ZAP-2018-20
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
<strong>20</strong> <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
24. Oktober<br />
30. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W.<br />
Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith<br />
Kindermann, Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider,<br />
Neunkirchen • Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Der Untermieter: Freund oder Feind? (S. 1023)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Beschlüsse des 72. Deutschen Juristentages (S. 1025) • Angeklagtenrechte sollen weiter gestärkt<br />
werden (S. 1028) • Mehrbelastung für den richterlichen Bereitschaftsdienst (S. 1030)<br />
Aufsätze<br />
Caspers, Das Recht zur Untervermietung: Voraussetzungen und Grenzen (S. 1041)<br />
Viefhues, Elternunterhalt – Teil 1 (S. 1051)<br />
Vierkötter, Zur Haftung des Anschlussinhabers eines öffentlich zugänglichen WLANs (S. 1059)<br />
Sartorius, Rechtsprechungsübersicht zum Sozialrecht (S. 1063)<br />
Eilnachrichten<br />
BVerfG: Verfassungsmäßigkeit der Beitragspflicht für Versorgungsbezüge (S. 1037)<br />
EuGH: Auswirkungen des Brexits auf die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (S. 1039)<br />
BGH: Zumutbare Vorkehrungen eines Einzelanwalts für den Verhinderungsfall (S. 1040)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 1023–1024<br />
Anwaltsmagazin – – 1024–1030<br />
Eilnachrichten 1 155–164 1031–1040<br />
Caspers, Das Recht zur Untervermietung: Voraussetzungen<br />
und Grenzen 4 1757–1766 1041–1050<br />
Viefhues, Elternunterhalt – Teil 1: Anspruchsvoraussetzungen<br />
und Bedürftigkeit eines Elternteils 11 1457–1464 1051–1058<br />
Vierkötter, Urheberrechtsverletzung: Zur Haftung des<br />
Anschlussinhabers eines öffentlich zugänglichen WLANs 16 467–470 1059–1062<br />
Sartorius, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht zum<br />
Sozialrecht – 1. Halbjahr <strong><strong>20</strong>18</strong> 18 1605–16<strong>20</strong> 1063–1078<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F <strong>20</strong>) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />
Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />
Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />
Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
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Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Der Untermieter: Freund oder Feind?<br />
Die Vorsilbe „Unter“ hat nicht selten einen wenig<br />
schmeichelhaften Beigeschmack. Denke ich an meine<br />
Bundeswehrzeit zurück, dann war es ein nach<br />
meinem höchstpersönlichen Empfinden unterbelichteter<br />
Unteroffizier, der zu meinem Pech mit einer<br />
Pistole, die zu meinem Glück nicht geladen war, auf<br />
mich zielte und abdrückte. Er tat es wohl, weil ich,<br />
obwohl sein Untergebener, in seinen Augen nicht<br />
unterwürfig genug war. Für ihn offenbar unterhaltsam,<br />
für mich, wäre die Waffe geladen gewesen,<br />
mein Untergang. Mein Nervenkostüm war seinerzeit<br />
bereits stabil genug, um mich davon nicht unterkriegen<br />
zu lassen. Schon damals war mir allerdings<br />
klar, ich tauge nicht zum Untertan. Dann schon eher<br />
zum Untermieter, auch wenn ich in diese Rolle Zeit<br />
meines Lebens noch nicht schlüpfen musste.<br />
Den Begriff „Untermiete/r“ sucht man im BGB<br />
vergebens. Trotz Recherche konnte ich den Erfinder<br />
des Wortes nicht ausfindig machen. Gleichwohl<br />
weiß vermutlich jeder, was damit gemeint<br />
ist. Gleich zwei wichtige mietrechtliche Normen<br />
beschäftigen sich mit diesem Phänomen, § 540<br />
und § 553 BGB, auch wenn es Kollegen/Kolleginnen<br />
geben soll, die selbst nach jahrzehntelanger intensiver<br />
Tätigkeit im Mietrecht nicht ein einziges<br />
Mal damit in Berührung gekommen sind.<br />
Bei der Untermiete treten i.d.R. drei Personen in<br />
Erscheinung: Vermieter, Mieter und Untermieter.<br />
Der Vermieter vermietet dem Mieter eine Wohnung,<br />
dieser vermietet sie entweder komplett oder<br />
zimmerweise an seinen Untermieter. Ob der Mieter<br />
dazu überhaupt befugt ist, stellt man durch einen<br />
Blick in den Mietvertrag fest. Nach BLANK (SCHMIDT-<br />
FUTTERER, Mietrecht, 13. Aufl. <strong>20</strong>17 § 540 Rn 3) ist bei<br />
den üblichen unbefristeten Mietverhältnissen selbst<br />
ein formularmäßiger Ausschluss der Untervermietung<br />
wirksam. Durch einen wirksamen Ausschluss<br />
könnte ein Vermieter zwei Fliegen mit einer Klappe<br />
schlagen: Er verhindert den unerwünschten Einzug<br />
von Untermietern und beseitigt das Sonderkündigungsrecht<br />
des Mieters nach § 540 Abs. 1 S. 2 BGB.<br />
Und die meisten Mieter denken bei Eingehung<br />
eines Mietvertrags ohnehin nicht daran, dass sie<br />
jemals in die Lage kommen könnten, untervermieten<br />
zu wollen oder sogar zu müssen.<br />
Ist die Untervermietung nicht ausgeschlossen, müsste<br />
der Mieter seinen Vermieter vorher um Erlaubnis<br />
fragen. Unterlässt er das, berührt das die Wirksamkeit<br />
eines ohne Zustimmung des Vermieters<br />
geschlossenen Untermietvertrags aber nicht. Der<br />
Mieter darf trotz Vertragsverstoßes in Form nicht<br />
eingeholter Zustimmung fleißig die Miete von<br />
seinem Untermieter kassieren. Die Ansicht, dass<br />
der Vermieter vom vertragswidrig handelnden Mieter<br />
die Untermiete herausverlangen dürfe, hat sich<br />
gegen die h.M. bislang nicht durchsetzen können<br />
(BLANK, in:SCHMIDT-FUTTERER, a.a.O., § 540 Rn 15 m.w.N.).<br />
Einer der eher seltenen Fälle, in denen Vertragsverstöße<br />
des Mieters zumindest solange sogar noch<br />
belohnt werden, wie der Vermieter nicht von seinem<br />
Unterlassungsanspruch nach § 541 BGB oder von<br />
seinem Kündigungsrecht nach § 543 Abs. 2 Nr. 2 BGB<br />
Gebrauch macht – wobei nicht übersehen werden<br />
darf, dass in den Fällen, in denen mieterseits ein<br />
Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung zur Untervermietung<br />
besteht, diese Pflichtverletzung zumindest<br />
nach Ansicht des OLG Dresden (Urt. v. 30.6.<strong>20</strong>15<br />
– 5 U 375/15) regelmäßig keinen Kündigungsgrund<br />
darstellt. Und da die Durchsetzung der Vermieterrechte<br />
regelmäßig auch eine vorherige Abmahnung<br />
notwendig macht, freut sich das Belohnungssystem<br />
im Mieterhirn noch einige Zeit über regelmäßige<br />
Einnahmen aus dem mit reichlich Geschmäckle<br />
zustande gekommenen Untermietvertrag.<br />
In der Regel sind es drei Beweggründe, die Mieter<br />
dazu veranlassen, Untermieter aufzunehmen: Ein-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1023
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
samkeit, vorübergehende Abwesenheit oder Ebbe<br />
im Portemonnaie, wobei zuletzt Genanntes das<br />
vorherrschende Motiv sein dürfte. Mit dem Fall der<br />
vorübergehenden Abwesenheit durfte sich der BGH<br />
zuletzt am 11.6.<strong>20</strong>14 (Az. VIII ZR 349/13) beschäftigen:<br />
Ein längerer berufsbedingter Auslandsaufenthalt<br />
stellt demnach i.d.R. ein berechtigtes Interesse<br />
des Mieters an einer Untervermietung dar, solange<br />
der Mieter zumindest ein Zimmer seiner Wohnung<br />
selbst behält. Und spätestens seit der Entscheidung<br />
des BGH vom 31.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> (Az. VIII ZR 105/17) dürfte klar<br />
sein, dass auch Einsamkeit und der Wunsch, die<br />
Miete teilweise durch Untervermietung zu decken,<br />
ein nachvollziehbares Interesse an einer Untervermietung<br />
darstellen können.<br />
In der heutigen Zeit ist es demnach ebenso antiquiert<br />
wie falsch, wenn Vermieter glauben, sie<br />
könnten als Eigentümer des Mietobjekts die Spielregeln<br />
bestimmen, wie es borniert und falsch ist,<br />
wenn Mieter gebetsmühlenartig predigen, einmal<br />
im Monat dürfe man so laut feiern, wie man wolle.<br />
Einer der zahlreichen Vorteile unseres Mietrechts<br />
ist seine soziale Ausgewogenheit und die Tatsache,<br />
dass beide – Vermieter und Mieter – im Falle<br />
übergeordneter Interessen des jeweils anderen<br />
Vertragspartners ihre eigenen Interessen einfach<br />
mal hintanstellen müssen. Irgendwann, wie in der<br />
Schlange an der Kasse im Supermarkt, kommt<br />
jeder mal dran. Auch wenn die Vorsilbe „Unter“<br />
nicht selten ein Geschmäckle hat, ist nicht jeder<br />
Untermieter gleichzeitig im Wortsinne ein „Aftermieter“,<br />
wie er in früherer Zeit auch gerne genannt<br />
wurde. Erst recht kein häusliches Ungeziefer, das<br />
ebenfalls so bezeichnet wird. Auch wenn nicht<br />
jeder Vermieter bisher zu dieser Erkenntnis gelangt<br />
ist, spätestens vor Gericht wird er damit rechnen<br />
müssen, mit ihr konfrontiert zu werden.<br />
Rechtsanwalt DETLEF WENDT, Recklinghausen<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im Oktober<br />
Im Oktober treten einige vorwiegend umweltund<br />
verbraucherschützende Vorschriften in Kraft.<br />
Sie betreffen Schadstoffe in Spielzeug und Haushalt<br />
sowie die Aufklärung von Bank- und Versicherungskunden.<br />
Im Einzelnen:<br />
• Grenzwerte für Blei in Spielzeug<br />
Kinder werden besser vor giftigen Schwermetallen<br />
geschützt: Für die Freisetzung von Blei<br />
aus Spielzeug hat die EU ab dem 28. Oktober<br />
dieses Jahres deutlich strengere Grenzwerte<br />
festgesetzt. So dürfen sich aus Kreide statt<br />
bisher 13,5 Milligramm nur noch zwei Milligramm<br />
Blei pro Kilogramm lösen. Flüssiges<br />
Material, z.B. Fingerfarbe, darf nur noch 0,5 statt<br />
bisher 3,4 Milligramm pro Kilogramm Blei abgeben.<br />
• Stickstoffoxid-Grenzwerte für Warmwasserbereiter<br />
Für konventionelle Warmwasserbereiter ist die<br />
3. Stufe der EU-Verordnung Nr. 814/<strong>20</strong>13 zu den<br />
Anforderungen an eine umweltgerechte Gestaltung<br />
von Warmwasserbereitern und Warmwasserspeichern<br />
in Kraft getreten. Seit dem 26. September<br />
gelten hier neue Grenzwerte für Stickstoffemissionen:<br />
Warmwasserbereiter mit gasförmigen<br />
Brennstoffen dürfen 56 Milligramm (mg) pro<br />
Kilowattstunde (kWh), Warmwasserbereiter mit<br />
flüssigem Brennstoff 1<strong>20</strong> mg/kWh nicht überschreiten.<br />
Bereits seit <strong>20</strong>15 müssen die Geräte<br />
zudem das EU-Energieeffizienzlabel aufweisen.<br />
• Aufklärung über Kosten von Zahlungskonten<br />
Ab dem 31. Oktober müssen Geldinstitute nach<br />
dem Zahlungskontengesetz, das die europäischen<br />
1024 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Zahlungskontenrichtlinie umsetzt, einheitlich und<br />
leicht verständlich über die Kosten ihrer Kontodienstleistungen<br />
informieren. Verbraucher in den<br />
EU-Mitgliedstaaten müssen zudem einen kostenlosen<br />
Zugang zu mindestens einer zertifizierten<br />
Vergleichswebseite erhalten. Grund dafür ist<br />
die Erwägung, dass kommerzielle Vergleichsportale<br />
die Verbraucher oft darüber im Unklaren<br />
lassen, auf welche Kriterien sie ihre Bewertung<br />
stützen und ob ihre Rankings von vertriebsorientierten<br />
Interessen beeinflusst sind.<br />
• Informationen beim Kauf von Versicherungsprodukten<br />
Versicherer müssen seit dem 1. Oktober die neuen<br />
Regeln der EU-Richtlinie über den Versicherungsvertrieb<br />
(IDD-Richtlinie) beachten: Bei den jährlichen<br />
Standmitteilungen von Lebensversicherungen<br />
sind detailliertere Informationen erforderlich.<br />
Zwischen Provisions-Versicherungsvermittlung und<br />
unabhängiger Honorarberatung ist klar zu trennen<br />
und es besteht die Pflicht darauf hinzuweisen, dass<br />
Kredite auch ohne Restschuldversicherung abgeschlossen<br />
werden können.<br />
• Online-Identifizierung im Ausland<br />
Seit dem 29. September gelten mit der sog. eIDAS-<br />
Verordnung neue EU-weite Regeln für die elektronische<br />
Identifizierung. Damit ist die eID-Funktion<br />
des Personalausweises jetzt auch im europäischen<br />
eGovernment einsetzbar. Dies erleichtert Bürgern<br />
und Unternehmen den grenzüberschreitenden<br />
Zugang zu Online-Diensten, z.B. die Möglich keit,<br />
Steuererklärungen online abzugeben, ein Bankkonto<br />
zu eröffnen oder ein Unternehmen zu<br />
gründen.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Beschlüsse des 72. Deutschen<br />
Juristentages<br />
Vom 26. bis 28. September fand der 72. Deutsche<br />
Juristentag (djt) in Leipzig statt. Rund 2.600<br />
Juristen diskutierten aktuelle Rechtsfragen, darunter<br />
solche zur Migration, zum kollektiven<br />
Rechtsschutz sowie zum Familienrecht. In sechs<br />
Abteilungen wurden Anregungen an den Gesetzgeber<br />
formuliert. Die wichtigsten Beschlüsse sind<br />
nachstehend zusammengefasst:<br />
1. Kollektiver Rechtsschutz im Zivilrecht<br />
Vor dem Hintergrund des Dieselskandals widmete<br />
sich die Abteilung Verfahrensrecht des djt der<br />
Frage, ob es neuer Instrumente des kollektiven<br />
Rechtsschutzes wie Sammelklagen, Gruppenklagen<br />
oder Verbandsklagen bedarf. Die vom Bundestag<br />
kürzlich beschlossene Musterfeststellungsklage<br />
wurde von der Mehrheit als unzureichend kritisiert,<br />
weil sie die mit Streuschäden – also geringen<br />
Schäden bei einer Vielzahl von Betroffenen –<br />
einhergehenden Defizite bei der Sanktionierung<br />
und Prävention von Rechtsbrüchen voraussichtlich<br />
weder behebt noch die Justiz entlastet. Vielmehr<br />
votierte die Abteilung für eine erleichterte Gewinnabschöpfung<br />
bei Streuschäden, für die Einführung<br />
der Gruppenklage bei Massenschäden und ein<br />
