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Hinz&Kunzt 307 September 2018

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„Hier kann ich an den Problemen<br />

ansetzen“, sagt Jan Kaiser. Der Arzt verdient<br />

in der Poliklinik nicht mehr als die<br />

Reinigungskraft – 16,70 Euro die Stunde.<br />

FOTOS: LENA MAJA WÖHLER (S. 26), ANDREAS HORNOFF (OBEN), MIGUEL FERRAZ (UNTEN)<br />

Die Weltverbesserer<br />

Das Kollektiv der Poliklinik bietet nicht nur ärztliche Hilfe,<br />

sondern auch Rat und Tat in allen Lebenslagen.<br />

Wer sich wie Jan Kaiser intensiv<br />

mit Bewohnern der<br />

Veddel beschäftigt, merkt<br />

schnell: „Hier sind auch jüngere Leute<br />

chronisch krank.“ Herz-Kreislauf-<br />

Probleme, Lungenerkrankungen oder<br />

Durch blutungsstörungen betreffen anderswo<br />

meist Menschen jenseits der 50,<br />

sagt der Arzt. „Manche meiner Patienten<br />

hingegen sind erst Ende 30.“<br />

Dass die Erfinder der Poliklinik sich<br />

die Veddel als Standort ausgesucht haben,<br />

ist kein Zufall: An Ärzten herrscht<br />

hier Mangel, und Studien zeigen, dass<br />

Bewohner von armen Quartieren im<br />

Schnitt zehn Jahre früher sterben als<br />

Othmarschener oder Poppenbütteler.<br />

Die Gründe dafür sind vielfältig, doch<br />

für den 32-jährigen Mediziner ist klar:<br />

„Das Einkommen wirkt am stärksten.“<br />

Denn Armut verursacht Stress, wirft<br />

existenzielle Fragen auf, die Kaiser oft<br />

zu hören bekommt: Wie bekomme ich<br />

meinen Lebensunterhalt zusammen?<br />

Und wie viel Geld habe ich, um mir<br />

etwas Ordentliches zu essen zu kaufen?<br />

Und: Armut bedeutet oft auch schlechte<br />

Wohnverhältnisse: „Schimmel ist hier<br />

in vielen Häusern ein Problem.“<br />

Wer die Menschen nachhaltig gesünder<br />

machen will, muss ihnen deshalb<br />

umfassend helfen, meint Jan Kaiser:<br />

„Wir versuchen, uns mehr Zeit zu<br />

nehmen, soziale Probleme mitzuverhandeln.“<br />

Weil manches den Rahmen<br />

eines Arztbesuches sprengt, bieten<br />

Honorarkräfte Sozialberatung an,<br />

schreiben Widersprüche gegen fehlerhafte<br />

Bescheide des Jobcenters oder begleiten<br />

Hilfesuchende zur Ausländerbehörde.<br />

Eine kostenlose psychologische<br />

Sprechstunde gibt es und auch Rechtsberatung<br />

für Geflüchtete.<br />

„Wir wollen Projekte entwickeln,<br />

die soziale Probleme direkt behandeln<br />

und nicht nur die einzelnen Menschen“,<br />

sagt Jan Kaiser. Einen Abend<br />

haben sie deshalb neulich mit Mietern<br />

und einer Expertin diskutiert, wie man<br />

sich gemeinsam gegen Schimmel wehren<br />

kann. Ab diesem Monat klären Ehrenamtliche<br />

Jugendliche in der Schule<br />

darüber auf, wie gesundes Leben aussehen<br />

kann und was der Einzelne und die<br />

Gesellschaft tun sollten.<br />

Anderthalb Jahre nach Eröffnung<br />

der Poliklinik sind Erfolge sichtbar:<br />

Noch diesen Monat soll auf der Veddel<br />

eine Apotheke aufmachen, „sicherlich<br />

auch, weil es uns gibt“, sagt Kaiser. Und<br />

für die „Community Health Nurse“<br />

(Stadtteil-Krankenschwester), die ab<br />

2020 die Gesundheitsversorgung im<br />

Quartier weiter verbessern soll, haben<br />

sie schon erste Fördergelder eingeworben.<br />

Zu tun bleibt genug: Ein<br />

Kinderarzt fehlt ebenso wie eine Frauenärztin,<br />

Kaiser träumt von fachärztlichen<br />

Sprechstunden. Dann würde aus<br />

den Räumen im Hinterhof noch mehr<br />

das Stadtteil-Gesundheitszentrum, das<br />

sich die Initiatoren wünschen. Und, ein<br />

Dauerthema: Geld muss her. „Ausführliche<br />

Patientengespräche und Sozialberatung<br />

werden von den Krankenkassen<br />

schließlich nicht bezahlt.“ UJO<br />

•<br />

Mehr Infos unter<br />

www.poliklinik1.org<br />

Konsum für<br />

Genossen<br />

Im Osten der Veddel liegt<br />

die Peute. Das heutige Industriegebiet<br />

wurde erst<br />

in den 1870er-Jahren zur<br />

Elbinsel. Dort, wo einst<br />

Ausflugslokale das Elbufer<br />

säumten, errichtete<br />

in den 1920er-Jahren die<br />

Großeinkaufsgesellschaft (GEG) der deutschen Konsumvereine ihr Zentrallager.<br />

Die Konsumgenossenschaftsbewegung hatte sich zum Ziel gesetzt, die<br />

Versorgungslage der Arbeiter zu verbessern. 1933 leitete die Gleichschaltung<br />

durch die Nationalsozialisten ihr Ende ein. Zwar wurde nach Kriegsende<br />

die Eigenproduktion wieder aufgenommen, in den 1980er-Jahren jedoch<br />

endgültig eingestellt. 2010 erwarb die Hamburg Port Authority (HPA)<br />

das Areal und sorgte für einen Skandal: Zwei Gebäude ließ sie abreißen –<br />

ohne Zustimmung des Denkmalschutzamtes. Man wollte Platz schaffen für<br />

ein neues Logistiklager des Online-Versandhändlers Amazon. JOF<br />

•<br />

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