E_1933_Zeitung_Nr.046
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22 AUTOMOBIL-REVUE <strong>1933</strong> - N° 46<br />
Pfingstsonntag<br />
Gertrud Bürgi.<br />
Der Wind stand dicht vor dem Regen:<br />
«Nun lassen Sie's endlich gut sein! Schliesslich<br />
hat alles seine Grenzen. Seit zwei Stunden<br />
prasseln Sie unausgesetzt auf das arme<br />
Land nieder, nun möchte auch ich einmal ein<br />
Wort mit ihm reden!»<br />
«Lassen Sie mir doch die Freude, mein<br />
Lieber. Ich habe die ganze Woche auf diese<br />
Stunden gewartet. Es ist so eine Art Racheakt,<br />
was ich da ausführe. Just, weil's Sonntag<br />
ist. Die Menschen sollen endlich wieder<br />
einmal Respekt vor mir bekommen. Lange<br />
genug hat man mich gehöhnt. Kaum die<br />
Hälfte der Leute erweist mir noch die Ehre,<br />
mit Regenschirmen auszuziehen* selbst<br />
wenn ich die finsteren Wolkenboten vorausschicke.<br />
Ach, so ein bisschen Regen, höhnt<br />
man, oder: Der Regen traut sich doch wieder<br />
nicht zu uns herab. Na, wen das nicht<br />
ärgert, den möcht ich mir besehen. Ich habe<br />
doch meine Gründe, mich reserviert zu verhalten,<br />
aber das begreift das Menschenvolk<br />
ja nicht. Nun schwor ich mir Rache. Am<br />
Pfingstsonntag, wenn alles in den neuen<br />
Frühjahrstoiletten einherspaziert, würde ich<br />
meine sämtlichen Schleusen öffnen, um zu<br />
zeigen, dass sich der Regen nicht fürchtet,<br />
sondern eben kommt, wenn es ihm passt. Sie<br />
hätten den Schrecken sehen sollen, der in<br />
die Leutchen fuhr, als die ersten grossen<br />
Tropfen fielen! Ein kleines Fräulein in Rosa<br />
schrie Zeter und Mordio. Und eine dicke, ältere<br />
Dame ergoss ein wahres Wortgeprassel<br />
über ihren Gemahl, dass er sie veranlasst,<br />
den Schirm zu Hause zu lassen. Dafür bot er<br />
ihr sein Schnupftuch an, das die Frau über<br />
ihren neuen, grandios schönen Rosenhut<br />
legte. Dann den Rock in die Höhe, in ziemlich<br />
anständige natürlich, und die Frau lief,<br />
wie eine Kugel aus dem Rohr. Der Schnauf<br />
ging mir aus vor Lachen. Ueberall begann<br />
dasselbe Gehetz. Die Trams waren im Hui<br />
besetzt, man klammerte sich an den Trittbrettern<br />
fest. Kindergeheul und Hundegekläff<br />
und dann und wann zwischen hinein<br />
eine sonore Stimme: Nicht so schlimm! Bei<br />
Sodom und Gomorra war's ganz anders.<br />
Ein Kinderspiel dagegen, dieser Tag! Aber<br />
die Damen sahen aus! Sehen Sie, dort laufen<br />
noch ein paar! Jede Freundlichkeit ist aus<br />
ihren Sonntagsgesichtern verschwunden. Sie<br />
sehen d'rein, als müssten sie etwas Bissiges<br />
mit Haut und Haar verschlingen. Ei, die<br />
schönen Bänder kleben direkt an den Hüten.<br />
Schad't nichts, Respekt muss man haben,<br />
meine Damen. Jener Hut mit dem zarten<br />
Schleier aber kann mir leid tun, ebenso die<br />
zierlichen Waden dort! Wie erbost sie aussehen,<br />
ganz rot vor Zorn, so laufen zu müssen.»<br />
Darüber musste nun selbst der Wind lachen.<br />
Ordentlich ermüdet setzte sich der Regen<br />
auf ein mächtiges Wolkenkissen und<br />
Hess seine graufeuchten Hände in den Schoss<br />
sinken. Dann stellte der Wind sich kraftvoll<br />
vor ihn hin, blähte seine Backen auf und<br />
pustete los, dass die Wolken zu tanzen begannen,<br />
dass sich winselnd die Bäume bogen,<br />
das Gras sich verzweifelt zur Erde<br />
legte und viele der Blumen vor Schreck ihre<br />
Blätter von sich warfen. Sein gewaltiger<br />
Atem jagte hinter den Menschen her, riss ihnen<br />
die Kopfbedeckungen weg und spielte<br />
ungeniert Ball damit.<br />
«Nanu, machen Sie es denn besser, mein :<br />
