der Vielzahl der Überprüfungen<br />
und Erkenntnisse eine qualifizierte Aussage<br />
zur weiteren Vorgehensweise zu treffen,<br />
bedarf es evaluierter Instrumente zur Gefährdungseinschätzung.<br />
Aufgrund der gesetzlichen<br />
Normierung bedarf es dieser Instrumente,<br />
insbesondere in der Jugendhilfe,<br />
analog der Notwendigkeiten, die im<br />
§ 8 a SGB VIII definiert wurden. Diese Instrumente<br />
zur Gefährdungseinschätzung<br />
bedürfen einer Standardisierung der möglichen<br />
Gefährdungsbeschreibung, eines altersentsprechenden<br />
Clusters, der den unterschiedlichen<br />
Entwicklungsphasen und<br />
Förderungsnotwendigkeiten entspricht und<br />
letztlich müssen bei den Beobachtungsinhalten<br />
unterschiedliche Dimensionen des<br />
Verhaltens berücksichtigt werden.<br />
Risikomanagement<br />
Zum jetzigen Zeitpunkt stellt das Thema Risikomanagement<br />
ein unbeachtetes Thema<br />
in der Jugendhilfe dar. Hierbei handelt es<br />
sich um die systematische Untersuchung<br />
von Fehlerquellen, die mit unterschiedlichen<br />
Methoden herausgearbeitet werden<br />
können. Dazu werden spezielle Workshops<br />
benötigt, die durch systematisierte Interviews<br />
ergänzt werden. Dazu bedarf es allerdings<br />
einer weitestgehend veränderten<br />
Haltung in der Praxis, da dies von der Bereitschaft<br />
abhängt, mit Fehlern oder beinahe<br />
passierten Fehlern geschützt in der<br />
Organisation zu agieren. Neben der Systematisierung<br />
und Untersuchung von Fehlerquellen<br />
bedarf es im Anschluss der Sicherung<br />
von Prozessen durch Methoden und<br />
Instrumente des Qualitätsmanagements.<br />
Einer dieser Punkte wäre die Erstellung eines<br />
Risikokataloges, in dem systematisiert<br />
alle Risikolagen erkannt, definiert und beschrieben<br />
sind. Hierzu zählen insbesondere<br />
regulatorische Risiken, wie z. B. die Nichteinhaltung<br />
von Gesetzen und Arbeitsanweisungen,<br />
das Erkennen von latenten Risiken<br />
und Ereignissen, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit<br />
auftreten, jedoch gravierende<br />
negative Auswirkungen auf die Organisation<br />
haben, wie etwa negative Berichterstattung<br />
in öffentlichen Medien.<br />
Ebenso bedeutsam ist die Untersuchung<br />
strategischer und operativer Organisationsrisiken,<br />
Trends oder Ereignisse mit positiver<br />
oder negativer Auswirkung auf den kurz<br />
oder langfristigen Erfolg. Hierzu zählt z. B.<br />
die öffentliche Wahrnehmung der beteiligten<br />
Organisationen in Kinderschutzfragen.<br />
Qualitätsmanagement<br />
In den mit dem Thema Kinderschutz beauftragten<br />
Organisationseinheiten ist ein<br />
qualifiziertes Qualitätsmanagement zu entwickeln<br />
und durch die Leitungskräfte zu<br />
verantworten. Hierbei gilt es nicht, eigene<br />
Qualitätsprozesse und verfahren zu kreieren,<br />
sondern vielmehr bestehende Qualitätsmanagementmethoden,<br />
wie z. B. TQM<br />
oder ISOVerfahren zu implementieren und<br />
umzusetzen. Insbesondere geht es um die<br />
Beschreibung von gemeinsamen Schlüsselprozessen<br />
zur Sicherung von Verfahren<br />
Referat J Peter Lukasczyk<br />
„Zum jetzigen Zeitpunkt<br />
stellt das Thema<br />
Risikomanagement ein<br />
unbeachtetes Thema in<br />
der Jugendhilfe dar.“<br />
23
24<br />
der Erkennung und der Bearbeitung. Die<br />
Organisation von kontinuierlichen Verbesserungsprozessen<br />
und eine kontinuierliche<br />
Investition in den Fortbildungs und Personalqualifizierungsbereich<br />
ergänzen diese<br />
Aufgabe.<br />
Öffentlichkeitsarbeit<br />
Abschließend soll dem Thema Öffentlichkeitsarbeit<br />
ein besonderer Stellenwert eingeräumt<br />
werden. Zum einen geht es um die<br />
Schaffung eines öffentlichen Klimas, das<br />
das Hinsehen und Einmischen befördert.<br />
Hierbei geht es nicht um ein typisches Meldeverhalten,<br />
sondern vielmehr um die Entwicklung<br />
einer öffentlichen Haltung, Menschen<br />
in Not anzusprechen und ihnen die<br />
Vermittlung von Hilfsleistungen anzubieten.<br />
Außerdem ist eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit<br />
zum Kinderschutz zu entwickeln,<br />
welche sich an die ortsansässigen<br />
unterschiedlichen Medienbereiche wendet.<br />
Ebenso bedeutsam ist die strukturelle Sicherung<br />
der Erreichbarkeit des Jugendamtes<br />
rund um die Uhr.<br />
Peter Lukasczyk ist Abteilungsleiter für die<br />
Sozialen Dienste im Jugendamt der Landeshauptstadt<br />
Düsseldorf und Unternehmensleiter<br />
von JHC Jugendhilfeconsulting<br />
Kontakt unter:<br />
peter.lukasczyk@stadt.duesseldorf.de;<br />
kontakt@jugendhilfe-consulting.de
Statement zur Abschlussdiskussion J Dr. Erwin Jordan<br />
„Strukturelle und gesetzliche<br />
Rahmenbedingungen für einen<br />
verbesserten Kinderschutz in<br />
Nordrhein-<strong>Westfalen</strong>“<br />
Dr. Erwin Jordan J Institut für Soziale Arbeit e. V., Münster<br />
1. Stichwort: Gesetzliche Rahmenbedingungen<br />
Der Schutzauftrag war und ist für die Kinder-<br />
und Jugendhilfe von jeher ein zentraler<br />
und wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Auch<br />
wenn es nach unserer Verfassungslage das<br />
primäre Recht der Eltern und die ihnen zuförderst<br />
obliegende Pflicht ist, für ihre Kinder<br />
zu sorgen, so gibt es jedoch aus gutem<br />
Grund die staatliche und gesellschaftliche<br />
Verpflichtung, dieses Elternrecht nicht als<br />
schrankenloses, sondern als pflichtgebundenes<br />
Recht anzusehen. Von daher legitimiert<br />
sich auch das staatliche bzw. öffentliche<br />
„Wächteramt“.<br />
Allerdings ist durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz<br />
(KICK)<br />
vom Oktober 2005 hier ein neuer Akzent gesetzt<br />
worden. War das Thema Kinderschutz<br />
bislang nur im einleitenden § 1 SGB VIII und<br />
auch noch allgemein im § 50 Abs. 3 (alt) 13<br />
angesprochen, so ist im Zusammenhang mit<br />
der Weiterentwicklung des SGB VIII (Kinder-<br />
und Jugendhilfe) der Schutzauftrag des Jugendamtes<br />
(und der Träger der freien/privaten<br />
Kinder- und Jugendhilfe) eindeutiger<br />
gefasst worden (vgl. KICK-SGB VIII § 8a).<br />
Mit dieser Gesetzesänderung wird das Jugendamt<br />
zu einer konkreten Einschätzung<br />
des Gefährdungsrisikos im Zusammenwirken<br />
mehrerer Fachkräfte und – bei Vorliegen<br />
gewichtiger Ansatzpunkte für eine<br />
Kindeswohlgefährdung – zur Auswahl der<br />
notwendigen Maßnahmen verpflichtet.<br />
Gleichzeitig soll über Vereinbarungen gesichert<br />
werden, dass alle Träger und Einrichtungen,<br />
die Leistungen nach dem SGB VIII<br />
erbringen, den genannten Schutzauftrag in<br />
entsprechender Weise wahrnehmen.<br />
In der fachlichen Diskussion dieses Gesetzesvorhabens<br />
wurde allgemein akzeptiert,<br />
dass eine Konkretisierung des Schutzauf-<br />
trages der Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll<br />
und erforderlich ist. Zwar wurde auch<br />
schon vor der Verabschiedung des KICK<br />
vielerorts in Jugendämtern daran gearbeitet,<br />
Konkretisierungen, Festlegungen und<br />
Standards in der Kinderschutzarbeit zu entwickeln.<br />
Keinesfalls war dies jedoch schon<br />
flächendeckende Praxis.<br />
Besondere Bedeutung kommt dabei auch<br />
dem Absatz 2 des § 8a (BT-Dr. 15/5616) zu,<br />
der bestimmt, dass „in Vereinbarungen mit<br />
den Trägern und Einrichtungen, die Leistungen<br />
nach diesem Buch erbringen, sicherzustellen<br />
(ist), dass deren Fachkräfte<br />
den Schutzauftrag nach Abs. 1 in entsprechender<br />
Weise wahrnehmen“. Diese Einbeziehung<br />
von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />
bei Trägern und Einrichtungen<br />
erscheint sinnvoll, wenn eine bessere Praxis<br />
möglich werden soll.<br />
Gleichwohl haben diese Bestimmungen in<br />
der Praxis zu Irritationen und unterschiedlichen<br />
Lösungsversuchen geführt. Wenn also<br />
der intendierte Gesetzesauftrag von der Praxis<br />
produktiv aufgenommen werden soll, bedarf<br />
es noch differenzierter organisatorischer,<br />
verfahrensbezogener und inhaltlicher Festlegungen,<br />
damit Überreaktionen vermieden,<br />
Unterlassungen möglichst verhindert werden<br />
und vergleichbare Maßstäbe im praktischen<br />
Handeln Berücksichtigung finden.<br />
Auch auf der politischen Ebene wird dieses<br />
Thema seit einiger Zeit mit höchster Priorität<br />
behandelt (vgl. dazu die Konferenz der<br />
Regierungschefs der Länder mit der Bundeskanzlerin<br />
am 19. Dezember 2007 in<br />
Berlin – "Kindergipfel"). Dieses hohe politische<br />
Interesse – wesentlich auch stimuliert<br />
durch die in den letzten Jahren medial aufbereiteten<br />
dramatischen Kinderschutzfälle –<br />
hat auch eine Reihe weiterer gesetzgeberischer<br />
Aktivitäten ausgelöst:<br />
13 „Hält das Jugendamt zur<br />
Abwendung einer Gefährdung<br />
des Wohls des Kindes<br />
oder des Jugendlichen<br />
das Tätigwerden des Gerichts<br />
für erforderlich, so hat<br />
es das Gericht anzurufen.“<br />
(§50 Abs. 3 Satz 1 – alt)<br />
25
14 In Nordrhein-<strong>Westfalen</strong><br />
wurde für Ärztinnen und<br />
Ärzte, die Früherkennungsuntersuchungendurchführen,<br />
eine positive Meldepflicht<br />
eingeführt. Der<br />
Gesetzentwurf der Landesregierung<br />
wurde am<br />
14.11.2007 vom Landtag<br />
beschlossen im Rahmen<br />
des Artikelgesetzes zur Umsetzung<br />
der EU-Dienstleistungsrichtlinie.<br />
Das Gesetz<br />
ist seit dem 08.12.2007 in<br />
Kraft. Artikel 23 Nr. 2 des<br />
Gesetzes sieht die Änderung<br />
des § 32 a Heilberufsgesetz<br />
vor: Die gesetzliche<br />
Vorschrift beinhaltet eine Ermächtigung,<br />
die Einzelheiten<br />
zum Meldeverfahren in<br />
einer Verordnung zu regeln;<br />
ein entsprechender Entwurf<br />
ist in Vorbereitung. Das Verfahren<br />
soll zunächst in einigen<br />
Pilotkommunen umgesetzt<br />
und bis Ende 2008<br />
flächendeckend eingeführt<br />
werden.<br />
26<br />
J So den Gesetzentwurf der Bundesregierung<br />
zur Erleichterung familiengerichtlicher<br />
Maßnahmen bei Gefährdung<br />
des Kindeswohls (verabschiedet im April<br />
2008).<br />
J Die Regelung eines „verbindlichen Einladewesens"<br />
zur Sicherung der Teilnahme<br />
von Kindern an den Vorsorgeuntersuchungen<br />
(U 1 bis U 9). (hier Gesetze in<br />
einigen Bundesländern). 14<br />
Erwähnenswert ist hier auch für Nordrhein-<br />
<strong>Westfalen</strong> die Änderung des Schulgesetzes<br />
vom August 2006 („Die Sorge für das<br />
Wohl der Schülerinnen und Schüler erfordert<br />
es, jedem Anschein von Vernachlässigung<br />
oder Misshandlung nachzugehen. Die<br />
Schule entscheidet rechtzeitig über die Einbeziehung<br />
des Jugendamtes oder anderer<br />
Stellen“ (§ 42, Abs. 6 Schulgesetz NRW).<br />
Auch wenn gegenwärtig im Rahmen der<br />
Bund-/Ländergespräche weitere gesetzliche<br />
Änderungen diskutiert werden (z. B.<br />
Verpflichtung der Jugendämter zu Hausbesuchen<br />
und Prüfung, ob die Nichtteilnahme<br />
an Vorsorgeuntersuchungen ein Indiz<br />
für mögliche Kindeswohlgefährdung ist;<br />
Überprüfung der Datenschutzregelungen),<br />
besteht m. E. gegenwärtig nicht in erster<br />
Linie Bedarf an weiteren gesetzlichen Aktivitäten<br />
– zur Konkretisierung und Zuspitzung<br />
von Kontroll- und Überwachungsaufgaben<br />
der Jugendämter. Vielmehr scheint<br />
es mir nunmehr geboten, die gesetzgeberischen<br />
Impulse zunächst einmal in die Praxis<br />
umzusetzen und mit Leben zu füllen.<br />
Dies ist noch nicht überall geschehen. Als<br />
Hinweis hierfür mag gelten, dass gegenwärtig<br />
– mehr als zweieinhalb Jahre nach<br />
Inkraftreten des KICK – die in § 8a, Abs. 2<br />
geforderten Vereinbarungen zwischen den<br />
Jugendämtern und den freien Trägern der<br />
Kinder- und Jugendhilfe zur Sicherung des<br />
Kindesschutzes noch nicht flächendeckend<br />
wirksam geworden (in Kraft getreten) sind.<br />
2. Stichwort: Strukturelle Rahmenbedingungen<br />
Ein verbesserter Kinderschutz auf kommunaler<br />
Ebene setzt immer auch eine<br />
Überprüfung und Weiterentwicklung der<br />
strukturellen Rahmenbedingungen der pädagogischen<br />
Arbeit voraus. Und hier zeigen<br />
die Entwicklungen der jüngsten Zeit, dass<br />
vielerorts tatsächlich und zu Recht Handlungsbedarf<br />
gesehen wird. Dieser besteht<br />
insbesondere in folgenden Bereichen:<br />
a) Passgenaue Hilfen für Eltern von<br />
Anfang an<br />
Eltern wollen in aller Regel gute Eltern sein.<br />
An dieser Bereitschaft müssen Hilfen ansetzen.<br />
Deshalb müssen Familien, die<br />
durch besondere Risiken belastet sind, früh<br />
erkannt und erreicht werden. Sie brauchen<br />
passgenaue, verlässliche und kontinuierliche<br />
Unterstützung, Begleitung und Hilfen<br />
– am besten schon während der Schwangerschaft.<br />
So kann erreicht werden, dass<br />
aus den Anforderungen, ein Kind zu versorgen,<br />
keine Überforderung wird. Hierfür<br />
brauchen wir auch ein flächendeckendes<br />
System aufsuchender Hilfen. Die Risiken<br />
für Kinder in hoch belasteten Familien müssen<br />
früher und zuverlässiger erkannt werden.<br />
Einen wichtigen Beitrag hierzu haben<br />
die in Nordrhein-<strong>Westfalen</strong> schon seit<br />
dem Jahre 2001 erprobten und inzwischen<br />
in vielen Kommunen eingeführten "Sozialen<br />
Frühwarnsysteme" geleistet. Die beabsichtigte<br />
Festschreibung der "Einladungen"<br />
mit der alle Eltern dazu angehalten werden,<br />
die ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen<br />
wahrzunehmen (U1 – U9), ist ein weiterer<br />
Baustein in einem Netzwerk präventiver<br />
Früherkennung.<br />
b) Starke inderdisziplinäre Netze für<br />
Kinder und Eltern aufspannen<br />
Häufig mangelt es nicht an Hilfs- und Unterstützungsangeboten,<br />
aber die verfügbaren<br />
Hilfen sind nicht ausreichend vernetzt<br />
und erreichen oft nicht die Familien in riskanten<br />
Lebenssituationen. Erforderlich ist<br />
daher eine engere Zusammenarbeit zwischen<br />
den Fachleuten im Gesundheitswesen,<br />
in der Kinder- und Jugendhilfe, den<br />
Sozialämtern, der Justiz (Familiengerichte)<br />
und der Polizei. Eine verlässliche und berechenbare<br />
Zusammenarbeit aller, die für das<br />
gesunde Aufwachsen unserer Kinder Verantwortung<br />
tragen, muss personenunabhängig<br />
sichergestellt werden.<br />
