WISSENSCHAFTS JOURNAL
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scientia halensis 4/2001<br />
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Fachbereich Musik-, Sport- und Sprechwissenschaft<br />
ZUR GESCHICHTE DER GANGANALYSE<br />
DEM RÄTSEL DES MENSCHLICHEN GANGS AUF DER SPUR<br />
Siegfried Leuchte und Andreas Speer<br />
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Der (aufrechte) Gang des Menschen ist eines der interessantesten Bewegungsphänomene<br />
22 überhaupt. Über das Krabbeln und Aufrichten erlernt das Kleinkind das Gehen und diverse<br />
Karikaturen verweisen nicht zu Unrecht darauf, dass es im höheren Lebensalter, wenn<br />
nicht durch Gehhilfen verhindert, auch dahin wieder zurückgeht. Der Gang des Menschen<br />
gehört als lebenswichtige Fortbewegungsart zu den frühen Untersuchungs- und vorwissenschaftlichen<br />
Studienobjekten. So soll Aristoteles (384–322 v. Chr.) von der Vergleichbarkeit<br />
der Beinstellung im Schritt mit den Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks fasziniert<br />
gewesen sein. Jahrhunderte später hat Leonardo da Vinci (1452–1642) zahlreiche<br />
Studien zur Mechanik von Flug- und Schreitbewegungen hinterlassen und auf ihre technische<br />
Nutzung hin überprüft.<br />
Giovanni Alfonso Borelli (1608–1679),<br />
ein Zeitgenosse Isaac Newtons, lieferte mit<br />
seinem Werk »De motu animalium« (1680<br />
und 1681) erste mechanische Beschreibungen<br />
der Bewegungen von Tier und<br />
Abb. 2: »Gelenkmechanismus, welcher den<br />
Gesammtschwerpunkt und die Schwere dieser<br />
Abschnitte des menschlichen Körpers<br />
selbsthätig angiebt« (Fischer 1889)<br />
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Mensch. Auch die Begriffsbildung zum<br />
»Körperschwerpunkt« wird diesen Studien<br />
zugeschrieben: Durch die Vorverlagerung<br />
vor die Unterstützungsfläche kommt nach<br />
Borelli dem Schwerpunkt eine Antriebswirkung<br />
zu. Gassendi (1592–1655) kam in<br />
seiner Schrift »De motu animalium secundeum<br />
totum, ac tremum degresso« zur Erkenntnis,<br />
dass die Fortbewegung nur durch<br />
den Gegendruck der Erde möglich sei. Des<br />
weiteren erkannte Gassendi, dass das Gehen<br />
eine zusammengesetzte Bewegung ist,<br />
die aus mehreren, um verschiedene Mittelpunkte<br />
beschriebene Kreisbögen besteht,<br />
d. h. sie erscheint nur als geradlinig.<br />
Die Zeit der großen Erfindungen<br />
Das 19. Jahrhundert war die »Geburtsstunde«<br />
zahlreicher (Grenz-)Wissenschaften.<br />
Es war die Zeit der großen Erfindungen<br />
über viele Jahrzehnte hinweg. Einige<br />
von ihnen hatten für den Aufschwung der<br />
wissenschaftlichen Ganganalyse einen besonderen<br />
Stellenwert: Die kinematographische<br />
Registrierung der fortschreitenden<br />
Bewegungen durch den Einsatz von mehreren<br />
Fotoapparaten war von Eadweard<br />
Muybridge (1830–1904) bei Bewegungsstudien<br />
von Pferden erfolgreich gelöst<br />
worden (»Le mouvement« 1894). Bereits<br />
einige Jahre zuvor hatte Muybridge den<br />
menschlichen Lauf »photographisch« zergliedert.<br />
Etienne Jules Marey (1838–1904)<br />
entwickelte ein pneumatisches System zur<br />
Erfassung des Bodendrucks und machte<br />
sich um die Weiterentwicklung der Kinematographie-Serienaufnahme<br />
mit zunächst<br />
zwölf Bildern pro Sekunde auf einer lichtempfindlichen<br />
Platte verdient (»The hu-<br />
man figure in motion«). Später arbeitete er<br />
mit galvanischen Röhren auf einem<br />
schwarzen Anzug, so dass durch rhythmische<br />
Stromkreisunterbrechungen (25 Hz)<br />
eine chronophotographische Abbildung in<br />
Form eines »Strichmannes« entstand<br />
(Abb. 1). Der Bewegungseffekt durch<br />
elektrische Stimulation war seit den Ver-<br />
Abb. 1: Chronophotographie nach Marey<br />
(1884)<br />
suchen von Luigi Galvani (1737–1798)<br />
am Froschmuskel bekannt. Versuche der<br />
Messung dieser elektrischen Aktivität gehen<br />
auf Reymond (1818–1922) und auf<br />
Duchenne de Boulogne (1806–1875) zurück.<br />
Duchenne gelang es 1885, die Funktionen<br />
der oberflächlich zugänglichen<br />
Muskeln durch elektrische Reizung zu untersuchen<br />
und die pathologische von der<br />
normalen antagonistischen Muskeltätigkeit<br />
abzugrenzen (vgl. »Duchenne-Hinken«).<br />
Die Gebrüder Eduard (1795–1881) und<br />
Wilhelm Weber (1804–1891) beschrieben<br />
in der Monographie »Die Mechanik der<br />
menschlichen Gehwerkzeuge« (Göttingen<br />
1836) als erste die Bewegungen beim Gehen<br />
unter Einbeziehung muskulärer Gesichtspunkte.<br />
Die vordergründig phänomenologische<br />
Betrachtung führte allerdings<br />
auch zu Falschaussagen: So wird der<br />
Unterschenkel als freischwingendes mechanisches<br />
Pendel, angetrieben durch die<br />
Schwerkraft, angesehen. Vierordt versuchte<br />
durch eine Reihe von Experimenten die<br />
räumlichen und zeitlichen Verhältnisse des<br />
Gehens zu analysieren. Dazu entwickelte<br />
er verschiedene Registrierungsmethoden<br />
am Fuß und an der Hüfte. Aus der Analyse<br />
pathologischer Gangmuster eines Hemiplegikers<br />
und eines Patienten mit Lateralskoliose<br />
stammt die wichtige Monographie<br />
Ȇber das Gehen des Menschen in gesun-