s'Positive Magazin 03.2017
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OBERAARGAU<br />
Der Weber, von Johann<br />
Schiess um 1830.<br />
ale Marktwirtschaft entwickelt sich schon lange, bevor<br />
dieser Ausdruck nach dem Zweiten Weltkrieg Eingang<br />
in die Politik findet. Es gibt zwar auch im Oberaargau<br />
nach der französischen Revolution heftige politische<br />
Auseinandersetzungen. Aber nie politische Radikalisierung<br />
oder Revolution aus wirtschaftlichen Gründen oder<br />
aufgrund von sozialen Missständen, weil es ein verarmtes<br />
Proletariat gibt. Die erstaunliche Diversifizierung der<br />
Wirtschaft (zu der auch die Bewahrung eines starken<br />
Bauernstandes gehört) macht die Region krisenbeständig.<br />
Der Oberaargau kommt besser durch die wirtschaftlichen<br />
Depressionen als die meisten anderen Industriestandorte.<br />
Wir finden heute in Langenthal verhältnismässig<br />
wenige «Industriebrachen».<br />
Ein weiterer Schlüsselfaktor für die Entwicklung der<br />
Wirtschaft, für den Übergang vom Kleingewerbe zur Fabrikproduktion,<br />
ist die nach 1798 einsetzende politische<br />
Umwälzung. Die Auflösung der alten Ordnung und die<br />
Schaffung einer liberale Verfassung schaffen ungeahnte<br />
Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung.<br />
In Langenthal nutzen starke Persönlichkeiten diese<br />
Chance und machen den Oberaargau zum Kraftzentrum<br />
der Modernisierung der bernischen Wirtschaft. Dazu<br />
gehörte auch der Bau des Elektrizitätswerkes Wynau im<br />
Jahre 1895. Als erstes grosses Unternehmen ersetzt die<br />
Firma Gugelmann in ihren Textilfabriken die Wasser- und<br />
Dampfkraft 1895 durch Strom. Die neue Energieform<br />
bildete die Grundlage der Langenthaler Maschinenindustrie.<br />
Aus der 1896 von Madiswil nach Langenthal<br />
verlegten mechanischen Werkstätte von Ulrich Ammann<br />
entwickelt sich eine Maschinenfabrik von internationaler<br />
Bedeutung. Die Industrie im Oberaargau gehört zu den<br />
ersten, die in der Schweiz auf Elektrizität umstellt, der<br />
Oberaargau wird im besten Sinne früher dem Strom angeschlossen<br />
als Zürich.<br />
Die Alphatiere der frühen Industrialisierung vernachlässigen<br />
auch nicht die Politik. Sie nehmen Einfluss auf den<br />
Eisenbahnbau, sorgen für den Anschluss an die wichtigen<br />
Eisenbahnlinien und damit für die Bewahrung des Standortvorteils<br />
als Verkehrsknotenpunkt im geographischen<br />
Herzen der Schweiz. Langenthal gilt ab Mitte der 1800er-<br />
Jahre als Hochburg des Freisinns. Im «Bären» konstituiert<br />
sich eine freisinnige Männerrunde und um ein Haar wäre<br />
einer aus ihrer Mitte (der Fürsprecher Johannes Bützberger<br />
aus Bleienbach) statt Jakob Stämpfli 1854 Bundesrat<br />
geworden. Von diesen Anfängen führt eine direkte<br />
Linie in die Gegenwart. Der Oberaargauer Freisinn<br />
stellt gut 150 Jahren später mit Johann Schneider-Ammann<br />
das Staatsoberhaupt.<br />
Wir finden also im Oberaargau alle Faktoren – von<br />
der Geographie über die Religion, die Politik und die<br />
Kultur bis zum Klima – für die Entwicklung von Reichtum<br />
und Stabilität, die der amerikanische Wirtschaftstheoretiker<br />
David Landes in seinem Bestseller als Voraussetzungen<br />
für Wohlstand nennt. Er hätte sein Buch im Umfang<br />
von 684 Seiten auch im Rahmen eines Studienaufenthaltes<br />
in Langenthal schreiben können.<br />
Ausgewählte Literatur:<br />
• «Ein Dorf übt sich in Demokratie – Langenthal<br />
zwischen 1750 und 1850» von Alfred Kuert.<br />
• «Die Industrielle Entwicklung Langenthals» von<br />
Dr. Walter Wegmüller<br />
• «Beiträge zur Heimatkunde des Kantons Bern –<br />
der Oberaargau» von Christian Lerch.<br />
• Berner Heimatbücher, Band 72 «Langenthal» von<br />
J. R. Meyer.<br />
• «Wohlstand und Armut der Nationen» von David<br />
Landes.<br />
Bild: «Das goldene Handwerk» von Nathalie Robatel<br />
26 s’Positive 3 / 2017