Hierin steckt noch einige Arbeit, da im konkreten<br />
Vollzug sichtbar wird, dass es hier<br />
Sprach-, Wahrnehmungs- und Deutungsprobleme<br />
gibt, die einem integrierten und<br />
fein abgestimmten kooperativen Handeln
der Jugendhilfe mit dem Gesundheitswesen<br />
– aber auch mit Schule, Polizei und<br />
Gericht noch entgegensteht.<br />
c) Leistungen zur Förderung der<br />
Erziehungsfähigkeit von Familien<br />
bedarfsgerecht ausbauen<br />
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz nennt<br />
schon heute eine Vielzahl von familienfördernden<br />
Leistungen (Beratung, Familienbildung,<br />
Familienfreizeiten und Familienerholung,<br />
Entlastung bei Betreuung und<br />
Versorgung des Kindes in Notsituationen<br />
etc.). Zu Unrecht führen jedoch diese Hilfen<br />
heute im Gesamtspektrum der Kinder- und<br />
Jugendhilfe eher ein „Schattendasein“. Nur<br />
ein verschwindend geringer Teil der rd. 20<br />
Milliarden Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe<br />
in Deutschland kommen diesen<br />
wichtigen präventiven Leistungen zugute.<br />
d) Ein ausreichendes und bedarfsgerechtes<br />
Angebot der Bildung und<br />
Betreuung bereitstellen<br />
Kindertageseinrichtungen sind die erste<br />
Bildungsinstitution der Kinder. Sie bieten<br />
Raum und Zeit, um Kinder früh und individuell<br />
zu fördern und elternhausbedingte<br />
Nachteile auszugleichen. Gerade auch für<br />
überforderte Eltern sind sie eine dringend<br />
benötigte Entlastung und Unterstützung.<br />
Dies bedeutet vor allem, das Angebot an<br />
Ganztagsplätzen deutlich auszubauen –<br />
und diese nicht nur dann zur Verfügung zu<br />
stellen, wenn dies aufgrund der Berufstätigkeit<br />
der Eltern zwingend erforderlich ist.<br />
Hierzu gehört es auch, Kindertageseinrichtungen<br />
im Regelfall so auszustatten, dass<br />
sie den umfänglichen und anspruchsvollen<br />
Auftrag eines „Familienzentrums“ auch<br />
wirklich wahrnehmen können.<br />
e) Ganztagsschulangebot ausbauen<br />
Im Zusammenwirken mit der Jugendhilfe<br />
muss die Schule den Auftrag von Prävention<br />
und Schutz der Kinder vor Vernachlässigung<br />
und Gewalt wahrnehmen. Durch<br />
eine stärkere Präsenz der Jugendhilfe v. a.<br />
an den Grundschulen und durch die Qualifizierung<br />
der Lehrkräfte wird die Verantwortungsgemeinschaft<br />
aus Schule und Jugendhilfe<br />
zum Wohl der Kinder gestärkt.<br />
Hierzu sind verbindliche Vereinbarungen erforderlich.<br />
Präventiver Schutz von Kindern<br />
Statement zur Abschlussdiskussion J Dr. Erwin Jordan<br />
wird zudem auch durch den Ausbau des<br />
Ganztagsschulangebotes und die Sicherstellung<br />
einer preiswerten Übermittagverpflegung<br />
verbessert.<br />
f) Jugendämter gut ausstatten und<br />
damit handlungsfähig machen<br />
Jugendämter brauchen fachliche Kompetenz<br />
und eine angemessene personelle<br />
Ausstattung, damit sie frühzeitig und präventiv<br />
handeln, aber auch das staatliche<br />
Wächteramt im Interesse der Kinder wahrnehmen<br />
können.<br />
In den fachlichen und medialen Erörterungen<br />
prekärer Fälle (Kindeswohlgefährdung)<br />
wird häufig nach dem individuellen Fehlverhalten<br />
gesucht, aber in einem noch viel zu<br />
geringen Maße die Frage eines möglichen<br />
„Organisationsversagens“ geprüft. Auch<br />
die Organisationsstrukturen in unseren Jugendämtern<br />
müssen auf den Prüfstand,<br />
weil hier möglicherweise Barrieren und Einschränkungen<br />
verankert sind, die einer<br />
sachgerechten Wahrnehmung des Schutzauftrages<br />
zuwiderlaufen (blinde Flecken,<br />
Aufbau eines Risikomanagements).<br />
In der Vergangenheit ist an nicht wenigen<br />
Orten der ASD (der Allgemeine Soziale<br />
bzw. Kommunale Sozialdienst), der Dienst<br />
also, der im Wesentlichen als Außendienst<br />
des Jugendamtes bei Gefährdung des Kindeswohls<br />
und der Sicherung und dem<br />
Schutz von Kindern tätig zu werden hat,<br />
personell ausgedünnt worden bzw. war von<br />
jeher unterbesetzt und mit einer großen<br />
Fallzahl belastet, obschon der ASD im doppelten<br />
Wortsinn der „Schlüsseldienst“ der<br />
Kinder- und Jugendhilfe ist: er leitet Prozesse<br />
ein und begleitet Kinder, Jugendliche<br />
und Familien. Die hier verfügbare und vorfindbare<br />
Eingangsqualität entscheidet nicht<br />
selten über den gelingenden Verlauf von<br />
Unterstützungen und Hilfeprozessen.<br />
Durch die in vielen Kommunen gegenwärtig<br />
diskutierten bzw. auch schon vollzogenen<br />
Personalaufstockungen müssen bessere<br />
Voraussetzungen geschaffen werden,<br />
damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
im ASD der anspruchsvoller gewordenen<br />
Kinderschutzaufgabe gerecht werden<br />
können – auch als Partner für die Fachkräfte<br />
und die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe.<br />
„Hierzu gehört es auch,<br />
Kindertageseinrichtungen<br />
im Regelfall<br />
so auszustatten, dass<br />
sie den umfänglichen<br />
und anspruchsvollen<br />
Auftrag eines ‚Familienzentrums‘<br />
auch wirklich<br />
wahrnehmen können.“<br />
27
„Bei alledem gilt es jedoch<br />
zu beachten, dass<br />
ein guter Kinderschutz<br />
sich immer in einer<br />
Balance von Dienstleistung<br />
(Förderung)<br />
und Schutzauftrag (bei<br />
Kindeswohlgefährdung)<br />
realisiert.“<br />
28<br />
In diesen Zusammenhang gehört auch,<br />
dass – um die anspruchsvolle, schwierige<br />
und auch persönlich herausfordernde Tätigkeit<br />
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
in diesem Dienst zu würdigen – die Wertschätzung<br />
für den Allgemeinen Sozialen<br />
Dienst wachsen muss. Dies gilt auch mit<br />
Blick auf Eingruppierung und Bezahlung<br />
der hier tätigen Fachkräfte.<br />
Bei alledem gilt es jedoch zu beachten,<br />
dass ein guter Kinderschutz sich immer in<br />
einer Balance von Dienstleistung (Förderung)<br />
und Schutzauftrag (bei Kindeswohlgefährdung)<br />
realisiert. Eine Verkürzung des<br />
Schutzauftrages auf Intervention und Eingriff<br />
wäre nicht nur fachpolitisch ein Rückschritt<br />
gegenüber dem bisher erreichten,<br />
es würde auch die Bereitschaft von hilfsbedürftigen<br />
Eltern beeinträchtigen, sich frühzeitig<br />
an die Kinder- und Jugendhilfe zu<br />
wenden, weil die Angst vor dem Eingriff<br />
und dem Verlust der elterlichen Autonomie<br />
hier überwiegen könnte.<br />
3. Professionelle Rahmenbedingungen<br />
Schließlich sollten bei einer Diskussion<br />
über Wege und Möglichkeiten für einen<br />
verbesserten Schutz von Kindern vor Vernachlässigung,<br />
Gewalt, Misshandlung und<br />
sexuellem Missbrauch auch die professionellen<br />
Rahmenbedingungen in den Blick<br />
genommen werden.<br />
Unter dieser Perspektive ist die Profession<br />
(sind die sozialpädagogischen Fachkräfte)<br />
zunächst selbst gefordert, ihre eigenen<br />
Praxen, Routinen und Verfahrensweisen auf<br />
den Prüfstand zu stellen. In diesem Zusammenhang<br />
gilt es, insbesondere eine Organisationskultur<br />
zu entwickeln, die das Handeln<br />
in diesem schwierigen und prekären<br />
Feld auch als ständig sich fortentwickelnde<br />
Suchbewegung möglich sein lässt. Anstelle<br />
eines formalisierten Abarbeitens von<br />
Dienstanweisungen, Vorgaben und Checklisten,<br />
ist hier Reflexivität und Offenheit gefragt.<br />
Dazu gehört denn auch die Schärfung des<br />
sozialpädagogischen Blicks, d. h. die Ausbildung<br />
einer expliziten und dezidiert "kindbezogenen"<br />
Perspektive. Ich habe hier gelegentlich<br />
den Eindruck, dass insbesondere<br />
auch durch die Durchsetzung und allgemeine<br />
Verbreitung eines „systemischen Ansatzes“<br />
die spezifische und besondere Situation<br />
des Kindes nicht immer herausgehoben<br />
wahrgenommen und der Handlungsauftrag<br />
nicht immer aus den Bedürfnissen und<br />
Deprivationen des Kindes heraus abgeleitet<br />
wird.<br />
Zu der Weiterentwicklung der professionellen<br />
Handlungsbedingungen gehört es auch,<br />
mehr Handlungssicherheit zu gewinnen in<br />
den schwierigen Situationen, in denen einerseits<br />
die Wahrnehmung der Bedürfnisse<br />
und der Situation des Kindes nicht negiert,<br />
andererseits aber die Kommunikation mit<br />
den sorgeverpflichteten Personen nicht in<br />
eine konfrontierende und streitende Auseinandersetzung<br />
abgleiten werden darf (hier<br />
mehr Sicherheit durch Methodentrainings).<br />
Und letztlich gehört in den Bereich der professionellen<br />
Qualifizierung auch ein offenerer<br />
Umgang mit „Kinderschutzfehlern“.<br />
Müssen solche Fehler – die nie ganz vermieden<br />
werden können – geleugnet, vertuscht<br />
und überspielt werden, so kann sich<br />
daraus kein Entwicklungsprozess („aus<br />
Fehlern lernen“) ergeben.<br />
Dies ist natürlich ein schwieriges Unterfangen,<br />
da in der Außenwahrnehmung (Politik,<br />
Medien) von den Institutionen und den in<br />
ihnen tätigen Fachkräften fehlerfreies und<br />
zielführendes Handeln erwartet wird. Zumal<br />
wenn dann noch disziplinarische oder<br />
sogar strafrechtliche Konsequenzen drohen,<br />
ist dies keine gute Voraussetzung und<br />
Basis für einen offenen Umfang mit Fehlern.<br />
Dennoch bleibt richtig, dass sozialpädagogisches<br />
Handeln im Problemfeld Kinderschutz<br />
immer auch eine "gefahrengeneigte"<br />
Tätigkeit ist, in der – aus welchen<br />
Gründen auch immer – nicht immer das<br />
Richtige zum richtigen Zeitpunkt getan<br />
wird. Nicht die vergebliche Fiktion von Perfektion<br />
und Unfehlbarkeit hilft hier weiter,<br />
sondern der produktive Umgang mit dem<br />
eigenen Versagen verbunden mit dem Versprechen,<br />
besser werden zu wollen. Dass<br />
dies ein gelingender Weg sein kann, zeigt<br />
auch die Parallele der gegenwärtig im medizinischen<br />
Bereich offen geführten Diskussion<br />
über "ärztliche Kunstfehler" und über<br />
die richtigen und geeigneten Wege, diese<br />
zu minimieren.
4. Ergebnis<br />
Alles in allem stellen die neuen Anforderungen<br />
zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung<br />
ein herausforderndes, ein<br />
anspruchsvolles – auch nicht ohne zusätzliches<br />
Ressourcen zu habendes – gleichwohl<br />
aber sinnvolles und notwendiges<br />
Handlungsprogramm dar.<br />
Damit hat der Kinderschutz – aus meiner<br />
Sicht – drei tragende Elemente:<br />
J Die Prävention muss verlässlich und tragfähig<br />
gestaltet werden,<br />
J mit Hilfe des Frühwarnsystems sind tragfähige<br />
Netze für Familien insbesondere in<br />
schwierigen Lebenslagen zu knüpfen,<br />
J dort, wo Intervention notwendig ist, ist sie<br />
offensiv und produktiv zu gestalten.<br />
Das sind „drei Baustellen“, auf denen wir<br />
noch reichlich Arbeit haben, bevor wir sagen<br />
können, dass wir das uns Mögliche getan<br />
haben, um möglichst für alle Kinder in<br />
unserer Gesellschaft Mindestbedingungen<br />
für ein gutes und gelingendes Aufwachsen<br />
sicher stellen zu können.<br />
Statement zur Abschlussdiskussion J Dr. Erwin Jordan<br />
29
30<br />
Statements zur<br />
Podiumsdiskussion<br />
Heike Pape J<br />
Städtetag NRW<br />
J Forderungen nach einer Vereinheitlichung<br />
der Vereinbarungen nach § 8a SGB VIII<br />
steht der Städtetag skeptisch gegenüber.<br />
Zwar ist zu beobachten, dass der Abschluss<br />
der Vereinbarungen vor Ort mühsam<br />
und zeitaufwändig war, gleichzeitig<br />
wurden die damit verbundenen Diskussionsprozesse<br />
von vielen Beteiligten als<br />
fruchtbar und notwendig für eine verbesserte<br />
Kooperation wahrgenommen.<br />
J Nach Ansicht des Städtetages besteht<br />
über die bestehenden Gesetze und das<br />
laufende Gesetzesverfahren zur Erleichterung<br />
familiengerichtlicher Maßnahmen hinaus<br />
kein weitergehender bundes- oder landesgesetzgeberischer<br />
Handlungsbedarf.<br />
Die vorhandenen Gesetze sind zu nutzen<br />
und mit Leben zu füllen. Ein lückenloser<br />
Schutz wird nicht realisierbar sein, Eltern<br />
dürfen seitens des Staates nicht unter Generalverdacht<br />
gestellt werden.<br />
J Der ASD nimmt kommunale Kernaufgaben<br />
insbesondere für den Kindesschutz<br />
wahr und ist daher ausreichend auszustatten<br />
und qualitativ zu stärken. Verbindliche<br />
Kooperationen zwischen den Hilfesystemen<br />
sind notwendig und weiter zu<br />
entwickeln.<br />
J Die fachlich begrüßenswerte Forderung<br />
nach einer systematischen Fehleranalyse<br />
bei Fällen, in denen der Kindesschutz<br />
nicht ausreichend gelungen ist,<br />
trifft auf eine öffentliche Diskussion, die<br />
bereits jetzt fehlerzentriert ist und das<br />
Image der Jugendämter erheblich gefährdet.<br />
Die Normalität der Arbeit der Jugendämter,<br />
der erfolgreiche Kindesschutz und<br />
das differenzierte Angebot von Hilfen in<br />
schwierigen Lebenslagen sowie auch die<br />
Komplexität und Schwierigkeiten dieser<br />
Arbeit sind mehr als bisher öffentlichkeitswirksam<br />
darzustellen.<br />
Maria Loheide J<br />
LAG Freie Wohlfahrtspflege<br />
J Die Fachtagung hat gezeigt, dass der Dialog<br />
zwischen den unterschiedlichen<br />
Systemen notwendig ist und fortgesetzt<br />
werden muss – und zwar auf den unterschiedlichen<br />
Verantwortungs- und<br />
Handlungsebenen. Wir brauchen zudem<br />
verstärkte Bemühungen für eine systematische<br />
und strukturierte Kooperation<br />
der unterschiedlichen Organisationen (Jugendhilfe,<br />
Schule, Jugendamt, Gesundheitsamt,<br />
Gerichte etc.).<br />
J Gute Beispiele für gelingende Kooperation<br />
und erfolgreiche Kinderschutzsysteme<br />
müssen weiter verbreitert werden und<br />
Nachahmer finden.<br />
J Die kommunalen Kindesschutzsysteme<br />
sind in ihrer Qualität sehr unterschiedlich<br />
ausgestaltet. Hier muss es zu einem<br />
gleichmäßigen Ausbau und einer Verständigung<br />
über qualitative Standards kommen.<br />
J Die Qualität der Kinderschutzsysteme ist<br />
weiter zu entwickeln, z.B. durch eine systematische<br />
Evaluation und Auswertung<br />
der Vereinbarungen nach § 8a SGB VIII<br />
und der Modelle früher Hilfen.<br />
J Ein Kindesschutzgesetz auf Landesebene,<br />
das allgemeine Formulierungen enthält,<br />
ist nicht zielführend. Notwendig sind<br />
aber verbindliche Verabredungen und Verfahren<br />
über das vorhandene Handlungskonzept<br />
der Landesregierung hinaus.
