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Vom Umgang mit einer veränderlichen Natur - Stiftung Natur und ...

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danach vertretbar ist. Eine derartige Zurücknahme der<br />

richterlichen Kontrolldichte, die der 4. Senat des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts<br />

im Fall Westumfahrung Halle 37 noch<br />

ausdrücklich abgelehnt hat, ist in anderen technisch oder<br />

wissenschaftlich komplexen Gebieten des Umweltrechts<br />

wie dem Atom- <strong>und</strong> Gentechnikrecht durchaus anerkannt.<br />

38 Der 9. Senat des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts 39 hat<br />

kürzlich in zwei Entscheidungen zur Autobahn A 4 <strong>und</strong><br />

A 44 einen solchen fachlichen Beurteilungsspielraum im<br />

Rahmen <strong>einer</strong> Abweichungsentscheidung hinsichtlich<br />

<strong>einer</strong> vergleichbaren Fragestellung – Sicherung eines<br />

güns tigen Erhaltungszustands trotz des Eingriffs – bereits<br />

anerkannt. Im Urteil vom 9. Juli 2008 40 hat er dies auf die<br />

vorgängige Frage, ob <strong>mit</strong> <strong>einer</strong> erheblichen Beeinträchtigung<br />

zu rechnen ist, ausgedehnt <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> begründet,<br />

dass mangels normativer Vorgaben <strong>und</strong> eines gesicherten<br />

ökologischen Erkenntnisstandes die Zurücknahme der<br />

gerichtlichen Kontrolldichte auf Überprüfung der Vertretbarkeit<br />

der behördlichen Entscheidung zwingend sei.<br />

Dem ist der Hessische Verwaltungsgerichtshof in <strong>einer</strong><br />

Eilentscheidung vom 2. Januar 2009 41 hinsichtlich des<br />

Ausbaus des Frankfurter Flughafens gefolgt. Offenbar<br />

bahnt sich hier eine Rechtsprechungswende an. Allerdings<br />

sieht man an den beiden letzteren Entscheidungen, dass<br />

extrem kleinteilige juristische Arbeit da<strong>mit</strong> noch nicht notwendig<br />

vermieden wird. Sie taucht nunmehr im Gewande<br />

der Vertretbarkeitsprüfung wieder auf, wobei die Vermutung<br />

nahe liegt, dass da<strong>mit</strong> die Begründung für die Zu -<br />

rücknahme der Kontrolldichte – fehlender Sachverstand<br />

des Richters – eigentlich brüchig wird. Europarechtlich<br />

erscheint der Weg über die Zurücknahme der Kontrolldichte<br />

jedenfalls unproblematisch, da die europäische<br />

Gerichtsbarkeit bei komplexen wissenschaftlich-tech -<br />

nischen Entscheidungen einen solchen fachlichen Beur -<br />

teilungsspielraum stets anerkannt hat. 42<br />

Kritischer ist es allerdings zu sehen, dass der 9. Senat<br />

des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts 43 die Anerkennung eines<br />

behördlichen Beurteilungsspielraums nicht auf die Risikobewertung<br />

beschränkt, sondern auch für die Risikoabschätzung<br />

einschließlich der Er<strong>mit</strong>tlung des Artenbestands<br />

gelten lassen will. Das scheint der richterlichen Verantwortung<br />

für die Feststellung des Sachverhalts (Gr<strong>und</strong>satz<br />

der Amtser<strong>mit</strong>tlung; § 86 Verwaltungsgerichtsordnung) zu<br />

widersprechen. 44 Danach müsste der Richter bei Zweifeln<br />

über die relevanten Fakten, etwa wenn der Kläger substantiiert<br />

auf alternative Methoden der Bestandser<strong>mit</strong>tlung<br />

46 |<br />

hinweist, einen (ggf. weiteren) Sachverständigen hinzuziehen.<br />

Allerdings gesteht die Rechtsprechung im Atom- <strong>und</strong><br />

Gentechnikrecht 45 der Behörde auch die Befugnis zur<br />

eigenverantwortlichen Risikoer<strong>mit</strong>tlung zu <strong>und</strong> schränkt<br />

insoweit den Amtser<strong>mit</strong>tlungsgr<strong>und</strong>satz ein. Dies lässt die<br />

Anerkennung eines Beurteilungsspielraums im <strong>Natur</strong>schutzrecht<br />

auch im Bereich der Sachverhaltser<strong>mit</strong>tlung,<br />

die Teil der Risikoer<strong>mit</strong>tlung ist, nicht von vornherein als<br />

unzulässige Verkürzung des Rechtsschutzes erscheinen.<br />

Die Grenzen des Beurteilungsspielraums im Bereich<br />

der Risikoer<strong>mit</strong>tlung werden von der Rechtsprechung<br />

recht unterschiedlich umschrieben. Zum Teil wird verlangt,<br />

dass die Behörde – gemessen am Stand von Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Technik – ausreichende Daten er<strong>mit</strong>telt haben<br />

muss. 46 Andere Entscheidungen begnügen sich <strong>mit</strong> der<br />

Forderung, dass die Behörde die Datenlage als ausreichend<br />

ansehen konnte, wobei hinzugefügt wird, dass ein<br />

unbekannt gebliebenes Sachverständigengutachten auf<br />

Er<strong>mit</strong>tlungsdefizite hindeuten könne. 47 Schließlich gibt es<br />

Entscheidungen, die lediglich willkürfreie Er<strong>mit</strong>tlungen verlangen.<br />

48 Zumindest die beiden letzteren Auffassungen<br />

sind <strong>mit</strong> der Lehre vom Beurteilungsspielraum bei der<br />

Bestandser<strong>mit</strong>tlung kompatibel. Zur ersteren Auffassung<br />

ist zu bemerken, dass die Forderung nach ausreichender<br />

Tatsachener<strong>mit</strong>tlung nach dem Maßstab des Standes von<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Technik wenig aussagekräftig ist, wenn<br />

sich ein solcher noch nicht gebildet hat. Ein Streit um die<br />

Ergiebigkeit von Methoden zur Feststellung des Sachverhalts<br />

war, soweit ersichtlich, bisher nur einmal Gegenstand<br />

<strong>einer</strong> gerichtlichen Entscheidung zum Beurteilungsspielraum.<br />

Hier hat das B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht 49 eine<br />

pessimistische Risikoabschätzung als zulässig angesehen,<br />

wenn die Behörde gute Gründe für die Annahme<br />

hatte, dass eine sichere tatsächliche Beurteilung derzeit<br />

nicht möglich ist. Dies erschöpft die Problematik nicht.<br />

Insoweit betritt das B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht <strong>mit</strong> der<br />

ausdrücklichen Anerkennung eines Beurteilungsspielraums<br />

bei der Feststellung des Artenbestands Neuland.<br />

Da die Lehre vom Beurteilungsspielraum sich gerade<br />

dadurch rechtfertigt, dass der Richter die Bewertung wissenschaftlicher<br />

Streitfragen sinnvoller Weise nicht durch<br />

eine eigene Bewertung ersetzen kann, erscheint es angesichts<br />

der Komplexität der ökologischen Bestandser<strong>mit</strong>tlung<br />

durchaus plausibel, bei fehlenden Konventionen über<br />

die geeigneten Untersuchungsmethoden der Behörde<br />

einen fachlichen Beurteilungsspielraum zuzugestehen.

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