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März 2018 - coolibri Recklinghausen, Gelsenkirchen, Herne

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EUROPA- K OLUMNE<br />

E S S E N<br />

Voll und ganz<br />

dazwischen<br />

Obwohl ihre Eltern aus Polen kommen, ist Natalie Kajzer<br />

als blonde, weiße Frau, die akzentfrei Deutsch spricht, als<br />

Migrantin „unsichtbar“.<br />

Natalie ist 25 Jahre alt und lebt in Essen. Sie<br />

hat Kunst, Spanisch und katholische Theologie<br />

studiert und ist nun leidenschaftlich im Lehramt<br />

unterwegs. Natalie hat Glück: Ihre Familie<br />

ist sehr gebildet. Ihre Großmutter und Mutter<br />

haben studiert. Ihr Großvater war Professor. Er<br />

hat in der Türkei als Ingenieur gearbeitet und<br />

gepredigt, niemanden aufgrund seiner Religion<br />

oder Hautfarbe zu diskriminieren. Ihre Eltern<br />

wanderten aus, weil sie in Polen ein Klima erlebten,<br />

in dem Menschen aus Angst nicht sagen<br />

können, was sie denken. Zur Zeit des Eisernen<br />

Vorhangs und unter russischer<br />

Oberhand sahen sie für ihre<br />

Kinder keine Aufstiegschancen.<br />

Als erstes Kind der Familie wird<br />

Natalie in Deutschland geboren.<br />

Trotz Uniabschluss haben die<br />

Eltern in Deutschland zu kämpfen.<br />

Die deutschen Behörden<br />

erkennen nicht einmal ihr Abitur<br />

an. „Ich habe meine Mutter<br />

damals immer gefragt, ob wir nicht zurückgehen<br />

können. Auch, wenn ich jetzt froh darüber<br />

bin und es verstehe: Als Kind konnte ich nicht<br />

nachvollziehen, warum wir gegangen sind“, so<br />

Natalie.<br />

Die unsichtbaren Migranten<br />

Obwohl Natalie in Deutschland sozialisiert wird,<br />

wächst sie zwischen zwei Ländern auf: In den<br />

Ferien und an langen Wochenenden fährt sie<br />

nach Polen. „Andere Kinder hatten Familie immer<br />

um sich herum. Ich habe meine Freunde<br />

und meine Familie nicht immer gesehen. Am<br />

wohlsten habe ich mich als Kind unterwegs,<br />

zum Beispiel auf der Autobahn gefühlt.“ Deswegen<br />

habe sie als Kind oft bitterlich geweint. Ihre<br />

Großeltern weinen bis heute. Natalie erklärt:<br />

12<br />

„Ich hatte zwar<br />

Probleme mit<br />

Ausländerfeindlichkeit,<br />

aber nicht mit<br />

Rassismus.“<br />

„Ich hab‘ mir früher immer<br />

vorgenommen: Irgendwann<br />

komme ich zurück.<br />

Aber das geht nicht. Ich<br />

habe selbst erlebt, was es<br />

für Eltern bedeutet, wenn<br />

ihr Kind geht. Schon allein<br />

aus Dankbarkeit ginge es nicht: Sie haben es für<br />

uns gemacht. Heute kann ich es verstehen,<br />

Danke sagen und es auch so meinen. Vielleicht<br />

wäre ich heute die, die gegangen wäre und jemanden<br />

verletzt zurücklässt.“<br />

Natalie bezeichnet Polen als<br />

„unsichtbare Migranten“, weil<br />

sie in Deutschland so stark assimiliert<br />

seien. Viele Polinnen<br />

und Polen ihrer Generation haben<br />

von ihren Eltern – und die<br />

wiederum von der einsprachig<br />

ausgerichteten Mehrheitsgesellschaft<br />

– gelernt, dass Zweisprachigkeit<br />

etwas Schlechtes<br />

sei. Als jemand, dessen Familie zu Hause nicht<br />

Deutsch spricht, hat Natalie in der Schule eine<br />

Außenseiterstellung. Ihre Grundschullehrer wollen<br />

sie zunächst nicht aufs Gymnasium lassen,<br />

weil ihre Eltern nicht Deutsch sprechen würden.<br />

Schließlich schicken ihre Eltern sie auf das beste<br />

Gymnasium der Stadt. Dieses Erlebnis war<br />

unter anderem Motivation für Natalie, sich zusätzlich<br />

dafür zu qualifizieren, Deutsch als<br />

Fremdsprache unterrichten zu dürfen.<br />

Sie erinnert sich: „Ich weiß, wie stolz ich auf das<br />

Wort ‚Kümmel‘ war, weil ich lange nur das polnische<br />

Wort dafür kannte.“ Gerade bei Begriffen<br />

aus dem häuslichen Kontext war es besonders<br />

bemerkenswert, sie zu kennen. Natalie erklärt:<br />

„Man fühlt sich ausgeschlossen, wenn man sich<br />

nicht ausdrücken kann. Als Kind merkt man,<br />

Natalie lässt sich zur Lehrerin ausbilden: Sie unterrichtet<br />

heute selbst Deutsch als Fremdsprache.<br />

wenn Lehrer denken, dass du was Schlechtes<br />

bist. Aber man kommt nicht aus einer schlechten<br />

Familie, nur weil die Familie aus einem anderen<br />

Land kommt und eine andere Kultur hat.<br />

Dennoch hatte ich aufgrund meiner weißen<br />

Hautfarbe noch Glück: Ich hatte zwar Probleme<br />

mit Ausländerfeindlichkeit, aber nicht mit Rassismus.“<br />

Auch in Polen gilt sie als anders, ist nicht eine<br />

von ihnen: „Ich rede anders, kann keinen Slang,<br />

nur Hochpolnisch. Du bist nicht wirklich<br />

deutsch und andersherum nicht wirklich polnisch.“<br />

Sie resümiert: „Ich bin Deutsch-Polin,<br />

aber ich sehe mich als Europäerin.“ Je mehr jedoch<br />

die EU-feindliche Stimmung in Polen zunimmt,<br />

desto mehr fürchtet Natalie, Polen könnte<br />

seine Grenzen schließen oder die EU könnte<br />

Polen aus ihrem Bund ausschließen. „Früher<br />

gab es in Polen eine Kampagne, dass die EU etwas<br />

Buntes ist und Vorteile hat. Es ist schwierig,<br />

kulturell bedingt ein Land zu vertreten, das<br />

Europa so stark ablehnt. Für Deutschland wie<br />

für Polen gilt: Europa ist Plural.“ Chantal Stauder<br />

Was denkt der Pott<br />

über Europa?<br />

Redakteurin Chantal Stauder stellt jeden Monat<br />

jemanden aus der Region vor, der eine ganz besondere<br />

Beziehung zur EU hat. Die Europa-Kolumne<br />

ist ein einjähriges Projekt des Internationalen<br />

Bildungs- und Begegnungswerks (IBB),<br />

Foto: Natalie Kajzer

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