MTD_DDG_2018_01-02
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diabeteszeitung · 3. Jahrgang · Nr. 1/2 · 28. Februar <strong>2<strong>01</strong>8</strong><br />
Das Interview<br />
17<br />
Parodontitis-Screening<br />
im Wartezimmer<br />
Patienten-Fragebogen der DG PARO für die Diabetespraxis verfügbar<br />
REGENSBURG. An der Universitätsmedizin Greifswald wurde<br />
ein Risiko-Score zum Screening von Parodontitis entwickelt<br />
und evaluiert. Damit können Patienten selbst abschätzen, wie<br />
groß ihr Risiko ist, an Parodontitis erkrankt zu sein. Im Interview<br />
sprechen zwei der Entwickler, Zahnmediziner Professor<br />
Dr. Thomas Kocher und Biomathematikerin Dr. Birte Holtfreter,<br />
über Ziele und Einsatzmöglichkeiten des Risiko-Scores<br />
insbesondere in der Diabetespraxis.<br />
?<br />
Parodontitis wird auch als stille<br />
Krankheit mit schweren Folgewirkungen<br />
bezeichnet. Was bedeutet<br />
das für Diabetespatienten?<br />
Professor Dr. Thomas Kocher: Die<br />
gegenseitige Beeinflussung von Parodontitis<br />
und Diabetes mellitus ist<br />
wissenschaftlich belegt. Parodontitis<br />
gilt heute als eine weitere wichtige<br />
Diabetesfolgeerkrankung. So haben<br />
Diabetespatienten im Vergleich zu<br />
Nichtdiabetikern ein dreifach erhöhtes<br />
Risiko, an Parodontitis zu<br />
erkranken. Die Erkrankung verläuft<br />
schwerer und die Patienten verlieren<br />
mehr Zähne als Nichtdiabetiker.<br />
Das erhöhte Risiko steht im<br />
direkten Zusammenhang mit der<br />
Kontrolle des Blutzuckerspiegels:<br />
Ist der Diabetes patient gut eingestellt,<br />
weist er kein erhöhtes Risiko<br />
auf, wohingegen mit schlechterer<br />
Einstellung des Blutzuckerspiegels<br />
das Risiko für die Zerstörung des<br />
Zahnhalteapparats und Zahnverlust<br />
zunimmt. Gut eingestellte Patienten<br />
sprechen zudem ähnlich gut auf eine<br />
Behandlung der Parodontitis wie<br />
Nichtdia betiker an.<br />
?<br />
Wie lassen sich Risiken früh erkennen?<br />
Dr. Birte Holtfreter: Für eine effiziente<br />
Behandlung ist das frühe Erkennen<br />
von ersten Anzeichen entscheidend.<br />
Um das mögliche Vorliegen<br />
einer Erkrankung vorherzusagen,<br />
sind in der Allgemeinmedizin klinische<br />
Prädiktionsmodelle und sogenannte<br />
punktebasierte Risiko-Score-<br />
Systeme seit Jahren im Einsatz. Sie<br />
sind eine beliebte objektive Alternative<br />
zur subjektiven Einschätzung<br />
durch einen Kliniker in der klinischen<br />
Entscheidungsfindung. Auch<br />
in der Zahnmedizin sind verschiedene<br />
Prädiktionsmodelle im Einsatz,<br />
die aber eher auf den klinischen Alltag<br />
beschränkt sind. Dadurch haben<br />
diese Prädiktionsmodelle jedoch den<br />
Nachteil, dass Patienten sie nicht<br />
selbst zu Hause anwenden können.<br />
?<br />
Was ist Ihr Lösungsansatz für diese<br />
Problematik?<br />
Prof. Kocher: Die Idee war, zur Sensibilisierung<br />
und Früherkennung<br />
bei Parodontitis ein entsprechendes<br />
»Screening-Tool ist<br />
breit einsetzbar«<br />
Prof. Dr. Thomas Kocher<br />
Risiko-Score-System zu entwickeln,<br />
und zwar unabhängig von klinischen<br />
Befunddaten. Es sollte ein breit einsetzbares<br />
Screening-Instrument sein,<br />
mit dem unkompliziert, aber verlässlich<br />
das Risiko einer Parodontitis<br />
bewertet werden kann – und zwar<br />
vom Patienten selbst. Wir haben an<br />
der Universitätsmedizin Greifswald<br />
ein punktebasiertes Risiko-Score-<br />
System für Patienten entwickelt und<br />
nachgefragt<br />
Neue Leitlinie<br />
„Diabetes und Parodontitis“<br />
Diabetologe Privatdozent Dr. Erhard Siegel,<br />
St. Josefskrankenhaus, Heidelberg: „Die beiden Fachgesellschaften<br />
<strong>DDG</strong> und DG PARO arbeiten aktuell an einer<br />
neuen AWMF-Leitlinie ‚Dia betes und Parodontitis‘.<br />
Die Leitlinie ist als Orientierungshilfe für die Praxis zu<br />
verstehen mit Empfehlungen für Ärzte und Zahnärzte<br />
zur interdisziplinären Betreuung von Patienten mit<br />
Parodontitis und Diabetes. Ein besonderes Augenmerk<br />
wird dabei auf der Früherkennung von Risikopatienten<br />
durch Screeningmaßnahmen liegen.“<br />
Foto: DG PARO<br />
PROF. DR.<br />
THOMAS KOCHER<br />
Zahnmediziner,<br />
Abteilung Parodontologie der<br />
Universitätsmedizin Greifswald<br />
evaluiert. Es schließt an ein bereits<br />