Freund?» frug patzig der Regen.<br />
«Nicht gerade besser, aber schlechter will<br />
ich es auch nicht machen. Was dem einen<br />
recht, ist dem andern billig.»<br />
Plötzlich teilten sich die Wolken. Ein<br />
blasser Sonnenstrahl hob flehend die Hände.<br />
«Meine Mutter lässt die Herren bitten, nun<br />
endlich Frieden zu geben. Sie stören sie bei<br />
ihrer Toilette. Sie wissen wohl gar nicht,<br />
dass Frau Erde heute Geburtstag hat? Meine<br />
Mutter will ihr gratulieren gehen.»<br />
Erschrocken sahen die beiden in die Tiefe.<br />
Sie waren sich bei den Worten des Sonnenstrahles<br />
ordentlich flegelhaft vorgekommen.<br />
Geburtstag! Unerhört! Gerade an diesem<br />
Tage hatten sie sich so bübisch benommen!<br />
Richtig, unter ihnen, zu ihren Füssen, weinte<br />
die Erde.<br />
«0 weh, da haben wir ja etwas Schönes<br />
angerichtet!» meinte der Regen, und der<br />
Wind streckte die Hände in die Hosentaschen<br />
und pfiff ein paarmal trübsinnig vor sich<br />
hin.<br />
«Wie machen wir das wieder gut?» Die beiden<br />
schauten sich nachdenklich an.<br />
«Ich hab's!» Vor Freude machte der Regen<br />
einen kleinen Hopser. «Den schönsten,<br />
herrlichsten iBogen spanne ich über den Himmel<br />
hin. Glänzen und sprühen soll er wie<br />
das kostbarste Diadem. Und Sie, Herr Kollege,<br />
fächeln ganz sachte den See, dass die<br />
kleinen, blauen Wellen vor Glück ihre schönsten<br />
Perlkrönchen aufsetzen und ihre feinen<br />
Perlschnüre umhängen. Die Blumen lassen<br />
Sie kleine, liebliche Reverenzen machen ünd ;<br />
die Flüsse und Bäche haben ihren hellsten'<br />
Geburtstagsgesang anzustimmen. So etwas<br />
liebt Frau Erde, ich weiss da genau Bescheid.»<br />
Gesagt, getan. Da trocknete die Erde mit<br />
ihrem zarten Nebeltaschentuch ihre Tränen<br />
und lächelte. Und ihre Augen wurden tiefblau<br />
vor Liebe und Dank und des Lebens<br />
urewige Lenzseligkeit grüsste strahlend aus<br />
ihnen...<br />
Der unterdrückte Schrei<br />
Hans Natonek.<br />
Das schmale fünfjährige Kerlchen spielte<br />
gern auf dem geräumigen* Küchenbalkon.<br />
Das Klettern war ihm eindringlichst verboten.<br />
Üeberdies hatte das Mädchen aufzupassen.<br />
Einmal war das Mädchen fortgegangen,<br />
und der kleine Hans tummelte sich auf dem<br />
sonnigen Küchenbalkon, der im dritten<br />
Stock lag und auf einen grossen, gartenähnlichen<br />
Hof hinausging.<br />
Was haben sie nur, die Leute, drüben an<br />
den Fenstern?! Hänschen beachtet es nicht.<br />
Er ist vergnügt und intensiv beschäftigt,<br />
sich durch die gusseisernen Gitterstäbe des<br />
Küchenbalkons hindurchzuzwängen. Und,<br />
äu fein, es geht! Schon ist er aussen auf<br />
der schmalen Kante des Balkons und beginnt,<br />
die Hände am Eisengitter, ahnungslos<br />
seinen vergnügten Spaziergang über die<br />
Tiefe.<br />
Die Mutter kommt in die Küche, die leer<br />
ist, und sieht durch die offene Balkontüre<br />
ihren Jungen draussen, jenseits der Gitterstäbe,<br />
auf der kaum halbmeterbreiten Kante<br />
herumturnen. Ihr Herzschlag stockt. Ihr<br />
; ist, als müsse sie umsinken und, ehe sie<br />
umsinkt, einen schrecklichen Schrei ausstossen.<br />
Und dann Nacht und Dunkel...<br />
Aber sie schreit nicht, sie sinkt nicht um,<br />
sie hält den Atem an, es bleibt hell in ihr,<br />
überhell; überwach ist sie, jeder Nerv, jeder<br />
Pfingstlied<br />
Emil Hügli.<br />
Nun, da die Welt in grünen .Flammen,<br />
Die auf zum Himmel lodern, steht,<br />
Und durch die frühlingssel'gen Lande<br />
Der heil'ge Geist der Pfingsten weht —<br />
0 Mensch, horch auf, vernimm die Kunde;<br />
