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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Gedächtnis genau wie der Kinematograph eine Folge von Bildern.“ 73 Vom Kino als Medium einer<br />

neuen Kunst macht Bergson sich freilich noch keine Vorstellung.<br />

Wie auch immer Béla Balázs nun mit Bergson vetraut gemacht wurde, schon in seiner<br />

„Todesästhetik“ finden sich Gedanken über das Verhältnis von Bewusstsein, Wahrnehmung,<br />

Erinnerung und Zeitgefühl, die zentralen Thesen aus Materie und Gedächtnis nahe kommen und die<br />

Balázs seinerseits auf das Verhältnis von Tod und Ästhetik bezieht: „Wären wir unsterblich, wüssten<br />

wir nicht, dass wir leben; [...] würden wir in jeder Sekunde vergessen, was zuvor war, hätten wir<br />

kein Bewusstsein. Dann wäre jede Sekunde die erste [...]. Des Bewusstseins Voraussetzung ist die<br />

Erinnerung. Aber ohne Erinnerung hätten wir kein Zeitgefühl. [...] Bewusstsein und Zeitgefühl sind ein<br />

Prozess: Ergebnis der Bilderfolge der Erinnerung. Wären wir unsterblich, hätten wir auch kein<br />

Zeitgefühl.“ 74 Balázs beschreibt unterschiedliche Wahrnehmungen von Zeit, z.B. im Traum, und zieht<br />

daraus den Schluss, dass auch „Dr<strong>am</strong>en [...] Zeitperspektive bieten [können], wie Raumperspektive.<br />

[...] Jene Dr<strong>am</strong>en, die wie der Traum fiktives Bewusstsein wecken, das da auf der Bühne durch die<br />

Straßen, in den Zimmern umherwandelt und jenen, der im Zuschauerraum sitzt, zudeckt. Dies sind<br />

die Dr<strong>am</strong>en, bei denen wir uns nach dem Schluss einer Szene fühlen, als würden wir aus einem<br />

Traum erwachen.“ 75 Und er weist dem Bewusstsein und d<strong>am</strong>it der Kunst die Möglichkeit, ja die<br />

Aufgabe zu, die „in den äußeren Bilderfolgen verborgene Zeitperspektive“ zu entbergen. „Dann<br />

können die Bilder Realitäten sein und mein Bewusstsein trotzdem fiktiv, und ein Erwachen zum Tode<br />

daraus möglich.“ 76<br />

Balázs wendet sich auf dem Höhepunkt seiner „Todesästhetik“ jäh von der Tragödie ab und dem<br />

Märchen zu, und dies verdient besondere Aufmerks<strong>am</strong>keit. Das Märchen verkörpert für ihn ein<br />

besonderes Paradox und zugleich den größten ihm denkbaren Gegensatz zur „religiösen Kunst“ der<br />

Tragödie. Wo die Berührung mit dem Tod oder dem tragischen Widerspruch zum höchsten<br />

Bewusstsein führt, entführt das Märchen, als Kunst des Volkes, in eine flache Welt der<br />

Bewusstlosigkeit, eine Welt, in der nichts unmöglich ist. „Das Gefühl der Transzendenz ist ein Gefühl<br />

des Hier-geht-es-nicht-weiter und gerade das ist es was das Märchen nicht kennt.“ 77 Im Gegenteil,<br />

73 Henri Bergson, „Der Wert des Kinos“, in: Der Kinematograph, Jg. 8, Nr. 379, 1.4.1914.<br />

74 Balázs, „Halálesztétika“, S. 318. Zum Begriff der Zeit und ihrer Beziehung zum Raum bei Bergson siehe das 3.<br />

Kapitel.<br />

75<br />

Ebd., S. 319.<br />

76<br />

Ebd.<br />

77<br />

Ebd., S. 315.<br />

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