17.12.2012 Aufrufe

art - Ensuite

art - Ensuite

art - Ensuite

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

magazin<br />

STADT UND LAND<br />

mit neuster tunneltechnik in die vorstellungswelt<br />

der «üsserschwiizer» gerückt: das wallis<br />

Von Anne-Sophie Scholl Bild: zVg.<br />

■ Goethe mochte es nicht, das Wallis. Er schimpfte<br />

über das Unwetter, das ihn am Furkapass fast zur<br />

Umkehr gezwungen hatte. Schlechter Laune hatte<br />

er sich auch dazu verleiten lassen, über die Leute<br />

im Land herzuziehen. Er wetterte gegen deren<br />

«Menschenwerk». Sion zum Beispiel gefi el ihm gar<br />

nicht: «so ein Schindel- und Steinhaufen, mitten<br />

in der grossen herrlichen Natur.» Seine zweite<br />

Schweizer Reise hatte ihn 1779 von Genf her über<br />

den Umweg zum Fuss des Montblanc und den Col<br />

de Forclaz nach M<strong>art</strong>igny und das Rhonetal hinauf<br />

geführt. Sein Reisebericht ist in Briefform stilisiert.<br />

November war es: Hüfthoch im Schnee einsinkend,<br />

durch dichtes Schneetreiben und ohne Sicht unter<br />

drohenden Lawinenniedergängen verschaffte<br />

Goethe sich die gesuchte Grenzerfahrung in der<br />

Natur.<br />

Rilke liebte das Land. Er machte das Wallis zu<br />

seiner letzten Heimat und liess sich bei der Kirche<br />

von Raron seine Grabstätte errichten. «Wie redet<br />

und wirkt und handelt diese Landschaft zu mir!»,<br />

schreibt er überschwänglich. «Sie ist herrlich<br />

h<strong>art</strong> und gross, und ... mitten im G<strong>art</strong>en beinahe<br />

zärtlich.» Das Zusammenkommen von Härte und<br />

Sanftheit ist es, was Rilke immer wieder anzog in<br />

dieser Landschaft.<br />

Widersprüche prägen auch heute das Bild der<br />

«Üsserschwiizer» von dem breiten Südtal: Charmant<br />

der Dialekt, für viele allerdings oft schwer<br />

verständlich. Schön und stolz die kräftigen<br />

schwarzen Kampfkühe. Hässlich die Industrie im<br />

kahlen unteren Teil des Haupttals. Sonnigwarm die<br />

mediterran anmutenden Südhänge. Einengend der<br />

sture, schwere Katholizismus.<br />

30<br />

Mutige Aufbrüche Stur mögen manche Walliser<br />

sein. Oder eigensinnig. So zum Beispiel<br />

auch Adeline Favre aus dem Eifi schtal, dem Val<br />

d’Anniviers. Es war ein Ereignis, als sie 1938 mit<br />

dreissig Jahren die Fahrzeugprüfung ablegte: «Bei<br />

Marius Zufferey, einem Neffen von mir, habe ich<br />

meine ersten Fahrstunden genommen. Als wir<br />

nach Venthôme kamen und ich eine Kurve nehmen<br />

sollte, wusste ich plötzlich weder ein noch aus. Ich<br />

klammerte mich ans Lenkrad und drückte mit aller<br />

Kraft aufs Gaspedal. Marius zog die Handbremse,<br />

aber ich blieb mit dem Fuss auf dem Gaspedal.<br />

Wir fuhren eine Böschung hinauf, hinunter in einen<br />

G<strong>art</strong>en, verwüsteten ein Beet, wo Gurken und<br />

Mais angepfl anzt waren, und landeten vor einem<br />

Zwetschgenbaum, ohne ihn jedoch zu berühren.»<br />

Aufs Gaspedal drückte Adeline auch sonst in<br />

ihrem Leben. Als Zweitgeborene war sie nach Genf<br />

gegangen, um den Beruf der Hebamme zu lernen<br />

und blieb dort, als mit dem Tod der älteren Schwester<br />

die Pfl icht sie eigentlich zurückgerufen hätte<br />

an den Hof der Eltern. Als ausgebildete Hebamme<br />

ging sie schliesslich doch zurück ins heimische Tal<br />

und brachte kühne neue Ideen mit sich. Sie war<br />

die einzige Hebamme, die ein Auto besass und<br />

praktische Überlegungen waren es auch, die sie in<br />

ihrer täglichen Arbeit leiteten. Bei Adeline wurde<br />

die Nabelschnur der Neugeborenen kurz nach der<br />

Geburt abgeschnitten und die Plazenta verbrannt.<br />

Sie, eine stämmige Frau, die 125 Kilo auf die Waage<br />

brachte, verwarf die Tracht und kleidete sich in<br />

modische Kostüme. Sie machte sich stark für ein<br />

neues Verständnis für die Lebenswelt der Frauen<br />

und gewann damit nach und nach das Vertrauen<br />

der Taleinwohnerinnen. 8000 Kinder hat sie in<br />

dem weit verzweigten Tal auf die Welt gebracht.<br />

Ihr Leben ist eindrücklich dokumentiert in dem<br />

von ihr verfassten Lebensbericht «Ich, Adeline,<br />

Hebamme aus dem Val d’Anniviers».<br />

Besuchenden präsentiert sich das Val<br />

d’Anniviers heute als wildromantisches Tal. Und<br />

wenn man tagsüber in den Ortschaften nur wenigen<br />

Kindern begegnet, liegt das daran, dass heute<br />

im Tal in Vissoie eine Tagesschule eingerichtet ist,<br />

die einzige im Wallis. Ein Bruch mit der Tradition<br />

und dennoch ein Geschenk, ermöglicht die Schule<br />

doch den Eltern in den entlegenen Siedlungen eine<br />

Arbeit ausser Haus anzunehmen.<br />

In Sprache gezeichnet Unvermutete Seiten<br />

sind im Wallis zu entdecken. Der Blick von fremden<br />

und heimischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern<br />

zeigt Wege in die Geschichte und in die Gegenw<strong>art</strong><br />

des Tals. Fiktiver Reisebericht, poetischer<br />

Vierzeiler, glühender Kitschroman, dramatischer<br />

Comic oder schlicht gute und hierzulande wenig<br />

bekannte Literatur – in deutscher, französischer<br />

und englischer Sprache legt sich die literarische<br />

Topografi e des Wallis über die Landschaft des<br />

Rhonetals. Eine literarische Landk<strong>art</strong>e, die neue<br />

Zugänge erschliesst in eine Landschaft, die hinter<br />

den Bergen ganz nah liegt.<br />

Das Buch:<br />

Michael T. Ganz, Dominique Strebel (Hrsg.): Dies<br />

Land ist masslos und ist sanft. Literarische Wanderungen<br />

im Wallis. Rotpunktverlag 2006.<br />

ensuite - kulturmagazin Nr. 56 | August 07

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!