2<strong>01</strong>4 von Zhan et al. erarbeitetes<br />
Parodontitis-Screening-Modell an.<br />
?<br />
Wie funktioniert das Risiko-<br />
Score-System?<br />
Dr. Holtfreter: Anhand von sechs<br />
Risikofaktoren wie etwa Alter,<br />
Geschlecht oder Zahnfleischbluten<br />
werden Kategorien<br />
– zum Beispiel „weiblich/<br />
männlich“ oder „ja/nein“ –<br />
angegeben und mit Punkten<br />
bewertet. Je höher der<br />
Risiko-Score, desto höher<br />
das Parodontitis-Risiko. Bei<br />
einem Wert von 0 liegt das<br />
Risiko, parodontal erkrankt zu<br />
sein, bei 3,8 %. Bei einem Score von<br />
7 liegt das Risiko bereits bei 57,5 %.<br />
Das höchste Risiko von 99,9 % ist<br />
bei einem Score von 20 erreicht.<br />
Eine Farbkodierung erleichtert die<br />
Einschätzung und regt den Patienten<br />
an, bei gelb oder rot einen Zahnarzt<br />
aufzusuchen.<br />
?<br />
Wie aussagekräftig kann ein solch<br />
einfacher Risiko-Score sein?<br />
Dr. Holtfreter: Das Modell wurde<br />
anhand der Daten der SHIP-0- und<br />
SHIP-Trend-0-Studie, zwei bevölkerungsbasierten<br />
Kohortenstudien<br />
aus Vorpommern, evaluiert. In der<br />
internen und externen Bewertung<br />
PD Dr.<br />
Erhard Siegel<br />
St. Josefskrankenhaus<br />
Heidelberg<br />
Foto: zVg<br />
DR. BIRTE<br />
HOLTFRETER<br />
Biomathematikerin,<br />
Abteilung Parodontologie der<br />
Universitätsmedizin Greifswald<br />
»Einfache<br />
Farbkodierung«<br />
Dr. Birte Holtfreter<br />
Foto: Vincent Leifer<br />
erreichte der Risiko-Score sehr gute<br />
Ergebnisse. Zur Validierung wurde<br />
das Risiko-Score-Modell mit dem<br />
logistischen Ausgangsmodell verglichen.<br />
Wir konnten nachweisen, dass<br />
die Differenz in der Vorhersagegüte<br />
beider Modelle vernachlässigbar gering<br />
ist. Der Risiko-Score hat somit<br />
eine sehr gute Genauigkeit bezüglich<br />
der Einschätzung, parodontal<br />
erkrankt zu sein.<br />
?<br />
Wie soll der Risiko-Score eingesetzt<br />
werden?<br />
Dr. Holtfreter: Der Risiko-Score kann<br />
von jedem Erwachsenen ohne großen<br />
Aufwand durchgeführt werden.<br />
Damit eröffnen wir uns neue Möglichkeiten,<br />
sehr viel mehr Patienten<br />
zu erreichen, aufzuklären und zu<br />
sensibilisieren. Die Deutsche Gesellschaft<br />
für Parodontologie, die DG<br />
PARO, hat daraus eine neue Selbsttest-App<br />
Parodontitis entwickelt, die<br />
kostenlos im Internet in den entsprechenden<br />
App-Stores herunterzuladen<br />
ist. Mit diesem einfachen, schnellen<br />
und verlässlichen Selbsttest können<br />
Patienten herausfinden, ob eine Abklärung<br />
beim Zahnarzt nötig ist.<br />
?<br />
Warum sollte der Selbsttest auch<br />
in der Hausarztpraxis oder beim<br />
Diabetologen eingesetzt werden?<br />
Prof. Kocher: Prävention, Screening<br />
und Therapie der Parodontitis setzen<br />
eine Zusammenarbeit zwischen Patienten,<br />
Zahnarzt und behandelndem<br />
Hausarzt bzw. Diabetologen voraus.<br />
Doch in der Praxis werden die beiden<br />
Krankheitsbilder noch viel zu<br />
häufig isoliert betrachtet. Hier ist<br />
noch mehr Sensibilität nötig. Daher<br />
hat die DG PARO einen Selbsttest-<br />
Fragebogen fürs Wartezimmer entwickelt<br />
und bietet diesen Allgemeinarztpraxen<br />
und diabetologischen<br />
Praxen an. Damit liegt ein unkompliziertes<br />
Screening-Instrument vor,<br />
das auch zur breiten Befragung für<br />
besonders gefährdete Diabetespatienten<br />
eingesetzt werden kann.<br />
?<br />
Wie bindet der Diabetologe den<br />
Test bzw. Fragebogen in seine<br />
Arbeit ein?<br />
Prof. Kocher: Der ausgefüllte Fragebogen<br />
ist eine gute Basis für das<br />
Patientengespräch mit dem Diabetologen,<br />
der bei entsprechendem Ergebnis<br />
die Empfehlung aussprechen<br />
kann, den Zahnarzt zu konsultieren.<br />
So wird eine einfache Schnittstelle<br />
zwischen Allgemeinarzt und Zahnarztpraxis<br />
hergestellt.<br />
Deutsche Gesellschaft für<br />
Parodontologie (DG PARO)<br />
Der „Selbsttest Parodontitis“ der<br />
DG PARO steht als App im iTunes<br />
Store sowie bei Google Play zum<br />
Download zur Verfügung.<br />
Der Selbsttest-Fragebogen kann<br />
hier heruntergeladen werden:<br />
http://bit.ly/2ENAWoz<br />
Foto: iStock/Plisman<br />
Alle Bereiche des<br />
Zahnhalteapparats<br />
sind betroffen –<br />
unbehandelt<br />
droht Zahnverlust.<br />
Foto: iStock/ThamKC