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REISE<br />
Ich stehe an der Seepromenade und blicke auf die<br />
50er-Jahre-Architektur der Hotels in vorderster Reihe. Sehe Möwen<br />
im Wind, höre die Brandung der Nordsee hinter mir. Was fehlt, sind<br />
Menschen. Es ist wie in einem Traum, ich drehe mich einmal im<br />
Kreis, aber da ist niemand. Keiner auf der Straße oder auf den Balkonen<br />
oder hinter den Fenstern. Eine Uhr am Fähranleger zeigt an,<br />
dass es zwölf ist. Aber die Zeiger stehen still. Ich überlege für einen<br />
Augenblick, gleich wieder abzuhauen. Koffer schnappen und runter<br />
von dieser sonderbaren Insel. Wenn ich jetzt zum Schiff laufe, könnte<br />
ich es schaffen. Wahrscheinlich müsste ich einen Hechtsprung<br />
hinlegen, um noch an Bord zu gelangen.<br />
Natürlich mache ich das nicht. Ich bin ja gekommen, um die Einsamkeit<br />
zu finden. Auch wenn ich nun ein wenig Angst davor habe.<br />
In den vergangenen Wochen fühlte ich mich zunehmend von Arbeitsdruck<br />
und Großstadt-Hektik belästigt. Ich musste sie für ein<br />
paar Tage hinter mir lassen. Ich hätte auch in den Wald gehen oder<br />
ein Wellness-Hotel buchen können. Aber ich wollte auf eine Insel,<br />
um sichtbaren Abstand zwischen mir und dem Stress zu bekommen.<br />
Wollte eine Grenze, die sich nicht so leicht überwinden lässt. Die raue<br />
Winter-Nordsee. Und wenn schon Insel, dann richtig. Ich wählte Helgoland,<br />
auf hoher See, 70 Kilometer vor Cuxhaven. Welcher Ort,<br />
dachte ich mir, eignet sich besser für mein Ruhebedürfnis als dieses<br />
Stückchen Erde, das Abstand zu allem hat? Ohne Sicht zum Festland.<br />
Zwar zögerte ich kurz, weil Helgoland als Touristenmagnet bekannt<br />
ist. Die 350 000 Besucher, die jährlich anreisen, kommen aber<br />
im Sommer. Jetzt im Winter, zwischen November und Februar, wirkt<br />
die Insel an den meisten Tagen wie ausgestorben. Sogar viele der<br />
1500 Helgoländer fahren in der kalten Jahreszeit aufs Festland.<br />
Abgesehen von ein paar Einwohnern: keiner da. Nur ich. Völlig<br />
überfordert zu entscheiden, was als Erstes zu tun ist. Wo es augenscheinlich<br />
nichts zu tun gibt. Ich habe keine Bücher oder Zeitungen<br />
dabei, habe überhaupt keine Pläne geschmiedet. Möchte die Insel auf<br />
mich zukommen lassen. Also schaue ich in die Hotelbroschüre und<br />
lese, dass ein gewisser Herr Ottmar heute zum Inselspaziergang einlädt<br />
und dass Gäste vom Hotelgarten aus das aufregende Hafenleben<br />
kennenlernen können. Ich gehe auf den Balkon und schaue auf den<br />
Hafen, sehe aber nur ein Industrie-Stillleben. Da tut sich nichts.<br />
Bei einer ersten Erkundungsrunde durch die Fußgängerzone<br />
schaue ich in die Schaufenster geschlossener Läden. Rüttle an der<br />
Tür des Insel-Museums und suche vergebens die Öffnungszeiten.<br />
In einem Café wirkt der Konditor sichtlich<br />
gestresst, als ich hereinspaziere, denn er wollte eigentlich<br />
in wenigen Minuten schließen. Ich schlinge schnell<br />
einen Apfelkuchen runter und gehe danach zum berühmten<br />
Felsen „Lange Anna“. Das Insel-Wahrzeichen<br />
zieht an Sommertagen Tausende Besucher an. Heute nur<br />
mich. Ich setze mich auf eine Bank, kann aber irgendwie<br />
nicht still sitzen. Nach einer Stunde bin ich wieder im<br />
Hotel, mit dem Gefühl, die Insel komplett abgearbeitet<br />
zu haben. Als abends meine Freundin anruft und fragt,<br />
was ich erlebt habe, antworte ich: „Nichts, absolut gar<br />
nichts.“ Um halb zehn gehe ich schlafen.<br />
Am nächsten Morgen ahne ich, was passiert ist. Ich<br />
bin mit den Augen des Großstadt-Tiers über die Insel<br />
getrampelt. Natürlich ist da gestern mehr gewesen als<br />
Nichts. Ich war nur unfähig, es zu erkennen. Das Runterregeln<br />
funktioniert bei mir zu Beginn einer Reise nur<br />
selten. Ich stecke anfangs noch im Aufziehmännchen-<br />
Alltagsmodus, will alles schnell, schnell erledigen. Mein<br />
erster Tag auf Helgoland, denke ich mir, war wie ein kalter<br />
Entzug. Den kann man auch nicht genießen.<br />
Ich nehme mir vor, langsamer zu schauen. Draußen<br />
scheint die Sonne, zwölf Grad. Was ich gestern als Zufall<br />
abtat, weckt heute mein Interesse. In einer Broschüre<br />
lese ich, dass Helgoland einer der wintermildesten Orte<br />
ist, einer mit den meisten Sonnenstunden in Deutschland.<br />
Ich hatte die Insel mit dem Gegenteil verbunden.<br />
Was für ein Leben diese Helgoländer führen. Im Vergleich<br />
zu anderen deutschen Inseln, die man bei Ebbe<br />
sogar zu Fuß erreicht, die von Nachbarinseln umgeben<br />
sind und nah an der Küste liegen, ist Helgoland ein krasser<br />
Außenseiter. Irgendwo im Nirgendwo. Abgelegen<br />
wie kein zweiter deutscher Ort. Doch die Menschen hier<br />
sind keinesfalls einsam. Im Gegenteil. Sie hocken in<br />
Reihenhäusern regelrecht aufeinander. Häuschen<br />
Kulissenzauber: Vor den<br />
Häusern am Südstrand<br />
(rechts) könnten<br />
Filmemacher die<br />
50er-Jahre aufleben<br />
lassen, auf dem Oberland<br />
(rechts oben) eine Folge<br />
„Game of Thrones“ drehen<br />
Helgoland besteht aus<br />
zwei Inseln, die bis 1721<br />
verbunden waren (Bild<br />
ganz rechts). Vorn:<br />
Hauptinsel, 1500<br />
Einwohner. Hinten: Düne,<br />
Heimat der Robben<br />
WELCHER<br />
ORT EIGNET<br />
SICH BESSER<br />
<strong>FÜR</strong> MEIN<br />
RUHEBEDÜRFNIS<br />
ALS DIESER<br />
FELSEN, DER<br />
ABSTAND ZU<br />
ALLEM HAT?<br />
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