Forum 1: „0 – 3“<br />
Kindesschutz bei Säuglingen und Kleinkindern. Möglichkeiten<br />
der Kooperation zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe<br />
Moderation: Dr. Rudolf Lange J Gesundheitsamt Kreis Mettmann<br />
Begleitung: Almut Wiemers J Diakonisches Werk <strong>Westfalen</strong><br />
Beiträge: Alexandra Sann J Nationales Zentrum Frühe Hilfen, München<br />
Forum 1 J „0 – 3“<br />
31
Forum 1 J „0 – 3“<br />
33
Forum 1 J „0 – 3“<br />
35
Forum 1 J „0 – 3“<br />
37
Forum 1 J „0 – 3“<br />
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Forum 1 J „0 – 3“<br />
41
Forum 1 J „0 – 3“<br />
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Forum 1 J „0 – 3“<br />
45
Forum 1 J „0 – 3“<br />
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Forum 1 J „0 – 3“<br />
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Forum 1 J „0 – 3“<br />
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Forum 1 J „0 – 3“<br />
53
Forum 1 J „0 – 3“<br />
55
Forum 1 J „0 – 3“<br />
57
Forum 2: „3 – 6“<br />
Kindesschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />
und Jugendamt<br />
Moderation: Martina Kriener J Landesjugendamt <strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong><br />
Begleitung: Dr. Remi Stork J Diakonisches Werk <strong>Westfalen</strong><br />
Beiträge: Dr. Annette Frenzke-Kulbach J Stadt Bochum<br />
Birgit Redzio-Wehr J Stadt Bochum<br />
Fast alle Kinder im Vorschulalter besuchen<br />
inzwischen eine Tageseinrichtung. Für die<br />
Erziehenden dort stellt sich die Herausforderung,<br />
Gefährdungshinweise bei Kindern<br />
im Vorschulalter wahrzunehmen und in notwendige<br />
Hilfen zu vermitteln. Mit dem § 8a<br />
SGB VIII war u. a. die Herausforderung verbunden,<br />
zu verbindlichen Kooperationsabsprachen<br />
zwischen Kindertagesbetreuung<br />
und Jugendamt zu kommen. Wie dies, ggf.<br />
auch unter Einbeziehung weiterer Unterstützungssysteme<br />
gelingen kann, war Thema<br />
dieses Forums.<br />
Dabei standen folgende Fragen im Mittelpunkt:<br />
J Welche Erfahrungen werden mit der Umsetzung<br />
des § 8a SGB VIII gemacht?<br />
J Wie nehmen Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung<br />
Gefährdungssituationen<br />
von Kindern wahr?<br />
J Welche Unterstützungsmöglichkeiten und<br />
Hilfeangebote können bei Gefährdungssituationen<br />
von Kindern angeboten werden?<br />
J Wie wird Kindesschutz gemeinsam von<br />
Kindertagesbetreuung und Jugendamt<br />
(und ggf. anderen) gestaltet?<br />
J Welche Herausforderungen und Perspektiven<br />
bestehen für einen verbesserten<br />
Kindesschutz im Vorschulalter?<br />
J Welche Herausforderungen werden in der<br />
Kindertagesbetreuung gesehen?<br />
J Welche Qualifizierungsbedarfe gibt es<br />
bzgl. der Kooperation und Netzwerkgestaltung?<br />
J Was brauchen wir für einen verbesserten<br />
Kinderschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />
und Jugendamt?<br />
Als Referentinnen führten Birgit Redzio-<br />
Wehr (Kindertageseinrichtung der Stadt<br />
Bochum) und Dr. Annette Frenzke-Kulbach<br />
(Steuerungsunterstützung, Qualitätsent-<br />
wicklung und Schutzbeauftragte nach § 8a<br />
SGB VIII beim Jugendamt der Stadt Bochum)<br />
ins Thema ein.<br />
Es folgen:<br />
I. Kinderschutz im Schnittfeld von Kindertagesbetreuung<br />
und Jugendamt<br />
II. Flussdiagramm zum Verfahrensablauf<br />
Kindertageseinrichtungen; Bochum<br />
III. Zusammenfassung der Diskussion<br />
IV. Anlage: Vorlage „Hilfskonzept“; Bochum<br />
I. Kinderschutz im Schnittfeld von<br />
Kindertagesbetreuung und Jugendamt<br />
1. Einleitung<br />
In der jüngsten Vergangenheit wurden zunehmend<br />
häufiger Fälle von Kindesmisshandlung<br />
und Vernachlässigung diskutiert.<br />
In der Wahrnehmung der öffentlichen<br />
Meinung nehmen solche Delikte ständig<br />
zu. Die Polizeiliche Kriminalstatistik für die<br />
Bundesrepublik Deutschland, geführt vom<br />
BKA Wiesbaden, kann dies nicht bestätigen.<br />
Die Zahl der Kindestötungen sinkt. Im<br />
Jahr 2006 wurden 202 Kinder Opfer von<br />
Tötungsdelikten. Das waren 88 weniger als<br />
im Jahr 2000. In 37 Fällen handelte es sich<br />
um Mord, in 55 Fällen um Totschlag und in<br />
12 Fällen um Körperverletzung mit Todesfolge.<br />
Man kann davon ausgehen, dass<br />
ca. 150 Kinder pro. Jahr an den Folgen von<br />
Vernachlässigung und Misshandlung sterben.<br />
Kritisch anzumerken bleibt jedoch,<br />
dass zwar die tatsächlichen Zahlen nicht<br />
gestiegen sind, jedoch die Geburten rückläufig<br />
sind; somit also die Zahlen proportional<br />
durchaus gestiegen sind. In der Diskussion<br />
um geeignete Schutzmaßnahmen<br />
fällt auf, dass neben sozialen, psychischen<br />
und wirtschaftlichen Risikofaktoren auch<br />
das HelferInnennsystem als solches ein Ri-<br />
Forum 2 J „3 – 6“<br />
59
60<br />
sikofaktor darstellen kann. Nämlich immer<br />
dann, wenn Fehleinschätzungen erfolgen,<br />
und keine geeigneten Maßnahmen folgen<br />
bzw. mangelnde Personalressourcen ein<br />
adäquates Handeln verhindern.<br />
Mit Einführung des § 8a SGB VIII sind seit<br />
dem 01.10.2005 klare Handlungsweisen<br />
im Umgang mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung<br />
allen Fachkräften der öffentlichen<br />
und freien Träger der Jugendhilfe<br />
auferlegt worden. Die öffentliche Jugendhilfe<br />
hat dabei die Planungs- und Gesamtverantwortung<br />
für die Umsetzung des Schutzauftrages.<br />
Unter Berücksichtigung aller<br />
Beteiligten sind Verträge zur Sicherstellung<br />
des Schutzauftrages zu schließen, die auf<br />
drei Säulen basieren:<br />
1. Aufbau von örtlichen Kommunikationsstrukturen<br />
2. Aufbau von örtlichen Kooperationsstrukturen<br />
3. Aufbau einer örtlichen Personalentwicklung.<br />
Das Bochumer Kinderschutzkonzept basiert<br />
auf der Grundlage der Kommunikation<br />
und Kooperation. Allen Abteilungen des Jugendamtes<br />
stehen Bearbeitungsverfahren<br />
im Umgang mit Kindeswohlgefährdung zur<br />
Verfügung. Auf der Grundlage von Schnittstellenanalysen<br />
sind die Bearbeitungsverfahren<br />
zum Sozialen Dienst klar definiert. Die<br />
Ergebnisse fanden Berücksichtigung in Kooperationsgesprächen<br />
mit den freien Trägern<br />
der Jugendhilfe mit dem Ziel, einheitliche<br />
Verfahren zwischen öffentlichen und freien<br />
Trägern der Jugendhilfe im Umgang mit Kindeswohlgefährdung<br />
zu implementieren.<br />
2. Amtsinterne Verfahren nach § 8a<br />
SGB VIII<br />
Die Verfahren im Umgang mit Verdacht auf<br />
Kindeswohlgefährdung sind bereits 2004<br />
unter Moderation des Landesjugendamtes<br />
<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> im Jugendamt Bochum<br />
erarbeitet worden. Nach In-Kraft-Treten des<br />
§ 8a SGB VIII hat das Jugendamt Bochum<br />
in allen Abteilungen Qualitätsentwicklungsprozesse<br />
in Gang gesetzt, so bei<br />
J den Kindertageseinrichtungen/ Tagespflege,<br />
J der Offenen Kinder- und Jugendarbeit/<br />
Begrüßungsteam,<br />
J den Erziehungsberatungsstellen/ Fachstelle<br />
Sorgerecht / Clearing und Diagnostikstelle.<br />
2.1. Die Bearbeitungsverfahren der Kindertagesstätten<br />
nach § 8a SGB VIII<br />
Tageseinrichtungen für Kinder der Träger<br />
der freien und öffentlichen Jugendhilfe haben<br />
aufgrund ihres gesetzlichen Auftrages<br />
und den Bildungsvereinbarungen zahlreiche<br />
Anknüpfungspunkte zum Umgang mit<br />
Kindeswohlgefährdung. Als eine niederschwellige<br />
Institution haben sie besonders<br />
gute Chancen, den Schutz des Kindes in<br />
Kooperation mit den Eltern umzusetzen.<br />
Durch die Bildungsvereinbarungen findet<br />
eine systematische Beobachtung und <strong>Dokumentation</strong><br />
kindlicher Entwicklungsprozesse<br />
statt, die bei der Abschätzung des<br />
Gefährdungsrisikos fachlich einfließen sollte.<br />
Die Bearbeitungsverfahren wurden mit<br />
allen Leitungskräften und weiteren Fachkräften<br />
der Abteilung definiert. Der Prozess<br />
wurde von der Leitungsebene gesteuert<br />
und moderiert. Im Rahmen der MitarbeiterInnenbeteiligung<br />
wurden alle 15 städtischen<br />
Kindertageseinrichtungen beteiligt.<br />
Verfahren<br />
Zusammenwirken mehrer Fachkräfte:<br />
Erhält eine Fachkraft der Tageseinrichtung<br />
für Kinder eine Mitteilung bzw. macht<br />
sie eigene Beobachtungen über eine mögliche<br />
Kindeswohlgefährdung, so schätzt<br />
sie das Gefährdungsrisiko mit mindestens<br />
einer weiteren Fachkraft im kollegialen<br />
Austausch ein. Können die Verdachtsmomente<br />
nicht entkräftet werden, wird die<br />
Gefährdung zusätzlich mit der Leitung der<br />
Tageseinrichtung für Kinder in kollegialer<br />
Reflexion unter Hinzuziehung des Kriterienkataloges<br />
zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung<br />
abgestimmt. Besteht<br />
der Verdacht auf sexualisierte Gewalt, ist<br />
grundsätzlich eine Fachberatungsstelle einzuschalten.<br />
Hinzuziehen einer „insofern erfahrenen<br />
Fachkraft“: Die Fachkräfte der Tageseinrichtung<br />
für Kinder haben bei der Einschätzung<br />
des Gefährdungsrisikos eine „insofern<br />
erfahrene Fachkraft“ der städtischen Erziehungsberatungsstellen<br />
hinzuzuziehen. Bei<br />
einer akuten Kindeswohlgefährdung ist unverzüglich<br />
der Soziale Dienst des Jugend-
amtes einzuschalten (mündlich und später<br />
schriftlich). Der Soziale Dienst übernimmt in<br />
diesem Fall umgehend die Fallverantwortung.<br />
Er muss die Maßnahmen der Inobhutnahme<br />
regeln bzw. Schutzmaßnahmen<br />
einleiten und informiert die Tageseinrichtung<br />
für Kinder zeitnah über die getroffenen<br />
Maßnahmen. Bei einer so genannten mittleren<br />
Kindeswohlgefährdung erarbeitet die<br />
Fachkraft der Tageseinrichtung für Kinder<br />
in Kooperation mit der „insofern erfahrenen<br />
Fachkraft“ ein Hilfskonzept, welches mit<br />
den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten<br />
erörtert wird (siehe Anlage).<br />
Beteiligung der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten<br />
und der Kinder:<br />
Fachkräfte der Tageseinrichtungen für Kinder<br />
kooperieren grundsätzlich mit den Personensorge-<br />
oder Erziehungsberechtigten.<br />
Sie stellen sicher, dass diese im Rahmen<br />
der Risikoeinschätzung beteiligt werden,<br />
sofern der wirksame Schutz nicht in Frage<br />
gestellt ist. Die Transparenz bisheriger<br />
Beobachtungen und das Angebot von notwendigen<br />
und geeigneten Hilfen sind Gegenstand<br />
des persönlichen Gesprächs.<br />
Falls notwendig und geeignet, installiert der<br />
Soziale Dienst des Jugendamtes nach Prüfung<br />
eine Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27<br />
ff. SGB VIII. Die Fachkräfte des Sozialen<br />
Dienstes des Jugendamtes informieren die<br />
Tageseinrichtungen für Kinder über Art und<br />
Umfang der Maßnahmen. Die Tageseinrichtungen<br />
für Kinder werden ebenfalls über<br />
die Beendigung einer Hilfe in Kenntnis gesetzt,<br />
vorausgesetzt sie waren prozessbeteiligt<br />
(Flussdiagramm siehe Anlage).<br />
Schutzkonzept: Falls notwendig, werden<br />
die Tageseinrichtungen für Kinder am<br />
Schutzkonzept beteiligt, welches in Kooperation<br />
mit dem Sozialen Dienst des Jugendamtes<br />
und den Eltern erstellt wird.<br />
Sie übernehmen damit eine Kontrollfunktion<br />
und informieren den Sozialen Dienst<br />
des Jugendamtes bei Nichteinhaltung der<br />
getroffenen Verabredungen. Der Soziale<br />
Dienst des Jugendamtes hat die Federführung.<br />
Er beteiligt die Fachkräfte der Tageseinrichtungen<br />
für Kinder und informiert diese<br />
regelmäßig.<br />
Informationen an das Jugendamt: Falls<br />
die angenommenen Hilfen nicht ausreichend<br />
erscheinen oder von den Personensorge-<br />
oder Erziehungsberechtigten nicht<br />
angenommen werden, um die Gefährdung<br />
abzuwenden, informiert die Leitung der Tageseinrichtung<br />
für Kinder den Sozialen<br />
Dienst des Jugendamtes zeitnah. Die Personensorge-<br />
oder Erziehungsberechtigten<br />
werden von den Fachkräften der Tageseinrichtung<br />
für Kinder vorab informiert mit<br />
dem Ziel, dass sich diese von allein an den<br />
Sozialen Dienst des Jugendamtes wenden.<br />
In einem Kooperationsgespräch zwischen<br />
Tageseinrichtung für Kinder und dem Sozialen<br />
Dienst des Jugendamtes werden die<br />
Informationen über das bisherige Verfahren<br />
und die Gefährdungseinschätzung mitgeteilt.<br />
Die Tageseinrichtungen für Kinder<br />
übergeben dem Sozialen Dienst des Jugendamtes<br />
alle schriftlichen <strong>Dokumentation</strong>en,<br />
die zur Risikoeinschätzung erforderlich<br />
sind. Der Soziale Dienst des Jugendamtes<br />
verändert bzw. erstellt einen Hilfeplan. Die<br />
Tageseinrichtungen für Kinder werden über<br />
die Art und Umfang der Hilfen in Kenntnis<br />
gesetzt. Die Fachkraft des Sozialen Dienstes<br />
des Jugendamtes übernimmt im Rahmen<br />
des Case-Managements umgehend<br />
die Fallverantwortung.<br />
Kriterienkatalog zur Einschätzung einer<br />
Kindeswohlgefährdung: Das Jugendamt<br />
überarbeitet regelmäßig den Kriterienkatalog<br />
zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung.<br />
Das Instrument wird den Tageseinrichtungen<br />
für Kinder zur Verfügung<br />
gestellt und bietet die Grundlage für die Erstellung<br />
einer Gefährdungseinschätzung<br />
(siehe Anlage).<br />
2.2 Instrumente<br />
In Kooperation mit den Fachkräften der<br />
Kindertageseinrichtungen wurden Instrumente<br />
erarbeitet, um eine einheitliche <strong>Dokumentation</strong><br />
und Herangehensweise zu gewährleisten<br />
(siehe Anlage).<br />
J Meldebewertung,<br />
J Vordruck – kollegiale Reflexion,<br />
J Kriterienkatalog zur Einschätzung von<br />
Kindeswohlgefährdung,<br />
J Protokollvordruck-Elterngespräch,<br />
J Hilfskonzept.<br />
2.3 Schnittstelle zum Sozialen Dienst<br />
Der Soziale Dienst hat im Rahmen des<br />
staatlichen Wächteramtes die Aufgabe bei<br />
Kindeswohlgefährdung Kinderschutzmaß-<br />
Forum 2 J „3 – 6“<br />
61
62<br />
nahmen einzuleiten. Aufgrund unterschiedlicher<br />
Arbeitsaufträge, Möglichkeiten und<br />
Grenzen der handelnden AkteurInnen ist<br />
es notwendig, dass die „Spielregeln“ an<br />
den Schnittstellen klar definiert und schriftlich<br />
fixiert werden. Das Jugendamt Bochum<br />
hat mit den AbteilungsleiterInnen, allen<br />
Leitungskräften des Sozialen Dienstes,<br />
den Kindertageseinrichtungen und weiteren<br />
Fachkräften die Schnittstellen beschrieben.<br />
Die Moderation hierzu wurde von Fachkräften<br />
des Landesjugendamtes <strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong><br />
übernommen<br />
Folgende Schnittstellen wurden beschrieben<br />
(siehe Anlage):<br />
1. Nicht-Erreichung der definierten Ziele<br />
2. Akute Kindeswohlgefährdung.<br />
3. Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung<br />
– Kooperation mit den freien<br />
Trägern der Jugendhilfe<br />
Das Jugendamt Bochum hat mit den freien<br />
Trägern der Jugendhilfe eine Generalvereinbarung<br />
zur Sicherstellung des Schutzauftrages<br />
geschlossen. Ergänzend hierzu<br />
wurden für einige „sensible“ Handlungsfelder<br />
„arbeitsfeldspezifische Sondervereinbarungen“<br />
erarbeitet. Die Vereinbarung regelt<br />
folgende Inhalte:
Über die entsprechenden Gremien (z. B. AG nach § 78 SGB VIII) wurden MultiplikatorInnen<br />
benannt, um folgende Schnittstellengespräche zu führen:<br />
Das Jugendamt Bochum hat die freien Träger<br />
der Jugendhilfe aufgefordert, selbst „insofern<br />
erfahrene Fachkräfte“ zu benennen,<br />
die im Rahmen der Risikoeinschätzung zu<br />
beteiligen sind.<br />
Um trägerübergreifende, qualitätsgesicherte<br />
Verfahren im Umgang mit dem Verdacht<br />
auf Kindeswohlgefährdung zu gewährleisten,<br />
hat das Bochumer Jugendamt die Verbände<br />
aufgefordert eine Person zu benennen,<br />
die als Schutzfachkraft beim Träger<br />
bzw. in die Trägergruppen fungiert. Hierfür<br />
erhält der jeweilige Verband eine entsprechende<br />
finanzielle Entschädigung.<br />
Forum 2 J „3 – 6“<br />
63
64<br />
Beispiel:
Um den Schutzauftrag auch für die große<br />
Risikogruppe, Kinder im Alter von<br />
0 – 3 Jahren wahrnehmen zu können, hat<br />
das Sozialdezernat eine Arbeitsgruppe; bestehend<br />
aus VertreterInnen des Jugend-<br />
und des Gesundheitsamts; beauftragt; ein<br />
Präventionskonzept für Eltern von Kindern<br />
im Alter von 0 – 3 Jahren zu entwickeln. Die<br />
Arbeitsgruppe fand Unterstützung durch<br />
eine externe Moderatorin, der die externe<br />
Projektleitung und Moderation übertragen<br />
wurde. Das Präventionskonzept besteht<br />
aus zwei Säulen. Das Begrüßungsteam<br />
besucht im Rahmen von primärer Prävention<br />
alle Eltern von Neugeborenen. Die Eltern<br />
erhalten Begrüßungsgeschenke und<br />
interessante Informationen sowie einen<br />
Gutschein für die Bochumer Elterschule,<br />
welche von der Familienbildungsstätte angeboten<br />
wird.<br />
Der zweite Baustein bezieht sich auf den<br />
Ausbau eines sozialen Frühwarnsystems.<br />
Nach dem Prinzip „wahrnehmen – warnen<br />
– handeln“ soll Familien mir riskanten Entwicklungen<br />
möglichst früh Unterstützung<br />
und Beratung angeboten werden. Die Installierung<br />
eines Kindernotrufes bei der Feu-<br />
erwehr steht für alle BürgerInnenn, Kinder<br />
und Jugendlichen sowie Fachkräfte für<br />
eine Meldung bei Kindeswohlgefährdung<br />
zur Verfügung. Eine weitere Meldemöglichkeit<br />
besteht durch die Bereitstellung eines<br />
einheitlichen Meldebogens, der allen Fachkräften<br />
der Jugendhilfe und Medizin zur<br />
Verfügung steht.<br />
Das Thema Kinderschutz ist als Querschnittsaufgabe<br />
im Jugendamt angesiedelt.<br />
Die Kooperation zwischen dem<br />
Gesundheits- und dem Jugendamt ist sichergestellt.<br />
Feste AnsprechpartnerInnen<br />
und verschiedene Arbeitskreise ermöglichen<br />
die notwendige Kommunikations- und<br />
Kooperationsstruktur, um den Kinderschutz<br />
in einer Gemeinschaftsverantwortung angemessen<br />
gewährleisten zu können.<br />
Forum 2 J „3 – 6“<br />
65
66<br />
II. Flussdiagramm: Verfahrensablauf bei Kindertageseinrichtungen, Bochum<br />
Fortsetzung nächste Seite.
III. Zusammenfassung der Diskussion<br />
„Erfahrungen und Herausforderungen<br />
bzgl. eines gelingenden<br />
Kinderschutzes“:<br />
Im Folgenden werden die zentralen Themen<br />
benannt, die die TeilnehmerInnen des<br />
Forums formulierten und diskutierten. Das<br />
Forum hat sich zu ca. 2/3 aus Mitarbeiterinnen<br />
aus Kindertageseinrichtungen, zu 1/6<br />
aus MitarbeiterInnen aus Jugendämtern<br />
und zu 1/6 aus VertreterInnen von Verbänden<br />
und überörtlichen Behörden zusammengesetzt.<br />
J Einheitliche Definitionen und<br />
Standards:<br />
Einige der Forumsteilnehmerinnen forderten<br />
eine einheitliche Definition von Standards<br />
(z. B. Definition einer insoweit erfahrenen<br />
Fachkraft). Die Uneinheitlichkeit in<br />
Standards und Verfahren führe zu Irritationen<br />
und diene nicht unbedingt der Weiterentwicklung<br />
eines wirksamen Kinderschutzes.<br />
J Standardisierte Verfahren nach § 8a<br />
SGB VIII:<br />
Ähnliches wurde bzgl. der Verfahren im<br />
Rahmen der Vereinbarungen zu § 8a SGB<br />
VIII gefordert. Deutlich wurde auch hier die<br />
große Unterschiedlichkeit kritisiert, ob und<br />
welche Verfahren vorhanden sind. Als sinnvoll<br />
erachtet wurden einheitliche Rahmenstandards,<br />
die örtlichen Spielraum lassen.<br />
Deutlich wurde aber auch, dass die Kommunen<br />
z. T. ihre „eigenen Wege“ gehen<br />
wollen.<br />
J Ausreichende Personalressourcen:<br />
Die vorhandenen Personalressourcen werden<br />
für zu knapp für zusätzliche Aufgaben<br />
wie kollegiale Beratung/Reflexion oder <strong>Dokumentation</strong><br />
gehalten. Ausreichende Personalressourcen<br />
sind Voraussetzung für einen<br />
wirksamen Kinderschutz.<br />
J Qualifizierung der Fachkräfte:<br />
Die Qualifizierung zum Kinderschutz wird<br />
vor allem von den Mitarbeiterinnen der Kindertageseinrichtungen<br />
als gut und weiterhin<br />
als notwendig erachtet.<br />
J Organisationsentwicklung in Kindertageseinrichtungen:<br />
Formuliert wurde der Bedarf an weiterer<br />
Optimierung der Arbeit in den Kindertageeinrichtungen<br />
insbesondere mit Blick auf<br />
die Organisationsentwicklung.<br />
J Austausch von Material:<br />
Angeregt wurde der Austausch von Material<br />
(Konzepte und Instrumente) zum Thema<br />
Kinderschutz in Kindertageseinrichtungen<br />
Forum 2 J „3 – 6“<br />
67
68<br />
bzw. in Kooperation mit dem Jugendamt. Es<br />
können Materialien zum Thema an das Landesjugendamt<br />
<strong>Westfalen</strong>-<strong>Lippe</strong> (Martina.Kriener@<br />
lwl.org) gesandt werden und dort unter „Materialien<br />
Kinderschutz“ auf der Internetseite des<br />
LWL-LJA eingestellt werden.<br />
J Einbindung der Spitzenverbände:<br />
Die Spitzenverbände der Öffentlichen und Freien<br />
Wohlfahrtspflege sollen sich stärker in der<br />
Entwicklung von gemeinsamen „Rahmenstandards“<br />
zum Kinderschutz engagieren.<br />
„Zentrale Thesen“:<br />
J Jeder muss sich auf den Weg machen. (gemeint<br />
ist hier ein Appell an Akteure sowohl auf<br />
verschiedenen Hierarchieebenen in einer Einrichtung<br />
als auch in verschiedenen Tagesbetreuungseinrichtungen<br />
und Jugendämtern,<br />
nicht gegenseitig auf Aktivitäten zum gemeinsamen<br />
Kinderschutz zu warten)<br />
J Es muss eine systematische Umsetzung des<br />
§ 8a SGB VIII – über kommunale Grenzen hinweg<br />
– und die Entwicklung klarer Standards<br />
erfolgen.<br />
J Erfolgreicher Kinderschutz beruht auf Kommunikation<br />
und auf Kooperation (die bisherigen<br />
Kooperationserfahrungen zwischen<br />
Kindertagesbetreuung und Jugendamt unterstreichen,<br />
dass eine kontinuierliche Kommunikation<br />
eine zentrale Voraussetzung für eine<br />
gelingende Kooperation ist).