Verfahren zur gerichtlichen Genehmigung von<br />
Kollektivvergleichen. Zur Verfügung stehen sollen<br />
diese Instrumente in Zukunft nicht nur den Verbraucherverbänden,<br />
sondern auch den Industrieund<br />
Handelskammern, registrierten Rechtsdienstleistern<br />
und überdies individuellen geschädigten<br />
Verbrauchern und Unternehmen. Der Antrag, im<br />
Interesse prozessualer Waffengleichheit neue Auskunfts-<br />
und Beweiserhebungsregeln einzuführen,<br />
fand hingegen nicht die Mehrheit der Mitglieder.<br />
2. Elternverantwortung nach Trennung und<br />
Scheidung<br />
Die Abteilung Familienrecht befasste sich mit dem<br />
Reformbedarf im Sorge-, Umgangs- und Unterhaltsrecht.<br />
Einig waren sich die Teilnehmer, dass<br />
das derzeit geltende Residenzmodell, bei dem<br />
das Kind ganz überwiegend von einem Elternteil<br />
betreut wird, nicht mehr den aktuellen Verhältnissen<br />
entspricht. Heute würden zunehmend Betreuungsmodelle<br />
gelebt, bei denen beide Elternteile<br />
das Kind in mehr oder minder großem Umfang<br />
oder sogar paritätisch betreuten. Nahezu einstimmig<br />
wurde deshalb gefordert, die geteilte Betreuung<br />
als gleichwertiges Betreuungsmodell im Gesetz<br />
zu verankern. Dieses müsse notfalls auch<br />
gegen den Willen eines Elternteils durchzusetzen<br />
sein, wenn es dem Wohl des Kindes am besten<br />
entspreche. Auch das Unterhaltsrecht müsse an die<br />
Vielfalt der Betreuungsmodelle angepasst werden.<br />
3. Einführung von Strafzumessungs-Richtlinien<br />
Die strafrechtliche Abteilung des djt beschäftigte<br />
sich u.a. mit dem Vorschlag, die empirisch belegten<br />
regionalen Unterschiede in der Strafzumessungspraxis<br />
der Strafgerichte durch tabellarische Vorgaben<br />
oder Strafzumessungsrichtlinien nach USamerikanischem<br />
Vorbild („Sentencing Guidelines“)<br />
zu überwinden. Einen solchen radikalen Systemwechsel<br />
wollten die Teilnehmer aber nicht mit-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1025
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
tragen. Vielmehr einigten sie sich darauf, auf eine<br />
Verbesserung der Information über die Praxis der<br />
Strafzumessung hinzuwirken. Zu diesem Zweck<br />
wird die Einrichtung einer zentralen Entscheidungsdatenbank<br />
und einer fortlaufenden Rückfall- und<br />
Verlaufsstatistik vorgeschlagen. Zudem sprach sich<br />
die Abteilung mit deutlicher Mehrheit für eine<br />
Abschaffung der absoluten Strafdrohung bei § 211<br />
StGB aus.<br />
4. Herausforderungen durch Migration<br />
Ein Novum in der Geschichte des Juristentages<br />
war die Bildung einer gemeinsamen Abteilung<br />
„Öffentliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht“.<br />
Der Grund für diese „Fusion“ mehrerer bisher<br />
selbstständiger Arbeitsgruppen war die Flüchtlingswelle<br />
der vergangenen Jahre, die das Recht<br />
und die Verwaltung vor neue Herausforderungen<br />
gestellt hat. Ein Schwerpunkt der Diskussion war<br />
der sog. Spurwechsel, d.h. der Übergang von der<br />
humanitären Migration in die Erwerbsmigration<br />
mit dem damit verbundenen Wechsel des Aufenthaltsrechts.<br />
Die Mitglieder sprachen sich deutlich<br />
für eine Zulässigkeit eines solchen Spurwechsels<br />
aus. Der Zugang zum Arbeitsmarkt<br />
für Flüchtlinge solle beschleunigt, bestehende<br />
Beschäftigungsverbote abgeschafft werden. Die<br />
von der Regierungskoalition geplanten Ankerzentren<br />
wurden gebilligt, verbunden mit dem Appell,<br />
dass die Rechtsschutzmöglichkeiten gewahrt<br />
bleiben. Mit großer Mehrheit plädieren die Teilnehmer<br />
auch dafür, dem BVerwG eine auf grundsätzliche<br />
Tatsachenfragen beschränkte Tatsachenfeststellungsbefugnis<br />
zu den Verhältnissen<br />
in den Herkunfts- und Abschiebungszielstaaten<br />
zuzusprechen, um die Verfahren insgesamt zu<br />
straffen. Schließlich hat sich die Abteilung auch<br />
für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz ausgesprochen,<br />
das flexible Instrumente zur Anerkennung<br />
von im Ausland erworbenen beruflichen<br />
Qualifikationen enthalten sollte.<br />
5. Beschlussmängelrecht im Gesellschaftsrecht<br />
Die wirtschaftsrechtliche Abteilung beschäftigte<br />
sich mit einem „Dauerbrenner“ im Gesellschaftsrecht,<br />
nämlich der Frage, ob das Beschlussmängelrecht<br />
reformiert werden muss. Das derzeit<br />
geltende Recht wird von vielen als unzulänglich<br />
beurteilt. Zum einen wird der Schutz von Minderheitsgesellschaftern<br />
teilweise für unzureichend<br />
gehalten, zum anderen wird auf Wettbewerbsnachteile<br />
für deutsche Unternehmen im<br />
internationalen Vergleich verwiesen. Die Mitglieder<br />
schlossen sich diesmal der Kritik an und<br />
sprachen sich klar für die Notwendigkeit weiterer<br />
Reformen, insbesondere des aktienrechtlichen<br />
Beschlussmängelrechts, aus. Danach sollen fehlerhafte<br />
Beschlüsse nicht mehr unmittelbar zur<br />
Nichtigkeit führen, vielmehr sollten flexible alternative<br />
Rechtsfolgen ins Gesetz eingefügt werden.<br />
Gesetzliche Regelungen fordert die Abteilung<br />
auch für die sonstigen Gesellschaftsformen,<br />
insbesondere die GmbH und die Personengesellschaften,<br />
für die es bisher keine Regelungen zu<br />
Beschlussmängeln gibt. Für alle Gesellschaftsformen<br />
solle in Zukunft auch die Möglichkeit<br />
eröffnet werden, Schiedsverfahren zu führen.<br />
6. Rahmenbedingungen für Non-Profit-<br />
Organisationen<br />
Erstmalig befasste sich der djt mit den sog. Non-<br />
Profit-Organisationen (NPO), d.h. solchen, die zwar<br />
Gewinne erwirtschaften dürfen, nicht jedoch im<br />
Interesse der hinter ihnen stehenden Mitglieder und<br />
Gesellschafter. Begrüßt wurde die Absicht der<br />
Regierungskoalition, den Rechtsrahmen für ehrenamtliche<br />
und gemeinnützige Tätigkeit zu verbessern.<br />
Dem Gesetzgeber wurde empfohlen, für alle<br />
NPO ein einheitliches Registersystem zu schaffen,<br />
d.h. sie sollen unabhängig von ihrer Rechtsform<br />
unter gleichen Voraussetzungen in das gleiche<br />
(Handels-)Register mit den gleichen Publizitätswirkungen<br />
eingetragen werden. Für rechtsfähige<br />
Stiftungen fordern die Teilnehmer die Einrichtung<br />
eines Stiftungsregisters. Unabhängig von der<br />
Rechtsform sollen auch einheitliche Berichts- und<br />
Rechnungslegungsstandards geschaffen werden.<br />
Das starre Sanktionenrecht, das bei Verstößen<br />
gegen die Gemeinnützigkeitsvorschriften nur die<br />
Versagung oder Aberkennung der Gemeinnützigkeit<br />
vorsieht, müsse flexibilisiert werden. Für Großvereine,<br />
wie etwa den ADAC und die Vereine der<br />
Fußballbundesliga, ist nach der Vorstellung der<br />
Delegierten ein an das Recht der Kapitalgesellschaften<br />
angenähertes Sonderrecht zu schaffen.<br />
[Quelle: djt]<br />
Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung<br />
Das Bundeskabinett hat Anfang Oktober nach<br />
einer Einigung der Koalitionsspitzen ein Eckpunktepapier<br />
zur Zuwanderung von Fachkräften beschlossen.<br />
In der Diskussion um Arbeitsmigration,<br />
aber auch um den sog. Spurwechsel für nur<br />
1026 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
geduldete Ausländer, die jedoch hierzulande gefragte<br />
Qualifikationen vorweisen können (vgl.<br />
dazu auch die Forderung des diesjährigen Deutschen<br />
Juristentages, s. vorstehende Meldung), hat<br />
sich die Koalition auf Leitlinien, aber noch nicht<br />
auf konkrete Kriterien geeinigt.<br />
Der Fachkräftemangel, so die Begründung des<br />
Eckpunktepapiers, habe sich zu einem bedeutenden<br />
Risiko für die deutsche Wirtschaft entwickelt.<br />
Der zunehmend spürbare demografische Wandel<br />
und eine rapide voranschreitende Digitalisierung<br />
werden dies künftig noch verstärken. Daher wolle<br />
sich die Regierung gemeinsam mit der Wirtschaft<br />
um die Fachkräfte aus dem Ausland bemühen,<br />
die der Arbeitsmarkt hierzulande brauche. Aber<br />
auch die „Potenziale der Personen mit Fluchthintergrund“<br />
sollen genutzt werden, heißt es ausdrücklich.<br />
Das Papier sieht fünf Eckpunkte vor:<br />
1. Neuer Rechtsrahmen<br />
Das geplante Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll<br />
den Grundsatz der Vorrangprüfung und die Beschränkung<br />
auf Engpassberufe abschaffen. Sowohl<br />
Hochschulabsolventen als auch Fachkräfte mit<br />
qualifizierter Berufsausbildung sollen in Deutschland<br />
arbeiten dürfen, insbesondere in den Branchen<br />
mit dem drängendsten Fachkräftemangel.<br />
2. Schnelle, einfache Anerkennungsverfahren<br />
Um Deutschland für internationale Fachkräfte<br />
attraktiver zu machen, sollen die Voraussetzungen<br />
dafür geschaffen werden, dass die Gleichwertigkeitsprüfung<br />
der beruflichen bzw. akademischen<br />
Qualifikationen möglichst schnell und<br />
unkompliziert durchgeführt wird. Eine neue Clearingstelle<br />
soll die Fachkräfte aus dem Ausland<br />
durch das Anerkennungsverfahren begleiten und<br />
unterstützen.<br />
3. Marketing in ausgewählten Zielländern<br />
Zusammen mit der Wirtschaft und der Pflegebranche<br />
soll eine bedarfsorientierte und gezielte<br />
Werbestrategie zur Gewinnung von Fachkräften<br />
mit Blick auf ausgewählte Zielländer erarbeitet<br />
werden. Neben einem gezielten Marketing sowie<br />
Vermittlungsaktivitäten soll diese auch die Etablierung<br />
von Ausbildungsangeboten im Ausland<br />
beinhalten.<br />
4. Verstärkte Sprachförderung<br />
Das Erlernen der deutschen Sprache im In- und<br />
Ausland soll auf einer Vielzahl von Kanälen<br />
gefördert werden, etwa durch das Goethe-Institut<br />
und die Auslandshandelskammern.<br />
5. Vereinfachung der Verwaltungsverfahren<br />
Die Verfahren zwischen den Visastellen, den<br />
Ausländerbehörden, der Arbeitsverwaltung, den<br />
zuständigen Stellen für die Anerkennung beruflicher<br />
Qualifikationen sowie dem Bundesamt für<br />
Migration und Flüchtlinge sollen mit dem Ziel<br />
überprüft werden, sie effizienter und transparenter<br />
zu gestalten.<br />
Bei der Vorstellung des Eckpunktepapiers betonten<br />
die Minister des Inneren, für Wirtschaft und<br />
für Arbeit, HORST SEEHOFER, PETER ALTMAIER und<br />
HUBERTUS HEIL, dass am Grundsatz der Trennung<br />
von Asyl und Erwerbsmigration festgehalten<br />
werden soll. Der Begriff des „Spurwechsels“ habe<br />
daher bei der Formulierung der Eckpunkte keine<br />
Rolle gespielt. Allerdings wolle man hier eine<br />
pragmatische, lebensnahe Lösung finden.<br />
[Red.]<br />
Bundesregierung beschließt<br />
Mieterschutzgesetz<br />
Am 4. Oktober hat die Bundesregierung den vom<br />
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
(BMJV) erarbeiteten Entwurf eines<br />
Mietrechtsanpassungsgesetzes vorgelegt (vgl.<br />
zum Referentenentwurf und der Kritik daran<br />
zuletzt <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 17/<strong><strong>20</strong>18</strong>, S. 866). Mit<br />
dem Gesetz sollen die Regelungen der Mietpreisbremse<br />
effektiver handhabbar sein und<br />
Mieter vor überzogenen Mieterhöhungen durch<br />
Modernisierung und dem sog. Herausmodernisieren<br />
geschützt werden.<br />
Vermieter werden künftig verpflichtet, Mieterinnen<br />
und Mieter vor Abschluss eines Mietvertrags<br />
unaufgefordert darüber zu informieren, ob<br />
im konkreten Fall eine Ausnahme von der Mietpreisbremse,<br />
z.B. durch eine höhere Vormiete<br />
oder eine Modernisierung, vorliegt. Auch wird<br />
durch das Gesetz eine absolute Kappungsgrenze<br />
für modernisierungsbedingte Mieterhöhungen<br />
von monatlich 3 €/qm Wohnfläche innerhalb<br />
von sechs Jahren eingeführt. In angespannten<br />
Wohnungsmärkten wird zudem der Satz, mit<br />
dem Vermieter die Kosten einer Modernisierung<br />
an Mieter durch eine Mieterhöhung weitergeben<br />
können, für die Dauer von zunächst fünf Jahren<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1027
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
von 11 % auf 8 % abgesenkt. Schließlich sollen<br />
Mieterinnen und Mieter besser davor geschützt<br />
werden, durch missbräuchliche Modernisierungen<br />
aus ihren Wohnungen vertrieben zu werden.<br />
Vorgeschobene Modernisierungsmaßnahmen,<br />
mit denen Mieterinnen und Mieter zu einer Beendigung<br />
des Mietverhältnisses gebracht werden<br />
sollen, können in Zukunft mit einer Geldbuße<br />
bis zu 100.000 € geahndet werden. Für Mieter,<br />
die von einem solchen Herausmodernisieren<br />
betroffenen sind, soll es einfacherer werden,<br />
einen Schadensersatzanspruch geltend zu<br />
machen.<br />
Nicht nur Mieter, sondern auch die Vermieter<br />
sollen vom neuen Gesetz profitieren: Modernisierungsmaßnahmen<br />
bis zu einem Umfang von<br />
10.000 € pro Wohnung können durch ein vereinfachtes<br />
Verfahren vom Vermieter angekündigt<br />
und anschließend per Mieterhöhung geltend<br />
gemacht werden.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Angeklagtenrechte sollen weiter<br />
gestärkt werden<br />
Die Bundesregierung hat dem Bundestag den<br />
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts<br />
des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung<br />
(19/4467) vorgelegt (vgl. BT-Drucks<br />
19/4467). Hintergrund der Neuregelung ist die<br />
EU-Richtlinie (EU) <strong>20</strong>16/343 vom 9.3.<strong>20</strong>16 über<br />
die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung<br />
und des Rechts auf Anwesenheit<br />
in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl<br />
