Frankfurt - Strandgut
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Theater<br />
Theaterhaus <strong>Frankfurt</strong>: Stein auf Stein, © Katrin Schander<br />
Annäherung<br />
an das Undenkbare<br />
Theaterhaus <strong>Frankfurt</strong>:<br />
Stein auf Stein<br />
Er brauche dringend einen Hut: Er<br />
müsse seinen Kopf schützen gegen<br />
alles, was er sich hier vorstellen soll.<br />
Der plötzliche Gefühlsausbruch des<br />
feinfühligen Erzählers, den Günther<br />
Henne vom Theaterhaus-Ensemble<br />
im Keller der Schützenstraße 12 zusammen<br />
mit Michael Meyer gibt, irritiert<br />
die lauschenden Schüler nur<br />
kurz. Sie haben schon einen kleinen<br />
Parcours auf dem nahen Börneplatz<br />
hinter sich, der sie ein wenig einfühlen<br />
ließ, was es vor 70 Jahren<br />
unter den Nazis bedeutete, ein Jude<br />
in <strong>Frankfurt</strong>, in Deutschland zu sein.<br />
Vor allem aber: ein jüdisches Kind.<br />
Und sie haben vom Brand der Synagoge<br />
erfahren, von den Steinen<br />
gegen das Vergessen und davon,<br />
daß der Platz mit lautem, spitzem<br />
Splitt überzogen ist wie die Höfe in<br />
den Konzentrationslagern.<br />
Im Kellercafé der Spielstätte, 1894<br />
als Haus der jüdischen Gemeinde<br />
errichtet, wird Matze probiert,<br />
salzloses Brot, schließlich gab es<br />
hier einmal eine jüdische Bäckerei<br />
und sogar eine kleine Zigarettenmanufaktur.<br />
Etwa 20 Menschen<br />
jüdischen Glauben wohnten hier<br />
noch zu Beginn des Naziterrors,<br />
auch Ella und Eva Zeissler, die bei<br />
Kriegsbeginn knapp 10 und 14 Jahre<br />
alt waren und von denen »Stein<br />
auf Stein« handelt. Sie müssen hier<br />
eine ganze Zeit lang allein gewesen<br />
sein, nachdem ihr Vater, ein Händler,<br />
von einer Reise nicht zurückkehrte<br />
und verschwunden war.<br />
Bouke Oldenhof, die Autorin, und<br />
Regisseurin Silvia Annika haben<br />
sich vorgestellt, wie das war, als Eva<br />
und Ella (Mirjam Tertilt, Susanne<br />
Schyns), auf den Papa gewartet haben.<br />
Wie sie spielten, lernten, den<br />
Haushalt machten, über was sie<br />
sprachen, wie sie sich stritten und<br />
wieder versöhnten. Sicherlich hat<br />
16 | <strong>Strandgut</strong> 11/2012<br />
Stück für Stück<br />
der Vater den Töchtern verboten,<br />
ohne ihn die Wohnung zu verlassen<br />
und für alle Fälle Vorräte angelegt.<br />
Und gewiß mußte Ella ihre kleine<br />
Schwester oft trösten bis zu ihrer<br />
Entdeckung. Auf den Täfelchen, die<br />
für sie in die Friedhofsmauer eingelassen<br />
sind, folgt dem Geburtsdatum<br />
nur ein langer leerer Strich.<br />
»Stein auf Stein« ist eine wunderbare<br />
Inszenierung, die keinesfalls<br />
den Kindern und Jugendlichen allein<br />
überlassen werden sollte.<br />
Termine: 4. November 15 Uhr,<br />
5., 6., 7., 8., 9. November 10 Uhr ,<br />
9. November 18 Uhr<br />
Tugend und Tatoos<br />
Hessisches Staatstheater Wiesbaden:<br />
Miss Sara Sampson<br />
Endverliebt in den berüchtigten<br />
Adelssproß Mellefont, aber ohne<br />
den Segen des Vaters. Da bleibt der<br />
tugendhaften Halbwaisen Sara<br />
nur eins. Nix wie weg und heiraten<br />
in Frankreich. Komisch, daß das<br />
Bürgerkind nicht argwöhnisch wird,<br />
als der vermeintliche Märchenprinz<br />
plötzlich vorgibt, nur noch flugs das<br />
Erbe klären zu müssen– und dafür<br />
Monate braucht. Neun Wochen<br />
wartet das Naivchen im schäbigen<br />
Küstenhotel auf das Go: unwissend,<br />
daß sich längst die Mellefont-Ex<br />
Marwood samt Mellefont-Kind Arabella<br />
und selbst Papa Samson zum<br />
Showdown eingebucht haben.<br />
Bedingungslose Liebe, tödliche Eifersucht<br />
und ein uneheliches Kind.<br />
Mit seinem Trauerspiel »Miss Sara<br />
Sampson« hat Gotthold Ephraim<br />
Lessing vor 350 Jahren die Leute zu<br />
Tränen gerührt. Im Staatstheater<br />
Wiesbaden inszeniert Ricarda Beilharz<br />
das Rührstück leicht und locker<br />