Die aus dem tiefsten Herzen stammt,<br />
Die einstmals aus prophet'schem Munde<br />
Wie Feuer ist empor geflammt.<br />
Es ist die Botschaft von der Liebe,<br />
Die alles ird'sche Sein durchdringt,<br />
Der Liebe, die in ihren Gluten<br />
Den eis'gen Trotz zum Schmelzen bringt;<br />
Es ist die Botschaft von der Güte,<br />
Die alles Lebende umfasst,<br />
Dein Herz aufschliesst zur Liebesblüte,<br />
Und hätt' es noch so sehr gehasst.<br />
0 Menschheit, lausch' des Geistes Brausen,<br />
Erkenn' sein allgewaltig Weh'n,<br />
Wo er entfacht der Liebe Flammen,<br />
Da können Wunder noch gescheh'n;<br />
Ja, selbst die Aermsten und Geringsten<br />
Hebt er empor aus Schmach und Schmerz —<br />
So braus' denn, Feuergeist der Pfingsten,<br />
Durchbraus' die Welt und jedes Herz.<br />
Nun, das wäre vorbeigewesen. Es ist<br />
nicht meine Sache, zu überlegen, was alles<br />
dabei verlorengegangen wäre. Mutter hat<br />
in jener Sekunde nicht geschrien, das ist<br />
eine Tatsache. Ihre ganze Kraft war in<br />
diesem Nicht-Schrei. Sie hat sich über<br />
mich geworfen, ein Sprungtuch von oben<br />
und eine tragende Wolke; sie hat sich herangeschlichen<br />
und hat zugepackt, sie hat<br />
ihrem versagenden Herzen das Letzte abgerungen.<br />
Es war die grosse historische<br />
Muskel übermenschlich gespannt. Lautlos<br />
schleicht sie sich an den Balkon heran — Sekunde einer Mutter.<br />
ein Sprung, jetzt hat sie den Jungen am Ich werde ihn nie vergessen, diesen unterdrückten<br />
Schrei. Ich höre ihn, den kei-<br />
Schopf, umfasst den kleinen Körper und<br />
hebt ihn über das Gitter.<br />
ner gehört. Ich sehe den Küchenbalkon im<br />
Hänschen weiss gar nicht, warum die dritten Stock über dem Hof, wiewohl das<br />
Mutter so merkwürdige Augen macht und alles längst aus der Sichtbarkeit gelöscht<br />
so bleich ist im Gesicht, als ob sie krank ist. Ich fühle den starken Arm, der mich<br />
wäre. Was sie nur hat! Und im Zimmer emporhebt.<br />
sinkt sie um, aufs Kanapee, und kann Und ich glaube: so reissen mich Mutters<br />
nicht mehr.<br />
Hände immer und immer von jedem Absturz<br />
zurück und tragen mich.<br />
Erst viel spater habe ich begriffen, was<br />
es bedeutet hat, dieser nicht geschriene<br />
Schrei, diese nicht erlittene Ohnmacht,<br />
diese Sekunde voll Ewigkeit. Der Aufschrei<br />
"• der Mutter — 'und der Junge hätte sich<br />
todsicher erschrocken und das Gitter losgelassen.<br />
Der Balkon lag im dritten Stock,<br />
und Hofpflaster ist kein Daunenkissen.<br />
«Ich wollte eigentlich auch heute abend<br />
noch zurückfahren,» erwiderte Georg in<br />
dumpferem Ton, als er beabsichtigt hatte.<br />
«Aber es war schon zu spät geworden.»<br />
«Also eben war der Depeschenbote da. Ein<br />
dringendes Telegramm; es hatte schön eine<br />
Rundreise nach Rostock und was weiss ich<br />
gemacht und war von dort an Frau Hauptmann<br />
Wegner adressiert. Wird 'ne Stange<br />
Gold kosten. Wir konnten dem Boten keine<br />
Auskunft geben, und Frau Wegner meinte,<br />
Sie wären mit dem Achtuhrzuge schon wieder<br />
abgefahren. Na, ich übernachte heute<br />
auch hier. Weil morgen schön Wetter zu erwarten<br />
ist, haben wir einen Ausflug verabredet.»<br />
«So? Mit — mit den Damen?»<br />
«Nur mit — ja mit den Damen,» erwiderte<br />
Wermstedt, sein Motorrad nach dem Eingang<br />
schiebend.<br />
«Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Wermstedt,<br />
ich werde sehen, das Telegramm noch<br />
zu erhalten.»<br />
«Das Hesse sich schon machen,» meinte die<br />
Zenz, die neugierig zugehört hatte, sie<br />
brauchte bloss zu telephonieren.<br />