L 65 v. 11.3.<strong>20</strong>16, S. 1). Deren Vorgaben sieht die<br />
Regierung zwar schon im Wesentlichen als<br />
umgesetzt an, jedoch hält sie noch drei ergänzende<br />
punktuelle Änderungen im deutschen<br />
Strafverfahrensrecht für erforderlich.<br />
Diese betreffen eine Hinweispflicht in den Fällen<br />
einer zulässigen Abwesenheitsverhandlung, die<br />
Pflicht der Belehrung des Angeklagten über seine<br />
Rechte in Fällen der Abwesenheitsentscheidung<br />
und das Recht des inhaftierten Angeklagten auf<br />
Anwesenheit in der Revisionshauptverhandlung.<br />
Wie es in Ausführungen der Bundesregierung<br />
heißt, hat der Bundesrat keine Einwendungen<br />
gegen das Vorhaben. Mit einem Inkrafttreten der<br />
Novelle ist daher in Kürze zu rechnen.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Bundesregierung will Planungen im<br />
Verkehrsbereich beschleunigen<br />
Die Bundesregierung will die Planungs- und<br />
Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich beschleunigen.<br />
Dazu hat sie kürzlich einen Gesetzentwurf<br />
vorgelegt (BT-Drucks 19/4459).<br />
Dieser orientiere sich entsprechend dem Koalitionsvertrag<br />
an den zwölf Punkten der Strategie<br />
Planungsbeschleunigung des Bundesministeriums<br />
für Verkehr und digitale Infrastruktur<br />
aus dem Jahr <strong>20</strong>17, heißt es in der Vorlage. Die<br />
Strategie sei auf der Basis der Handlungsempfehlungen<br />
des Innovationsforums Planungsbeschleunigung<br />
erstellt worden, das mit hochrangigen<br />
Vertretern von Vorhabenträgern, Planern, Genehmigungsbehörden,<br />
Bauausführenden sowie<br />
Fachexperten im Planungsrecht besetzt gewesen<br />
sei, schreibt die Regierung. Mit dem Planungsbeschleunigungsgesetz<br />
würden das Bundesfernstraßengesetz,<br />
das Allgemeine Eisenbahngesetz,<br />
das Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetz<br />
und das Bundeswasserstraßengesetz geändert.<br />
Vorgesehen ist in dem Gesetzentwurf die im<br />
Bereich der Wasserstraßen schon vorhandene<br />
Möglichkeit der „vorläufigen Anordnung“. Dazu<br />
schreibt die Bundesregierung: Bau oder Änderung<br />
von Straßen und Schienenwegen bedürften im<br />
Regelfall eines Planfeststellungsbeschlusses, dem<br />
ein Planfeststellungsverfahren vorausgehe, das<br />
oftmals sehr zeitaufwändig sei. Vor dem Planfeststellungsbeschluss<br />
könne nicht mit Maßnahmen<br />
begonnen werden. Mit dem vorliegenden<br />
Vorschlag sollen nach den Vorstellungen der<br />
Bundesregierung die Planungs- und Bauzeiten<br />
von Straßen- und Schienenbaubaumaßnahmen<br />
dadurch beschleunigt werden, dass vorbereitende<br />
Maßnahmen oder Teilmaßnahmen schon<br />
vor dem Planfeststellungsbeschluss begonnen<br />
oder durchgeführt werden können. Die vorläufige<br />
Anordnung gebe jedoch kein Recht zur Enteignung.<br />
Ein weiterer Punkt in dem Gesetzentwurf ist der<br />
Verzicht auf Erörterung. Laut der Vorlage kann<br />
die Anhörungsbehörde auf Erörterungstermine<br />
bei Vorhaben verzichten, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung<br />
durchzuführen ist. „Insbesondere<br />
schreibt das europäische Recht keine mündliche<br />
Erörterung vor“, schreibt die Regierung.<br />
1028 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Möglichkeit,<br />
einen Projektmanager im Planfeststellungsverfahren<br />
einzusetzen, übernimmt die<br />
Bundesregierung Regelungen aus dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz.<br />
Erfahrungen aus<br />
dem Energiebereich zeigten, dass die Einbeziehung<br />
von privaten Dritten zu einer Straffung und<br />
Bündelung der Abläufe in Genehmigungsverfahren<br />
führen kann, wird zur Begründung angeführt.<br />
Der Projektmanager soll behördliche Verfahrensschritte<br />
vorbereiten und durchführen,<br />
nicht aber an den eigentlichen Entscheidungen<br />
mitwirken.<br />
Mit dem Gesetzentwurf soll auch eine einheitliche<br />
Klagebegründungsfrist für Klagen gegen<br />
Planfeststellungs- und Plangenehmigungsentscheidungen<br />
im Straßen-, Schienenwege- und<br />
Wasserstraßenbau eingeführt werden. Vorgesehen<br />
ist eine Sechs-Wochen-Frist ab Klageerhebung,<br />
in der Erklärungen und Beweismittel<br />
vorgebracht werden müssen. Darüber hinaus ist<br />
eine Regelung im Bereich der Bundesschienenwege<br />
zur Bündelung von Anhörungs- und Planfeststellungsverfahren<br />
beim Eisenbahn-Bundesamt<br />
vorgesehen. [Quelle: Bundesregierung]<br />
Besteuerung juristischer Dienstleistungen<br />
im Zusammenhang<br />
mit Grundstücken<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer und die Bundessteuerberaterkammer<br />
haben sich im August mit<br />
einem gemeinsamen Schreiben an die Abteilungsleiter<br />
der zuständigen Steuerbehörden von<br />
Bund und Ländern gewandt und darin um eine<br />
Änderung des Umsatzsteueranwendungserlasses<br />
zur Thematik „Ort der Leistung bei der<br />
Erbringung juristischer Dienstleistungen im Zusammenhang<br />
mit einem Grundstück“ gebeten.<br />
Wenn dies nicht geschehe, so führen beide<br />
Kammern aus, drohe in den betroffenen Rechtsanwalts-<br />
und Steuerberaterpraxen ein „erheblicher<br />
Korrekturaufwand“.<br />
Hintergrund der Initiative ist eine umsatzsteuerrechtliche<br />
Änderung auf europäischer Ebene aus<br />
dem Jahr <strong>20</strong>13, wonach juristische Dienstleistungen<br />
im Zusammenhang mit Grundstücksübertragungen<br />
sowie mit der Begründung oder Übertragung<br />
von bestimmten Rechten an Grundstücken<br />
oder dinglichen Rechten an Grundstücken als<br />
grundstücksbezogene Leistung anzusehen sind.<br />
Als Beispiele werden die Tätigkeit von Notaren<br />
sowie das Aufsetzen eines Vertrags über den<br />
Kauf/Verkauf eines Grundstücks genannt.<br />
Hingegen sollen keine grundstücksbezogenen<br />
Leistungen vorliegen, wenn juristische Dienstleistungen<br />
erbracht werden, sofern diese nicht<br />
speziell mit der Übertragung von Rechten an<br />
Grundstücken zusammenhängen. In Kraft traten<br />
diese Änderungen im Januar <strong>20</strong>17 und stellen<br />
seitdem in den EU-Mitgliedstaaten unmittelbar<br />
geltendes Recht dar.<br />
Die deutsche Finanzverwaltung, so beklagen<br />
beide Kammern, habe sich also vier Jahre Zeit<br />
gelassen, um sich zu diesen Neuregelungen zu<br />
äußern und dann Ende <strong>20</strong>17 unerwartet ihre<br />
Rechtsauffassung geändert. In Abweichung zur<br />
bisherigen Verwaltungsauffassung stelle nunmehr<br />
beispielsweise eine Beratung hinsichtlich<br />
einer Steuerklausel in einem Grundstückskaufvertrag<br />
eine grundstücksbezogene Leistung dar.<br />
Viele Rechtsanwälte und Steuerberater seien<br />
davon ausgegangen, dass die jahrelange Nichtanpassung<br />
des bisherigen Umsatzsteueranwendungserlasses<br />
eine bewusste Entscheidung der<br />
deutschen Finanzverwaltung gewesen sei und<br />
keine Änderung der Rechtsauffassung vorgelegen<br />
habe. Sie hätten also ihre juristischen Dienstleistungen,<br />
die bis Dezember <strong>20</strong>17 erbracht<br />
worden seien, vielfach nach den Grundsätzen<br />
des alten Anwendungserlasses abgerechnet.<br />
Nun drohe ihnen ein erheblicher nachträglicher<br />
Korrekturaufwand.<br />
Die beiden Kammern sind der Auffassung, dass<br />
die rückwirkende Anwendung der Grundsätze<br />
des neuen Anwendungserlasses die Berufsstände<br />
der Steuerberater und der Rechtsanwälte<br />
vor praktische Probleme stellt und zudem gegen<br />
Vertrauensschutzgrundsätze und gegen den<br />
Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer auf<br />
Unternehmerebene verstößt. Sie fordern deshalb<br />
eine sog. Nichtbeanstandungsregelung, wonach<br />
auf bis zum 31.12.<strong>20</strong>17 erbrachte juristische<br />
Dienstleistungen von Angehörigen der rechtsund<br />
steuerberatenden Berufe noch die bisherige<br />
Regelung aus dem früheren Umsatzsteueranwendungserlass<br />
angewendet wird.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1029
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Mehrbelastung für den richterlichen<br />
Bereitschaftsdienst<br />
Die jüngste Entscheidung des BVerfG zur Fixierung<br />
von Psychiatriepatienten (2 BvR 309/15 und<br />
502/16, s. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 442/18) zwingt die Gerichte<br />
dazu, über die Ausweitung ihrer Bereitschaftsdienste<br />
nachzudenken. Die Karlsruher Richter<br />
hatten im Juli festgelegt, dass die 5-Punkt- und<br />
7-Punkt-Fixierung von Psychiatriepatienten, die<br />
länger als eine halbe Stunde andauert, von einem<br />
Richter genehmigt werden muss.<br />
Wie der Deutsche Richterbund (DRB) jetzt mitteilte,<br />
hat die Entscheidung dazu geführt, dass<br />
Amtsgerichte in allen Bundesländern mit Anträgen<br />
auf Erlass einstweiliger Anordnungen von<br />
Fixierungsmaßnahmen befasst worden sind. Mit<br />
den Auswirkungen hätten sich auch die Landgerichte<br />
befassen müssen. Es sei darüber diskutiert<br />
worden, ob die BVerfG-Entscheidung über<br />
den Bereich der Psychiatrie hinausgehe und auch<br />
den Bereich der Strafvollstreckung oder den<br />
Maßregelvollzug betreffe. Damit wären für die<br />
Anträge die Strafvollstreckungskammern der<br />
Landgerichte zuständig – es bedürfte dann auch<br />
dort eines Bereitschaftsdienstes.<br />
Nach erster Einschätzung des für Betreuungsund<br />
Unterbringungssachen zuständigen Präsidiumsmitglieds<br />
im DRB, PETER FÖLSCH, wird die<br />
Entscheidung eine nicht zu unterschätzende<br />
Mehrbelastung für die gerichtliche, vor allem für<br />
die amtsgerichtliche Praxis, mit sich bringen.<br />
Dabei betreffe die Mehrbelastung nicht nur den<br />
Bereitschaftsdienst, sondern auch die für Unterbringungssachen<br />
originär zuständigen Richter.<br />
Um den Umfang der Mehrbelastung bewerten zu<br />
können, hat sich der DRB an seine Landesverbände<br />
gewandt und um Informationen zum<br />
Bereitschaftsdienst sowie zu ersten praktischen<br />
Erfahrungen im Umgang mit der Entscheidung<br />
des BVerfG gebeten.<br />
[Quelle: DRB]<br />
DAV für Verkürzung der Gewährleistung<br />
bei gebrauchten Sachen<br />
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
erwägt derzeit eine Änderung<br />
bei den Haftungs- bzw. Gewährleistungsfristen<br />
beim Verkauf gebrauchter Sachen. Hintergrund<br />
ist die Rechtsprechung des EuGH, die möglicherweise<br />
eine Anpassung der deutschen Verjährungs-<br />
und Haftungsregeln erfordern könnte. So<br />
wird etwa die Ergänzung des § 476 Abs. 2 BGB<br />
um den Satz „Bei gebrauchten Sachen können die<br />
Parteien vereinbaren, dass der Verkäufer nur für einen<br />
Mangel haftet, der sich innerhalb eines bestimmten<br />
Zeitraums seit der Ablieferung der Sache gezeigt hat.<br />
Dieser Zeitraum darf ein Jahr nicht unterschreiten“<br />
vorgeschlagen.<br />
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) begrüßt diese<br />
Pläne. Aus Gründen der Rechtssicherheit und<br />
Rechtsklarheit sei es geboten, kurzfristig eine<br />
Gesetzesänderung vorzunehmen und nicht auf<br />
weitere Gesetzesänderungen, insbesondere im<br />
Zuge einer derzeit noch nicht absehbaren Neufassung<br />
der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (RiL<br />
1999/44/EG), zu warten.<br />
Da die Verjährungsfrist beim Kauf gebrauchter<br />
Sachen zudem Massengeschäfte betreffe und die<br />
Verkürzung der Verjährungsfrist auf ein Jahr in<br />
Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) absolut<br />
üblich sei, besteht nach Ansicht des DAV<br />
gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Ohne eine<br />
gesetzliche Regelung sei es derzeit kaum möglich,<br />
rechtssichere AGB zu formulieren, da die Unterscheidung<br />
zwischen Verjährungs- und Haftungsfrist<br />
dem deutschen Recht fremd sei und eine<br />
entsprechend differenzierende Formulierung in<br />
AGB u.U. schon deshalb unwirksam sein könne,<br />
weil sie mit dem Leitbild des BGB eventuell in<br />
Konflikt gerate.<br />
Eine zweijährige Mängelhaftung nach § 438 BGB<br />
erscheine bei gebrauchten Sachen durchaus lang,<br />
so dass ein praktisches Bedürfnis für eine wirksame<br />
vertragliche und AGB-feste Verkürzungsmöglichkeit<br />
bestehe. Allerdings werde sich, so der<br />
DAV, auch unter dem neuen Recht die Frage<br />
stellen, wie mit Verjährungsverkürzungen umzugehen<br />
ist, die noch nach altem Recht vereinbart<br />
wurden. Nach Meinung des DAV dürfen solche<br />
Klauseln nicht einfach für unwirksam erklärt<br />
werden. Um dies zu vermeiden, könne man<br />
vorsehen, dass eine nach bisherigem Recht vereinbarte<br />
Verjährungsverkürzung im Zweifel als<br />
eine entsprechende Vereinbarung zur Haftungsdauer<br />
gelte.<br />
[Quelle: DAV]<br />
1030 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 155<br />
Eilnachrichten<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Arzthaftung: Verweigerung medizinisch gebotener Maßnahmen durch den Patienten<br />
(BGH, Beschl. v. 15.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VI ZR 287/17) • Ein Behandlungsfehler kann zu verneinen sein, wenn der Patient<br />
die medizinisch gebotenen Maßnahmen abgelehnt hat. Eine solche Würdigung setzt allerdings voraus, dass<br />
der Patient über die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Maßnahme vollständig und widerspruchsfrei<br />
informiert worden ist und er diese Informationen auch verstanden hat. Machen der Chefarzt einerseits und<br />
der Assistenzarzt andererseits dem Patienten gegenüber widersprechende Angaben über die medizinisch<br />
