WISSENSCHAFTS JOURNAL
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ROLLSTUHLTENNIS<br />
EIN NEUES SPORTANGEBOT FÜR BEHINDERTE<br />
Rainer Glettner und Dörte Boßmann<br />
Trotz vielfältiger Aufklärungsarbeit von Vereinen und Verbänden ist für Menschen mit<br />
einer Behinderung die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben noch weitgehend erschwert.<br />
Weil Behinderte bestimmten Erwartungshaltungen der Gesellschaft nicht entsprechen<br />
bzw. weil dem Begriff »behindert« der Vergleich »normal« gegenüber gestellt<br />
wird, entsteht eine teils negative Sichtweise im Sinne des Stigma-Konzepts. Erst diese<br />
Bewertung, die Registrierung der scheinbaren Abweichung von der Norm, kann bei Begegnungen<br />
im Alltag sowohl für den Behinderten als auch für den nichtbehinderten Interaktionspartner<br />
Unsicherheit und Missverständnisse hervorrufen, die nachfolgend längerfristige<br />
kommunikative Störungen bewirken. Die ganze Tragweite dieser Problematik<br />
kann vielleicht mit der Aussage Richard von Weizsäckers bewusst gemacht werden:<br />
»Nicht behindert zu sein ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit<br />
genommen werden kann.«<br />
Unter diesem Aspekt stellte sich die Frage,<br />
ob Körperbehinderte durch die Aufnahme<br />
sportlicher Aktivitäten in einen Sozialisierungsprozess<br />
eingebunden werden können,<br />
der ihre Identitätsfindung und Suche nach<br />
einem neuen Selbstwertgefühl unterstützen<br />
kann. Die inzwischen weltweit erfolgreichen<br />
»Paralympics«, die Olympischen<br />
Spiele der Behindertensportler, wurden<br />
wegen ihres leistungsdominierenden Charakters<br />
zunächst nur in orientierende Studien<br />
einbezogen. Wichtiger erschien die<br />
regionale Zusammenarbeit mit dem Behindertensportverband<br />
Sachsen-Anhalt, die<br />
schließlich die Voraussetzung für das<br />
sportwissenschaftliche Projekt bildete, bedingt<br />
allerdings durch eine günstige personelle<br />
Ausgangssituation – zwei nach<br />
Übungsmöglichkeiten suchende Rollstuhlfahrer<br />
mit Grundfertigkeiten im Tennisspiel<br />
und zwei auf Praxiserfahrung hoffende<br />
Tennisübungsleiter mit der Zusatzqualifikation<br />
für Rollstuhltennis. Gemeinsam<br />
wurden in ersten Begegnungen die möglichen<br />
Zielstellungen einer intensiven Zusammenarbeit<br />
diskutiert, trainingsmethodische<br />
Maßnahmen geplant, Betreuung bei<br />
Wettkampfreisen signalisiert und (falls erforderlich)<br />
soziale Unterstützung zugesichert.<br />
Das auf sechs Monate fixierte Projekt<br />
wurde auf ein Jahr ausgeweitet, zum<br />
einem, um eine gewisse Kontinuität der<br />
sportlichen Ausbildung der Rollstuhltennisspieler<br />
zu gewährleisten und zum anderen,<br />
um die persönlichen Beziehungen<br />
fortzuführen, die sich zwischen den Beteiligten<br />
entwickelt hatten, die auch gemeinsame<br />
Freizeitgestaltung beinhalteten.<br />
Der Impuls für die Behindertensportart<br />
»Rollstuhltennis« ging Anfang der 70er<br />
Jahre (unter der Bezeichnung »wheelchair-tennis«)<br />
von den Vereinigten Staaten<br />
aus, wo mit technischen Weiterentwicklungen<br />
im Sportrollstuhlbau neue Betätigungsfelder<br />
für sportinteressierte Behinderte<br />
geschaffen wurden. Im Gegensatz<br />
zum »Rollstuhlbasketball«, bei dem der<br />
Sportvergleich weitgehend zwischen den<br />
behinderten Sportlern organisiert ist, hat<br />
eine einzige Änderung des internationalen<br />
Tennisregelwerks dazu geführt, dass Behinderte<br />
und Nichtbehinderte gemeinsam<br />
ein Tennismatch austragen können. Auf<br />
der Spielfeldseite des Behinderten »darf«<br />
der Tennisball zweimal aufspringen, so<br />
dass dem Spieler, natürlich ein geschickter<br />
Umgang mit dem Rollstuhl vorausgesetzt,<br />
ausreichend Handlungsspielraum zur Verfügung<br />
steht, um die Spielsituation erfolgreich<br />
taktisch und technisch zu lösen.<br />
Durch diese Art des Tennisvergleichs, der<br />
als »Rolli gegen Fußgänger« bezeichnet<br />
wird, ergeben sich günstige Ansätze für<br />
ein sportliches und soziales Miteinander in<br />
einem »normalen« Tennisverein. In diesem<br />
Sinne gibt es Äußerungen von erfolgreichen<br />
Wettkampfspielern der Rollstuhltennisszene,<br />
dass sie bewusst bei Tennisturnieren<br />
im Heimatverein den sportlichen<br />
Vergleich mit Fußgängern suchen, um<br />
durch ihre Leistungen den Anspruch auf<br />
Normalität zu dokumentieren. Auch die im<br />
Projekt betreuten Rollstuhltennisspieler<br />
Nach dem Tennismatch auf dem Universitätssportplatz<br />
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scientia halensis 4/2001<br />
Fachbereich Musik-, Sport- und Sprechwissenschaft<br />
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bestärkten dies. Als nämlich die Trainingseinheit<br />
von der Tennishalle auf den Universitätssportplatz<br />
verlegt wurde, der von<br />
Studenten unterschiedlichster Sportarten<br />
frequentiert wird, bewirkte das kurzzeitige<br />
erstaunte Zuschauen, das sicher die Honorierung<br />
der gezeigten Spielleistung einschloss,<br />
einen wesentlichen Einfluss auf<br />
die Steigerung des Selbstwertgefühls. Insgesamt<br />
formulieren Behinderte, die den<br />
Sport für sich entdeckt haben, die Erkenntnis,<br />
dass sie depressive Lebensphasen<br />
schneller überwinden, sich keineswegs<br />
mehr als Pflegefall fühlen, eine Öffnung<br />
ihres Aktionsraumes feststellen und ihnen<br />
die Bewältigung der täglichen Aufgaben<br />
besser gelingt. Rollstuhltennis richtet sich<br />
speziell an Gehbehinderte, Beinamputierte<br />
sowie Querschnittsgelähmte. Neben der<br />
bereits diskutierten Erweiterung des sozialen<br />
Handlungsspielraumes, sind der Abbau<br />
oder Ausgleich muskulärer und organischer<br />
Dysbalancen sowie die Verbesserung<br />
funktioneller Fähigkeiten wichtige<br />
Zielstellungen, wobei die Langfristigkeit<br />
des geschilderten Prozesses außer Frage<br />
steht.<br />
■<br />
Rainer Glettner studierte von 1971–1975<br />
an der Universität Halle Lehramt Sport<br />
und Biologie, wurde 1981 promoviert und<br />
ist seitdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
am Institut für Sportwissenschaft tätig.<br />
Dörte Boßmann war im Rahmen der studentischen<br />
Ausbildung für wesentliche<br />
Projektinhalte verantwortlich und ist inzwischen<br />
Diplomsportlehrerin für Prävention,<br />
Rehabilitation und Therapie.<br />
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