als tragikomische Komödie mit großem<br />
Verzauberungspotential. So<br />
eine unaufdringlich und poetisch<br />
Hessisches Staatstheater Wiesbaden: Miss Sara Sampson, © Martin Kaufhold<br />
eingesetzte Videotechnik hat der<br />
Chronist noch nie gesehen.<br />
Stilisiert wie Marionetten harren<br />
die Figuren in einem dreistöckigen<br />
Setzkastenpuppenhotel der<br />
Dinge. Oben im Bad säuselt Sara<br />
(Sybille Weiser) im Brautschleier<br />
Liebesgedichte, unter ihr wechselt<br />
Mellefont (Stefan Schießleder)<br />
stetig die Hemden. Papa Sampson<br />
schreibt beim Fußbad Briefe an die<br />
Tochter und ein Diener, der wie ein<br />
Albino-Winnetou aussieht, hangelt<br />
mit einer Bettlakenliane zwischen<br />
den Stockwerken. Daß die Figuren<br />
weniger miteinander als ins Publikum<br />
reden, nimmt ihnen den Ernst,<br />
legt aber auch offen, wie wenig sie<br />
einander erreichen.<br />
Rothaarig und tief tätowiert bringt<br />
erst die gekränkte Marwood Dynamik<br />
ins Spiel. Sie verführt, erpreßt<br />
und intrigiert nach allen Regeln der<br />
Beutekunst und setzt sogar die eigene<br />
Tochter als Geisel ein, wiewohl<br />
deren Kammerexistenz etwas nach<br />
Fritzl schmeckt. Doreen Nixdorf<br />
aber gibt eine so starke Frau, daß<br />
sich der Medeagestählte nicht nach<br />
ihrer Mordlust, sondern danach<br />
fragt, was der Flattermann Mellefont<br />
mit dem irrlichternden Püppi<br />
eigentlich wollte. Marwood rules<br />
– In einem stimmigen Ensemble an<br />
einem zu Recht umjubelten Abend.<br />
Termine: 8., 18. November,<br />
jeweils 19.30 Uhr<br />
Unter Trotteln<br />
Staatstheater Darmstadt:<br />
Johanna von Orleans<br />
Man denkt an die holde Iphigenie,<br />
wenn der eiserne Vorhang sich<br />
hebt und Schillers Heroine allein<br />
auf weiter Flur im schlichten Grau<br />
des Hirtenmädchens zum Monolog<br />
anhebt: »Lebt wohl ihr Berge ...«<br />
Doch von einer Frau, die ihr Heil<br />
mit der Seele sucht, ist in Ronja<br />
Loserts Spiel wenig zu spüren. Das<br />
neue Mitglied des Darmstädter<br />
Ensembles gibt eine Johanna von<br />
Orleans, die sich nicht ohne Gefühl,<br />
aber frei von Pathos daran macht,<br />
einen Job zu erledigen. Cool halt.<br />
Daß es ein schmutziger Job wird,<br />
darauf weist wohl die große Mündung<br />
eines Abflußrohrs, die das<br />
Bühnenbild dominiert und in deren<br />
Schlund die Nebel wabern. Das<br />
Teil stößt aus einer Schräge, auf<br />
deren oberen Ebene der dekadente<br />
Hof von Karl VII residiert, während<br />
unten Ende rund um ein Wasserbecken<br />
die Schlachten des 100-jährigen<br />
Kriegs geschlagen werden.<br />
Lydia Bunks eigenwillige Inszenierung<br />
denunziert die kriegerische<br />
Männerwelt mit einer Hingabe, die<br />
immer wieder für schräge, manchmal<br />
aber auch schiefe Situationen<br />
sorgt.<br />
Nicht nur, daß der König mit leichten<br />
Mädels schwer Champagner<br />
schlürft, während sein Land zugrundegeht,<br />
er wird auch von nicht<br />
enden wollenden Heulkrämpfen<br />
heimgesucht, weil ihn Mama<br />
Isabeau – als Maggie Thatcher<br />
(warum?) ganz prima: Margit<br />
Schulte-Tigges – nicht mag, und<br />
gebärdet sich nach Johannas Wunderwende<br />
als bloßer Poser. Über<br />
tumbe ungewaschene Egomanen<br />
mit fettverzottelten Mähnen kommen<br />
auch die Edelleute aller Lager<br />
nicht hinaus, deren Ledermonturen<br />
an pensionierte Spätrocker denken<br />
läßt. Alles Trottel, versteht sich.<br />
Johanna aber zieht ihren Business-<br />
Plan zur Rettung Frankreichs durch<br />
und nimmt dabei den demaskierten<br />
Intrigensumpf derart gelassen<br />
in Kauf, dass man auch als Nichtchrist<br />
an der Vorsehung zweifelt.<br />
Mag sein, dass Bunk sie deshalb<br />
– anders als in Schillers romantischer<br />
Tragödie, aber der Geschichte<br />
folgend – mit dem Tod auf dem<br />
Scheiterhaufen bestraft.<br />
Termine: 3., 9., 16., 22., 28. November<br />
jeweils 19.30 Uhr