gebotenen Maßnahmen, so kann ein in der Wahl der vom Chefarzt vorgeschlagenen Behandlungsweise<br />
liegender Behandlungsfehler nicht unter Hinweis darauf verneint werden, der Patient habe die vom<br />
Assistenzarzt zutreffend angeratene Maßnahme abgelehnt. Hinweis: Zudem führ der BGH aus, dass der<br />
Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann verletzt ist, wenn das Gericht eine den Beteiligten selbst<br />
gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet, sondern auch dann, wenn das Gericht<br />
sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte<br />
Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann. Gleiches gilt, wenn diese vom Gericht gesetzte<br />
Frist objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und<br />
zur Rechtslage zu erbringen (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.6.1983 – 1 BvR 545/82). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 567/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Vebrauchsgüterkauf: Versteigerung eines zweieinhalb Jahre alten Hengstes<br />
(OLG Schleswig, Urt. v. 4.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 12 U 87/17) • Bei einem zum Zeitpunkt der Versteigerung zweieinhalb<br />
Jahre alten Hengst handelt es sich um eine gebrauchte Sache i.S.d. § 474 Abs. 2 S. 2 BGB. Auch beim Tierkauf<br />
ist zwischen „neu“ und „alt“ zu unterscheiden. Zur Abgrenzung ist – unabhängig davon, welchem Zweck ein<br />
Pferd dienen soll und ob es schon verwendet worden ist – allein auf den Ablauf einer gewissen Zeitspanne<br />
nach der Geburt des Tieres abzustellen. Hinweis: Der Senat hat die Revision gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO<br />
zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Pferd<br />
nicht mehr als neu im Sinne des Gesetzes anzusehen ist, hat in einer Vielzahl von Versteigerungsfällen<br />
Relevanz. Das Verfahren ist beim BGH anhängig (Az. VIII ZR 240/18). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 568/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Kleingartenpachtvertrag: Kündigung durch den Zwischenpächter<br />
(BGH, Beschl. v. 5.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – III ZR 355/17) • § 10 Abs. 3 BKleingG findet auf den Fall, dass der<br />
Zwischenpachtvertrag vom Zwischenpächter gekündigt wird, weder direkt noch analog Anwendung.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1031
Fach 1, Seite 156 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Dies gilt auch dann, wenn die Kündigung gem. § 109 Abs. 1 S. 1 InsO durch den Insolvenzverwalter<br />
über das Vermögen des Zwischenpächters erfolgt. Hinweis: Wenn der Haupt-(= Zwischen-)<br />
Pachtvertrag durch eine Kündigung von Seiten des Zwischenpächters beendet wird und diese<br />
Kündigung durch den Zwischenpächter das Schutzbedürfnis der Endpächter in treuwidriger Weise<br />
außer Acht lässt, könnte den Endpächtern (Kleingärtner) bzw. dem weiteren Zwischenpächter<br />
(hier: Kleingartenverein) gegenüber dem Herausgabeanspruch des Hauptverpächters der Einwand<br />
der unzulässigen Rechtsausübung zustehen. Ein solcher Fall liegt aber nicht vor, wenn die Kündigung<br />
des Haupt-(= Zwischen-)Pachtvertrags durch den Zwischenpächter auf seine Insolvenz zurückgeht,<br />
die ihre Ursache wiederum darin findet, dass er nicht mehr in der Lage gewesen ist, den<br />
erhöhten Pachtzins für eine Kleingartenanlage aufzubringen, in der infolge des örtlichen Überangebots<br />
an Kleingärten ein großer Teil der Parzellen ungenutzt ist und leer steht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 569/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Geschäftsraummietvertrag: Zusammentreffen von Verlängerungsklausel und -option<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 15.8.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 5 U 539/18) • Treffen in einem Gewerberaummietvertrag eine<br />
Verlängerungsklausel und eine Verlängerungsoption für den Mieter aufeinander und hat der<br />
Vermieter der Verlängerung widersprochen, kann der Mieter regelmäßig durch Erklären der Option<br />
das Auslaufen des Mietvertrags verhindern. Hinweis: Bei der Auslegung eines Mietvertrags – wie in<br />
der hier vorliegenden Konstellation einer festen Vertragslaufzeit mit einer zeitlich befristeten<br />
Verlängerungsoption – muss hinsichtlich des Zeitpunktes der Optionsausübung durch den Mieter<br />
auch das schützenswerte Interesse des Vermieters berücksichtigt werden, rechtzeitig vor dem Ablauf<br />
des Mietvertrags zu wissen, ob er sich auf eine Fortsetzung des Vertrags mit dem Mieter einstellen<br />
muss. Die Option muss deshalb regelmäßig bis zum Ende der Kündigungsfrist erklärt werden, weil<br />
beide Vertragspartner mit dem Ablauf der Kündigungsfrist Gewissheit darüber haben sollen, ob<br />
das Mietverhältnis mit Ablauf der Festmietzeit endet oder fortgesetzt wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 570/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Werkvertrag: Kein Ausschluss des Widerrufsrechts<br />
(BGH, Urt. v. 30.8.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VII ZR 243/17) • Der Ausschlusstatbestand des § 312g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB a.F.<br />
(= § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB) gilt jedenfalls regelmäßig nicht für Werkverträge nach § 631 BGB. Hinweis:<br />
Nach § 312g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB besteht kein Widerrufsrecht für Verträge, die zur Lieferung von Waren,<br />
die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung<br />
durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des<br />
Verbrauchers zugeschnitten sind. Dem Wortlaut nach sind damit solche Verträge umfasst, die auf die<br />
Lieferung von Waren gerichtet sind, also nach dem allgemeinen Sprachgebrach Kaufverträge und<br />
Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (Werklieferungsverträge).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 571/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Reiserecht: Entschädigungsanspruch wegen Vereitelung der Reise<br />
(BGH, Urt. v. 29.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – X ZR 94/17) • Kann oder will der Reiseveranstalter den Reisevertrag nicht<br />
ordnungsgemäß erfüllen, z.B. infolge einer Überbuchung, und führt dies dazu, dass der Kunde die Reise<br />
nicht antritt, so wird die Reise vereitelt. Auch bei Vereitelung der Reise sind das Ausmaß der<br />
Beeinträchtigung und der Reisepreis für die Bemessung der Höhe der Entschädigung von maßgeblicher<br />
Bedeutung. Die vollständige Vereitelung einer Reise begründet i.d.R. keine Beeinträchtigung des<br />
Reisenden, die der Beeinträchtigung durch grob mangelhafte, den Erholungs-, Erlebnis- oder<br />
Bildungswert der Reise nahezu vollständig entwertende Mängel der geschuldeten Reiseleistungen<br />
gleichkäme. Macht der Reisende einen Entschädigungsanspruch wegen Vereitelung der Reise geltend,<br />
1032 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 157<br />
stehen ihm daneben weder unter dem Gesichtspunkt des Aufwendungsersatzes nach § 651c Abs. 3 BGB<br />
noch unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes die Mehrkosten einer Ersatzreise zu.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 572/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Veräußerung von Wohnungseigentum: Umfang des Zustimmungserfordernisses<br />
(KG, Beschl. v. 3.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 W 370/17) • Die dem Grundbuchamt nachzuweisende Auflassung bedarf für<br />
ihre Wirksamkeit gem. § 12 Abs. 1, 3 S. 1 WEG grds. der Zustimmung des Verwalters. Die Ausnahme vom<br />
Zustimmungserfordernis nach § 12 WEG „der ersten Veräußerung nach Teilung“ erfasst nicht eine<br />
(erneute) Veräußerung durch eine Person, in deren Hand sich nach den Erstveräußerungen sämtliche<br />
Wohnungseigentumsrechte vereinigt haben. Soll die Verwalterzustimmung durch die Zustimmungserklärung<br />
der übrigen Eigentümer ersetzt werden, haben auch die sog. werdenden Wohnungseigentümer<br />
zuzustimmen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 573/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Darlehensvertrag: Umwandlung in ein Rückabwicklungsverhältnis<br />
(KG, Urt. v. 17.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 8 U 225/16) • Grundsätzlich gilt, dass ein Verbraucher, der die Umwandlung eines<br />
Verbraucherdarlehensvertrags in ein Rückgewährschuldverhältnis geltend macht, vorrangig Leistungsklage<br />
auf der Grundlage der § 357 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. i.V.m. §§ 346 ff. BGB a.F. gegen die beklagte Bank<br />
erheben muss. Der Antrag auf Feststellung, dass sich der Darlehensvertrag durch den Widerruf in ein<br />
Rückabwicklungsverhältnis umgewandelt hat, ist allerdings zulässig, weil der Vorrang der Leistungsklage<br />
nicht anzunehmen ist, nachdem die gegenseitigen Rückabwicklungsansprüche zur Aufrechnung<br />
gestellt worden sind. Jedenfalls dann, wenn die beklagte Bank mit der Hilfswiderklage eine Abrechnung<br />
der gegenseitigen Rückabwicklungsansprüche vorlegt, ist gesichert, dass die Stattgabe der Feststellungsklage<br />
zu einer endgültigen Klärung sämtlicher Streitpunkte führt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 574/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Kfz-Sachverständiger: Wirksamkeit von AGB<br />
(BGH, Urt. v. 17.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VI ZR 274/17 u. 277/17) • Eine in einem Vertrag über die Erstellung eines Kfz-<br />
Schadensgutachtens enthaltene formularmäßige Klausel über die Abtretung von Honoraransprüchen<br />
kann wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot gem. § 307 Abs. 1 S. 2, 1 BGB unwirksam sein. Unklar<br />
ist die Klausel, wenn aus ihr für den als durchschnittlichen Kunden angesprochenen (durchschnittlichen)<br />
Unfallgeschädigten nicht hinreichend deutlich wird, welche Rechte ihm gegenüber dem Sachverständigen<br />
zustehen sollen, wenn der Sachverständige nach „zur Sicherung“ und „erfüllungshalber“<br />
erfolgter (Erst-)Abtretung des Schadensersatzanspruchs den ihm nach der Klausel verbleibenden<br />
vertraglichen Honoraranspruch geltend macht. Die Intransparenz führt nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB zur<br />
Unwirksamkeit der gesamten Klausel über die „Abtretung und Zahlungsanweisung“.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 575/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Haftpflichtversicherung: Strafbarkeit bei Gebrauch eines Fahrzeugs ohne Versicherung<br />
(OLG Köln, Beschl. v. 11.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 RVs 61/18) • Nach § 6 PflVG macht sich strafbar, wer vorsätzlich (Abs. 1)<br />
oder fahrlässig (Abs. 2) auf öffentlichen Wegen ein Fahrzeug gebraucht, obwohl für dieses der<br />
erforderlichen Haftpflichtversicherungsvertrag nicht mehr besteht. Vorausgesetzt ist danach, dass der<br />
Versicherungsvertrag durch Kündigung, Rücktritt, Anfechtung oder in anderer Weise aufgelöst worden<br />
ist. Hinweis: § 6 PflVG hat in der Praxis eine nicht zu unterschätzende Bedeutung; nicht zuletzt<br />
deswegen, da Personen, die hier geschädigt werden, einen extrem schweren Stand haben. Gleichwohl<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1033
Fach 1, Seite 158 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
bedingt die Nichtzahlung von zwei Prämien nicht unbedingt die Beendigung des Versicherungsvertrags,<br />
sie berechtigt allenfalls hierzu. Ob tatsächlich eine Beendigung stattgefunden hat, ist durch Feststellungen<br />
im Urteil zu belegen. Auch eine Stilllegungsanordnung ändert hieran nichts.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 576/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Gebäudeversicherung: Anspruch auf Zahlung des Neuwertanteils<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 29.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 4 U 1779/17) • Die Neuwertversicherung soll grds. nicht auch solche<br />
Aufwendungen abdecken, die durch wesentliche Verbesserungen des Gebäudes bei seiner Wiedererrichtung<br />
verursacht wurden. Die Voraussetzungen für die Auszahlung der Neuwertspitze in der<br />
Gebäudeversicherung liegen bei Vereinbarung einer strengen Wiederherstellungsklausel auch dann vor,<br />
wenn anstelle eines zweigeschossigen Wohnhauses ein Bungalow mit Flachdach erstellt wird. Hinweis:<br />
Nach Auffassung des Gerichts kann bei der Berechnung der Größe des Gebäudes in einem<br />
Versicherungsverhältnis nicht auf die Wohnflächenberechnung der Wohnflächenverordnung zurückgegriffen<br />
werden, da diese einem völlig anderen Zweck diene. Im Verhältnis zwischen Versicherungsnehmer<br />
und Versicherer würde ihre Anwendung nicht zu sachgerechten Lösungen führen. Das OLG<br />
weist zudem darauf hin, dass der BGH eine Vergrößerung der Wohnfläche von 116 qm bei dem alten auf<br />
171,29 qm bei dem neuen Gebäude – mithin um 47 % – nicht zum Anlass genommen hat, die<br />
Neuwertentschädigung schon aus diesem Grund zu versagen (BGH, Urt. v. <strong>20</strong>.4.<strong>20</strong>16 – IV ZR 415/14).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 577/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Familienrecht<br />
Verfahrenskostenhilfe: Anrechnung fiktiven Vermögens bei der Bedürftigkeitsprüfung<br />
(BGH, Beschl. v. <strong>20</strong>.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – XII ZB 636/17) • Eine für nicht unbedingt notwendige Anschaffungen<br />