IV. Anlage<br />
Hilfskonzept<br />
Name der Kindertageseinrichtung: Datum:<br />
Personalien:<br />
Mutter:<br />
Wohnort:<br />
Vater:<br />
Wohnort:<br />
Kind:<br />
Wohnort:<br />
Beteiligte Fachkräfte:<br />
Risikoeinschätzung:<br />
Aus Sicht der Mutter:<br />
Aus Sicht des Vaters:<br />
Aus Sicht der Fachkräfte der Kindertageseinrichtung:<br />
Aus Sicht der insofern erfahrenen Fachkraft:<br />
Soziale Diagnose:<br />
Angebot von Hilfen:<br />
Wem wird welche Hilfe angeboten?<br />
Durch wen kann die Hilfe angeboten werden?<br />
Was soll durch die Hilfe bewirkt werden?<br />
Wer sind mögliche Kooperationspartner?<br />
Sind die Eltern bereit Hilfen anzunehmen? Wenn nein, was spricht dagegen?<br />
Wer tut was?<br />
Überprüfung der Wirksamkeit nach ……………. durch die Leitung bzw. die Fachkraft der<br />
Kindertageseinrichtung.<br />
Unterschrift der Fachkraft Unterschrift der Personensorgeberechtigten<br />
Forum 2 J „3 – 6“<br />
69
70<br />
Forum 3: „6 – 10+“<br />
Kindesschutz im Schulalter – Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe<br />
Moderation: Christian Jung J Kreisdirektion Gütersloh<br />
Begleitung: Maria Loheide J Diakonisches Werk <strong>Westfalen</strong><br />
Beiträge: Gabriele Kemper-Bruns J Osterfeldschule Unna<br />
Jürgen Seitel J Erich-Kästner-Schule, Harsewinkel<br />
Ulrich Engelen J Jugendamt Essen<br />
Kinderschutz als Interessenschutz<br />
bei Kindern mit hohem<br />
sonderpädagogischem Förderbedarf<br />
ESE<br />
Jürgen Seitel J Erich-Kästner-Schule, Harsewinkel
Forum 3 J „6 – 10 +“<br />
71
Forum 3 J „6 – 10 +“<br />
73
74<br />
Kooperationsvereinbarung<br />
zwischen den Schulen der<br />
Stadt Essen und den Sozialen<br />
Diensten des Jugendamtes zu<br />
§ 42 Abs. 6 Schulgesetz NRW<br />
und § 8a SGB VIII<br />
Ulrich Engelen J Jugendamt Essen<br />
1. Präambel<br />
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen<br />
vor drohender Gefährdung wird aktuell in<br />
allen Handlungsfeldern der Jugendhilfe und<br />
im Schulbereich diskutiert. Anlass hierfür<br />
sind die erschreckenden Fälle von Verwahrlosung,<br />
Misshandlung und Kindestötungen<br />
der letzten Monate. Der Gesetzgeber<br />
hat mit Einfügung des § 8a in das SGB VIII<br />
(Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung)<br />
und § 42 Abs. 6 Schulgesetz-NRW (Prävention<br />
und Intervention bei Vernachlässigung)<br />
allen pädagogischen Fachkräften<br />
zur Pflicht gemacht, Hinweisen auf Kindeswohlgefährdungen<br />
konsequent nachzugehen.<br />
Zur Sicherstellung des Schutzauftrages<br />
und zu einem eindeutigen Umgang mit<br />
Hinweisen auf Kindeswohlgefährdungen<br />
waren deshalb zwischen Jugendhilfe und<br />
Schule Verfahrensstandards zu erarbeiten,<br />
die der besonderen Verantwortung der pädagogischen<br />
Fachkräfte in diesem Problembereich<br />
Rechnung tragen.<br />
Bereits im Jahr 2005 wurde eine Kooperationsvereinbarung<br />
zwischen den Schulen<br />
der Stadt Essen und den Sozialen Diensten<br />
des Jugendamtes Essen über eine verbindliche<br />
und transparente Zusammenarbeit<br />
im Zusammenhang mit der Problematik<br />
„Schulverweigerer“ abgeschlossen. Ziel<br />
dieser Vereinbarung war, auf unregelmäßige<br />
oder bereits länger andauernde Schulversäumnisse<br />
mit einer gemeinsamen Interventionshaltung<br />
zu reagieren und Kinder<br />
und Jugendliche kurzfristig wieder an einen<br />
regelmäßigen Schulbesuch heranzuführen.<br />
Wiederkehrende Schulversäumnisse und<br />
Schulverweigerung wurden gemeinschaft-<br />
lich als wesentliche Indikatoren für eine<br />
drohende oder bereits bestehende Gefährdung<br />
des Wohls von Kindern- und Jugendlichen<br />
definiert.<br />
Die Konkretisierungen des Schutzauftrages<br />
in den gesetzlichen Regelungen des SGB<br />
VIII und des Schulgesetzes machen es erforderlich,<br />
über den Bereich Schulversäumnisse<br />
bzw. Schulverweigerung hinaus gemeinsame<br />
Verfahrensstandards zu einem<br />
umfassenden Schutz von Kindern und Jugendlichen<br />
festzulegen.<br />
Aufbauend auf die rechtlichen und methodischen<br />
Arbeitsansätze der Kooperationsvereinbarung<br />
„Schulverweigerung“ wurden<br />
deshalb die nachfolgenden Vereinbarungen<br />
zu einem einheitlichen Umgang mit Hinweisen<br />
auf Kindeswohlgefährdungen entwickelt.<br />
Sie lösen die bestehende Kooperationsvereinbarung<br />
„Schulverweigerung“<br />
ab und bilden die Grundlage für ein abgestimmtes<br />
und zeitnahes Handeln aller Verantwortlichen<br />
in Fällen von drohender oder<br />
bereits bestehender Kindeswohlgefährdung.<br />
2. Ziel<br />
J Schutz von Kindern und Jugendlichen vor<br />
Gefährdung<br />
J Erfüllung des Bildungsauftrages<br />
J Sicherstellung eines regelmäßigen Schulbesuch<br />
J Erlangung eines Schulabschlusses<br />
J Einbeziehung und Unterstützung der Eltern<br />
bei ihrer Erziehungsaufgabe
3. Zielgruppe<br />
J Kinder an Grundschulen<br />
J Kinder und Jugendliche an weiterführenden<br />
Schulen<br />
J Kinder und Jugendliche an Förderschulen<br />
J Eltern oder sonstige Personensorgeberechtigte<br />
4. Rahmenbedingungen für eine effektive<br />
Kooperation<br />
Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit<br />
zur Sicherstellung des Schutzauftrages<br />
bei Kindeswohlgefährdung ist eine vertrauensvolle<br />
Kooperation zwischen Schule und<br />
Jugendhilfe auf Grundlage der bestehenden<br />
Datenschutzbestimmungen. Um diese<br />
zu erreichen, ist es von großer Bedeutung,<br />
dass die Institutionen einen guten Kontakt<br />
zueinander haben und ihre gegenseitigen<br />
Ressourcen kennen und nutzen.<br />
Folgende verbindliche sozialraumbezogene<br />
Strukturen begünstigen die gemeinsame<br />
Arbeit:<br />
J Fallunabhängiger Austausch: z. B. Teilnahme<br />
an Stadtteilkonferenzen, Bezirkskonferenzen,<br />
J Aufbau zielgruppenorientierter und innovativer<br />
Formen der Zusammenarbeit (z.<br />
B. FuN-Projekt, Anti-Aggressionstraining,<br />
Sprachkurse, Spielgruppen) zur Förderung<br />
von Kindern, Jugendlichen und Eltern<br />
durch gemeinsame Angebote,<br />
J wechselseitige Informationen über die Arbeitsfelder/<br />
Aufgabengebiete (z. B. Konferenzen,<br />
gemeinsame Fortbildungen, gemeinsame<br />
Fachtagungen etc.),<br />
J gegenseitige Weitergabe von Informationen<br />
auf dem aktuellen Stand (z. B. Schulerfahrungstage,<br />
Ganztagskonzepte,<br />
Zuständigkeitsliste der Bezirkssozialarbeiterinnen<br />
und Bezirkssozialarbeiter),<br />
J gemeinsame Durchführung von Veranstaltungen<br />
mit Eltern (z. B. Elternabenden, Informationsveranstaltungen<br />
zu Erziehungsthemen<br />
etc.),<br />
J bei Bedarf: Institutionalisierte Form der<br />
Kontakte zwischen Schule und Sozialen<br />
Diensten (z. B. Sprechstunde der Sozialen<br />
Dienste in der Schule, regelmäßige Kooperationsgespräche),<br />
J Ermutigung von Personensorgeberech-<br />
tigten durch die Schule, bei Beratungsbedarf<br />
frühzeitig Kontakt zu Sozialen Diensten<br />
aufzunehmen,<br />
J Einbindung der Kooperationspartner in<br />
Konferenzen, Erziehungsgesprächen oder<br />
Hilfeplangesprächen,<br />
J Beteiligung der bezirklichen Ansprechpartner<br />
Jugendhilfe und Schule (siehe<br />
auch Punkt 7.),<br />
J Einbeziehung der Beratungslehrer, die es<br />
an fast allen Essener Schulen gibt.<br />
5. Einbeziehung der Jugendhilfe zur<br />
Abwendung einer Kindeswohlgefährdung<br />
Ablaufplan<br />
Voraussetzung:<br />
Werden bei einem Kind im schulischen<br />
Kontext Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung<br />
deutlich, so ist zunächst zwischen<br />
Klassenleitung und Schulleitung und ggf.<br />
der Beratungslehrerkraft das weitere Vorgehen<br />
abzustimmen. Insbesondere ist zu prüfen,<br />
ob und in welchem Umfang den Eltern<br />
Hilfemöglichkeiten eröffnet werden können.<br />
Bleiben trotz dieser im Vorfeld stattgefundenen<br />
pädagogischen Beratung zwischen<br />
Schule und Erziehungsberechtigten gravierende<br />
Problemfelder offen, so sind die folgenden<br />
Arbeitsschritte einzuleiten.<br />
Arbeitsschritte:<br />
J Die Klassenleitung füllt den <strong>Dokumentation</strong>sbogen<br />
zur Risikoabschätzung aus.<br />
J Sie nimmt telefonisch Kontakt zum Sozialen<br />
Dienst des Jugendamtes (bzw. zur Arbeiterwohlfahrt<br />
bei libanesischen Schülerinnen<br />
und Schülern) auf und faxt den <strong>Dokumentation</strong>sbogen<br />
zur zuständigen Bezirksstellenleitung.<br />
Wenn der Schutz des Kindes<br />
dadurch nicht gefährdet wird, werden die<br />
Erziehungsberechtigten über die Einschaltung<br />
der Sozialen Dienste informiert.<br />
J In einem Erstgespräch (Fallberatung) zwischen<br />
Sozialen Diensten und Schule wird<br />
über die Situation des Kindes oder Jugendlichen<br />
beraten, die Gefährdung eingeschätzt<br />
und die weitere Vorgehensweise<br />
organisiert.<br />
Inhalte der Fallberatung:<br />
J Austausch über die bestehende Situation<br />
J Abklärung von Interventionsmöglichkeiten<br />
Forum 3 J „6 – 10 +“<br />
75
76<br />
J Festlegung von Zielen und Maßnahmen<br />
J Entscheidung über die fallführende Institution<br />
J Terminierung der nächsten Fallberatung<br />
Der <strong>Dokumentation</strong>sbogen – Fallberatung<br />
(s. Anlage 2) wird durch die Schule ausgefüllt<br />
und den Beteiligten zugesandt. Jede<br />
Institution informiert seinen Kooperationspartner<br />
kontinuierlich über Veränderungen<br />
und erfolgte Handlungen (z. B. Inobhutnahme<br />
bei eskalierender Krisensituation in der<br />
Familie).<br />
Die nächste Fallberatung zwischen Jugendamt<br />
und Schule findet statt, um zu<br />
klären, ob und mit welchen Konsequenzen<br />
ein Kontakt zu der Familie stattgefunden<br />
hat. Falls notwendig werden weitere Handlungsschritte<br />
zwischen Schule und den Sozialen<br />
Diensten vereinbart. Möglicherweise<br />
sind weitere Institutionen zum Beispiel Regionale<br />
Schulberatungsstelle, Polizei, Familiengericht<br />
etc. hinzuzuziehen.<br />
In einem Auswertungsgespräch wird geprüft,<br />
ob die durchgeführten Maßnahmen<br />
ausreichend sind.<br />
6. Bewertung der Kooperation<br />
Am Ende des Jahres erfolgt die jährliche<br />
Bewertung jedes Einzelfalls, diese wird von<br />
jeder Institution einzeln abgegeben.<br />
Die bezirklichen Ansprechpartner Jugendhilfe<br />
und Schule erhalten die Bögen zur<br />
Auswertung.<br />
7. Aufgabe der bezirklichen Ansprechpartner<br />
Jugendhilfe und<br />
Schule<br />
Die Neuausrichtung der auf die Kooperation<br />
von Schule und Jugendhilfe im Sozialen<br />
Raum ausgerichtete Struktur der „Bezirklichen<br />
Ansprechpartner“ nach einer ersten<br />
Erprobungsphase in den Jahren 2004<br />
bis 2006 fokussiert diese wichtige Vernetzungsaufgabe<br />
innerhalb der Jugendhilfe<br />
auf das ambulante Sachgebiet bei den Sozialen<br />
Diensten. Das Ambulante Sachgebiet<br />
bildet damit die jeweilige Partnerstruktur<br />
für die Lehrerinnen und Lehrer aus den<br />
verschiedenen Schulformen in den neun<br />
Essener Stadtbezirken. Zentrale Aufgabe<br />
dieser Kooperationsstruktur wird weiterhin<br />
die gegenseitige Information und Vermittlungstätigkeiten<br />
zwischen den beiden pädagogischen<br />
Systemen in Jugendhilfe und<br />
Schule darstellen.<br />
Für beide Bereiche ist in der fachpolitischen<br />
Debatte die Notwendigkeit zum<br />
Austausch, gegenseitiger Information und<br />
damit einer verbesserten Kooperation deutlich<br />
formuliert worden. Dabei fällt dem Ambulanten<br />
Sachgebiet, als eine Art „vorgelagerter<br />
Fachdienst der Sozialen Dienste“,<br />
deren Kernaufgabe in dem Aufbau und<br />
Pflege von Netzwerkstrukturen auf der Sozialraumebene<br />
besteht, die wichtige Aufgabe<br />
der Anlaufstelle für die Kooperation mit<br />
dem jeweiligen Schulsystem und den verschiedensten<br />
Schulformen im Bezirk zu.<br />
Aufgabe der Bezirksteams wird es also<br />
sein, gegenseitige Übersetzungstätigkeiten<br />
zur Verbesserung der Kooperation von<br />
Jugendhilfe und Schule als Bildungs-, Betreuungs-<br />
und Erziehungsstruktur zu leisten.<br />
Dabei beziehen sie sich auf die vor Ort<br />
existierenden Arbeitsformen und nutzen<br />
diese im Sinne einer Herstellung einer gemeinsamen<br />
und vollständigen Sicht auf die<br />
Kinder und Jugendlichen in den Essener<br />
Stadtbezirken. Sie stellen damit, unabhängig<br />
von der personenbezogenen Kooperationsstruktur,<br />
eine systematische „Geschäftsführung<br />
in Sachen Kooperation von<br />
Jugendhilfe und Schule“ auf dieser räumlichen<br />
Kooperationsebene sicher.<br />
Sie bilden ebenfalls ein zentrales Instrument<br />
für die Verbreitung von wichtigen inhaltlichen<br />
Impulsen, die für beide Systeme<br />
gleichermaßen von Bedeutung sind. (z. B.<br />
auch diese Kooperationsvereinbarung zwischen<br />
den Schulen der Stadt Essen und<br />
den Sozialen Diensten des Jugendamtes<br />
zu § 42 Abs. 6 Schulgesetz NRW und § 8a<br />
SGB VIII).