«Aber nun müssen Sie mir bitte noch ein<br />
Stündchen Gesellschaft leisten.»<br />
Die unerwartete Gelegenheit, noch einmal<br />
von Anni sprechen zu können und Näheres<br />
über sie zu erfahren, hatte ihn ganz gefangen.<br />
«Es ist ja noch früh am Tage, und der<br />
Wein in der ,Post' lässt sich trinken.»<br />
«Weiss ich, weiss ich,» lachte Wermstedt, Warte erst einmal ab. In freundlichem Ton<br />
der sich nicht weiter zierte. «Ich werde mal fragte er: «Was für Ideen, wenn ich fragen<br />
gleich an die Damen telephonieren, dass ich darf?»<br />
Sie noch gefunden habe.»<br />
«Wir woll—ten helfen — wollten — auf-<br />
«Bitte, meine Empfehlung auszurichten.» bauen.»<br />
18. •''•• «Bravo!» Er verschluckte den Zusatz:<br />
So oft Georg später an diesen Abend mit P azu se * d * hr J nun frei ch noch ln bisschen<br />
Ü !<br />
Wermstedt zurückdachte, hatte er ein unatliu<br />
" g ' .* Wie o dachte n s >e sich das — entgenehmes<br />
Gefühl und begann laut zu spre- schuldigen Sie meine Frage. Aber dies ist<br />
chen, um die Erinnerung zu verscheuchen.<br />
e "? Thema, das selbstverständlich jeden Menangehen<br />
Sie sassen allein in dem kleinen Hinter- ! S ^ Ä ?<br />
mÜSS Ich !rage<br />
-<br />
zimmer, das für Logiergäste bestimmt war. mc "! aus NeusieT ~* ' „ .<br />
Vorn in der grossen Gaststube und in der * Das weiss lch> das seI > e ich Ihrem Gesicht<br />
«Schwemme» ging es noch laut her.<br />
an " Wir "~ oder ich.müss eigentlich schon<br />
wir studierten dort.»<br />
*Alle Achtung. Aber vorläufig waren Sie<br />
seIber doch<br />
«So — und — da'haben Sie sich dann näher<br />
noch ~ Jugend.»<br />
kennengelernt?» , «Gewiss, aber man wird älter und — viel-<br />
«Ja, wir hatten dieselben Ideen.» Es kam Ieicnt waren wir auch schon älter als die<br />
in etwas hochfahrendem Ton heraus. Dabei meisten — innerlich, meine ich —»<br />
zündete er eine Zigarette an mit jenen leb- In diesem Augenblick kam der Depeschenhaften,<br />
ausgreifenden Bewegungen, die oft böte. Das Telegramm war von der Staatsein<br />
Zeichen mangelnder Erziehung sind. In anwaltschaft in Berlin — nach Priebenow<br />
Georg stieg ein jäher Widerwille auf. Der aufgegeben, hatte eine Rundreise nach dem<br />
sollte Anni besitzen? Er hätte ihm.eine Ohr- Stift in Mecklenburg und der Rostocker<br />
feige geben mögen. Aber fast im selben Augenklinik gemacht, wo die Mutter wohl<br />
Augenblick schämte er sich. Eifersucht? Käthes Adresse angegeben hatte. Es enthielt<br />
Nackte Eifersucht? Besinn dich, Georg, die Aufforderung, morgen früh 11 Uhr zur<br />
Zeugenaussage im Mordprozess Nollet in<br />
Moabit zu sein.<br />
«Na, das lässt sich nun nicht gut machen,»<br />
rief Georg ärgerlich lachend. «Dieser verdammte<br />
Prozess — was geht er mich an!»<br />
Er stand auf und ging erregt in der Stube<br />
auf und ab. «Ich soll da,» setzte er erklärend<br />
hinzu, «als Zeuge in einem Mordprozess vernommen<br />
werden, wo ich absolut nichts weiss,<br />
nichts gesehen habe.»<br />
«Lassen Sie sich doch hier kommissarisch<br />
vernehmen!» riet Wermstedt.<br />
«Das werde ich auch tun. Sie scheinen ja<br />
ein verständiger Zeitgenosse zu sein,» lachte<br />
Georg. «Sie wären vielleicht gar kein übler<br />
Erzieher geworden.»<br />
«Aber diese Jugend will ja gar nicht mehr<br />
erzogen werden, die weiss ja selber, was sie<br />
will.»<br />
Das scheint so, dachte Georg. Laut suchte<br />
er zu entschuldigen: «Sie hat eine harte Kindheit<br />
hinter sich. Und sie sah ein Chaos vor<br />
sich, wo die Jugend früherer Zeiten feste<br />
Richtlinien sah.»<br />
(Fortsetzung folgt.)