ausgegebene Unterhaltsnachzahlung kann als fiktives Vermögen bei der Bedürftigkeitsprüfung im<br />
Rahmen der Verfahrenskostenhilfe anzurechnen sein. Sind nämlich Rechtsverfolgungskosten absehbar,<br />
darf vorhandenes Vermögen nicht mehr leichtfertig für nicht unbedingt notwendige Zwecke<br />
ausgegeben werden. Geschieht dies gleichwohl, muss sich der Antragsteller die ausgegebene Summe<br />
als fiktives Vermögen anrechnen lassen und kann sich insoweit auch nicht mehr auf den Schonbetrag<br />
nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII berufen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 578/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Volljährigenunterhalt: Finanzierung einer zweiten Ausbildung<br />
(OLG Hamm, Beschl. v. 15.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 7 UF 18/18) • Gemäß § 1610 Abs. 2 BGB umfasst der Unterhalt den<br />
gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf.<br />
Geschuldet wird nach dieser Vorschrift eine Berufsausbildung, die der Begabung und den Fähigkeiten,<br />
dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen des Kindes am besten entspricht und sich in<br />
den Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern hält. Eltern, die ihrem Kind eine solche<br />
Berufsausbildung gewährt haben, sind grds. nicht mehr verpflichtet, Kosten einer weiteren Ausbildung<br />
zu tragen. Ausnahmen hiervon sind nur unter besonderen Umständen gegeben, etwa wenn der Beruf<br />
– aus gesundheitlichen oder sonstigen, bei Ausbildungsbeginn nicht vorhersehbaren Gründen – nicht<br />
ausgeübt werden kann. Hinweis: Das OLG macht deutlich, dass die unterhaltsverpflichteten Eltern das<br />
Risiko der Nichtbeschäftigung des Kindes nach Abschluss der geschuldeten Ausbildung grds. nicht zu<br />
tragen haben. Ungünstige Anstellungsaussichten stehen der Wahl einer bestimmten Ausbildung nicht<br />
ohne Weiteres entgegen. Verwirklicht sich eine solche Prognose im späteren Berufsleben, fällt den<br />
Eltern das allgemeine Arbeitsplatzrisiko nicht zur Last. Vielmehr muss ein Volljähriger, der nach<br />
Abschluss seiner Ausbildung arbeitslos ist, primär selbst für seinen Unterhalt sorgen und jede<br />
Arbeitsstelle annehmen, auch außerhalb des erlernten Berufs. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 579/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
1034 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 159<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Nacherbenvermerk: Eintragung<br />
(BGH, Beschl. v. 12.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – V ZB 228/17) • Ist nur für einen Miterben eine Nacherbfolge angeordnet,<br />
unterliegt dieser, wenn er die übrigen Erbanteile hinzuerwirbt, hinsichtlich eines zum Nachlass<br />
gehörenden Grundstücks insgesamt den Beschränkungen des § 2113 BGB; bei seiner Eintragung als<br />
Grundstückseigentümer ist daher ein Nacherbenvermerk anzubringen. Anders liegt es hingegen, wenn<br />
eine aus zwei Personen bestehende Erbengemeinschaft dadurch endet, dass einer der Gesamthänder<br />
stirbt und der andere Gesamthänder dessen alleiniger Vorerbe („zweite Stufe“) und damit alleiniger<br />
Eigentümer eines von der Gesamthand gehaltenen Grundstücks wird. Dann findet § 2113 BGB weder<br />
direkte noch entsprechende Anwendung, weil der Schutz des Anteils, der dem Überlebenden schon<br />
vorher zu eigenem Recht zustand, hier Vorrang vor den Interessen des Nacherben hat.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 580/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Zweistufiges Schiedsverfahren: Wirksamkeit des Schiedsspruch erster Instanz<br />
(BGH, Beschl. v. 9.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – I ZB 77/17) • Die Wirksamkeit eines Schiedsspruchs erster Instanz steht unter<br />
der aufschiebenden Bedingung seiner Bestätigung durch das Oberschiedsgericht. Die aufschiebende<br />
Bedingung tritt ein, wenn die Berufung nicht fristgemäß eingelegt, als unzulässig verworfen oder als<br />
unbegründet zurückgewiesen wird. Wird das Schiedsverfahren dadurch abgeschlossen, dass das<br />
Oberschiedsgericht die Berufung gegen den Schiedsspruch als unzulässig verwirft, ist Gegenstand der<br />
Vollstreckbarerklärung gem. § 1060 ZPO der Schiedsspruch erster Instanz, der mit der Verwerfung der<br />
Berufung als unzulässig die Wirkungen eines rechtskräftigen gerichtlichen Urteils erlangt hat. Im<br />
Verfahren der Vollstreckbarerklärung kann der Antragsgegner gegen diesen Schiedsspruch Aufhebungsgründe<br />
i.S.v. § 1059 Abs. 2 ZPO geltend machen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 581/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sachverständigengutachten: Erstattungsfähigkeit der Auslagen<br />
(LG Chemnitz, Beschl. v. 3.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 2 Qs 241/18) • Die Erstattungsfähigkeit der Kosten eines<br />
Privatgutachtens richtet sich nicht nach den Vergütungssätzen des JVEG. Auch eine entsprechende<br />
Anwendung des JVEG kommt nicht in Betracht, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass es<br />
einem Betroffenen möglich ist, einen geeigneten Sachverständigen zu den im JVEG vorgesehenen<br />
Vergütungssätzen zu gewinnen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 582/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Insolvenzanfechtung: Anforderungen an ein Sanierungskonzept<br />
(BGH, Urt. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – IX ZR 22/15) • Ein Sanierungsplan kann zu einer Verneinung des<br />
Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Insolvenzschuldners führen. Um die Vermutung des § 133<br />
Abs. 1 S. 2 InsO zu widerlegen, ist jedoch Voraussetzung auf Schuldnerseite, dass zu der Zeit der<br />
angefochtenen Handlung ein schlüssiges, von den tatsächlichen Gegebenheiten ausgehendes<br />
Sanierungskonzept vorlag, das mindestens in den Anfängen schon in die Tat umgesetzt war und<br />
die ernsthafte und begründete Aussicht auf Erfolg rechtfertigte. Die bloße Hoffnung des Schuldners<br />
auf eine Sanierung räumt seinen Benachteiligungsvorsatz nicht aus. Hinweis: Nicht notwendig ist,<br />
dass ein Sanierungsplan, um zu einer Verneinung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes zu führen,<br />
bestimmten formalen Erfordernissen entsprechen muss, wie sie das Institut für Wirtschaftsprüfer in<br />
Deutschland e.V. in dem IDW Standard S6 (IDW S6) oder das Institut für die Standardisierung von<br />
Unternehmenssanierungen (ISU) als Mindestanforderungen an Sanierungskonzepte aufgestellt<br />
haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 583/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1035
Fach 1, Seite 160 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
GbR: Umfang der Notgeschäftsführungsbefugnis<br />
(BGH, Urt. v. 26.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – II ZR <strong>20</strong>5/16) • Das Notgeschäftsführungsrecht analog § 744 Abs. 2 BGB erfasst über<br />
dessen Wortlaut hinaus nicht nur Maßnahmen zur Erhaltung eines bestimmten Gegenstands des Gesamthandvermögens,<br />
sondern greift auch dann ein, wenn der Gesellschaft selbst eine akute Gefahr droht<br />
und zu ihrer Abwendung rasches Handeln erforderlich ist. Die Notwendigkeit raschen Handelns ist nicht<br />
gegeben, wenn es dem Gesellschafter möglich ist, durch Inanspruchnahme seiner Mitgesellschafter eine<br />
Mitwirkung an der Abwendung der Gefahren für die Gesellschaft zu erreichen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 584/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
GmbH-Geschäftsführerhaftung: D&O-Versicherung<br />
(OLG Düsseldorf, Urt. v. <strong>20</strong>.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 4 U 93/16) • Der Versicherungsschutz einer D&O-Versicherung<br />
umfasst nicht den Anspruch einer insolvent gewordenen Gesellschaft gegen ihren versicherten<br />
Geschäftsführer auf Ersatz insolvenzrechtswidrig geleisteter Zahlungen der Gesellschaft gem. § 64<br />
GmbHG. Hinweis: Dieses Urteil hat große praktische Bedeutung für Führungskräfte von Unternehmen,<br />
Insolvenzverwalter, Versicherungsmakler und Industrieversicherer, da es häufig vorkommt, dass<br />
Insolvenzverwalter wegen der Regelung in § 64 GmbHG die Geschäftsführer von Unternehmen in<br />
Anspruch nehmen. Das OLG Düsseldorf hat hier die Revision zum BGH nicht zugelassen; die Beschwerde<br />
gegen die Nichtzulassung ist beim BGH anhängig (Az. IV ZR 186/18). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 585/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Störerhaftung: Urheberrechtsverletzungen über ungesichertes WLAN<br />
(BGH, Urt. v. 26.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – I ZR 64/17) • Der an die Stelle der bisherigen Störerhaftung des<br />
Zugangsvermittlers für von Dritten begangene Rechtsverletzungen getretene Sperranspruch nach § 7<br />
Abs. 4 TMG n.F. ist unionsrechtskonform dahingehend fortzubilden, dass er in analoger Anwendung<br />
gegen Betreiber drahtgebundener Internetzugänge geltend gemacht werden kann. Kann der Sperranspruch<br />
nach § 7 Abs. 4 TMG n.F. nicht nur gegen WLAN-Betreiber, sondern auch gegen Anbieter<br />
drahtgebundener Internetzugänge geltend gemacht werden, bestehen gegen die Anwendung des<br />
Ausschlusses von Unterlassungsansprüchen gem. § 8 Abs. 1 S. 2 TMG n.F. keine durchgreifenden<br />
unionsrechtlichen Bedenken. Hinweis: Mit vorliegender Entscheidung hat der BGH der Störerhaftung<br />
eine Absage erteilt, gleichzeitig aber die Möglichkeit eines Anspruchs auf Sperrung des Zugangs<br />
aufgezeigt. Zur ausführlichen Entscheidungsbesprechung s. VIERKÖTTER <strong>ZAP</strong> F. 16, S. 467 (in diesem Heft).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 586/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Wettbewerbsrecht: Anforderungen bei Sicherheitsmängeln an die Produktsicherheit<br />
(OLG Frankfurt, Urt. v. 5.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 6 U 28/18) • Nach § 3 Abs. 2 ProdSG darf ein Produkt, soweit es nicht<br />
Absatz 1 unterliegt, nur auf dem Markt bereitgestellt werden, wenn es bei bestimmungsgemäßer oder<br />
vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährdet. Ein für<br />
den privaten Gebrauch bestimmter Kinderschreibtisch kann nicht allein deshalb als sicherheits- und<br />
gesundheitsgefährdend i.S.v. § 3 Abs. 2 ProdSG angesehen werden, weil der die für Tische in Bildungseinrichtungen<br />
bestehende technische Norm nicht vollständig erfüllt. Entscheidend ist allein, ob er<br />
Tisch über Mängel verfügt, die tatsächlich eine solche Gefahr begründen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 587/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Freizügigkeit: Bindungswirkung der A1-Bescheinigung<br />
(EuGH, Urt. v. 6.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – C-527/16) • Ein entsandter Arbeitnehmer fällt, wenn er einen anderen<br />
entsandten Arbeitnehmer ablöst, unter das System der sozialen Sicherheit am Arbeitsort, auch wenn die<br />
beiden Arbeitnehmer nicht von demselben Arbeitgeber entsandt wurden. Die A1-Bescheinigung über<br />
1036 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 161<br />
die Eingliederung des Arbeitnehmers in das System der sozialen Sicherheit des Herkunftsmitgliedstaats<br />
bindet jedoch, solange sie von diesem Staat weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist<br />
– außer im Fall von Betrug oder Rechtsmissbrauch – sowohl die Träger der sozialen Sicherheit als auch<br />
die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Arbeiten ausgeführt werden. Hinweis: Vorliegend waren für<br />
ca. 250 entsandte Arbeitnehmer aus Ungarn durch den ungarischen Sozialversicherungsträger A1-<br />
Bescheinigungen über die Anwendung ungarischer Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit ausgestellt<br />
worden. Der österreichische VGH hatte den EuGH um Erläuterungen zu den Unionsvorschriften<br />
über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und insb. zur Bindungswirkung der A1-<br />
Bescheinigung ersucht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 588/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Arbeitnehmerdatenschutz: Keine Pflicht zur Herausgabe der privaten Handynummer<br />
(LAG Thüringen, Urt. v. 16.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 6 Sa 442/17) • Die Erhebung/Erfassung der privaten Mobiltelefonnummer<br />
eines Arbeitnehmers gegen seinen Willen ist wegen des darin liegenden äußerst schwerwiegenden<br />
Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers nur dann ausnahmsweise<br />
zulässig, wenn der Arbeitgeber ohne Kenntnis der Mobiltelefonnummer im Einzelfall eine legitime<br />
Aufgabe, für die der Arbeitnehmer eingestellt ist, nicht, nicht vollständig oder nicht in rechtmäßiger Weise<br />
erfüllen kann und ihm eine andere Organisation der Aufgabenerfüllung nicht möglich oder nicht zumutbar<br />
ist. Schafft ein kommunaler Arbeitgeber die Rufbereitschaft für Notfälle im Gesundheitsamt für die Dauer<br />
der Nachtzeit von 19:01 bis 5:59 Uhr aus Kostengründen ab, um im Notfall einen der Beschäftigten nach<br />
dem Zufallsprinzip ggf. auch über das Mobiltelefon aus seiner Freizeit heraus zur Arbeitsleistung<br />
heranzuziehen, wählt er damit eine risikobehaftete Arbeitsorganisation. Diese rechtfertigt nicht den in der<br />
Herausgabe der Mobiltelefonnummer liegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten,<br />
denn grundsätzlich entscheidet jeder Arbeitnehmer selbst, für wen, wann und wo er durch Bekanntgabe<br />