Forum 3 J „6 – 10 +“<br />
77
Ergebnisse aus dem Forum 3<br />
Christian Jung J Kreisdirektor Gütersloh<br />
1. Vorgesehene Inhalte und beabsichtigte<br />
Ziele des Forums<br />
Mit Blick auf Kinder im Grundschulalter<br />
sollte von vornherein der Schwerpunkt auf<br />
Möglichkeiten und Grenzen in der Zusammenarbeit<br />
zwischen Schule und Jugendhilfe<br />
gelegt werden. Die einzelnen Kurzvorträge<br />
sollten vor allen Dingen die schulische<br />
Wirklichkeit beleuchten und daraus ein intensives<br />
Gespräch über Handlungsbedarfe<br />
entstehen lassen.<br />
Frau Gabriele Kemper-Bruns von der Osterfeldschule<br />
in Unna stellte zunächst die<br />
Situation ihrer Schule dar. Es handelt sich<br />
um eine zweizügige Grundschule. Sie erläuterte,<br />
in welchen Fallgestaltungen und<br />
in welchem Umfang sie Unterstützungsbedarfe<br />
aus anderen Fachkompetenzen sieht<br />
und wo sie sich mit Ihren Kolleginnen und<br />
Kollegen im Hinblick auf Verhaltensweisen<br />
und Auffälligkeiten von Kindern ihrer Schule<br />
überfordert fühlt.<br />
Herr Seitel, als Leiter einer Förderschule<br />
für emotionale und soziale Entwicklung<br />
der Primarstufe, stellte die besonderen Anforderungen<br />
dar, die eine solche Schulform<br />
mit sich bringt. Herrn Seitel ging es<br />
insbesondere darum, deutlich zu machen,<br />
dass trotz einer sehr günstigen Schüler/<br />
Lehrer-Relation (1:11) Schule angesichts<br />
der Kinder, die zu fördern sind, schnell an<br />
die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten<br />
kommt. Das Besondere an der Erich-Kästner-Schule<br />
ist, dass diese für die Hälfte der<br />
ca. 50 Schülerinnen und Schüler den Offenen<br />
Ganztag im Zusammenhang mit einem<br />
Träger der Erziehungshilfe anbieten kann.<br />
Hier werden 25 Kinder von 4 Fachkräften<br />
betreut.<br />
Herr Engelen vom Jugendamt Essen stellte<br />
das Beispiel einer sehr strukturierten Zusammenarbeit<br />
zwischen den Schulen in<br />
Essen und dem Jugendamt dar. Über eine<br />
entsprechend fachlich verabredete <strong>Dokumentation</strong>,<br />
die die Schulen ausfüllen, wird<br />
eine Einschätzung der Problemlage des<br />
Kindes für die Schule vorgenommen. Bei<br />
Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung<br />
wird diese <strong>Dokumentation</strong> den jeweils<br />
festgelegten Partnern im Jugendamt<br />
zur Verfügung gestellt, um gemeinsam den<br />
Handlungsbedarf zu klären.<br />
2. Zusammenfassung der Vortragsinhalte:<br />
Frau Kemper-Bruns erläuterte sehr anschaulich<br />
den Alltag einer Schule mit Bedingungen,<br />
die nicht von extremer Belastung<br />
geprägt ist (Migration / besonders<br />
schwierige soziale Schichten). Gleichwohl<br />
sieht sich die Schule in der Situation, bei<br />
den Kindern ganz verschiedenartige individuelle<br />
Hilfebedarfe zu sehen, die nicht primär<br />
den Kern schulischer Aufgaben bilden.<br />
Unterschiedlichste Verhaltensstörungen,<br />
mangelnde Teilnahme, geringe Konzentrationsfähigkeit<br />
aber auch Aspekte, die den<br />
Schluss zulassen, dass der familiäre Hintergrund<br />
nicht gerade zur Stärkung der Kinder<br />
beiträgt, prägen das Bild, das die Schule<br />
von den Kindern gewonnen hat.<br />
Die Schule versucht mit ihren Möglichkeiten<br />
von individuellen Angeboten, von<br />
interessanter Gruppenarbeit und von<br />
unterschiedlichsten Förder- und Bildungsmöglichkeiten<br />
im außerschulischen Bereich<br />
dem mehr entgegen zu steuern. Die Schule<br />
erklärt, dass trotz der Überschaubarkeit<br />
der relativ kleinen Schule die Problemlagen<br />
so vielfältig sind und offensichtlich auch<br />
die zu geringe Unterstützung im häuslichen<br />
Bereich so stark wirkt, dass Schule allein<br />
überfordert ist, diese Kinder konsequent<br />
zu fördern und die nötigen Bildungsziele<br />
für jeden zu erreichen. Die Schule sieht Lösungsmöglichkeiten<br />
in einem konsequenten<br />
Ganztagsangebot und den personellen<br />
und fachlichen Möglichkeiten für mehr Elternarbeit.<br />
Herr Seitel hat anhand der Folien, die in der<br />
Anlage beigefügt sind, die besondere Si-<br />
Forum 3 J „6 – 10 +“<br />
79
80<br />
tuation seiner Schule und die spezifischen<br />
Lebenslagen der Schülerinnen und Schüler<br />
erläutert. Hier kommen zwei ganz wesentliche<br />
Handlungsfelder zusammen: Der<br />
größte Teil der Familien aus denen die Kinder<br />
stammen, hat selbst mit erheblichen innerfamiliären<br />
Problemen zu tun. Es handelt<br />
sich um Familien mit wechselnden Partnerbeziehungen,<br />
mit Arbeitslosigkeit, Sucht<br />
oder anderen Schwierigkeiten. Nur ein geringer<br />
Teil des familiären Hintergrundes<br />
kann als „normal“ bezeichnet werden.<br />
Kinder, die aus derartig schwierigen und<br />
prägenden Verhältnissen kommen, sind<br />
dann in der Erich-Kästner-Schule zu fördern<br />
Diese Kinder zeigen entsprechend<br />
sehr unterschiedliche Auffälligkeiten. Die<br />
Feststellung eines Förderbedarfs für emotionale<br />
und soziale Entwicklung bereits in<br />
der Primarschule setzt frühe Erkenntnisse<br />
über deutlich abweichendes Verhalten<br />
voraus. Die Schule ist damit konfrontiert,<br />
dass teilweise in den schulischen Raum<br />
sehr massive Konfliktlagen hineingetragen<br />
werden. Auffälligstes bis extremes Verhalten<br />
der Schülerinnen und Schüler, das auch<br />
alle anderen betrifft, prägt den Schulalltag.<br />
Die Schule sieht sich selbst trotz der sehr<br />
guten Schüler/Lehrer-Relation kaum in der<br />
Lage, den Unterricht konsequent durchzuführen<br />
und das Unterrichtsziel der Grundschule<br />
zu erreichen. Die Schule ist fachlich<br />
extrem gefordert, weil sie in intensiver<br />
Form vor allen Dingen im Bereich Diagnose<br />
und Kooperation mit der Jugendpsychiatrie<br />
gefordert ist, ebenso wie in enger Zusammenarbeit<br />
mit der Jugendhilfe. Etwa<br />
die Hälfte der Schülerinnen und Schüler erhalten<br />
gleichzeitig selbst oder in der Familie<br />
Leistungen der Jugendhilfe.<br />
Insgesamt ist unter dem Aspekt Kinder-<br />
und Jugendschutz an dieser Schule eine<br />
Grenzsituation erreicht, die für eine konsequente<br />
Förderung der Kinder ein deutliches<br />
Mehr an umfassender Elternarbeit sowie an<br />
individueller Betreuung der Schülerinnen<br />
und Schüler verlangen würde. Herr Seitel<br />
hält deshalb auch ergänzende Schulsozialarbeit<br />
für erforderlich.<br />
Herr Ulrich Engelen stellte das Konzept der<br />
Stadt Essen vor, in dem Schule und Jugendamt<br />
eine enge Kooperation eingegangen<br />
sind. Die Zielsetzung der Kooperation<br />
bezieht sich im Wesentlichen auf Maßnahmen<br />
des Kinderschutzes nach § 8 a SGB<br />
VIII. Es geht hierbei darum, im schulischen<br />
Alltag Hinweise auf Kindeswohlgefährdung<br />
aufzugreifen und in einem systematischen<br />
Zusammenhang zu erfassen. Dabei soll<br />
vermieden werden, dass Warnsignale übersehen<br />
werden. Genau so ist zu verhindern,<br />
dass subjektive Fehleinschätzungen zu voreiligem<br />
Handeln führen. Der abgestimmte<br />
<strong>Dokumentation</strong>sbogen ist von der Schule<br />
sorgfältig auszufüllen und führt im Ergebnis<br />
zu der Feststellung, ob Hinweise auf Kindeswohlgefährdung<br />
vorliegen. Ist dies der<br />
Fall, so ist ein festes Verfahren mit dem Jugendamt<br />
verabredet, dass die Einschaltung<br />
der örtlich zuständigen Bezirkssozialarbeit<br />
oder anderer Fachkräfte vorsieht.<br />
3. Schwerpunkte der Diskussion im<br />
Workshop<br />
Nach den kurzen einleitenden Vorträgen<br />
wurde in der Arbeitsgruppe intensiv über<br />
Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit Jugendhilfe<br />
/ Schule diskutiert. Allerdings erfolgte<br />
noch eine Reihe von Hinweisen über<br />
positive Beispiele, die eine enge Zusammenarbeit<br />
der unterschiedlichen Fachbereiche<br />
in letzter Zeit ermöglicht haben.<br />
Insgesamt wurde beklagt, dass die Zielsetzung<br />
von Schule und Jugendhilfe weiterhin<br />
außerordentlich verschieden sei und<br />
es deswegen immer wieder grundlegende<br />
Verständigungsschwierigkeiten gebe.<br />
Die Schule sehe sich vor die Notwendigkeit<br />
gestellt, in einer größeren Gruppe (Klasse)<br />
durch unterrichtliche Vorgaben verschiedene<br />
Bildungsziele zu erreichen. Jede abweichende<br />
Verhaltensweise (vor allen Dingen<br />
Störung) führe zu einer Behinderung schulischer<br />
Ziele. Aus diesem Grunde könne sich<br />
die Schule nicht davon lösen, mit Hilfe externer<br />
Fachlichkeiten in gewissem Maße<br />
schulische Ordnung herzustellen.<br />
Hieraus entstünden Anforderungen an Jugendhilfe,<br />
aber auch an andere Fachkräfte<br />
(Schulpsychologie, Psychiatrie, Heilpädagogik).<br />
Insgesamt wurde die Feststellung<br />
getroffen, dass offensichtlich in den letzten<br />
Jahren von allen Beteiligten eine Zunahme<br />
von Schwierigkeiten und Störungen<br />
bei Kindern in der Grundschule konstatiert<br />
wird. Hierzu gehören auch Lernstörungen,<br />
die sich vor allen Dingen durch Schulver-
weigerung und offensichtliche Abwesenheit<br />
(Weghören/Träumen) im Unterricht auszeichnen.<br />
Auf die besonderen Probleme der Erich-<br />
Kästner-Schule als Förderschule wurde weniger<br />
eingegangen, da die Situation einer<br />
solchen Schule offensichtlich als Sondersituation<br />
betrachtet wird. Die enge Zusammenarbeit<br />
zwischen dem Jugendamt der<br />
Stadt Essen und den Schulen wurde als<br />
sehr interessantes Modellprojekt gesehen.<br />
Insgesamt wurde aber hinterfragt, ob eine<br />
detailhafte <strong>Dokumentation</strong> die sich sehr<br />
stark an äußeren Erscheinungsbildern orientiert<br />
(z. B. pünktlicher Schulbesuch o. A.)<br />
tatsächlich ausreichende und qualifizierte<br />
Indikatoren dafür bildet, eine Kindeswohlgefährdung<br />
zu sehen. Darüber hinaus wurde<br />
die Frage gestellt, ob es hier ausschließlich<br />
um Kindeswohlgefährdung geht, da<br />
schließlich die Eingriffsmöglichkeiten relativ<br />
extreme Problemlagen erfordern – oder, ob<br />
es nicht vielmehr um unterschiedliche, individuelle<br />
Förderbedarfe gehen sollte.<br />
Im Ergebnis konnte festgehalten werden,<br />
dass sich die Situation in der Grundschule<br />
als durchweg schwierig darstellt, selbst<br />
dort, wo Schulen sich mit Kindern aus der<br />
sozialen Mittelschicht auseinandersetzen<br />
müssen. Es wurde festgehalten, dass<br />
Schulen mit der aktuellen Lehrerausstattung<br />
ihre Ziele nicht erreichen können. Sie<br />
benötigen hierfür deutlich mehr Zeit (Ganztagsschule)<br />
und eine deutlich bessere Personalausstattung<br />
einschließlich der Unterstützung<br />
von zusätzlichen Fachkräften mit<br />
Erfahrungen aus der Heilpädagogik oder<br />
der Erziehungshilfe.<br />
4. Ergebnis des Workshops<br />
Als Ergebnis des Workshops wurde in dem<br />
Plenumsbericht festgehalten, dass die Situation<br />
in der Grundschule nicht von extremen<br />
Verhaltensweisen und von herausragenden<br />
Problemen der Erziehungshilfe<br />
geprägt ist. Es geht weniger darum, gewalttätige,<br />
kaum zu bändigende Kinder mit<br />
Maßnahmen der Erziehungshilfe zur Entlastung<br />
von Schulen in den Griff zu bekommen.<br />
Die durchschnittliche Situation der<br />
Grundschulen ist vielmehr geprägt von unterschiedlichsten<br />
Störungsbildern und Auffälligkeiten,<br />
die sowohl den schulischen<br />
Alltag stören als auch die individuelle Förderung<br />
der Kinder äußerst schwierig machen.<br />
Die Gruppe derjenigen Kinder, die<br />
diese verschiedenartigen Einschränkungen<br />
aufweisen ist relativ groß und wurde im<br />
Workshop auf etwa 20 – 30 % geschätzt.<br />
Als Ergebnis wurde festgehalten, dass die<br />
Fachkompetenz der Lehrerinnen und Lehrer<br />
in der Grundschule für eine Entscheidung<br />
darüber, welche Förderbedarfe die<br />
Kinder haben, durchweg nicht ausreicht.<br />
Eine deutliche Stärkung von Fachlichkeit<br />
durch Beratung, Supervision und andere<br />
Hilfestellungen sind zwingend erforderlich.<br />
Grundlage für eine kompetente Aufgabenwahrnehmung<br />
der Grundschule ist<br />
ein anderer zeitlicher Rahmen (echte Ganztagsschule)<br />
und eine andere Personalausstattung<br />
bzw. bessere Schüler/Lehrer-Relation.<br />
Forum 3 J „6 – 10 +“<br />
81
82<br />
Forum 4: Kindesschutz vor<br />
Gericht<br />
Eingriffs- und Handlungsmöglichkeiten der Justiz in Zusammenarbeit<br />
mit der Jugendhilfe und Anderen<br />
Moderation: Wolfgang Rüting J Jugendamt Kreis Warendorf<br />
Begleitung: Anika Lebek J Jugendamt Kreis Warendorf<br />
Beiträge: Hans-Christian Prestien J Amtsgericht Potsdam<br />
Andreas Hornung J Amtsgericht Warendorf<br />
Hans-Christian Prestien J<br />
Amtsgericht Potsdam<br />
I. Der Auftrag<br />
1. Allgemeine Verpflichtung<br />
„Die Verpflichtung des Staates (das Wächteramt<br />
nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG wahrzunehmen)<br />
ergibt sich in erster Linie daraus,<br />
dass das Kind als Grundrechtsträger<br />
selbst Anspruch auf den Schutz des Staates<br />
hat. Das Kind ist ein Wesen mit eigener<br />
Menschenwürde und dem eigenen Recht<br />
auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit im<br />
Sinne der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG.<br />
Eine Verfassung, welche die Würde des<br />
Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertsystems<br />
stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher<br />
Beziehungen grundsätzlich<br />
niemandem Rechte an der Person<br />
eines anderen einräumen, die nicht zugleich<br />
pflichtgebunden sind und die Menschenwürde<br />
des anderen respektieren.<br />
In diesem Sinne bildet das Wohl des Kindes<br />
den Richtpunkt für den Auftrag des<br />
Staates gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG.<br />
Das bedeutet nicht, dass jedes Versagen<br />
oder jede Nachlässigkeit den Staat berechtigt,<br />
die Eltern von der Pflege und Erziehung<br />
auszuschalten oder gar selbst diese<br />
Aufgabe zu übernehmen; vielmehr muss er<br />
stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern<br />
Rechnung tragen. Zudem gilt auch hier<br />
der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Art<br />
und Ausmaß des Eingriffs bestimmen sich<br />
nach dem Ausmaß des Versagens der Eltern<br />
und danach, was für das Interesse des<br />
Kindes geboten ist.<br />
Der Staat muss daher nach Möglichkeit<br />
versuchen, durch helfende, unterstützende,<br />
auf Herstellung oder Wiederherstellung<br />
eines verantwortungsbewussten Verhaltens<br />
der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen<br />
sein Ziel zu erreichen ...“(BVerfGE<br />
Bd. 24, 119 ff, 144; dazu auch BVerfG NJW<br />
1982,1379)<br />
2. Das Stufenmodell<br />
Die Hierarchie der Interventionsformen bei<br />
Hinweisen auf Gefährdung der gesunden<br />
körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung<br />
des Kindes:<br />
1. Stufe: Konfliktlösung durch außergerichtliche<br />
Information und Beratung<br />
der Kindeseltern durch Mitarbeiter der Ki-<br />
Tas, Kindergärten, Schulen und freien (insbesondere<br />
Beratungsstellen) und öffentlichen<br />
Träger der Jugendhilfe. Allen ist<br />
gemeinsam: Ihre Möglichkeiten, Kinder vor<br />
ernsthaften Schädigungen zu bewahren,<br />
sind durch die Bereitschaft der Eltern bzw.<br />
verantwortlichen Bezugspersonen des Kindes,<br />
Hilfe anzunehmen und notwendige<br />
Veränderungen zu veranlassen, begrenzt.<br />
Sie verfügen nicht über die Macht, die Erwachsenen<br />
an einen Tisch zu bringen, geschweige<br />
denn, rechtliche Verantwortlichkeiten<br />
zu verändern oder gar zu entziehen.<br />
Der Inhaber des staatlichen Wächteramtes,<br />
der über diese Qualität verfügt, ist das Gericht.<br />
2. Stufe: Konfliktlösung durch Information<br />
und Beratung durch das Gericht<br />
„Der Staat muss daher nach Möglichkeit<br />
versuchen, durch helfende, unterstützende,<br />
auf Herstellung oder Wiederherstellung ei-
nes verantwortungsbewussten Verhaltens<br />
der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen<br />
sein Ziel zu erreichen ...“(BVerfGE Bd.<br />
24, 144)<br />
§ 52 Abs. 1 FGG nimmt dies auf und formuliert:<br />
„In einem die Person eines Kindes<br />
betreffenden Verfahren soll dass Gericht so<br />
früh wie möglich und in jeder Lage des Verfahrens<br />
auf ein Einvernehmen der Beteiligten<br />
hinwirken.“<br />
3. Stufe: Konfliktlösung durch einstweilige<br />
Anordnungen und Rückdelegation<br />
des Problems in die Beratungsebene<br />
4. Stufe: Ultima ratio durch eine Endentscheidung<br />
möglichst mit konkreten<br />
Vorgaben und ggf. Überprüfungsmöglichkeiten<br />
sowie Eröffnung oder Inaussichtstellung<br />
weiterer Verfahren.<br />
II. Werkzeuge der praktischen Umsetzung<br />
1. Gesetzliche Rahmenbedingungen<br />
– der „Giftschrank“<br />
Das Verfahrensrecht trennt die einzelnen,<br />
das Kind betreffenden Störungsfelder entsprechend<br />
der Etikettierung im BGB voneinander.<br />
Die einzelnen Bereiche finden sich<br />
bei Gericht in voneinander abgegrenzten<br />
und getrennten Akten wieder, vergleichbar<br />
mit den Schubladen eines „Giftschrankes“,<br />
die einzeln vom Richter geöffnet werden<br />
müssen, um überhaupt eine entsprechende<br />
Bearbeitung auf diesem jeweiligen Sektor<br />
auszulösen. Die Öffnung der Schubladen<br />
wird vom Gericht vorgenommen, wenn<br />
entweder ein dazu Berechtigter einen dazu<br />
passenden Antrag stellt bzw. eine Anregung<br />
von außen kommt, von Amts wegen<br />
(v. A. w.) tätig zu werden.<br />
Alle Maßnahmen des Gerichts sind stets<br />
danach auszurichten, was dem Wohl des<br />
Kindes am besten entspricht – § 1697 a<br />
BGB – und haben den eingangs skizzierten<br />
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.<br />
Bei der Anwendung der Vorschriften sind<br />
die vom Gesetz aufgestellten Leitlinien des<br />
Gesetzes zur Gestaltung des Eltern-Kind-<br />
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
Verhältnisses zu beachten. An ihnen muss<br />
sich die Maßnahme orientieren.<br />
Die obersten Fächer des Giftschrankes<br />
könnten damit folgende Aufschriften tragen:<br />
§ 1618 a<br />
Eltern und Kinder sind einander Beistand<br />
und Rücksicht schuldig<br />
1626 Abs. 2<br />
Berücksichtigung der wachsenden Fähigkeit<br />
des Kindes zu verantwortungsbewusstem<br />
Handeln<br />
§ 1631Abs. 2<br />
Gewaltverbot<br />
§ 1684 Abs. 2<br />
Verbot der Störung des Eltern-Kind-<br />
Verhältnisses<br />
Die weiteren Schubladen und ihre Aufschriften<br />
im Einzelnen:<br />
§ 1627<br />
Stichentscheid bei gemeinsamem Sorgerecht<br />
(nur auf Antrag)<br />
§§ 1671 / 1672<br />
Übertragung des Sorgerechts oder Teile<br />
(nur auf Antrag)<br />
§ 1631 Abs. 3<br />
Unterstützung der Eltern bei Erziehung (nur<br />
auf Antrag)<br />
§§ 1684 – 1626 Abs. 3<br />
Umgangsrecht des Kindes mit Eltern (auf<br />
Antrag u. v. A. w.)<br />
§§ 1666/ 1666 a<br />
Gefährdung des Kindeswohls (v. A. w.)<br />
§§ 1685 – 1626 Abs. 3<br />
Umgangsrecht des Kindes mit Geschwister<br />
u. a. (auf Antrag u. v. A. w.)<br />
§§ 8a / 42 SGB VIII<br />
Inobhutnahme (v. A. w.)<br />
§ 1632 Abs. 4<br />
Verbleib in Pflege (auf Antrag u. v. A. w.)<br />
§ 1631 b<br />
Unterbringung der Kinder (auf Antrag)<br />
83
84<br />
§ 1680<br />
Tod oder Entzug<br />
§ 1630 Abs. 3<br />
Übertrag Sorgerecht auf Pflegepersonen<br />
(auf Antrag)<br />
§§ 1673 / 1674 – 1678<br />
Ruhe der Sorgerecht<br />
§ 1696<br />
Abänderung<br />
Ist eine Schublade geöffnet, liegt dem<br />
Richter also ein Antrag bei den „Antragsverfahren“<br />
oder eine Anregung bei den<br />
„von Amts wegen“ zu betreibenden Verfahren<br />
vor oder ist er z. B. aufgrund anderer<br />
Verfahren in diesen Bereichen auf einen<br />
möglichen Gefährdungstatbestand gestoßen,<br />
„hat das Gericht von Amts wegen die<br />
zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen<br />
Ermittlungen zu veranstalten und die<br />
geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen.“<br />
(§ 12 FGG)<br />
Im Giftschrank sind §§ 1666 und § 1666a<br />
BGB die zentralen Vorschriften. Sie sind<br />
gedanklich bei allen anderen „Schubladen“<br />
als Hypothese mitzulesen. Verfahren in allen<br />
anderen die Sorge für ein Kind betreffenden<br />
Bereichen sind in sich Indiz für eine<br />
mögliche Gefährdungslage.<br />
§ 1666 Abs. 1 BGB:<br />
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische<br />
Wohl des Kindes<br />
– das kursiv gedruckte soll nach dem Gesetzentwurf<br />
zur Erleichterung familiengerichtlicher<br />
Maßnahmen bei Gefährdung des<br />
Kindeswohls entfallen –<br />
durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen<br />
Sorge, durch Vernachlässigung<br />
des Kindes, durch unverschuldetes Versagen<br />
der Eltern oder durch das Verhalten eines<br />
Dritten<br />
gefährdet, so hat das Familiengericht,<br />
wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in<br />
der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die<br />
zur Abwendung der Gefahr erforderlichen<br />
Maßnahmen zu treffen.<br />
(2)<br />
(3) in der Fassung des Entwurfs:<br />
„Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach<br />
Absatz 1 gehören insbesondere<br />
1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel<br />
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe<br />
und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch<br />
zu nehmen,<br />
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht<br />
zu sorgen,<br />
3. Verbote, vorübergehend oder auf bestimmte<br />
Zeit die Familienwohnung oder<br />
eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem<br />
bestimmten Umkreis der Wohnung<br />
aufzuhalten oder zu bestimmende andere<br />
Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind<br />
regelmäßig aufhält,<br />
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen<br />
oder ein Zusammentreffen mit dem<br />
Kind herbeizuführen,<br />
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers<br />
der elterlichen Sorge,<br />
6. die teilweise oder vollständige Entziehung<br />
der elterlichen Sorge.“<br />
In § 1666 a Abs. 1 BGB heißt es u. a.:<br />
„Maßnahmen, mit denen eine Trennung des<br />
Kindes von der elterlichen Familie verbunden<br />
ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr<br />
nicht auf andere Weise, auch nicht durch<br />
öffentliche Hilfen begegnet werden kann…“<br />
Abs. 2: „Die gesamte Personensorge darf<br />
nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen<br />
erfolglos geblieben sind oder<br />
wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung<br />
der Gefahr nicht ausreichen.“<br />
Der Entwurf eines Gesetzes zur „Erleichterung<br />
familiengerichtlicher Maßnahmen<br />
bei Gefährdung des Kindeswohls“ enthält<br />
für Verfahren auf Umgang, Aufenthalt<br />
und Herausgabe sowie allgemein wegen<br />
Gefährdung ein ausdrückliches „Vorrang-<br />
und Beschleunigungsgebot“ (§ 50 e Abs.1<br />
FGG-E). Der Termin zur umfassenden<br />
mündlichen Erörterung mit den Beteiligten<br />
und dem Jugendamt soll innerhalb eines<br />
Monats nach Beginn des Verfahrens stattfinden<br />
(Abs.2). Der Erlass einer einstweiligen<br />
Anordnung ist in Verfahren wegen Gefährdung<br />
des Kindeswohls „unverzüglich“<br />
zu prüfen (Abs. 4). In Umgangsverfahren<br />
sollen einstweilige Anordnungen zum Umgang<br />
in einem solchen Erörterungstermin<br />
stets ergehen (§ 52 Abs. 3 FGG-E).
