soziologie heute April 2009
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschsprachigen Raum.
Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>April</strong> <strong>2009</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 11<br />
ken und fühlen und sich verhalten,<br />
ohne auf einen bloß vierjährlichen<br />
bzw. fünfjährlichen Stimmabgeber<br />
reduziert zu werden? Und – und das<br />
ist die Nuss, die’s dabei zu knacken<br />
gilt – wir dürfen nicht vergessen,<br />
dass unterschiedliche Menschen unterschiedlich<br />
ticken, speziell wenn es<br />
um weltanschauliche Dinge geht, sei<br />
es Religion oder politische Ideologie.<br />
Was bringt die Unterschiedlichkeit<br />
auf einen Nenner ohne die Vielfalt zu<br />
beschränken? Dürfen wir den Demokraten<br />
überhaupt eine Weltanschauung<br />
vorschreiben?<br />
<strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>: Wie einigen sich<br />
diejenigen, die sich auf nichts einigen<br />
können?<br />
Truhlar: Präzise.<br />
<strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>: Und wie lautet Ihre<br />
Antwort?<br />
Truhlar: Erstens, die Antwort selbst<br />
muss rein formal sein. Eine demokratische<br />
Weltanschauung darf keine<br />
Inhalte diktieren. Sondern nur die<br />
Art, wie Inhalte vertreten werden.<br />
Also wie wir miteinander kommunizieren,<br />
umgehen, uns ganz einfach<br />
als Menschen zueinander verhalten.<br />
Und zweitens, und das ist das<br />
spezifisch Demokratische, diese Art<br />
muss mit den Idealen der Demokratie<br />
selbst kompatibel sein. Einem<br />
Thomas Jefferson muss es genauso<br />
schmecken wie einem John Stuart<br />
Mill, einem Karl Popper genauso wie<br />
Ihnen. Oder dem Nachbarn aus dem<br />
ersten Stock. Deshalb habe ich den<br />
Demokratismus als die Einheit von<br />
Toleranz, Kritik und eigenem Standpunkt<br />
definiert. Das ist Terminologie<br />
der Tradition. Aber in einem neuen<br />
Zusammenhang der gegenseitigen<br />
Wechselwirkung. Nur zusammen machen<br />
die Sinn. Nehmen Sie Toleranz<br />
Foto: Steiner+Partner<br />
raus oder Kritik oder verzichten Sie<br />
auf einen eigenen Standpunkt und<br />
es heißt Game over. Toleranz allein<br />
führt zum Relativismus, Kritik allein<br />
zum Oppositionismus und ein allein<br />
stehender Standpunkt ist Dogmatismus<br />
pur. Das vertiefe ich, führe es<br />
aus und begründe es. Denn letztlich<br />
muss man den Leuten auch ein paar<br />
gute Gründe liefern, warum sie ihre<br />
weltanschaulichen Positionen so<br />
und so vertreten sollen oder warum<br />
das für sie und andere besser ist.<br />
<strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>: Ich bin mal frech,<br />
aber glauben Sie, dass das etwas<br />
bringt? Macht das unsere Demokratie<br />
wirklich besser? Halten sich die<br />
Leute dran?<br />
Truhlar: Ich will auch frech sein,<br />
ich bin mir selbst nicht sicher, ob es<br />
mehr Predigt oder reine Beschreibung<br />
ist. Aber wenn die Predigt gut<br />
ist, warum sollte man sie sich nicht<br />
anhören? Manchmal wirkt’s. Und das<br />
mit der Beschreibung ist genau der<br />
Punkt. Der Demokratismus in meinem<br />
Sinne ist im Prinzip bei jedem<br />
Klassiker der modernen Demokratie<br />
nachzulesen, man braucht nur<br />
deren Texte nach diesem Muster zu<br />
analysieren. Es ist wie eine implizite<br />
Theorie, die da immer mitschwingt.<br />
Und darum geht’s ja. Für eine gute<br />
Praxis brauchen wir eben auch eine<br />
gute Theorie, selbst wenn sie nur beschreibt,<br />
denn alles andere wäre Zufall.<br />
Ob es unsere Demokratie besser<br />
macht? Ich bin mal ketzerisch und<br />
Thomas Garrigue Masaryk (1850 - 1937)<br />
Foto: Josef Jindirch Sechtl, 1918)<br />
sage, wir haben schon eine sehr gute<br />
Demokratie. Wenn wir sie verbessern<br />
wollen, dann müssen wir das eben<br />
von der menschlichen Seite tun, von<br />
der Seite der Ethik, der Weltanschauung,<br />
unseres eigenen, persönlichen<br />
und täglichen Verhaltens. Tja, und<br />
dazu ist eine Theorie erst mal sowas<br />
wie eine Gebrauchsanweisung.<br />
<strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>: Worauf führen Sie<br />
zurück, dass Demokratismus im anglo-amerikanischen<br />
Raum eher positiv,<br />
im deutschsprachigen Raum<br />
jedoch eher abwertend Verwendung<br />
findet?<br />
Truhlar: Das liegt am Wort selbst.<br />
Früher, so um die vorletzte Jahrhundertwende,<br />
wurde es öfters verwendet,<br />
aber in unterschiedlichen Bedeutungen.<br />
Dann wurde es vergessen<br />
und je nach Land und Kultur durch<br />
andere Begriffe ersetzt. Speziell im<br />
deutschsprachigen Raum haben es<br />
– salopp ausgedrückt – sowohl die<br />
Linken als auch die Rechten vereinnahmt,<br />
jeder was anderes darunter<br />
verstanden und es gleichzeitig positiv<br />
und negativ interpretiert. Und wenn<br />
man bedenkt, dass das mit Rinks<br />
und Lechts so eine Sache ist und es<br />
auf frühere Zeiten projiziert, ist das<br />
Durcheinander perfekt. Vor allem,<br />
weil die konservativen Strömungen,<br />
die damals vielleicht eher monarchistisch<br />
orientiert waren, es als etwas<br />
zu Progressives gesehen haben. Und<br />
die so genannten Progressiven, die<br />
damals ein wenig extremer waren,<br />
„Auf allen Gebieten müssen die demokratischen<br />
Forderungen geltend gemacht werden.<br />
Es wäre irrig anzunehmen, daß wir nur den<br />
Brotdemokratismus anstreben. Wir müssen<br />
die Gleichheit und Brüderlichkeit überall suchen.<br />
Im Gesetz, in der Religion; in der Moral<br />
und dem ganzen Geistesleben.”<br />
„Wirklicher, bewußter Demokrat sein, nicht<br />
nur auf der Tribüne, sondern in jeder Lage<br />
des Lebens, davon sind wir noch sehr weit<br />
entfernt!”<br />
T. G. Masaryk war österreich-ungarischer<br />
und tschechoslowakischer<br />
Staatsmann, Soziologe und Philosoph,<br />
Verfechter der tschechoslowakischen<br />
Unabhängigkeit während des 1. Weltkrieges,<br />
Gründer und erster Präsident<br />
der Tschechoslowakei.<br />
Masaryks Habilitationsschrift: Der<br />
Selbstmord als sociale Massenerscheinung<br />
der modernen Civilisation 1881