der Mobiltelefonnummer erreichbar sein will. Verweigert ein Arbeitnehmer die datenschutzrechtlich<br />
unzulässige Erfassung der Mobiltelefonnummer hat er einen Anspruch auf Rücknahme und Entfernung<br />
einer deshalb erteilten Abmahnung aus der Personalakte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 589/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
Verfassungsmäßigkeit: Beitragspflicht für Versorgungsbezüge<br />
(BVerfG, Beschl. v. 9.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 BvL 2/18) • Die Beitragszahlung durch die Bezieher von Versorgungsbezügen<br />
in die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung ist mit der<br />
Verfassung vereinbar. Sie stellt weder einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar noch greift sie<br />
unverhältnismäßig in die Rechte der Betroffenen ein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 590/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Arbeitslosengeldanspruch: Nichtberücksichtigung des Arbeitsentgelts bei Freistellung<br />
(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – L 8 AL 27/18) • Im Bemessungszeitraum nach § 150 Abs. 1 S. 1<br />
SGB III werden lediglich die Entgelte berücksichtigt, die aufgrund einer Beschäftigung im leistungsrechtlichen<br />
Sinne gezahlt wurden, wozu Entgelte, die für Zeiträume nach einer erfolgten Freistellung von der<br />
Arbeit gezahlt wurden, nicht zählen. Hinweis: Leistungsrechtlich steht ein Arbeitnehmer nicht in einem<br />
Beschäftigungsverhältnis, wenn dieses tatsächlich beendet und eine neue Beschäftigung nicht wieder<br />
aufgenommen wird. Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber seine Verfügungsgewalt über den Arbeitnehmer<br />
nicht mehr beansprucht. Hiervon ist immer auszugehen, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis<br />
kündigt und weitere Dienste nicht annimmt. Eine Freistellung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber<br />
von der Arbeit bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis kommt dem gleich. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 591/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Volkszählung: Verfassungsmäßigkeit des Zensus <strong>20</strong>11<br />
(BVerfG, Urt. v. 19.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 2 BvF 1/15 u. 2 BvF 2/15) • Die Vorschriften, die die Vorbereitung und<br />
Durchführung der zum Stand vom 9.5.<strong>20</strong>11 erhobenen Bevölkerungs-, Gebäude- und Wohnungszählung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1037
Fach 1, Seite 162 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
(Zensus <strong>20</strong>11) zum Gegenstand hatten, sind mit der Verfassung vereinbar. Sie verstoßen nicht gegen die<br />
Pflicht zur realitätsnahen Ermittlung der Einwohnerzahlen der Länder und widersprechen insb. nicht<br />
dem Wesentlichkeitsgebot, dem Bestimmtheitsgebot oder dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung.<br />
Auch ein Verstoß gegen das Gebot föderativer Gleichbehandlung liegt nicht vor, da die<br />
Ungleichbehandlung von Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern gerechtfertigt ist, weil sie aus<br />
sachlichen Gründen erfolgte und zu hinreichend vergleichbaren Ergebnissen zu kommen versprach.<br />
Hinweis: Erfolglos blieben damit die Anträge der Senate von Berlin und Hamburg in einem Verfahren der<br />
abstrakten Normenkontrolle. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 592/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Grundrechtsschutz: Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen<br />
(BVerfG, Beschl. v. 24.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 2 BvR 1961/09) • Gesetze, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche<br />
Einrichtungen übertragen (Art. 24 Abs. 1 GG) unterliegen als Akte deutscher Staatsgewalt der Bindung<br />
an die Grundrechte, deren Wesensgehalt auch in Ansehung der supranationalen Hoheitsgewalt<br />
sicherzustellen ist. Bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen trifft<br />
den Gesetzgeber die Pflicht, das vom Grundgesetz geforderten Minimum an Grundrechtsschutz<br />
sicherzustellen. Dazu gehört auch die Gewährleistung eines wirkungsvollen und lückenlosen Rechtsschutzes.<br />
Hinweis: Weil ein Verstoß gegen diese Anforderungen von den Beschwerdeführern nicht<br />
dargelegt worden war, hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde verworfen, die sich gegen Urteile<br />
des OLG Frankfurt und des BGH richtete. Diese hatten entschieden, dass es gegen eine Entscheidung<br />
des Obersten Rates der zwischenstaatlich organisierten Europäischen Schulen über die Erhöhung des<br />
Schulgelds keinen innerstaatlichen Rechtsschutz gibt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 593/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Steuerrecht<br />
Sonderausgabenabzug: Minderung durch Prämienzahlungen gesetzlicher Krankenkassen<br />
(BFH, Urt. v. 6.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – X R 41/17) • Prämienzahlungen, die eine gesetzliche Krankenkasse ihren Mitgliedern<br />
gewährt, stellen Beitragsrückerstattungen dar, die die wirtschaftliche Belastung der Mitglieder und damit<br />
auch ihre Sonderausgaben reduzieren. Hinweis: Der BGH weist zur Begründung auch auf die Vergleichbarkeit<br />
der streitgegenständlichen Prämie mit den klassischen Beitragsrückerstattungen der privaten<br />
Krankenversicherung hin, die nach höchstrichterlicher Rspr. die abzugsfähigen Sonderausgaben mindern<br />
(vgl. BFH, Urt. v. 6.7.<strong>20</strong>16 – X R 6/14). In beiden Fällen erhält der Versicherte bzw. das Mitglied nach Worten<br />
des BFH eine Zahlung von seiner Krankenversicherung bzw. Krankenkasse, weil diese von ihm nicht oder<br />
in einem geringeren Umfang in Anspruch genommen wurde als sie es worden wäre, wenn es keine<br />
vereinbarte Beitragserstattung oder Prämienzahlung gegeben hätte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 594/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Kindergeld: Zählkindervorteil in einer „Patchwork-Familie“<br />
(BFH, Urt. v. 25.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – III R 24/17) • Leben die Eltern eines gemeinsamen Kindes in nichtehelicher<br />
Lebensgemeinschaft zusammen und sind in deren Haushalt auch zwei ältere, aus einer anderen Beziehung<br />
stammende Kinder eines Elternteils aufgenommen, erhält der andere Elternteil für das gemeinsame Kind<br />
nicht den nach § 66 Abs. 1 EStG erhöhten Kindergeldbetrag für ein drittes Kind. Es begegnet keinen<br />
verfassungsrechtlichen Bedenken, dass einem in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebenden<br />
Elternteil im Hinblick auf die in seinem Haushalt lebenden, bei ihm kindergeldrechtlich nicht zu berücksichtigenden<br />
Kinder des anderen Elternteils der Zählkindervorteil versagt wird, während einem Stiefelternteil<br />
dieser Zählkindervorteil für die Kinder seines Ehegatten gewährt wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 595/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Mittäterschaft: Maßgebliche Kriterien<br />
(BGH, Beschl. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 3 StR 569/17) • Bei Beteiligung mehrerer Personen, von denen nicht jede<br />
sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht, ist Mittäter, wer einen eigenen Tatbeitrag leistet und<br />
1038 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 163<br />
diesen so in die Tat einfügt, dass er als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten und umgekehrt<br />
dessen Handeln als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint. Mittäterschaft erfordert dabei zwar<br />
nicht zwingend eine Mitwirkung am Kerngeschehen selbst und auch keine Anwesenheit am Tatort;<br />
ausreichen kann vielmehr auch ein die Tatbestandsverwirklichung fördernder Beitrag, der sich auf eine<br />
Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung beschränkt. Stets muss sich die objektiv aus einem<br />
wesentlichen Tatbeitrag bestehende Mitwirkung aber nach der Willensrichtung des sich Beteiligenden<br />
als Teil der Tätigkeit aller darstellen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 596/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Bußgeldbescheid: Form des Einspruchs<br />
(LG Mosbach, Beschl. v. 30.8.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 Qs 22/18) • Die Einlegung des Einspruchs gegen den<br />
Bußgeldbescheid per E-Mail ist zulässig (§ 67 OWiG). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 597/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Europäischer Haftbefehl: Auswirkungen der Brexit-Ankündigung<br />
(EuGH, Urt. v. 19.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – C-327/18 PPU) • Die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht,<br />
aus der Union auszutreten, ist kein „außergewöhnlicher“ Umstand, der es rechtfertigen könnte, die<br />
Vollstreckung eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu verweigern.<br />
Die Mitteilung des Vereinigten Königreichs über seine Absicht, aus der EU auszutreten, hat daher nicht<br />
zur Folge, dass die Vollstreckung eines von ihm ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigert oder<br />
vertagt werden darf. Liegen keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme<br />
vor, dass die Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats<br />
aus der Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die von der Charta und dem<br />
Rahmenbeschluss <strong>20</strong>02/584/JI des Rates v. 13.6.<strong>20</strong>02 (ABl <strong>20</strong>02, L 190, S. 1) zuerkannten Rechte genommen<br />
werden, ist der Haftbefehl zu vollstrecken. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 598/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Untersuchungshaft: Dauer des Haftprüfungsverfahrens<br />
(EGMR, Urt. v. 8.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – Individualbeschwerde-Nr. 22692/15) • Auch in umfangreichen und komplexen<br />
Strafverfahren verstößt es gegen das Beschleunigungsgebot aus Art. 5 Abs. 4 EMRK, wenn ein<br />
Haftprüfungsverfahren erst nach sechseinhalb Monaten und sogar neuneinhalb Monate nach Erlass der<br />
vorangegangenen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft durch das zuständige<br />
OLG abgeschlossen wird. Hinweis: Verurteilt wurde in diesem Verfahren die Bundesrepublik Deutschland.<br />
In einem ergänzenden Votum vertritt der EGMR-Richter RANZONI die Auffassung, dass der tiefere<br />
Grund für die lange und oft konventionswidrige Dauer der Untersuchungshaft in Deutschland im<br />
Verfahrensrecht der StPO liegt. Würden die Akten dem OLG nämlich vor Ablauf der dreimonatigen Frist<br />
des § 121 Abs. 3 StPO vorgelegt, gebe es keine weitere Frist für die Haftprüfungsentscheidung des OLG.<br />
Dies sei aus Sicht der Menschenrechtskonvention eine Lücke im deutschen Strafverfahrensrecht, die<br />
geschlossen werden müsse. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 599/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Anwaltswerbung: Persönliches Anschreiben an potenzielle Mandanten<br />
(BGH, Urt. v. 2.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – AnwZ (Brfg) 24/17) • Gemäß § 43b BRAO ist Werbung einem Rechtsanwalt nur<br />
erlaubt, soweit sie über die berufliche Tätigkeit in Form und Inhalt sachlich unterrichtet und nicht auf die<br />
Erteilung eines Auftrags im Einzelfall gerichtet ist. Eine Einschränkung der Werbemöglichkeit eines<br />
Rechtsanwalts kommt bei verfassungskonformer Auslegung des § 43b BRAO in Betracht, wenn sie im<br />
Einzelfall durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist sowie dem Grundsatz der<br />
Verhältnismäßigkeit entspricht (BGH, Urt. v. 13.11.<strong>20</strong>13 – I ZR 15/12). Hierbei ist in den Blick zu nehmen,<br />
dass die werberechtlichen Vorschriften des anwaltlichen Berufsrechts dem Zweck dienen, einerseits die<br />
Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege zu sichern, andererseits auch die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1039
Fach 1, Seite 164 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Interessen der Rechtsuchenden zu gewährleisten, sich an Hand sachlicher Informationen entscheiden<br />
zu können, ob und ggf. welcher Rechtsanwalt mit einer Rechtssache betraut wird. Hinweis:<br />
Ein Werbeverbot zum Schutz potenzieller Mandanten kommt nur dann in Betracht, wenn eine<br />
Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit durch Belästigung, Nötigung und Überrumpelung zu<br />
besorgen ist, sich der Verbotsgrund mithin aus dem Inhalt oder aus dem verwendeten Mittel der<br />
Werbung ergibt. Bietet ein Rechtsanwalt einem potenziellen Mandanten in einem persönlichen<br />
Anschreiben seine Dienste an und stellt einen konkreten Beratungsbedarf dar, verstößt dies nicht gegen<br />
das Werbeverbot nach § 43b BRAO. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 600/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Einzelanwalt: Zumutbare Vorkehrungen für den Verhinderungsfall<br />
(BGH, Beschl. v. 10.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VI ZB 44/16) • Ein Rechtsanwalt muss allgemeine Vorkehrungen dafür<br />
treffen, dass das zur Wahrung von Fristen Erforderliche auch dann unternommen wird, wenn er<br />
unvorhergesehen ausfällt. Ist er als Einzelanwalt ohne eigenes Personal tätig, muss er ihm zumutbare<br />
Vorkehrungen für einen Verhinderungsfall, z.B. durch Absprache mit einem vertretungsbereiten<br />