Zum Inhalt der Erörterungen in Kinderschutzfällen<br />
schreibt § 50 f Abs. 1 FGG-E<br />
vor: „In Verfahren nach den §§ 1666, 1666a<br />
BGB soll das Gericht mit den Eltern und in<br />
geeigneten Fällen auch mit dem Kind erörtern,<br />
wie einer möglichen Gefährdung des<br />
Kindeswohls begegnet werden kann, insbesondere<br />
durch öffentliche Hilfen, und<br />
welche Folgen die Nichtannahme notwendiger<br />
Hilfen haben kann. Das Gericht soll<br />
das Jugendamt zu dem Termin laden.“<br />
Die Frage der Vertretung des Kindes durch<br />
einen eigenen Beistand (Verfahrenspfleger)<br />
ist im Rahmen des § 50 FGG in jeder Lage<br />
des Verfahrens zu überprüfen und ggf.<br />
vom Gericht anzuordnen.<br />
Mit den angeführten Vorschriften wird die<br />
herausragende Bedeutung eines effektiven<br />
Kinderschutzes unterstrichen. Es fragt<br />
sich jedoch, ob allein mit diesen Vorgaben<br />
des Gesetzes im Einzelfall hinreichend<br />
gewährleistet ist, dass das Kind und seine<br />
konkrete Bedürftigkeit auch tatsächlich<br />
im familiengerichtlichen Verfahren stets im<br />
Mittelpunkt stehen.<br />
2. Die Situation und personelle Ausstattung<br />
der Familiengerichte<br />
Mit den genannten Vorschriften sind die<br />
Handlungsanweisungen für einen effektiveren<br />
Kinderschutz verfeinert worden, bzw.<br />
befinden sich entsprechende Vorgaben in<br />
Vorbereitung.<br />
Was bisher allerdings nicht verbessert wurde,<br />
ist die Situation der Familienrichter.<br />
2.1. Die Ausbildung<br />
Der Jurist – und dies gilt auch für alle FamilienrichterInnen<br />
– hat in seiner Ausbildung<br />
gelernt, in der Vergangenheit liegende abgeschlossene<br />
Sachverhalte (Retrospektive)<br />
mit den Mitteln des Beweisrechtes aufzuklären,<br />
diese dabei durchgängig auf das<br />
rechtlich Beachtliche zu reduzieren (Selektion)<br />
und Streitfragen der Bewertung mit<br />
statischer Wirkung (Statik) zu entscheiden.<br />
Über Entwicklungsverläufe, Belastbarkeit<br />
von und Risikofaktoren bei Kindern aus<br />
psychologischer Sicht ist er zielgerichtet<br />
ebenso wenig geschult, wie darin ausge-<br />
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
bildet, zukünftige Entwicklungen bei Kindern<br />
unter den jeweils vorhandenen oder<br />
möglichen Rahmenbedingungen entsprechend<br />
vorauszusehen (Prospektive), dabei<br />
gewissermaßen mit den Augen des Kindes<br />
alle dafür bedeutsamen Faktoren aufzunehmen<br />
(Ganzheitliche Betrachtung) und<br />
Maßnahmen so zu treffen, dass einer freien<br />
Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes<br />
unter der eigenen Verantwortung der Eltern<br />
soweit wie möglich Raum gegeben wird.<br />
Das danach anzustrebende Ziel: Eine richterliche<br />
eingreifende Entscheidung ist überflüssig<br />
geworden. Das Verfahren ist ohne<br />
förmlichen Abschluss beendet. Die Entwicklung<br />
bleibt dynamisch offen.<br />
Eine gezielte pädagogische Ausbildung zur<br />
Kontaktaufnahme und Gesprächsführung<br />
mit Kindern entsprechend ihrer jeweiligen<br />
Befindlichkeit und Bedürftigkeit ist ihm<br />
ebenso wenig zu Teil geworden wie eine<br />
solche zur Befriedung von strittigen Elternteilen<br />
oder Eltern-Pflegeelternsystemen.<br />
2.2. Das Übergewicht der Konflikte von<br />
Erwachsenen gegeneinander<br />
Der Familienrichter ist überfrachtet mit<br />
Streitigkeiten von Erwachsenen, denen es<br />
um die eigene materielle Zukunftssicherung<br />
unter Ausgrenzung des – noch – Partners/<br />
Ehemannes/Ehefrau geht. In diesem Rahmen<br />
ist das Kind in der Gefahr, für die streitenden<br />
Erwachsenen eher zum Mittel der<br />
Durchsetzung sonst nicht begründbarer<br />
Ansprüche zu werden. In diesem Zusammenhang<br />
erschwert die Gruppendynamik<br />
den richterlichen Blick auf das Kind und<br />
seine Bedürftigkeit zusätzlich.<br />
Dem Richter als Einzelperson stehen z.<br />
B. im Scheidungsgeschehen bis zu 4 negativ<br />
geeinte Personen gegenüber, deren<br />
Ziel eben in erster Linie das eigene Individualinteresse<br />
und nicht die Sicherung des<br />
Kindeswohls ist. Mindestens 80 % seiner<br />
Arbeitskraft dürften von Auseinandersetzungen<br />
zwischen Erwachsenen in Anspruch<br />
genommen werden.<br />
2.3 Die fehlende Verbindung zwischen<br />
familien- und jugendgerichtlichen<br />
Fragestellungen<br />
Der Familienrichter wird nicht „mit den Folgen<br />
eigenen Handelns“ konfrontiert. Wenn<br />
85
86<br />
die Kriminologen längst herausgefunden<br />
haben, dass etwa ¾ aller Fälle von Kinder-<br />
und Jugenddelinquenz von einem broken-home-milieu<br />
in der früheren Kindheit<br />
des Täters gekennzeichnet sind, so bleibt<br />
diese Konsequenz unterbliebener Kinderschutzmaßnahmen<br />
ihm in der Regel verborgen,<br />
da es eine Personalunion zwischen<br />
Jugend- und Familiengericht in der Regel<br />
nicht gibt. Er erfährt ja – entgegen den<br />
MISTRA – häufig nicht einmal, wenn Anklagen<br />
gegen Jugendliche erhoben werden.<br />
2.4 Die Folge<br />
Der Zufall des Anfangsbuchstabens des<br />
Familiennamens entscheidet aus meiner<br />
Sicht darüber,<br />
J ob das jeweilige Familiengericht sich auf<br />
die konkrete Situation eines Kindes einstellt,<br />
J ob das Kind als ein den Erwachsenen<br />
gleichwertiges Rechtssubjekt behandelt<br />
wird,<br />
J ob Hinweise auf Gefährdungslagen in jeder<br />
denkbaren Form auch von Amts wegen<br />
aufgegriffen und zum Anlass aktiven<br />
richterlichen Handelns genommen werden,<br />
J ob das familiengerichtliche Verfahren an<br />
dem Ziel ausgerichtet ist, die konkrete<br />
Kindsituation unterstützend zu verbessern,<br />
bevor eingegriffen wird oder ob das<br />
Heil von vornherein in einer möglichst raschen<br />
statisch wirkenden und Rechte und<br />
Verantwortlichkeiten konkret beschneidenden<br />
Entscheidung gesucht wird.<br />
3. Die Steuerungsfunktion der<br />
Jugendhilfe<br />
Bei der Suche nach Verbesserung des Kinderschutzes<br />
ergibt sich zwingend die Forderung<br />
nach einem „Schulterschluss“ der<br />
beteiligten Professionen. Der Richter hat<br />
die Macht, im Krisenfall alle für das betroffene<br />
Kind Verantwortlichen an einen Tisch<br />
zu holen.<br />
Eine Verhandlungsführung mit dem durchgängigen<br />
Anspruch, soviel Sicherung der<br />
gesunden Kindesentwicklung wie möglich<br />
bei so wenig Eingriff wie tatsächlich zum<br />
Kinderschutz nötig, ist von ihm jedoch nur<br />
zu erwarten, wenn<br />
J ihm Hinweise für die Notwendigkeit eines<br />
konkreten Verfahrens in einer Form<br />
übermittelt werden, die einerseits von ihm<br />
verstanden wird, andererseits außergerichtlich<br />
wichtige Jugendhilfeleistungen<br />
nicht torpediert. Hier wird es darum gehen<br />
müssen, neben der öffentlichen Jugendhilfe<br />
die weiteren Institutionen, die<br />
mit Kindern zu tun haben, also insbesondere<br />
die Erzieher und Lehrer, als Alarmgeber<br />
zu aktivieren.<br />
J Anregungen zur Einrichtung einer Verfahrenspflegschaft<br />
zugleich mit den ersten<br />
Hinweisen gegeben und, soweit diese<br />
von der öffentlichen oder freien Jugendhilfe<br />
kommen, geeignet erscheinende Verfahrenspfleger<br />
benannt werden. Bereits<br />
im ersten Termin von Seiten der Jugendhilfe<br />
darauf aufbauend und die persönlichen<br />
Eindrücke der Anhörung der Eltern<br />
oder Beteiligten aufgreifend Hypothesen<br />
für Gefährdungsverläufe konkret dargestellt<br />
werden, wobei das Augenmerk neben<br />
den leichter darzustellenden körperlichen<br />
und geistigen besonders den<br />
seelischen Gefährdungslagen zugewandt<br />
werden sollte.<br />
J In jeder Lage des Verfahrens Anregungen<br />
zur Eröffnung weiterer Verfahren gegeben<br />
werden (z. B. bei Umgangsstreitigkeiten<br />
bzw. die Frage der elterlichen Sorge thematisiert<br />
wird, bzw. umgekehrt im Sorgeverfahren<br />
angeregt wird, ein besonderes<br />
Umgangsverfahren von Amts wegen zu<br />
eröffnen).<br />
J Angebote weiterführender und das Verfahren<br />
eventuell erledigende Jugendhilfeleistungen<br />
den Eltern oder sonstigen<br />
Beteiligten in jeder Lage des Verfahrens<br />
unterbreitet werden. In diesem Fall sollten<br />
dem Gericht Hinweise und Anregungen<br />
für die Zeitdauer einer Verfahrensunterbrechung<br />
und sichernder einstweiliger<br />
Anordnungen gegeben werden.<br />
J Hinweise auf Möglichkeit, Sinnhaftigkeit,<br />
Ort und Setting einer nicht schädigenden<br />
Einbeziehung des Kindes durch richterliche<br />
Anhörung in Kooperation mit dem<br />
Verfahrenspfleger gegeben werden.<br />
J Bei Eintritt in Stufe 4: Verdeutlichung der<br />
Folgen kindesschädlichen Verhaltens aus<br />
sozialwissenschaftlicher wie aus strafrechtlicher<br />
Sicht (§ 171 StGB u. a.).<br />
J Benennung geeigneter Sachverständiger<br />
sowie Anregung zielführender, nach Möglichkeit<br />
lösungsorientierter Auftragsformen.
