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Frankfurt - Strandgut

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Wie beginnen... vielleicht<br />

einfach mit einer Auflistung<br />

von Dingen, die den<br />

Menschen auszeichnen. Da<br />

wären dann auf jeden Fall<br />

seine Fähigkeit, zu lieben und<br />

in der Liebe über sich selbst<br />

hinauszuwachsen, aber eben<br />

auch seine Bereitschaft zu<br />

unvorstellbarer Grausamkeit,<br />

seine Sehnsucht nach<br />

Geschichten, dieser<br />

unbändige Wunsch, das<br />

Vergangene festzuhalten<br />

und damit die Zukunft zu<br />

formen, und zugleich sein<br />

bedauernswerter Hang zur<br />

Zerstörung, zur Wiederholung<br />

der immer gleichen Fehler.<br />

Genres im Dialog<br />

»Wolkenatlas« von Tom Tykwer und L. + A. Wachowski<br />

Diese Reihe von Gegensatzpaaren<br />

ließe sich noch lange fortsetzen,<br />

und jedes Paar stände in einem<br />

direkten Bezug zu dem auf den ersten<br />

Blick ausufernden, in Wahrheit<br />

jedoch sehr streng komponierten<br />

Kinosextett, in das Tom Tykwer und<br />

die Wachowski-Geschwister David<br />

Mitchells Roman »Cloud Atlas« verwandelt<br />

haben, sechs Geschichten,<br />

die zusammen fast 500 Jahre umspannen<br />

und weit in die Zukunft<br />

reichen.<br />

Eine erzählt von Adam Ewing (Jim<br />

Sturgess), einem jungen amerikanischen<br />

Anwalt, der 1849 während einer<br />

Reise in die Südsee den Schrekken<br />

des Sklavenhandels erkennt,<br />

eine andere von dem talentierten<br />

Komponisten Robert Frobisher (Ben<br />

Whishaw), der 1936 durch seine<br />

Homosexualität erpreßbar wird.<br />

1973 stößt die Journalistin Luisa<br />

Rey (Halle Berry) in San Francisco<br />

auf eine Verschwörung, die unzählige<br />

Menschen ihr Leben kosten<br />

könnte. 39 Jahre später wird der<br />

englische Verleger Timothy Cavendish<br />

(Jim Broadbent) Opfer der Rachegelüste<br />

seines Bruders und landet<br />

in einem furchteinflößenden<br />

Altenheim. Sonmi-451 (Doona Bae)<br />

wurde geschaffen, um zu bedienen.<br />

Als »Duplikant«, also Klon, besitzt<br />

die Kellnerin im Neo-Seoul des<br />

Jahres 2144 zwar keinerlei Rechte,<br />

aber in ihr schlummert ein Potential,<br />

das die ganze Welt erschüttern<br />

kann. Noch einmal 200 Jahre später<br />

sind nur noch kleine Teile der Erde<br />

bewohnbar. Die Apokalypse hat<br />

ein neues archaisches Zeitalter<br />

hervorgebracht, in dem in kleinen<br />

Dorfgemeinschaften lebende Menschen<br />

wie der Hirte Zachry (Tom<br />

Hanks) immer in Gefahr sind, die<br />

Beute marodierender Kannibalen<br />

zu werden.<br />

Die Bezüge unter diesen Geschichten<br />

sind geradezu überdeutlich. Die<br />

Konstellationen und Situationen<br />

wiederholen sich. Motive und<br />

Figuren ziehen sich durch die Erzählungen<br />

und die Jahrhunderte. Alle<br />

zeugen sie von der dunklen, kannibalistischen<br />

Seite der menschlichen<br />

Natur und damit von den finstersten<br />

Auswüchsen einer rein darwinistischen<br />

Sicht der Welt. Aber zugleich<br />

bringt jede dieser Geschichten<br />

eine Heldin oder einen Helden<br />

wider Willen hervor. Der Mensch<br />

kann eben auch seine Schwächen<br />

überwinden und die Teufel, die ihn<br />

- wie Old Georgie (Hugo Weaving)<br />

den Hirten - auf Schritt und Tritt<br />

begleiten, bezwingen.<br />

Das alles funktioniert nach musikalischen<br />

Prinzipien. Meist spielen<br />

die Wachowskis und Tykwer dabei<br />

mit Variationen und ihrem verstärkenden<br />

Effekt. Gelegentlich<br />

setzen sie aber auch Kontrapunkte.<br />

So treten in allen Geschichten die<br />

gleichen Schauspieler auf. Nur verwandeln<br />

sie sich dabei ständig. Mit<br />

den Zeiten wechseln sie ihr Alter,<br />

ihre Herkunft, ihre Hautfarbe und<br />

gelegentlich sogar ihr Geschlecht.<br />

Der Mensch kehrt immer wieder<br />

und kann dabei jeder und alles sein,<br />

Held und Schurke, Randfigur und<br />

Erlöser.<br />

Das Kino mit seinen Tricks wird zum<br />

Menschheitsspiegel. Zugleich spielt<br />

es aber auch noch seine eigenen<br />

Film<br />

Möglichkeiten durch. Jede der sechs<br />

Geschichten ist ein Genre pastiche:<br />

Abenteuerfilm, Politthriller, Künstlermelodram,<br />

Endzeitszenario,<br />

Komödie, Sci-Fi-Action-Spektakel.<br />

Die Genres treten in einen Dialog,<br />

der die Grenzen zwischen ihnen<br />

zumindest durchlässig macht. So<br />

ist es fast unmöglich, mit Sicherheit<br />

zu sagen, wer welche Episode<br />

inszeniert hat. Sonmis Geschichte<br />

dürfte von den Wachowskis stammen,<br />

schließlich finden sich in ihr<br />

Elemente aus Speed Racer und der<br />

Matrix-Trilogie wieder, und Tom<br />

Tykwer könnte auf jeden Fall den<br />

70er-Jahre-Politthriller in Szene<br />

gesetzt haben. Aber letztlich spielt<br />

das gar keine Rolle. Der Reiz liegt<br />

gerade in der Vermischung. Jeder<br />

ist zu allem fähig, auch im Kino.<br />

Das filmische Experiment und der<br />

Größenwahn, der durchaus auch<br />

in diesem Unterfangen liegt, transzendieren<br />

die eher schematischen<br />

Abläufe der einzelnen Erzählungen.<br />

Sascha Westphal<br />

DER WOLKENATLAS (Cloud Atlas)<br />

von Tom Tykwer, Lana & Andy Wachowski,<br />

D/USA/HK/ 2012, 164 Min.<br />

mit Tom Hanks, Halle Berry, Jim Broadbent,<br />

Hugo Weaving, Jim Sturgess, Doona Bae<br />

Drama<br />

Start: 15.11.2012<br />

★★★✩✩<br />

<strong>Strandgut</strong> 11/2012 | 7

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