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soziologie heute April 2009

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<strong>April</strong> <strong>2009</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 35<br />

Soziales Verhalten durch Mobilität (Roman Klingler, ETH Zürich)<br />

Auch in einer von Egoismus geprägten Welt kann kooperatives Verhalten unter<br />

Individuen entstehen. Der Schlüssel zu solchem Verhalten liegt in der Möglichkeit<br />

zur Mobilität.<br />

Komplexe Gesellschaften funktionieren nur dann, wenn sich ihre Mitglieder bis<br />

zu einem gewissen Grad kooperativ verhalten. Das gilt insbesondere für den<br />

Umgang mit der Umwelt und noch mehr für solidarische Systeme wie die Sozialversicherungen.<br />

Wie kann man ihr Funktionieren sichern, selbst wenn jeder<br />

zuerst an sich selbst denkt? Das ist eine zentrale Frage, die sich Wissenschaft<br />

und Politik gleichermassen stellen. In der politischen Realität versucht man<br />

oft, die egoistische Ausbeutung von Kollektivgütern durch verstärkte Kontrolle<br />

und Überwachung zu verhindern. Neueste Forschungsergebnisse von Sozialwissenschaftern<br />

der ETH Zürich weisen jedoch darauf hin, dass es auch andere<br />

Lösungsansätze gibt, um kooperatives Verhalten zu fördern und den darauf<br />

aufbauenden Sozialsystemen Stabilität zu verleihen.<br />

Die Computersimulationen der ETH-Forscher um Dirk Helbing, Professor für<br />

Soziologie, arbeiten mit dem in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften<br />

oft verwendeten Modell des sogenannten Prisoner‘s Dilemmas (bzw. Gefangenendilemmas).<br />

Das Modell beschreibt Situationen, in denen sich Individuen<br />

normalerweise nicht kooperativ verhalten, obwohl dies langfristig für alle<br />

Beteiligten am besten wäre. Das Computermodell der ETH-Forscher simuliert,<br />

wie Individuen auf einem bestimmten Territorium leben und in der sozialen Interaktion<br />

mit ihren Nachbarn immer abwägen, welches Verhalten ihnen selber<br />

zum eigenen Vorteil gereichen könnte. Entsprechend passen sie ihr Verhalten<br />

ständig an ihre Umgebung an. Die Herausforderung besteht darin, ein System,<br />

in dem zunächst niemand kooperiert, in ein solches zu überführen, in dem sich<br />

kooperatives Verhalten mehrheitlich durchsetzt.<br />

Die ETH-Simulation zeigt: Der aus anderen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen<br />

bekannte Mechanismus der Nachahmung alleine konnte der Kooperation<br />

nicht zum Durchbruch verhelfen - im Gegenteil. Wenn es am Anfang noch<br />

kooperative Individuen gab, so versuchten sich am Ende alle gegenseitig auszutricksen.<br />

Ebenso wenig konnte man dies mit einem zweiten Mechanismus<br />

erreichen: der erfolgsorientierten Mobilität. Darunter verstehen die Forscher<br />

den Versuch der Individuen, sich räumlich oder sozial zu verbessern, indem<br />

sie z.B. in eine angenehmere Nachbarschaft ziehen oder sich ein besseres Arbeitsumfeld<br />

suchen. „Das wirklich Erstaunliche an unseren Simulationen ist,<br />

dass sich das Blatt durch eine Kombination beider Mechanismen vollständig<br />

ändert“, so Dirk Helbing. Mit anderen Worten: Wenn die Individuen erfolgsversprechende<br />

Strategien ihrer Interaktionspartner imitieren und sich gleichzeitig<br />

ihr soziales Umfeld aussuchen können, setzt sich kooperatives Verhalten als<br />

dominantes Muster durch (siehe dazu das Simulationsvideo).<br />

Was heisst das nun in der Praxis für die gebeutelten Sozialversicherungen<br />

und die kontrovers diskutierte Migration? Helbing zufolge zeigen die neuesten<br />

Forschungsresultate, dass räumliche und soziale Mobilität wichtige Voraussetzungen<br />

für die Entstehung und Verbreitung sozialen Verhaltens sind, weil<br />

Individuen ein kooperatives Umfeld bevorzugen, wenn sie die Wahl haben. Dies<br />

wiederum ist entscheidend für das Funktionieren von Solidargemeinschaften.<br />

Überträgt man das Modell auf reale Problemstellungen, so würde es implizieren,<br />

dass die Konkurrenz von Krankenkassen um Patienten über unterschiedliche<br />

Beitragssätze und Versicherungsleistungen besser funktionieren sollte als<br />

ein gemeinsamer Gesundheitsfonds, wie er gerade in Deutschland geschaffen<br />

wurde. Auch sollte Migration positive Begleiterscheinungen haben, wenn die<br />

Betroffenen sozial gut integriert sind. Bei solchen komplexen gesellschaftlichen<br />

Fragestellungen kommen jedoch noch weitere Faktoren ins Spiel, die Gegenstand<br />

zukünftiger Forschung sein werden.<br />

Weitere Informationen:<br />

http://www.cc.ethz.ch/media/picturelibrary/news/Kooperatives_Verhalten Link zum Simulationsvideo

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