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soziologie heute April 2009

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<strong>April</strong> <strong>2009</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 21<br />

(objektiver) Lebenslage und (subjektivem)<br />

Bewusstsein (Identität, Personwerdung).<br />

Der Traum von der Individualität?<br />

Der Individualisierungsprozess weist<br />

immanente Widersprüche auf. Individualisierung<br />

vollzieht sich unter den<br />

Rahmenbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses,<br />

der individuelle<br />

Verselbstständigungen gerade<br />

in zunehmenden Maße unmöglich<br />

macht: der Einzelne wird zwar aus<br />

traditionalen Bindungen und Versorgungsbezügen<br />

herausgelöst, tauscht<br />

dafür aber die Zwänge des Arbeitsmarktes<br />

und der Konsumexistenz<br />

samt den damit verbundenen Standardisierungen<br />

und Kontrollen ein.<br />

So treten an die Stelle traditionaler<br />

Bindungen und Sozialformen (soziale<br />

Klasse, Kleinfamilie) sekundäre<br />

Instanzen und Institutionen, die den<br />

Lebenslauf des Einzelnen prägen<br />

und ihn zum Spielball von Moden,<br />

Verhältnissen, Konjunkturen und<br />

Märkten machen.<br />

Individualisierung bedeutet also<br />

Marktabhängigkeit in allen Dimensionen<br />

der Lebensführung. Die entstehenden<br />

Existenzformen sind der<br />

vereinzelte, sich seiner selbst nicht<br />

bewusste Massenmarkt und Massenkonsum<br />

für pauschal entworfene<br />

Wohnungen, Wohnungseinrichtungen,<br />

tägliche Gebrauchsartikel, über<br />

Massenmedien lancierte und adoptierte<br />

Meinungen, Gewohnheiten,<br />

Einstellungen, Lebensstile. Individualisierungen<br />

liefern die Menschen an<br />

eine Außensteuerung und –standardisierung<br />

aus, die die Nischen ständischer<br />

und familialer Subkulturen<br />

noch nicht kannten.<br />

Vor diesem Hintergrund ist die Privatsphäre<br />

nicht das, was sie zu sein<br />

scheint, nämlich eine gegen die<br />

Umwelt abgegrenzte Sphäre, sondern<br />

die ins Private gewendete und<br />

hineinreichende Außenseite von<br />

Verhältnissen und Entscheidungen,<br />

die anderswo, nämlich in den Fernsehanstalten,<br />

im Bildungssystem, in<br />

den Betrieben, am Arbeitsmarkt, im<br />

Verkehrssystem etc., unter weitgehender<br />

Nichtberücksichtigung der<br />

privat-biographischen Konsequenzen<br />

getroffen werden.<br />

Individualisierung löst die Biographie<br />

der Menschen aus vorgegebenen<br />

Fixierungen, sie wird offen und<br />

entscheidungsabhängig die Aufgabe<br />

des einzelnen Handelnden. Biographien<br />

werden also „selbstreflexiv“.<br />

Der Einzelne muss lernen, sich selbst<br />

als Handlungszentrum in Bezug auf<br />

seinen eigenen Lebenslauf zu begreifen.<br />

Gefordert ist ein aktives<br />

Handlungsmodell des Alltags, das<br />

das Ich zum Zentrum hat, ihm Handlungschancen<br />

zuweist und eröffnet<br />

und es auf diese Weise erlaubt, die<br />

aufbrechenden Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten<br />

in bezug<br />

auf den eigenen Lebenslauf sinnvoll<br />

kleinzuarbeiten.<br />

Was die Lebensstilanalyse leisten<br />

kann und könnte<br />

Es wäre längst an der Zeit, sich in der<br />

Gemeinde der SozialwissenschafterInnen<br />

(oder bescheidener: der SoziologInnen)<br />

auf einen verbindlichen<br />

Rahmen des Lebensstilkonzepts zu<br />

einigen. Mit einem solchen müsste<br />

klar werden, was die konstitutiven<br />

Komponenten und wesentlichen Lebensstildimensionen<br />

sind, die Träger<br />

von Lebensstilen müssten ersichtlich<br />

werden, und schließlich müssten<br />

neben der Analyse von Werten,<br />

Einstellungen und Konsummustern<br />

auch die Untersuchung von Lebensstilstrategien<br />

von Statusgruppen<br />

möglich sein.<br />

Lebensstile wären dann bestimmbar<br />

als raum-zeitlich strukturierte Muster<br />

der Lebensführung, die von materiellen<br />

und kulturellen Ressourcen,<br />

der Familien- und Haushaltsform<br />

und den Werthaltungen abhängen.<br />

Die Ressourcen geben Auskunft über<br />

die Lebenschancen, die Familienund<br />

Haushaltsform beschreibt die<br />

Lebens-, Wohn- und Konsumeinheit,<br />

die Werthaltungen definieren die<br />

vorherrschenden Lebensziele, prägen<br />

die Mentalitäten und kommen<br />

in einem spezifischen Habitus zum<br />

Ausdruck.<br />

In dem Maße, in dem die theoretische<br />

Verfeinerung des geschilderten Rahmens<br />

gelingt, wird Lebensstil nicht<br />

nur ein vergleichbarer Grundbegriff<br />

wie Klasse und Schicht, sondern in<br />

der Konjunktion von Lebenschancen<br />

und Lebensstilen rückt auch ein zentrales<br />

Thema der klassischen Soziologie<br />

wieder in den Mittelpunkt: das<br />

Problem der Lebensführung.<br />

Literatur<br />

Becher, Ursula A. J., 1990: Geschichte des modernen<br />

Lebensstils. Essen – Wohnen – Freizeit – Reisen,<br />

München: C. H. Beck<br />

-, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine<br />

andere Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

Bourdieu, Pierre, 1970: Zur Soziologie der symbolischen<br />

Formen, Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

-, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen<br />

Urteilskraft, Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

Müller, Hans-Peter, 1992: Sozialstruktur und Lebensstile.<br />

Der neuere theoretische Diskurs über<br />

soziale Ungleichheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

Weber, Max, 1978 (1920f): Gesammelte Aufsätze<br />

zur Religions<strong>soziologie</strong>, 1-3, Tübingen: Mohr, 1985<br />

(1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der<br />

verstehenden Soziologie (Studienausgabe), Tübingen:<br />

Mohr<br />

Foto: Gerd Altmann, geralt, pixelio

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