Ein Beispiel für entsprechende Fragestellungen<br />
an Sachverständige:<br />
A) Bei Gefährdungslagen im Trennungs-<br />
und Scheidungsgeschehen, insbesondere<br />
im Hinblick auf das seelische<br />
und geistige Kindeswohl<br />
Der Sachverständige (x, y) wird beauftragt,<br />
die Eltern über die objektiven und subjektiven<br />
Bedürfnisse des Kindes im Hinblick<br />
auf seine Betreuung durch beide und Beziehungsgestaltung<br />
zu beiden Elternteilen<br />
zu informieren und beide Elternteile gegebenenfalls<br />
bei der Erarbeitung eines daran<br />
orientierten einvernehmlichen Konzeptes<br />
zur Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung<br />
zu unterstützen. Falls dies nicht<br />
gelingt, wird der Sachverständige gebeten,<br />
zunächst in einem nach Abschluss seiner/<br />
ihrer Ermittlungen anzuberaumenden Termin<br />
zur mündlichen Erörterung dem Gericht<br />
folgende Fragen zu beantworten:<br />
J Welches sind die objektiven und subjektiven<br />
Bedürfnisse des Kindes im Hinblick<br />
auf seine Betreuung durch beide und Beziehungsgestaltung<br />
zu beiden Elternteilen?<br />
J Welche Bindungsqualitäten des Kindes<br />
bestehen zu beiden Eltern?<br />
J Inwieweit sind zu Lasten der seelischen,<br />
geistigen oder leiblichen Situation schädliche<br />
Fehlentwicklungen zu erwarten,<br />
wenn die festgestellte Situation unverändert<br />
bleibt?<br />
J Lässt sich die Gefährdungslage bei entsprechender<br />
Bereitschaft der Eltern durch<br />
konkrete ambulante oder stationäre Jugendhilfeleistungen<br />
– ggf. welche? – aufheben?<br />
J Wie sind Erziehungseignung und -fähigkeit<br />
der Eltern, insbesondere ihre Förderungsfähigkeit,<br />
Bindungstoleranz und Betreuungskompetenz<br />
zu bewerten?<br />
J Bestehen Möglichkeiten, die Beziehungskontinuität<br />
zwischen Kind und dem nicht<br />
betreuenden Elternteil herzustellen, zu ermöglichen<br />
oder zu festigen? Falls ja, welche<br />
Maßnahmen sind dafür geeignet?<br />
J Erscheinen einstweilige Anordnungen<br />
zum Aufenthalt und / oder der Beziehungsgestaltung<br />
erforderlich?<br />
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
B) Bei Gefährdungslagen im Übrigen<br />
Der Sachverständige wird beauftragt, ein<br />
schriftliches Gutachten zu der Frage zu erstellen,<br />
inwieweit die seelische, geistige<br />
oder leibliche gesunde Entwicklung des<br />
Kindes gefährdet ist.<br />
Hinweise auf sofort zu treffende Maßnahmen<br />
oder einstweilige Anordnungen zur<br />
Verhinderung weiterer Gefährdung oder<br />
Schädigung soll d. Sachverständige dem<br />
Gericht unverzüglich anzeigen.<br />
Zusammenfassend lässt sich die Aufgabenstellung<br />
der Jugendhilfe wie folgt umreißen:<br />
Die Jugendhilfe nimmt Hinweise<br />
auf Gefährdungen auf, bindet etwaige Interessenvertreter<br />
der Erwachsenen bereits<br />
außergerichtlich in den Beratungs-/Hilfeprozess<br />
mündlich ein, verstärkt den Hilfeprozess<br />
ggf. durch Anregung eines Gerichtsverfahrens<br />
(§ 8a SGBVIII), sorgt für<br />
die kindzentrierte Unterstützung des Hilfeprozesses<br />
durch gleichzeitiges Ersuchen<br />
auf Bestellung eines konkreten dazu geeigneten<br />
Verfahrenspflegers (vgl. auch § 53<br />
SGB VIII), steuert das Verfahren durch gezielte<br />
Anregungen (z. B. Sachverständige/<br />
einstweilige Anordnung), gewährleistet mit<br />
Rechtsmitteleinlegung eine weitere nötige<br />
Hilfeleistung über die erste Instanz hinaus.<br />
Für Lehrerschaft und Betreuer von Kindern<br />
gelten diese Hinweise mit Ausnahme der<br />
Beschwerdeeinlegung entsprechend. Bei<br />
der gegebenen fachlichen und personellen<br />
Ausstattung der Öffentlichen Jugendhilfe<br />
dürfte jedoch ein entsprechendes Vorgehen<br />
eher zufallsabhängig sein.<br />
III. Konsequenzen<br />
1. Örtliche Vernetzung der den Kindern<br />
verpflichteten Berufe<br />
Die qualifizierte und kindorientierte Kooperation<br />
zwischen den Institutionen, die im<br />
Auftrag der Gesellschaft für die Belange der<br />
Kinder berufen sind, muss in jedem Einzelfall<br />
eines Gerichtsverfahrens – in Terminen<br />
stets in mündlicher Präsenz – erfolgen.<br />
Zu einer beispielhaften praktischen Kooperationsform<br />
möchte ich auf die nachfolgende<br />
Darstellung einer Kooperations-<br />
87
88<br />
vereinbarung aller am Verfahren beteiligten<br />
Professionen des Kollegen Hornung verweisen.<br />
2. Initiierung oder Unterstützung von<br />
Projekten zur Qualifizierung der<br />
Interessenvertretung von Kindern<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner<br />
jüngsten Entscheidung vom 01.04.2008<br />
das Recht eines jeden Kindes auf Achtung<br />
seiner Menschenwürde ebenso unterstrichen<br />
wie seinen Anspruch, in jeder<br />
Lage des Gerichtsverfahrens, bei dem es<br />
um seine Rechte geht, rechtliches Gehör<br />
zu erhalten. Da ihm jedoch aufgrund seiner<br />
Minderjährigkeit nicht möglich ist, diese<br />
Ansprüche selbst geltend zu machen, ist es<br />
auf einen Interessenvertreter angewiesen,<br />
dessen vornehmste Aufgabe es ist, seinen<br />
„Mandanten“ vor Gefahren für sein Wohl zu<br />
schützen.<br />
Eine Verfahrenspflegschaft, durch die eine<br />
qualifizierte Vertretung der Grundrechte<br />
und der Interessen des Kindes vor Gericht<br />
in allen Gerichtsverfahren, bei denen es um<br />
seinen Schutz vor Gefährdung geht, gewährleistet<br />
ist, existiert jedoch (noch) nicht.<br />
Ob und welche Personen den Gerichten<br />
überhaupt als VerfahrenspflegerInnen zur<br />
Verfügung stehen, ob sie entsprechend der<br />
jeweiligen Aufgabe hinreichend qualifiziert<br />
sind, ob der einzelne Richter überhaupt<br />
Kenntnis davon hat, all dies unterliegt noch<br />
dem Zufallsprinzip.<br />
In der Verantwortung – zumindest auch –<br />
der Jugendhilfe liegt es, das Instrument der<br />
Verfahrenspflegschaft zumindest auch als<br />
Einrichtung der Jugendhilfe zu begreifen<br />
und verantwortlich für den gezielten und<br />
qualifizierten Aufbau einer organisierten<br />
und unabhängigen Anwaltschaft für das<br />
Kind einzutreten, bzw. diese mit zu gestalten<br />
(vgl. dazu auch § 53 Abs. 1 SGB VIII).<br />
Eine qualitativ im Interesse des Kindes arbeitende<br />
Verfahrenspflegschaft dürfte neben<br />
dem dadurch verbesserten Kinderschutz<br />
auch den Effekt haben, Jugendhilfe<br />
ebenso wie Justiz zu entlasten.<br />
3. Verbesserung der gesetzlichen<br />
Rahmenbedingungen<br />
3.1 Verbesserungen im vorgesehenen<br />
Entwurf des Verfahrensrechts<br />
Die Stellung des Kindes im Verfahren muss<br />
gemäß Art. 1 und 103 GG aufgewertet werden.<br />
Das Kind muss formal als Beteiligter<br />
des Verfahrens, bei dem es um seine Rechte<br />
geht, wie jeder andere Bürger auch, anerkannt<br />
werden.<br />
Der Verfahrensbeistand - § 158-E: Der Interessenvertreter<br />
des Kindes sollte ähnlich<br />
wie die Rechtsanwälte der erwachsenen<br />
Beteiligten „seines Verfahrens“<br />
a) sachlich und personell unabhängig sein<br />
und<br />
b) über eine gezielt erworbene Qualifikation<br />
für das Erkennen, Aufgreifen und Einbringen<br />
der konkreten Kindposition in allen<br />
möglichen Variablen verfügen. Ein wichtiger<br />
Schritt dahin könnte folgende Fassung des<br />
vorgesehenen § 158 sein:<br />
„(1) Das Gericht hat dem minderjährigen<br />
Kind in allen Kindschaftssachen, die seine<br />
Person betreffen, einen geeigneten Verfahrensbeistand<br />
zu bestellen. Dies gilt auch für<br />
entsprechende Vollstreckungsverfahren.<br />
(6) Die Bestellung endet<br />
1. mit der Rechtskraft der das Verfahren<br />
abschließenden Entscheidung oder<br />
2. mit dem sonstigen Abschluss des Verfahrens.<br />
(7) Der Verfahrensbeistand erhält Ersatz für<br />
seine Aufwendungen und Vergütung wie<br />
ein Sachverständiger“.<br />
In einer besonderen Vorschrift sollte klargestellt<br />
werden, dass es keines besonderen<br />
Grades einer Gefährdung des Kindes<br />
bedarf, um ein Verfahren nach § 1666 BGB<br />
überhaupt einleiten zu dürfen, wie es offenbar<br />
noch verbreitet angenommen wird:<br />
Verfahren nach §§ 1666, 1666 a BGB werden<br />
vom Gericht eingeleitet, sobald dieses<br />
Kenntnis von konkreten Anhaltspunkten<br />
dafür erhält, dass das Kindeswohl gefährdet<br />
sein kann. Das Gericht soll mit den Eltern<br />
und in geeigneten Fällen auch mit dem<br />
Kind…(weiter wie der vorliegende Entwurf)
Zur Anhörung – besser vielleicht – Einbeziehung<br />
des Kindes sollte § 159 Abs.2 E<br />
klarstellend die Fassung bekommen, wie<br />
sie das Bundesverfassungsgericht als Inhalt<br />
der Kindesanhörung bereits 1980 (NJW<br />
1981, 217) formuliert hat:<br />
„ (1)......<br />
(2).....<br />
Dabei ist dem Kind Gelegenheit zu geben,<br />
seine persönlichen Beziehungen zu den<br />
übrigen Familienmitgliedern erkennbar werden<br />
zu lassen.<br />
Der Verfahrensbeistand ist bei der Anhörung<br />
anwesend. Ein Sachverständiger soll<br />
hinzugezogen werden, falls Anhaltspunkte<br />
für eine erhebliche Abweichung von der<br />
Normalentwicklung des Kindes bestehen.“<br />
§ 159 a E sollte eingefügt werden. Es muss<br />
sichergestellt werden, dass Kenntnisse<br />
über die konkrete Situation des Kindes, die<br />
bei den Fachleuten zu erwarten sind, die<br />
außer den Familienmitgliedern die größte<br />
Nähe zum Kind haben, im Einzelfall auch<br />
abgerufen werden.<br />
„Das Gericht soll bei Auffälligkeiten oder<br />
Leistungsminderungen des Kindes zur Einschätzung<br />
seines Entwicklungsstandes die<br />
schriftliche Stellungnahme der Betreuer,<br />
Erzieher oder Lehrer des Kindes einholen<br />
oder diese persönlich anhören.“<br />
Die Stellung des Jugendamtes ist in § 162<br />
E in eine formale Beteiligtenstellung für das<br />
gesamte Verfahren aufzuwerten. Es kann<br />
nicht im Belieben des Gerichtes liegen, ob<br />
das Jugendamt z. B. zu einem Termin geladen<br />
wird oder „nur“ eine Terminnachricht<br />
erhält.<br />
„(1) Das Jugendamt ist in Verfahren, die die<br />
Person eines Kindes betreffen, beteiligt.<br />
Unterbleibt eine Anhörung des Jugendamtes<br />
vor einer Entscheidung wegen Gefahr<br />
im Verzug, ist sie unverzüglich nachzuholen.<br />
(2) (wie bisher Abs. 3)“<br />
In § 163 E muss der Sachverständige klarstellend<br />
zu einem echten Gehilfen des Gerichtes<br />
werden.<br />
Eine mögliche Fassung:<br />
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
(1) Das Gericht kann auch im Rahmen der<br />
§§ 89, 90, 156, 157, 159 und 165 einen<br />
Sachverständigen hinzuziehen.<br />
(2) Der Sachverständige hat die Bezugspersonen<br />
des Kindes vor einer Gutachtenerstellung<br />
zu Fragen der elterlichen Sorge<br />
und des Umgangs auf die objektiven und<br />
subjektiven Kindesbedürfnisse hinzuweisen<br />
und bei der Erarbeitung eines einvernehmlichen<br />
an den Kindesinteressen orientierten<br />
Konzeptes zur Handhabung der elterlichen<br />
Sorge und Beziehungsgestaltung zu unterstützen.<br />
(3) Ein Gutachten soll in der Regel zunächst<br />
mündlich erstattet werden.<br />
(4) Wird schriftliche Begutachtung angeordnet,<br />
setzt das Gericht dem Sachverständigen<br />
zugleich eine Frist, innerhalb derer er<br />
das Gutachten einzureichen hat (wie bisher<br />
Abs. 1).<br />
Das Vermittlungsverfahren muss aus Gründen<br />
der Verhältnismäßigkeit ein Verfahren<br />
werden, das von Amts wegen eröffnet<br />
werden kann, wenn Hinweise auf das Kind<br />
belastende Beziehungsstörungen bekannt<br />
werden.<br />
§ 165 E sollte lauten:<br />
(1) Macht ein Elternteil oder das Jugendamt<br />
geltend,…vermittelt das Gericht auf Antrag<br />
eines Elternteils oder von Amts wegen zwischen<br />
den Eltern…<br />
(2)...<br />
3.2. Veränderungen im Hinblick auf Aus-<br />
und Fortbildung der mit familienrechtlichen<br />
Kindschaftssachen befassten<br />
RichterInnen sowie der<br />
Gerichtsorganisation.<br />
3.2.1. Gesetzliche Vorgaben zur Aus- und<br />
Fortbildung der Richter, die mit<br />
Kindschaftssachen betraut werden.<br />
Im GVG sollte danach gesetzlich vorgeschrieben<br />
werden, dass mit Kindschaftssachen<br />
von den Präsidien der Gerichte nur<br />
betraut werden darf, wer konkret vorzusehende<br />
Aus- und Fortbildungsgänge im<br />
Bereich der Psychologie und Pädagogik<br />
erfolgreich besucht hat und sich zu berufsbegleitenden<br />
Fortbildungsmaßnahmen verpflichtet.<br />
89
90<br />
Herauslösung der Verfahren ein Kind betreffend<br />
aus dem Scheidungsverbund<br />
und Zuweisung dieses Bereiches zum<br />
Jugendgericht – Etablierung eines Erziehungsgerichtes<br />
A ngst nehmen<br />
B eziehungen des Kindes sichern<br />
C hancen einer gesunden Kindesentwicklung<br />
eröffnen<br />
durch<br />
K onferenz zur<br />
S icherung zur<br />
Z usammenarbeit der<br />
E ltern<br />
Literatur:<br />
Prestien: Wirksamer Kinderschutz in Zeitschrift<br />
für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe<br />
in ZKJ 2008, 59 ff, 61;<br />
Schulze: Familienrichter zwischen Entscheidungszentrierung<br />
und Kindperspektive<br />
in ZKJ 2006, 539 f; Wustrauer Forderungen<br />
in www. v-a-k.de
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
91
92<br />
Warendorfer<br />
Praxis<br />
Andreas Hornung<br />
Sämtliche Bezeichnungen der Beteiligten<br />
verstehen sich im Folgenden als neutral<br />
formuliert und umfassen stets das weibliche<br />
und das männliche Geschlecht.<br />
I. Vorbemerkung:<br />
Diese Praxis ist von Jugendämtern, Familiengerichten,<br />
Rechtsanwälten, Verfahrenspflegern<br />
sowie Beratungs- und Hilfestellen<br />
des Kreises Warendorf in Anlehnung an das<br />
und Weiterentwicklung des sogenannten<br />
„Cochemer Modells“ erarbeitet worden, um<br />
eine möglichst einheitliche außergerichtliche<br />
und gerichtliche Handhabung der oben<br />
näher bezeichneten Verfahrens im gesamten<br />
Gebiet des Kreises Warendorf zu erzielen.<br />
Sie stellt keine verbindlichen Regeln dar<br />
– das verbietet sich schon mit Rücksicht auf<br />
die richterliche Unabhängigkeit sowie die<br />
Eigenständigkeit und teilweisen Interessengegensätze<br />
der weiteren oben genannten<br />
Beteiligten – soll aber dazu beitragen, in den<br />
oben genannten Verfahren angemessene,<br />
insbesondere am Wohl der betroffenen Kinder<br />
und Jugendlichen, aber auch der betroffenen<br />
Eltern orientierte Lösungen zu finden,<br />
ohne den Spielraum einzuengen, der erforderlich<br />
ist, um den jeweiligen Besonderheiten<br />
des Einzelfalls gerecht zu werden.<br />
II. Unterscheidung zwischen Regelverfahren<br />
und sonstigen familienrechtlichen,<br />
das Kindeswohl betreffenden<br />
Verfahren:<br />
Bei den folgenden Verfahrensgrundsätzen<br />
wird zwischen Regelverfahren und sonstigen<br />
familienrechtlichen, das Kindeswohl<br />
betreffenden Verfahren unterschieden:<br />
1. Bei den Regelverfahren handelt es sich<br />
um die im Rahmen einer Trennung oder<br />
Scheidung der Kindeseltern auf Antrag üblicherweise<br />
zu regelnden Sorgerechts- oder<br />
Umgangsregelungsverfahren einschließlich<br />
einer im Einzelfall erforderlichen Kindesherausgabe.<br />
2. Hiervon abzugrenzen sind die sonstigen<br />
das Kindeswohl betreffenden Verfahren, bei<br />
denen das Regelverfahren nicht ohne weiteres<br />
zur Anwendung kommen kann, insbesondere<br />
die Verfahren nach den §§ 1666,<br />
1666 a BGB und andere Fälle, in denen das<br />
Kindeswohl durch Gewaltanwendung gefährdet<br />
ist, namentlich Verfahren nach dem<br />
Gewaltschutzgesetz.<br />
3. Die nachfolgende Praxis gilt grundsätzlich<br />
für die Regelverfahren und für die<br />
sonstigen Verfahren nur mit den nachfolgend<br />
in den einzelnen Punkten aufgeführten<br />
Modifikationen.<br />
4. Vorrangiges Ziel aller Verfahrensbeteiligten<br />
in den Regelverfahren ist es, nach dem<br />
Grundsatz „Schlichten statt Richten“ zeitnah<br />
auf eine Einigung der Kindeseltern hinzuwirken<br />
und nur im Ausnahmefall eine<br />
streitige Entscheidung herbeizuführen.<br />
III. Außergerichtliche Verfahrensweise<br />
in Sorgerechts- und Umgangsregelungsverfahren<br />
vor gerichtlichen<br />
Verfahren:<br />
1. Sucht ein Elternteil das zuständige Jugendamt<br />
oder einen Rechtsanwalt in einer<br />
das Sorgerecht oder das Umgangsrecht<br />
seines Kindes / seiner Kinder betreffenden<br />
Angelegenheit auf, die unter die oben genannten<br />
Regelverfahren fällt, informiert der<br />
Jugendamtsmitarbeiter oder Rechtsanwalt<br />
zunächst umfassend über die außergerichtlichen<br />
Beratungsangebote und sonstigen<br />
Hilfestellungen, die das Jugendamt sowie<br />
die öffentlichen und freien Beratungs- und<br />
Hilfestellen, insbesondere die Träger der<br />
Jugendhilfe, vorhalten. Der Jugendamtsmitarbeiter<br />
bzw. Rechtsanwalt wirkt darauf<br />
hin, dass der ihn aufsuchende Elternteil<br />
zunächst – in den Regelverfahren soweit<br />
möglich unter Einbeziehung eines gemeinsamen<br />
Gesprächs mit dem anderen Elternteil<br />
– die Beratungs- und Hilfeangebote des<br />
Jugendamtes bzw. der anderen genannten<br />
Träger der Jugendhilfe in Anspruch nimmt.<br />
2. Vorstehende Regelungen greifen nicht,<br />
wenn sich die antragstellende Person direkt<br />
mit einem eigenen schriftlichen Antrag<br />
oder über die Rechtsantragsstelle an das<br />
Gericht wendet.
