03.02.2017 Aufrufe

SHOWTIME FÜR ANKE

277734-00_DB_MOBIL_02_17

277734-00_DB_MOBIL_02_17

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

REISE<br />

Ich stehe an der Seepromenade und blicke auf die<br />

50er-Jahre-Architektur der Hotels in vorderster Reihe. Sehe Möwen<br />

im Wind, höre die Brandung der Nordsee hinter mir. Was fehlt, sind<br />

Menschen. Es ist wie in einem Traum, ich drehe mich einmal im<br />

Kreis, aber da ist niemand. Keiner auf der Straße oder auf den Balkonen<br />

oder hinter den Fenstern. Eine Uhr am Fähranleger zeigt an,<br />

dass es zwölf ist. Aber die Zeiger stehen still. Ich überlege für einen<br />

Augenblick, gleich wieder abzuhauen. Koffer schnappen und runter<br />

von dieser sonderbaren Insel. Wenn ich jetzt zum Schiff laufe, könnte<br />

ich es schaffen. Wahrscheinlich müsste ich einen Hechtsprung<br />

hinlegen, um noch an Bord zu gelangen.<br />

Natürlich mache ich das nicht. Ich bin ja gekommen, um die Einsamkeit<br />

zu finden. Auch wenn ich nun ein wenig Angst davor habe.<br />

In den vergangenen Wochen fühlte ich mich zunehmend von Arbeitsdruck<br />

und Großstadt-Hektik belästigt. Ich musste sie für ein<br />

paar Tage hinter mir lassen. Ich hätte auch in den Wald gehen oder<br />

ein Wellness-Hotel buchen können. Aber ich wollte auf eine Insel,<br />

um sichtbaren Abstand zwischen mir und dem Stress zu bekommen.<br />

Wollte eine Grenze, die sich nicht so leicht überwinden lässt. Die raue<br />

Winter-Nordsee. Und wenn schon Insel, dann richtig. Ich wählte Helgoland,<br />

auf hoher See, 70 Kilometer vor Cuxhaven. Welcher Ort,<br />

dachte ich mir, eignet sich besser für mein Ruhebedürfnis als dieses<br />

Stückchen Erde, das Abstand zu allem hat? Ohne Sicht zum Festland.<br />

Zwar zögerte ich kurz, weil Helgoland als Touristenmagnet bekannt<br />

ist. Die 350 000 Besucher, die jährlich anreisen, kommen aber<br />

im Sommer. Jetzt im Winter, zwischen November und Februar, wirkt<br />

die Insel an den meisten Tagen wie ausgestorben. Sogar viele der<br />

1500 Helgoländer fahren in der kalten Jahreszeit aufs Festland.<br />

Abgesehen von ein paar Einwohnern: keiner da. Nur ich. Völlig<br />

überfordert zu entscheiden, was als Erstes zu tun ist. Wo es augenscheinlich<br />

nichts zu tun gibt. Ich habe keine Bücher oder Zeitungen<br />

dabei, habe überhaupt keine Pläne geschmiedet. Möchte die Insel auf<br />

mich zukommen lassen. Also schaue ich in die Hotelbroschüre und<br />

lese, dass ein gewisser Herr Ottmar heute zum Inselspaziergang einlädt<br />

und dass Gäste vom Hotelgarten aus das aufregende Hafenleben<br />

kennenlernen können. Ich gehe auf den Balkon und schaue auf den<br />

Hafen, sehe aber nur ein Industrie-Stillleben. Da tut sich nichts.<br />

Bei einer ersten Erkundungsrunde durch die Fußgängerzone<br />

schaue ich in die Schaufenster geschlossener Läden. Rüttle an der<br />

Tür des Insel-Museums und suche vergebens die Öffnungszeiten.<br />

In einem Café wirkt der Konditor sichtlich<br />

gestresst, als ich hereinspaziere, denn er wollte eigentlich<br />

in wenigen Minuten schließen. Ich schlinge schnell<br />

einen Apfelkuchen runter und gehe danach zum berühmten<br />

Felsen „Lange Anna“. Das Insel-Wahrzeichen<br />

zieht an Sommertagen Tausende Besucher an. Heute nur<br />

mich. Ich setze mich auf eine Bank, kann aber irgendwie<br />

nicht still sitzen. Nach einer Stunde bin ich wieder im<br />

Hotel, mit dem Gefühl, die Insel komplett abgearbeitet<br />

zu haben. Als abends meine Freundin anruft und fragt,<br />

was ich erlebt habe, antworte ich: „Nichts, absolut gar<br />

nichts.“ Um halb zehn gehe ich schlafen.<br />

Am nächsten Morgen ahne ich, was passiert ist. Ich<br />

bin mit den Augen des Großstadt-Tiers über die Insel<br />

getrampelt. Natürlich ist da gestern mehr gewesen als<br />

Nichts. Ich war nur unfähig, es zu erkennen. Das Runterregeln<br />

funktioniert bei mir zu Beginn einer Reise nur<br />

selten. Ich stecke anfangs noch im Aufziehmännchen-<br />

Alltagsmodus, will alles schnell, schnell erledigen. Mein<br />

erster Tag auf Helgoland, denke ich mir, war wie ein kalter<br />

Entzug. Den kann man auch nicht genießen.<br />

Ich nehme mir vor, langsamer zu schauen. Draußen<br />

scheint die Sonne, zwölf Grad. Was ich gestern als Zufall<br />

abtat, weckt heute mein Interesse. In einer Broschüre<br />

lese ich, dass Helgoland einer der wintermildesten Orte<br />

ist, einer mit den meisten Sonnenstunden in Deutschland.<br />

Ich hatte die Insel mit dem Gegenteil verbunden.<br />

Was für ein Leben diese Helgoländer führen. Im Vergleich<br />

zu anderen deutschen Inseln, die man bei Ebbe<br />

sogar zu Fuß erreicht, die von Nachbarinseln umgeben<br />

sind und nah an der Küste liegen, ist Helgoland ein krasser<br />

Außenseiter. Irgendwo im Nirgendwo. Abgelegen<br />

wie kein zweiter deutscher Ort. Doch die Menschen hier<br />

sind keinesfalls einsam. Im Gegenteil. Sie hocken in<br />

Reihenhäusern regelrecht aufeinander. Häuschen<br />

Kulissenzauber: Vor den<br />

Häusern am Südstrand<br />

(rechts) könnten<br />

Filmemacher die<br />

50er-Jahre aufleben<br />

lassen, auf dem Oberland<br />

(rechts oben) eine Folge<br />

„Game of Thrones“ drehen<br />

Helgoland besteht aus<br />

zwei Inseln, die bis 1721<br />

verbunden waren (Bild<br />

ganz rechts). Vorn:<br />

Hauptinsel, 1500<br />

Einwohner. Hinten: Düne,<br />

Heimat der Robben<br />

WELCHER<br />

ORT EIGNET<br />

SICH BESSER<br />

<strong>FÜR</strong> MEIN<br />

RUHEBEDÜRFNIS<br />

ALS DIESER<br />

FELSEN, DER<br />

ABSTAND ZU<br />

ALLEM HAT?<br />

34 dbmobil.de<br />

02/2017 35

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!