Kollegen, treffen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 601/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Kostenentscheidung: Übereinstimmende Erledigungserklärung<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 17.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 5 W 629/18) • Maßgeblich für die Kostenentscheidung bei<br />
übereinstimmend erklärter Hauptsacheerledigung ist billiges Ermessen unter Berücksichtigung des<br />
bisherigen Sach- und Streitstandes. Es ist ein im Rahmen der Billigkeitsentscheidung zu würdigender<br />
Gesichtspunkt, der zur Auferlegung der Kosten auf den Beklagten führen kann, wenn der Beklagte<br />
vorprozessual zur Zahlung der bereits verjährten Forderung aufgefordert wurde und die Verjährungseinrede<br />
erst im laufenden Prozess erhebt, obwohl er dazu bereits vorprozessual Gelegenheit gehabt<br />
hätte. Eine Kostenentscheidung zu Lasten des Beklagten ist unter diesen Umständen insb. dann<br />
angezeigt, wenn er den Kläger durch die unterbliebene Verjährungseinrede in den Prozess „hineinlaufen<br />
lässt“. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 602/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Aktenversendungspauschale: Kostentragungspflicht für Rechtsanwalt<br />
(LG Düsseldorf, Beschl. v. 3.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 AR 12/18) • Beantragt ein Rechtsanwalt für die Haftpflichtversicherung<br />
eines Geschädigten gem. § 475 Abs. 2 StPO Akteneinsicht, schuldet die Aktenversendungspauschale<br />
Nr. 9003 KV GKG gem. § 28 Abs. 2 GKG nur der Rechtsanwalt. Das gilt auch,<br />
wenn die Aktenversendung mit entsprechender Duldungsvollmacht des Rechtsanwalts zwar von der<br />
Versicherung beantragt wird, aber diese an den Rechtsanwalt erfolgen soll. Die Haftpflichtversicherung<br />
des Geschädigten ist kein Verfahrensbeteiligter, so dass sich ein etwaiges Akteneinsichtsrecht<br />
nach § 475 Abs. 2 StPO richtet. Demnach kann Akteneinsicht unter bestimmten<br />
Voraussetzungen nur gewährt werden, wenn gemäß Absatz 1 für die Privatperson oder sonstige Stelle<br />
ein Rechtsanwalt tätig wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 603/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
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1040 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1757<br />
Untervermietung<br />
Wohnraummiete<br />
Das Recht zur Untervermietung: Voraussetzungen und Grenzen<br />
Von Richter am Amtsgericht Dr. SVEN CASPERS, München<br />
Inhalt<br />
I. Begriff der Untermiete<br />
II. Gebrauchsüberlassung an Dritte (Grundtatbestand<br />
des § 540 BGB)<br />
1. Grundsatz: Eine Untervermietung ist<br />
genehmigungspflichtig<br />
2. Ausnahme: Eine Genehmigung kann<br />
entbehrlich sein<br />
3. Voraussetzungen für die Erteilung einer<br />
Genehmigung<br />
4. Abstrakte und konkrete Untervermietungserlaubnis<br />
5. Die nicht genehmigte Untervermietung<br />
6. Auswirkungen der Beendigung des<br />
Hauptmietverhältnisses<br />
III. Gestattung der Gebrauchsüberlassung an<br />
Dritte (§ 553 BGB)<br />
1. Berechtigtes Interesse des Mieters an<br />
einer Untervermietung<br />
2. Anspruch des Mieters auf Genehmigung<br />
der Untervermietung durch den Vermieter<br />
3. Versagung der Genehmigung bei Vorliegen<br />
eines wichtigen Grundes<br />
4. Abweichende Vereinbarungen der Mietparteien<br />
5. Muster einer Genehmigung des Vermieters<br />
zur Untervermietung<br />
IV. Prozessuale Geltendmachung<br />
I. Begriff der Untermiete<br />
Von Untermiete spricht man, wenn aufgrund eines schuldrechtlichen Vertrags Grundstücke, Gebäude<br />
oder Räume gegen Entgelt unbefristet oder auf Zeit einem Dritten zum Gebrauch vom Mieter überlassen<br />
werden (BGH, Urt. v. 9.10.1985 – VIII ZR 198/84). Die Untermiete ist rechtsbegrifflich Miete. Bei der<br />
Wohnraummiete ist wesentlich, dass dem Dritten zumindest ein Teil der Wohnräume zur ausschließlichen<br />
Benutzung zur Verfügung gestellt wird (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, Mietrecht, 13. Aufl. <strong>20</strong>17, § 540 BGB Rn 3).<br />
Hinweis:<br />
Nach der hier vertretenen Ansicht handelt es sich bei der Aufnahme eines Dritten mit der Absicht, dass<br />
dieser die gesamte Wohnung mitbenutzt, um keine Untermiete im Rechtssinne, auch wenn der Dritte<br />
dafür ein Entgelt zahlt; in einem solchen Fall wird in aller Regel eine BGB-Gesellschaft vorliegen, deren<br />
gemeinsamer Zweck die Benutzung der Mieträume ist. Um einen Fall von Untermiete handelt es sich<br />
jedoch dann, wenn dem Dritten zumindest ein Wohnraum zur alleinigen Benutzung und der Rest der<br />
Wohnung zur gemeinsamen Mitbenutzung überlassen wird (LG Berlin, Urt. v. 5.12.1991 – 67 S 354/91).<br />
Der Untermietvertrag selbst ist ein eigenständiger Mietvertrag, der hinsichtlich der Nutzung<br />
(Wohnraum oder Gewerberaum) nach den allgemeinen Kriterien zu bewerten ist. Für die Wirksamkeit<br />
des Untermietvertrags ist eine Genehmigung des Hauptvermieters irrelevant, nur der tatsächliche Akt<br />
der Gebrauchsüberlassung ist erlaubnispflichtig. Dementsprechend ist es möglich, dass der Untermietvertrag<br />
unter der aufschiebenden oder auflösenden Bedingung geschlossen wird, dass der Haupt-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1041
Fach 4, Seite 1758<br />
Untervermietung<br />
Miete/Nutzungen<br />
vermieter seine Erlaubnis erteilt. Dem Untermieter kann ein Schadensersatzanspruch dem Grunde nach<br />
zustehen, sofern der Untervermieter seiner untermietvertraglichen Pflicht zur Gebrauchsüberlassung<br />
nicht nachkommt, weil der Hauptvermieter seine Erlaubnis verweigert.<br />
II.<br />
Gebrauchsüberlassung an Dritte (Grundtatbestand des § 540 BGB)<br />
1. Grundsatz: Eine Untervermietung ist genehmigungspflichtig<br />
Auszugehen ist von dem Grundsatz des § 540 Abs. 1 S. 1 BGB, dass der Mieter ohne Erlaubnis des Vermieters<br />
nicht berechtigt ist, den Gebrauch der gemieteten Sache einem Dritten zu überlassen, insbesondere sie<br />
unterzuvermieten. Dabei umfasst § 540 Abs. 1 S. 1 BGB jedwede Gebrauchsüberlassung, gleichgültig auf<br />
welcher Vertragsgrundlage sie beruht (Miete, Leihe, Abtretung der Mieterrechte) oder ob sie aufgrund eines<br />
rein tatsächlichen Tuns oder Duldens erfolgt (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 BGB Rn 2). Da die Dauer<br />
der Gebrauchsüberlassung i.d.R. keine Rolle spielt, ist auch die kurzfristige Überlassung der Mietwohnung an<br />
(Medizin-)Touristen oder Geschäftsleute vertragswidrig (BGH, Urt. v. 8.1.<strong>20</strong>14 – VIII ZR 210/13).<br />
Nach heute h.M. gilt dieser Grundsatz für jede auf eine gewisse Dauer angelegte Gebrauchsüberlassung,<br />
auch wenn diese nur den unselbstständigen Mitgebrauch der Mietsache (z.B. Aufnahme eines<br />
Lebensgefährten) betrifft (OLG Hamm, Urt. v. 17.8.1982 – 4 REMiet 1/82). Der Mieter darf daher Dritte<br />
grundsätzlich nur mit Erlaubnis des Vermieters auf Dauer in die gemieteten Räume aufnehmen,<br />
unabhängig davon, ob er ihnen das gesamte Mietobjekt oder einen Teil zum selbstständigen Gebrauch<br />
überlässt oder den unselbstständigen Mitgebrauch gestattet.<br />
2. Ausnahme: Eine Genehmigung kann entbehrlich sein<br />
Ausnahmsweise benötigt der Mieter keine Erlaubnis, wenn er nächste Familienangehörige, zum<br />
Haushalt gehörende Bedienstete oder Personen, die er zu seiner Pflege benötigt, in die Wohnung<br />
aufnehmen will; diese Personen sollen nicht Dritte im Sinne dieser Vorschrift sein (für den Ehegatten<br />
des Mieters explizit BGH, Urt. v. 12.6.<strong>20</strong>13 – XII ZR 143/11.) Gleiches gilt für die Aufnahme solcher<br />
Personen, die kein eigenständiges Besitzrecht haben, wie beispielsweise die Besucher eines Wohnungsmieters.<br />
Die Aufnahme dieses Personenkreises gehört nach allgemeiner Auffassung zum vertragsgemäßen<br />
Mietgebrauch, so dass eine Genehmigung des Vermieters entbehrlich ist.<br />
Praxishinweis:<br />
Die Entbehrlichkeit einer Erlaubnis ist anerkannt bei: Ehepartnern (BGH, Urt. v. 12.6.<strong>20</strong>13 – II ZR 143/11),<br />
gemeinsamen Kindern (BGH, Urt. v. 5.11.<strong>20</strong>03 – XIII 371/02), Stiefkindern des Ehepartners (OLG Hamm,<br />
Beschl. v. 11.4.1997 – 30 REMiet 1/97; a.A. AG Berlin-Neukölln, Urt. v. 5.7.1990 – 14 C 174/90: nur, wenn auch<br />
die Ehefrau des Mieters in der Wohnung lebt); u.U. Enkeln (AG Wiesbaden, Urt. v. 4.7.<strong>20</strong>11 – 93 C 4774/10).<br />
Streitig ist dagegen, ob die Schwester des Mieters, sein Bruder, seine Eltern, seine Schwiegermutter, sein<br />
Schwiegersohn oder seine Schwiegertochter, seine Schwägerin oder sein Schwager, sein Stiefsohn, der<br />
Verlobte seiner Tochter oder der Freund der Tochter als Dritte angesehen werden können (vgl. CASPERS,<br />
in: HARZ/ORMANSCHICK, Vertragsstörungen im Wohnraummietrecht, 2. Aufl. <strong><strong>20</strong>18</strong>, § 14 Rn 33 m.w.N.).<br />
Als Dritter kann nicht der Lebenspartner i.S.v. § 1 LPartG angesehen werden. Wird eine Lebenspartnerschaft<br />
nach § 1 Abs. 1 LPartG begründet, gilt der Lebenspartner als Familienangehöriger des anderen<br />
Lebenspartners (§ 11 LPartG). Der Lebenspartner ist damit dem Ehegatten insoweit gleichgestellt, so dass<br />
keine Erlaubnis erforderlich ist. Da die Verwandten des Lebenspartners als mit dem anderen Lebenspartner<br />
verschwägert i.S.d. § 1590 BGB gelten (§ 11 LPartG), sind die für die bisherigen verschwägerten Personen<br />
aufgestellten Kriterien hier entsprechend anwendbar, so dass grundsätzlich von einer Genehmigungsbedürftigkeit<br />
auszugehen ist, wobei die Einzelheiten hierzu streitig sind (s. oben).<br />
Bei dem Lebensgefährten des Mieters handelt es sich allerdings nach der wohl nach wie vor<br />
herrschenden Auffassung um einen Dritten i.S.d. §§ 540, 553 BGB (BGH, Urt. v. 5.11.<strong>20</strong>03 – XIII 371/02).<br />
Denn gerade wegen der weitreichenden Konsequenzen der Bildung einer Lebensgemeinschaft in der<br />
1042 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1759<br />
Untervermietung<br />
Wohnung (z.B. § 563 Abs. 2 S. 4 BGB) muss der Vermieter über die Personen, die mit dem Mieter einen<br />
auf Dauer angelegten Haushalt begründen wollen, informiert werden. Allerdings werden an das<br />
berechtigte Interesse nach § 553 BGB keine hohen Anforderungen gestellt.<br />
3. Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung<br />
a) Auskunftspflicht des Mieters<br />
Zur Prüfung, ob der Vermieter die begehrte Einwilligung des Mieters zu erteilen hat, kann er verlangen, dass<br />
der Mieter ihm den Untermietinteressenten konkret benennt und – auf Nachfrage – nähere Angaben zu<br />
dessen Person macht. Der Vermieter muss ermitteln können, ob der potenzielle Untermieter z.B. als<br />
streitsüchtig bekannt ist, also ein wichtiger Grund in seiner Person (sog. personenbezogene Gründe, s. dazu<br />
später unter 5.) vorliegt, welcher es dem Vermieter ermöglichen würde, seine Einwilligung zur<br />
Untervermietung rechtmäßig zu versagen. Um sich ein Bild vom potenziellen Untermieter zu machen, ist<br />
der Vermieter auch zu weiteren Nachfragen berechtigt. Der Mieter ist daher weiter verpflichtet, z.B. über<br />
die berufliche oder sonstige Tätigkeit des Dritten – auf Nachfrage – Auskunft zu geben (BGH, Urt. v.<br />
3.10.1984 – VIII ZR 2/84).<br />
Außerdem muss der Mieter die Gründe für die Untervermietung mitteilen und darlegen, dass diese erst<br />
nach dem Abschluss des Mietvertrags entstanden sind. Eine Pflicht zur Vorlage des Untermietvertrags<br />
besteht nach h.M. ebenso wenig wie eine Pflicht zur Auskunftserteilung über die Höhe des Untermietzinses<br />
(LG Berlin, Urt. v. 19.4.<strong>20</strong>13 – 65 S 377/12; a.A. SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, § 553 BGB Rn 16/<strong>20</strong>, der darauf abstellt,<br />
dass die Höhe des Untermietzinses im Rahmen des § 553 Abs. 2 BGB durchaus Bedeutung erlangen kann,<br />
s. bei SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O.). Hat der Mieter hingegen persönliche Gründe für die Aufnahme des<br />
Dritten angeführt, so muss er u.U. auch Einzelheiten aus seiner Privatsphäre offenbaren, die seine<br />
Motivation belegen.<br />
Auf Verlangen des Vermieters hat der Mieter dem Vermieter auch weitere Daten mitzuteilen, die der<br />
Vermieter benötigt, um das Vorliegen eines wichtigen Grundes in der Person des potenziellen<br />
Untermieters festzustellen. Wenn nach sorgfältiger Würdigung aller mitgeteilten Daten durch den<br />
Mieter nach verständiger Meinung des Vermieters ein wichtiger Grund in der Person des konkret<br />
benannten Untermieters vorliegt, kann der Vermieter die Erlaubnis zur Untermietung sanktionslos<br />
versagen. Allgemein (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 15.11.<strong>20</strong>06 – XII ZR 92/04) müssen in einem solchen Fall<br />
sowohl personenbezogene als auch vertragsbezogene Daten durch den Mieter vollständig mitgeteilt<br />
werden (AG Hamburg-St. Georg, Urt. v. 10.10.<strong>20</strong>13 – 915 C 170/13).<br />
Zu den personenbezogenen Daten gehören:<br />
• Name/Anschrift/Geburtsdatum/Beruf.<br />
Zu den vertragsbezogenen Daten gehören:<br />
• die vom Untermieter beabsichtigte Art der Nutzung der Wohnräume (vgl. KG, Urt. v. 11.10.<strong>20</strong>07 –<br />
8 U 34/07),<br />
• Höhe des Untermietzinses,<br />
• Laufzeit des Untermietvertrags,<br />
• Kündigungsmöglichkeiten des Untermietvertrags,<br />
• Übernahme einer Betreiberpflicht, sofern dem Hauptmieter eine solche obliegt.<br />
Hinweis:<br />
Die Informationspflichten des Mieters können – je nach den konkreten Einzelfallumständen –<br />