3. Dieser „Warendorfer Praxis“ liegt eine<br />
nach der jeweiligen Aufgabenstellung und<br />
den jeweiligen Angeboten geordnete alphabetische<br />
Aufstellung aller wichtigen an der<br />
Umsetzung der Praxis beteiligten Institutionen<br />
im Kreis Warendorf und der näheren<br />
Umgebung (Gerichte, Jugendämter, Beratungs-<br />
und Hilfestellen, Rechtsanwälte,<br />
Verfahrenspfleger) mit Namen, Anschriften,<br />
Telefonnummern und – soweit vorhanden<br />
und von der betreffenden Institution freigegeben<br />
– E-Mail-Anschrift an.<br />
4. Kinder und Jugendliche sollen ihrem jeweiligen<br />
individuellen Reifegrad entsprechend<br />
in die außergerichtlichen Beratungs-<br />
und Hilfegespräche einbezogen werden,<br />
spätestens ab der vom BGB und FGG in<br />
verschiedenen Vorschriften als wichtige<br />
Grenze gezogenen Vollendung des 14. Lebensjahres,<br />
regelmäßig bei entsprechender<br />
Reife aber auch bereits ab dem Alter<br />
des Besuchs einer Schule. Bei Kindern vor<br />
oder im Kindergartenalter hängt es von Art<br />
und Umfang des zu lösenden Sorgerechts-<br />
oder Umgangsregelungskonflikts ab, ob<br />
und inwieweit die Jugendamtsmitarbeiter<br />
und Mitarbeiter der öffentlichen oder freien<br />
Träger das Kind persönlich anhören bzw. in<br />
Augenschein nehmen.<br />
5. Gelingt in den Regelverfahren eine außergerichtliche<br />
Regelung des Sorgerechts-<br />
oder Umgangsregelungskonflikts der Kindeseltern<br />
nach dem Erstkontakt mit dem<br />
Jugendamt oder dem Rechtsanwalt und<br />
der Inanspruchnahme außergerichtlicher<br />
Beratung nicht, steht es den Eltern frei, ein<br />
familiengerichtliches Verfahren einzuleiten.<br />
IV. Verfahrensweise in Sorgerechts-<br />
und Umgangsregelungsverfahren<br />
während des gerichtlichen Verfahrens:<br />
1. Die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens<br />
durch den beauftragten Rechtsanwalt<br />
erfolgt in den Regelverfahren durch eine<br />
Antragsschrift, die sich auf die Statusangaben<br />
der Beteiligten und die knappe Darstellung<br />
des wesentlichen Sachstands zur<br />
Begründung der beantragten Sorgerechts-<br />
oder Umgangsregelung konzentrieren und<br />
nicht durch den anderen Elternteil angreifende<br />
Ausführungen konfliktverschärfend<br />
formuliert werden soll.<br />
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
2. In den Verfahren nach den §§ 1666,<br />
1666 a BGB sowie anderen Verfahren, in<br />
denen das Kindeswohl durch Gewaltanwendung<br />
gefährdet ist bzw. dieses glaubhaft<br />
gemacht ist (z. B. Verfahren nach dem<br />
Gewaltschutzgesetz), schildert der Antragsteller<br />
(Jugendamt, Elternteil oder Rechtsanwalt)<br />
hingegen ausführlich und unter<br />
Angabe von Beweismitteln diejenigen Umstände,<br />
auf Grund derer zum Kindeswohl<br />
eine Entscheidung nach den §§ 1666, 1666<br />
a BGB oder dem Gewaltschutzgesetz geboten<br />
erscheint. Auch in sämtlichen in dieser<br />
Ziffer genannten Verfahren sollen die<br />
Verfahrensbeteiligten trotz der vorgenannten<br />
Erfordernisse in ihren Schriftsätzen an<br />
das Gericht das Sachlichkeitsgebot einhalten.<br />
Jugendämter und Beratungs-/Hilfestellen<br />
beabsichtigen, gemeinsame Standards<br />
zu entwickeln, wann ein Fall der Gewaltanwendung<br />
im Sinne dieser Ziffer vorliegt.<br />
3. Im Regelverfahren beraumt der zuständige<br />
Familienrichter<br />
a) im Hauptsacheverfahren auf einen Zeitpunkt,<br />
der in der Regel spätestens zwei bis<br />
maximal drei Wochen nach Antragseingang<br />
bei Gericht liegt,<br />
b) im Falle eines zeitgleichen, einstweiligen<br />
Anordnungsverfahrens auf einen Zeitpunkt,<br />
der in der Regel eine Woche bis spätestens<br />
10 Tage nach Antragseingang bei Gericht<br />
liegt,<br />
einen Anhörungs- und Verhandlungstermin<br />
an, zu dem er die Kindeseltern, deren Verfahrensbevollmächtigte<br />
und das zuständige<br />
Jugendamt lädt. Der Familienrichter soll<br />
die Verfahren soweit möglich auf einen den<br />
übrigen Institutionen bekannten festen Terminstag<br />
mit festen Terminsstunden legen<br />
und die Beteiligten soweit erforderlich vorab<br />
per Telefax laden.<br />
Dem Antragsgegner bzw. seinem Verfahrensvertreter<br />
ist freigestellt, ob er sich<br />
schriftsätzlich vor dem Termin zur Sache<br />
äußert – wobei für ihn die gleichen Regeln<br />
wie für den Antragsteller(-Vertreter) unter IV.<br />
1. gelten – oder in dem Anhörungstermin<br />
selbst mündlich Stellung nimmt.<br />
Wird der Sorgerechts- oder Umgangsregelungsantrag<br />
im Scheidungsverbundverfahren<br />
gestellt, gelten die obigen Maßgaben<br />
zur Terminsanberaumung entsprechend.<br />
Die Beteiligten sollen Abtrennung beantra-<br />
93
94<br />
gen; wird Abtrennung beantragt, muss das<br />
Gericht diese anordnen (§ 623 Abs. 2 Satz<br />
2 ZPO).<br />
4. Der Jugendamtsmitarbeiter nimmt in<br />
der Zeit bis zum Verhandlungstermin möglichst<br />
mit beiden Elternteilen und dem betroffenen<br />
Kind oder Jugendlichen Kontakt<br />
auf, um die Problemschwerpunkte zu erfassen<br />
und die Eltern auf den Termin und<br />
die Beratung im Falle der Nichteinigung im<br />
ersten Termin vorzubereiten. Der Jugendamtsmitarbeiter<br />
nimmt an der gerichtlichen<br />
Anhörung teil und erstattet seinen Bericht<br />
im Regelfall mündlich. Der Familienrichter<br />
protokolliert den Bericht in dem nach<br />
den Umständen des Einzelfalles notwendigen<br />
Umfang. Im Ausnahmefall erstellt der<br />
Jugendamtsmitarbeiter auf besondere gerichtliche<br />
Bitte vor dem Verhandlungstermin<br />
einen schriftlichen Bericht – wobei er<br />
auch in diesem Falle an dem Anhörungstermin<br />
teilnimmt.<br />
5. Der Familienrichter entscheidet im Einzelfall,<br />
wann, wo und wie er das betroffene<br />
Kind anhört, wobei die „Warendorfer Praxis“<br />
folgende Vorgehensweise empfiehlt:<br />
Der Richter lädt – bis zur Vollendung des<br />
14. Lebensjahres über den Elternteil, bei<br />
dem das Kind lebt, danach direkt – das<br />
Kind zur persönlichen Anhörung und Inaugenscheinnahme,<br />
und zwar im Regelfall bei<br />
Kindern ab dem Kindergartenalter (etwa<br />
Vollendung des zweiten bis dritten Lebensjahres).<br />
In sachlich begründeten Ausnahmefällen<br />
kann einerseits die Anhörung des<br />
Kindes zunächst unterbleiben und andererseits<br />
auch ein noch jüngeres Kind richterlich<br />
in Augenschein genommen werden.<br />
Der Familienrichter entscheidet hierüber<br />
nach freiem Ermessen. Im Regelfall ist eine<br />
Anhörung des Kindes an einem gesonderten<br />
vorherigen oder ausnahmsweise auch<br />
nachträglichen Termin – ggf. in der gewohnten<br />
Umgebung des Kindes – geboten.<br />
Nur wenn es sachdienlich (etwa zur Beobachtung<br />
der Interaktion des Kindes mit den<br />
Eltern) und mit dem Kindeswohl vereinbar<br />
ist, wird im Ausnahmefall das Kind zur<br />
Anhörung auf den Tag und die Uhrzeit des<br />
Verhandlungstermins geladen. Im Falle der<br />
§§ 1666, 1666 a BGB sowie sonstigen Fällen<br />
der Kindeswohlgefährdung durch Gewaltanwendung<br />
(auch des einen Elternteils<br />
gegen den anderen Elternteil) soll stets ein<br />
gesonderter vorheriger Kindesanhörungstermin<br />
erfolgen.<br />
Der Richter teilt den übrigen Beteiligten in<br />
den Regelverfahren vorab den Kindesanhörungszeitpunkt<br />
und -ort mit, damit die Beteiligten<br />
im Bedarfsfalle Änderungen der<br />
Vorgehensweise anregen können. Die Anhörung<br />
des Kindes soll in der Regel allein<br />
in Anwesenheit des Kindes und des Familienrichters<br />
erfolgen, wobei nach den Umständen<br />
die gleichzeitige Anwesenheit<br />
Dritter zugelassen werden kann (z. B. ausnahmsweise<br />
Teilnahme des Jugendamtmitarbeiters)<br />
oder muss (insbesondere eines<br />
Verfahrenspflegers, siehe unten 7.c).<br />
Die Kindesanhörung dient vorrangig dem<br />
Kennenlernen des Kindes, seines Lebensalltags<br />
sowie seiner Wünsche und Bedürfnisse<br />
und weniger der Positionierung des<br />
Kindes in dem Streit der erwachsenen Verfahrensbeteiligten.<br />
Der Familienrichter gibt<br />
das wesentliche Ergebnis der Kindesanhörung<br />
den Verfahrensbeteiligten so rechtzeitig<br />
bekannt, dass diese zu dem Ergebnis in<br />
der mündlichen Verhandlung vor dem Erlass<br />
verfahrensfördernder gerichtlicher Anordnungen<br />
Stellung nehmen können.<br />
6. In der ersten mündlichen Verhandlung<br />
hört der Familienrichter die Kindeseltern<br />
an und wirkt sodann gemeinsam mit<br />
dem anwesenden Jugendamtsmitarbeiter<br />
und den als Verfahrensvertretern der Kindeseltern<br />
beteiligten Rechtsanwälten darauf<br />
hin, eine gemeinsame einvernehmliche<br />
Lösung zu finden, die von allen Beteiligten<br />
getragen und vom Gericht als Vereinbarung/Vergleich<br />
protokolliert wird. Soweit<br />
die Vereinbarung eine Einigung über die<br />
Übertragung der elterlichen Sorge oder eines<br />
Teilbereichs beinhaltet, erlässt das Gericht<br />
im Anschluss einen entsprechenden<br />
Beschluss.<br />
Eine Umgangsregelungsvereinbarung kann<br />
das Gericht auf Wunsch eines Verfahrensbeteiligten<br />
durch Beschluss zum Gegenstand<br />
einer vollziehbaren gerichtlichen Anordnung<br />
im Sinne des § 33 FGG machen,<br />
wenn die inhaltlichen Voraussetzungen für<br />
eine der Vereinbarung entsprechende Beschlussfassung<br />
vorliegen.<br />
7. Kommt es in den Regelverfahren in dem<br />
ersten Verhandlungstermin nicht zu einer
Einigung der Kindeseltern, trifft das Familiengericht<br />
im Regelfall die folgenden Maßnahmen:<br />
a) Eine streitige Sachentscheidung in der<br />
Hauptsache ergeht in der Regel nicht. In<br />
begründeten Ausnahmefällen kann bei Entscheidungsreife<br />
bereits jetzt eine Hauptsacheentscheidung<br />
ergehen.<br />
b) Das Familiengericht wirkt darauf hin,<br />
dass die Kindeseltern spätestens zwei bis<br />
drei Wochen nach dem Verhandlungstermin<br />
öffentliche oder freie Beratungs- oder<br />
Hilfestellen (zumindest eine Beratungsstelle<br />
der öffentlichen oder freien Jugendhilfe,<br />
ggf. jeweils auch eine Beratungsstelle<br />
für die betroffene Mutter oder den betroffenen<br />
Vater) aufsuchen und die dortigen Beratungs-<br />
und Hilfsangebote mit mehreren<br />
Gesprächsterminen und dem Ziel einer einvernehmlichen<br />
außergerichtlichen Einigung<br />
für die Dauer von im Regelfall bis zu drei<br />
Monaten ab dem ersten Verhandlungstermin<br />
in Anspruch nehmen. Soweit die Kindeseltern<br />
sie von ihrer Schweigepflicht entbinden<br />
(hierauf sollen die Beratungsstellen<br />
beim Erstkontakt hinweisen und auf eine<br />
möglichst sofort von beiden Eltern zu unterschreibendeSchweigepflichtentbindungserklärung<br />
hinwirken), berichten die<br />
Mitarbeiter der Beratungs- oder Hilfestellen<br />
dem Jugendamt vor Ablauf von drei Monaten<br />
schriftlich über den zeitlichen Verlauf<br />
ihrer Beratungs- und Hilfetätigkeit und<br />
ob eine Einigung erzielt werden konnte. Für<br />
den Fall einer Einigung informieren die Eltern<br />
nach Beendigung der Beratung selbst<br />
das Jugendamt über den Inhalt der erreichten<br />
Einigung auf der Grundlage einer gemeinsam<br />
erarbeiteten und von beiden Elternteilen<br />
unterschriebenen Vereinbarung.<br />
Für den Fall, dass keine Einigung erzielt<br />
worden ist, berichten die Mitarbeiter der<br />
Beratungs- oder Hilfestellen dem Jugendamt<br />
kurz schriftlich über den wesentlichen<br />
Verlauf und das Ergebnis der Beratung. Bei<br />
Bedarf kann das Gericht den Beratungs-<br />
und Hilfezeitraum auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten<br />
um längstens drei Monate<br />
verlängern.<br />
c) Das Familiengericht kann dem Kind nach<br />
dem Maßstab des § 50 FGG einen in Sorgerechts-<br />
und Umgangsfragen fachlich,<br />
insbesondere pädagogisch geschulten<br />
und erfahrenen Verfahrenspfleger bestellen<br />
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
mit dem Auftrag, unmittelbar an den ersten<br />
Verhandlungstermin anschließend mit<br />
der Exploration des Kindeswillens und des<br />
Kindeswohls durch Kontaktaufnahme und<br />
Gespräche mit dem Kind, beiden Elternteilen,<br />
dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter<br />
sowie den unter b) genannten weiteren<br />
Institutionen und Bezugspersonen zu<br />
beginnen und vor Ablauf von drei Monaten<br />
dem Jugendamt schriftlich zu berichten,<br />
wobei die Ausführungen unter b) zur<br />
Schweigepflichtentbindung entsprechend<br />
gelten. Aufgabe und Ziel der Tätigkeit des<br />
Verfahrenspflegers ist es einerseits, das<br />
Kind als eigenständige Person mit seinen<br />
Grundrechten ernst zu nehmen, seine<br />
Rechte wahrzunehmen und zu vertreten,<br />
seine Gefühle ernst zu nehmen, das kindliche<br />
Zeitempfinden (insbesondere bei Umgangsfragen)<br />
zu berücksichtigen und die<br />
Kindeswünsche ungefiltert ohne Rücksicht<br />
auf ihre Realisierbarkeit mitzuteilen sowie<br />
andererseits, in Zusammenarbeit mit den<br />
anderen Beteiligten und unter Vermittlung<br />
zwischen den Elternteilen auf eine einvernehmliche<br />
Lösung hinzuwirken, dem Kind<br />
für den Fall einer zukünftig erforderlich werdenden<br />
streitigen Entscheidung aber auch<br />
zu verdeutlichen, dass seine Wünsche zwar<br />
einen hohen Stellenwert haben, die endgültige<br />
Entscheidung aber in den Händen der<br />
Sorgeberechtigten bzw. des Gerichts liegt.<br />
d) Der zuständige Jugendamtsmitarbeiter<br />
berichtet nach Gesprächen mit den Eltern<br />
und dem Kind sowie mündlicher oder<br />
schriftlicher Anhörung der Beteiligten zu b)<br />
und c) spätestens nach drei Monaten ab<br />
dem Verhandlungstermin schriftlich in der<br />
Hauptsache über den Verlauf und das Ergebnis<br />
des Beratungsprozesses unter Bündelung<br />
und Beifügung der Stellungnahmen<br />
der Beteiligten zu b) und c). Soweit er binnen<br />
drei Monaten keinen abschließenden<br />
Bericht vorlegen kann, erstattet er dem Familiengericht<br />
einen inhaltlich aussagefähigen<br />
Zwischenbericht über seine bisherigen<br />
Erkenntnisse und beantragt eine Fristverlängerung,<br />
die das Familiengericht im Regelfall<br />
bewilligt, wenn diese weitere drei<br />
Monate nicht übersteigt. Ist es auf Grund<br />
des Beratungsprozesses zu einer Einigung<br />
der Verfahrensbeteiligten gekommen, erschöpft<br />
sich der Bericht des Jugendamtes<br />
in der Wiedergabe des Ergebnisses der Einigung.<br />
Bei Bedarf führt der Jugendamtsmitarbeiter<br />
mit den Beteiligten parallel zu<br />
95
96<br />
den Beratungsgesprächen ein gemeinsames<br />
Fachgespräch.<br />
e) Soweit dies nach richterlichem Ermessen<br />
zum Kindeswohl geboten erscheint, ergeht<br />
auf Antrag oder von Amts wegen ein<br />
einstweiliger Anordnungsbeschluss, der im<br />
Regelfall die vorläufige Regelung des Umgangs<br />
des Elternteils mit dem Kind, bei<br />
dem es nicht lebt, für die Dauer des weiteren<br />
Hauptsacheverfahrens und nur ausweise<br />
eine vorläufige Regelung insbesondere<br />
des Aufenthaltsbestimmungsrechts zum<br />
Gegenstand hat.<br />
f) In den vom Regelverfahren abweichenden<br />
Verfahren (siehe oben II. 2.), die nach<br />
der ersten Kindes- und Elternanhörung einer<br />
weiteren Beweisaufnahme bedürfen,<br />
kann ebenfalls auf Antrag oder von Amts<br />
wegen eine einstweilige Anordnungsregelung<br />
getroffen werden (insbesondere Inobhutnahme<br />
und vorläufige Übertragung<br />
des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen<br />
hoheitlichen oder berufsmäßigen Pfleger).<br />
In den Verfahren nach den §§ 1666,<br />
1666 a BGB und in anderen Fällen, in denen<br />
das Kindeswohl durch Gewaltanwendung<br />
gefährdet ist (dies kann auch im Falle<br />
der Gewaltanwendung gegen den anderen<br />
Elternteil gegeben sein), kommt die vorläufige<br />
Regelung des Umgangs beider Eltern<br />
oder des anderen Elternteils mit dem Kind<br />
grundsätzlich nur in begleiteter Form nach<br />
§ 1684 Abs. 4 Satz 3 BGB durch einen Mitarbeiter<br />
des Jugendamtes, einen freien Träger<br />
oder durch eine geeignete – ggf. freiberuflich<br />
in diesem Bereich tätige oder von<br />
beiden Eltern angegebene, zuverlässig erscheinende<br />
– Privatperson in Betracht. Das<br />
Jugendamt ist verpflichtet, im Bedarfsfall<br />
eine fachlich ordnungsgemäße Umgangsbegleitung<br />
in angemessen kurzer Zeit sicherzustellen.<br />
Die beteiligten Institutionen<br />
beabsichtigen, einheitliche Standards für<br />
den begleiteten Umgang zu entwickeln.<br />
g) In schwerwiegenden Fällen kann das<br />
Familiengericht auf Antrag oder von Amts<br />
wegen durch einstweilige Anordnung das<br />
Recht beider Eltern oder eines Elternteils<br />
auf persönlichen Umgang für die Dauer<br />
des Hauptsacheverfahrens gemäß § 1684<br />
Abs. 4 Satz 1 und 2 BGB ganz ausschließen,<br />
wenn dies zum Ausschluss einer erheblichen<br />
Kindeswohlgefährdung unerlässlich<br />
erscheint.<br />
h) In den Fällen der §§ 1666, 1666 a BGB<br />
und sonstigen Fällen von Gewaltanwendung<br />
berichten nicht nur das Jugendamt,<br />
sondern auch die übrigen beteiligten Institutionen<br />
(insbesondere Beratungs- und Hilfeträger,<br />
Verfahrenspfleger) dem Gericht<br />
unmittelbar und ausführlich schriftlich.<br />
V. Verfahrensweise in Sorgerechts-<br />
und Umgangsregelungsverfahren<br />
am Ende des gerichtlichen Verfahrens:<br />
Endet das Regelverfahren nicht mit einer<br />
Einigung im ersten Verhandlungstermin,<br />
sondern kommt es zu der unter IV. 7. näher<br />
beschriebenen Verfahrensweise, hat das<br />
Familiengericht nach dem Vorliegen des<br />
Berichts des Jugendamtes folgende Möglichkeiten<br />
zur Beendigung des gerichtlichen<br />
Verfahrens:<br />
1. Auf gerichtliche Anfrage erklären die beteiligten<br />
Kindeseltern bzw. ihre Verfahrensvertreter<br />
das Verfahren im Hinblick auf die<br />
nach Beratung und Vermittlung erfolgte<br />
außergerichtliche Einigung und Regelung<br />
schriftlich für erledigt und das Gericht entscheidet<br />
nur noch über die Verfahrenskosten.<br />
2. Soweit Beteiligte dies beantragen, macht<br />
das Gericht die Einigung im Regelfall aufgrund<br />
einer zweiten mündlichen Verhandlung<br />
oder im schriftlichen Verfahren nach<br />
Anhörung der übrigen Verfahrensbeteiligten<br />
zum Gegenstand eines gerichtlichen<br />
Vergleichs, eines Beschlusses (z. B. beim<br />
Sorgerecht) oder einer gerichtlichen Anordnung<br />
(z. B. zur Vollstreckbarkeit einer<br />
Umgangsvereinbarung).<br />
3. Gelingt eine Einigung innerhalb der oben<br />
genannten Fristen nicht, hat das Familiengericht<br />
die folgenden Möglichkeiten:<br />
a) Es entscheidet nach einer zweiten Verhandlung<br />
auf Grund einer erneuten Anhörung<br />
der Eltern, des Kindes, des Jugendamtes<br />
und des Verfahrenspflegers durch<br />
streitigen Beschluss.<br />
b) Es entscheidet im Falle der Zustimmung<br />
aller Beteiligten nach dem Ablauf einer gesetzten<br />
Stellungnahmefrist durch streitigen<br />
Beschluss im schriftlichen Verfahren.
c) Es ordnet im schriftlichen Verfahren auf<br />
Antrag oder von Amts wegen weitere Beweiserhebungen,<br />
insbesondere die Einholung<br />
eines familienpsychologischen und/<br />
oder – soweit durch konkrete Anhaltspunkte<br />
hinsichtlich des Kindes oder der Eltern<br />
angezeigt – eines fachpsychiatrischen<br />
schriftlichen Sachverständigengutachtens<br />
an und entscheidet nach dessen/deren<br />
Vorlage aufgrund einer weiteren mündlichen<br />
Verhandlung, in der im Falle von Einwendungen<br />
gegen das Gutachten oder<br />
sonstigem Klärungsbedarf der Sachverständige<br />
ergänzend anzuhören ist.<br />
Forum 4 J „Kindesschutz vor Gericht“<br />
97
Pressemitteilungen<br />
98<br />
Westfälische Rundschau, 4. April 2008
epd, 4. April 2008<br />
Pressemitteilungen<br />
99
Pressemitteilungen<br />
100<br />
Ruhr Nachrichten, 5. April 2008
Westfälische Rundschau, 5. April 2008<br />
Pressemitteilungen<br />
101
Pressemitteilungen<br />
102<br />
Stadtspiegel<br />
Gelsenkirchen,<br />
9. April 2008