eingeschränkt oder noch erweitert werden.<br />
Der Verstoß gegen diese Informationspflicht führt zum Ausschluss des Kündigungsrechts des Mieters<br />
aus § 540 Abs. 1 S. 2 BGB. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Vermieter auch bei einer unterstellten<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1043
Fach 4, Seite 1760<br />
Untervermietung<br />
Miete/Nutzungen<br />
erfüllten Informationspflicht die Untervermietung verweigert hätte (OLG Nürnberg, Urt. v. 3.11.<strong>20</strong>06 –<br />
5 U 754/06). In diesem Fall trägt allerdings der Mieter die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der<br />
Vermieter auch für den fiktiven Fall einer ordnungsgemäß erfüllten Informationspflicht eine Untervermietung<br />
nicht genehmigt hätte. Dieser Darlegungs- und Beweislast wird der Mieter in der Praxis nur<br />
selten nachkommen können.<br />
b) Prüfungs- und Ablehnungsrecht des Vermieters<br />
Seine Einwilligung zur beantragten Untervermietung kann der Vermieter ohne nachteilige Folgen<br />
grundsätzlich nur verweigern, wenn in der Person des Dritten ein wichtiger Grund vorliegt (s. oben<br />
sowie SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 553 Rn 12–14 m.w.N.).<br />
Wird die Erlaubnis ohne wichtigen Grund verweigert, kann der Mieter den Mietvertrag mit der<br />
gesetzlichen Frist kündigen, § 540 Abs. 1 S. 2 BGB. In der Praxis hat dieses Kündigungsrecht in der<br />
Vergangenheit an Relevanz in den Fällen gewonnen, in denen der Mieter die vorzeitige Entlassung aus<br />
einem befristeten Mietvertrag oder die Abkürzung einer langen Kündigungsfrist begehrte.<br />
Praxishinweis:<br />
Für den Anwalt kann die Nichtbeachtung dieser Kündigungsmöglichkeit in den genannten Fällen zur<br />
Anwaltshaftung führen!<br />
c) Schweigen des Vermieters als konkludente Genehmigung?<br />
Bei der Herbeiführung der Voraussetzungen des Kündigungsrechts sollte die Möglichkeit bedacht<br />
werden, dass dem Schweigen des Vermieters auf eine Anfrage des Mieters ein Erklärungswert im Sinne<br />
einer Verweigerung der Genehmigung beigemessen werden kann, wenn sich daraus eine generelle<br />
Haltung des Vermieters zur Untervermietung ableiten lässt. Reagiert der Vermieter im Einzelfall nicht<br />
auf eine solche Anfrage, muss geprüft werden, ob dem Schweigen der Erklärungswert einer<br />
Verweigerung zukommt (CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 37 m.w.N.).<br />
Hinweis:<br />
Zu beachten ist jedoch, dass Schweigen im Rechtsverkehr grundsätzlich keine Rechtsbedeutung hat. Dies ist<br />
bei der Zurechnung eines etwaigen Erklärungswertes für das Schweigen des Vermieters zu berücksichtigen.<br />
Hinzu kommt, dass die Verweigerung der Erlaubnis durch den Vermieter eindeutig und unmissverständlich<br />
erfolgen muss (OLG Koblenz, Beschl. v. 27.12.<strong>20</strong>11 – 5 U 839/11), was durch reines Schweigen<br />
nicht ohne Weiteres zu bejahen sein wird. Ergibt sich also aus der Anfrage des Mieters nicht, dass er das<br />
Schweigen des Vermieters als Verweigerung der Erlaubnis ansehen wird, kann dem Schweigen<br />
grundsätzlich kein Erklärungswert beigemessen werden (LG Gießen, Urt. v. 28.4.1999 – 1 S 53/99).<br />
Hierdurch wird der Mieter auch nicht unangemessen benachteiligt, weil er dem Vermieter problemlos<br />
eine angemessene Frist zur Entscheidung über die Erlaubniserteilung setzen kann, nach deren<br />
fruchtlosem Ablauf die Erlaubnis dann als verweigert gilt (siehe sogleich dazu unten).<br />
Das Schweigen auf einen Antrag auf Erteilung einer generellen Untervermietungserlaubnis durch den<br />
Mieter, bei der kein konkreter Untermieter namentlich benannt wird, kann nicht als Verweigerung der<br />
Erlaubnis ausgelegt werden (KG, Urt. v. 11.10.<strong>20</strong>07 – 8 U 34/07). Deshalb ist es aus Mietersicht ratsam, in<br />
der Anfrage deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass nach Ablauf der Frist unterstellt wird, dass der<br />
Vermieter generell mit einer Untervermietung nicht einverstanden ist (OLG Köln, Urt. v. 1.9.<strong>20</strong>00 – 19 U<br />
53/00). Ob in einem solchen Fall, wenn der Vermieter auf eine Anfrage des Mieters nicht innerhalb der<br />
vom Mieter gesetzten Frist oder innerhalb einer angemessenen Frist antwortet, eine Verweigerung des<br />
Vermieters angenommen werden kann, ist jedoch höchst umstritten (vgl. zum Streitstand SCHMIDT-<br />
FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 BGB Rn 70 m.w.N. in Fn 170).<br />
1044 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1761<br />
Untervermietung<br />
Praxishinweis:<br />
Nach der hier vertretenen Auffassung kann der Mieter dem Vermieter in seinem Antrag auf Erlaubnis der<br />
Untervermietung eine angemessene Frist von zwei Wochen zur Entscheidung über die Erlaubniserteilung<br />
setzen. Sofern der Mieter den Zugang des Antrags beim Vermieter sicherstellt, reicht diese Frist für den<br />
Vermieter aus, um nötige Erkundigungen über die Person des vom Mieter vorgeschlagenen Untermieters<br />
einzuholen. Lässt der Vermieter diese Frist fruchtlos verstreichen, stellt dies eine Verweigerung i.S.v. § 540<br />
Abs. 1 S. 2 BGB dar (CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 37 m.w.N.).<br />
Im Übrigen kommt es nicht darauf an, ob die Anfrage des Mieters in einer Situation erfolgt, in der sein<br />
Beendigungswille für den Vermieter erkennbar ist oder sich das zugrunde liegende Mietverhältnis<br />
wegen einer langen Kündigungsfrist bereits im Beendigungsstadium befindet. Denn bis zur Beendigung<br />
des Mietvertrags kann sich der Mieter auf seine gesetzlichen und vertraglichen Rechte berufen.<br />
4. Abstrakte und konkrete Untervermietungserlaubnis<br />
Grundsätzlich ist der Mieter bereits bei seiner ersten Anfrage wegen einer generellen Untervermietungserlaubnis<br />
verpflichtet, dem Vermieter einen konkreten Untermieter namentlich zu benennen (OLG Koblenz,<br />
Urt. v. 30.4.<strong>20</strong>01 – 4 W RE-525/00; a.A. LG Köln, Urt. v. 3.12.1997 – 10 S 367/97). Der Mieter muss auch das<br />
Vorliegen dieser Voraussetzung darlegen und beweisen (OLG Koblenz, Beschl. v. 27.12.<strong>20</strong>11 – 5 U 839/11).<br />
Hinweis:<br />
Solange der Mieter keinen konkreten Untermieter genannt hat, führt eine Verweigerung der Erlaubnis<br />
durch den Vermieter daher nicht zum Kündigungsrecht nach § 540 Abs. 1 S. 2 BGB (OLG Celle, Beschl. v.<br />
5.3.<strong>20</strong>03 – 2 W 16/03; LG Köln, Urt. v. 17.12.1998 – 6 S 122/98).<br />
Lehnt der Vermieter auf eine allgemeine Anfrage des Mieters zur Möglichkeit einer Untervermietung die<br />
Erteilung einer Erlaubnis generell und ausnahmslos ab, verweigert der Vermieter die Erlaubnis i.S.v. § 540<br />
Abs. 1 S. 2 BGB selbst dann, wenn der Mieter dem Vermieter keinen Untermieter namentlich benannt hatte<br />
(BGH, Urt. v. 15.11.<strong>20</strong>06 – XII ZR 92/04; LG Berlin, Urt. v. 12.6.<strong>20</strong>01 – 64 S 13/01). Da sich aus dieser Auffassung<br />
die Gefahr eines vom Mieter provozierten Sonderkündigungsrechts ergeben kann (z.B. Befreiung von einem<br />
„lästigen“ Zeitmietvertrag), wird zu Recht einschränkend gefordert, dass das Sonderkündigungsrecht des<br />
Mieters in einem solchen Fall nur ausgelöst wird, wenn sich aus der Anfrage des Mieters wenigstens<br />
Anhaltspunkte für eine beabsichtigte Untervermietung ergeben, die so konkret sind, dass der Vermieter<br />
sich ein Urteil über die Erlaubniserteilung bilden kann (OLG Celle, Beschl. v. 5.3.<strong>20</strong>03 – 2 W 16/03).<br />
Erteilt der Vermieter die Zustimmung unter Auflagen, kann dies ebenfalls als Verweigerung der<br />
Untervermietungserlaubnis angesehen werden (AG Albstadt, Urt. v. 24.10.1997 – 6 C 660/97). Allgemein<br />
gilt, dass der vollständigen Verweigerung der Erlaubniserteilung durch den Vermieter gleichsteht, wenn<br />
dieser die Erlaubnis von zusätzlichen, durch § 540 BGB oder durch den Mietvertrag nicht gedeckten<br />
Bedingungen abhängig macht (LG Berlin, Urt. v. 2.5.<strong>20</strong>06 – 64 S 19/06). Allein die Tatsache, dass die<br />
Wohnung öffentlich gefördert ist, stellt keinen hinreichenden Grund für eine Versagung dar (LG Berlin,<br />
Urt. v. 22.9.1998 – 64 C 53/98).<br />
5. Die nicht genehmigte Untervermietung<br />
Erfolgt eine unerlaubte, sprich nicht genehmigte Untervermietung, bleibt der abgeschlossene Untermietvertrag<br />
gleichwohl wirksam. Der Vermieter kann vom Mieter auch nicht die Herausgabe des die<br />
Hauptmiete übersteigenden Mehrbetrages der Untermiete verlangen. Denn der Untermieter leistet an<br />
den Hauptmieter ebenso mit Rechtsgrund wie der Hauptmieter an den Vermieter (das entspricht der ganz<br />
h.M. in Schrifttum und Rechtsprechung: BGH, Urt. v. 13.12.1995 – XII ZR 194, 93; SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O.,<br />
§ 540 Rn 15). Ein Anspruch aus §§ 987, 990, 99 Abs. 3 BGB scheidet ebenfalls aus, weil es an einer<br />
Vindikationslage fehlt (BGH, Urt. v. 12.8.<strong>20</strong>09 – XII ZR76/08). Der Vermieter ist auch nicht schutzbedürftig,<br />
weil er gegen den Mieter eine Unterlassungsklage nach § 541 BGB erheben kann und das Mietverhältnis<br />
nach §§ 543 Abs. 2 Nr. 2, 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB fristlos und auch ordentlich kündigen kann.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1045
Fach 4, Seite 1762<br />
Untervermietung<br />
Miete/Nutzungen<br />
6. Auswirkungen der Beendigung des Hauptmietverhältnisses<br />
a) Anspruch des Vermieters gegen den Untermieter auf Zahlung einer Nutzungsentschädigung?<br />
Sobald der Hauptmietvertrag beendet ist, wobei es auf den Grund der Beendigung des Mietverhältnisses<br />
(z.B. durch ordentliche Kündigung wegen Eigenbedarfs, aufgrund fristloser Kündigung wegen Ruhestörungen,<br />
durch den Abschluss eines Mietaufhebungsvertrags oder durch Ablauf eines Zeitmietvertrags)<br />
nicht ankommt, ist umstritten, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Vermieter<br />
einen unmittelbaren Anspruch gegen den Untermieter auf Leistung einer Nutzungsentschädigung<br />
geltend machen kann. Diese Frage ist vor allem bei einer Insolvenz des Mieters relevant.<br />
Nach Beendigung des Hauptmietverhältnisses kann der Vermieter/Eigentümer vom Untermieter nach<br />
§§ 987, 990 BGB (nach Eintritt von Bösgläubigkeit hinsichtlich des fehlenden Besitzrechts) die<br />
gezogenen Nutzungen herausverlangen, wobei unter Nutzungen im Sinne dieser Vorschriften nicht der<br />
vereinbarte Untermietzins, sondern der objektive Mietwert der untervermieteten Wohnräume zu<br />
subsumieren ist (BGH, Urt. v. 14.3.<strong>20</strong>14 – V ZR 218/13).<br />
Die Haftung des Untermieters beginnt, sobald er positive Kenntnis hat, dass das Hauptmietverhältnis<br />
beendet ist, und er vom Eigentümer/Vermieter zur Herausgabe aufgefordert wurde. Bei konsequenter<br />
Anwendung dieser Konstruktion könnte der Vermieter/Eigentümer jedoch sowohl vom Hauptmieter<br />
eine Nutzungsentschädigung als auch vom Untermieter zusätzlich den objektiven Nutzungswert der<br />
vermieteten Wohnräume verlangen, so dass er im Fall der Vorenthaltung besser stehen würde, als es<br />
ihm nach dem Hauptmietvertrag zusteht. Da ein solches Ergebnis unbillig wäre, hat der Vermieter/<br />
Eigentümer nach der h.M. des BGH ein Wahlrecht:<br />
• Der Vermieter/Eigentümer kann lediglich einen Nutzer verklagen und auf eine Inanspruchnahme des<br />
anderen Nutzers verzichten (BGH, Urt. v. 6.11.1968 – V ZR 85/65).<br />
• Der Vermieter/Eigentümer kann stattdessen beide Nutzer verklagen, wobei in diesem Fall § 421 BGB<br />
analog anzuwenden ist, soweit sich die Verpflichtungen decken, so dass der Vermieter die Leistung<br />
nach seinem Belieben von jedem der Nutzer ganz oder nur zum Teil einfordern kann (BGH, Urt. v.<br />
14.3.<strong>20</strong>14 – V ZR 218/13).<br />
b) Ausübung des Wahlrechts durch den Vermieter<br />
Von einer rechtsgültigen Ausübung des Wahlrechts ist noch nicht durch Klageerhebung gegen den<br />
Hauptmieter auszugehen, solange der Vermieter/Eigentümer nicht vollständig befriedigt wurde, da es<br />
nicht zu rechtfertigen ist, die weitere Inanspruchnahme des Untermieters zu verwehren, solange der<br />
Vermieter/Eigentümer ggf. erfolglos die Zwangsvollstreckung eines Urteils gegen den Hauptmieter<br />
versucht hat (OLG Hamburg, Urt. v. 29.5.1996 – 4 U 190/95). Nach a.A. hat der Vermieter/Eigentümer<br />
keine Direktansprüche gegen den Untermieter. Der Ausgleich soll vielmehr entlang der schuldrechtlichen<br />
Vertragsverhältnisse erfolgen (GREINER ZMR 1998, 403 ff.).<br />
c) Wirkung eines Räumungstitels im Hauptmietverhältnis gegenüber dem Untermieter?<br />
Es wird die Auffassung vertreten, dass die Rechtskraft eines Räumungstitels gegen den Hauptmieter sich<br />
insoweit auf den Untermieter erstreckt, dass dieser die Herausgabepflicht des Mieters nicht mehr leugnen<br />
können soll, wenn er seinerseits vom Vermieter auf Rückgabe nach § 546 Abs. 2 BGB in Anspruch<br />
genommen wird (ZÖLLER/VOLLKOMMER, ZPO, § 325 Rn 38, der wegen § 546 Abs. 2 BGB/§ 604 Abs. 4 BGB eine<br />
materiell-rechtliche Abhängigkeit des Untermieters vom Mieter postuliert und im Ergebnis zu einer<br />
Rechtskrafterstreckung kommt; ebenso AG Hamburg, Urt. v. 24.4.1992 – 43b C 1967/91).<br />
Die ganz h.M. lehnt eine derartige Rechtskrafterstreckung auf den Untermieter jedoch ab, jedenfalls<br />
unter der Voraussetzung, dass der Untermieter den unmittelbaren Besitz vor Rechtshängigkeit des<br />
Verfahrens zwischen Vermieter und Hauptmieter erlangt hat (BGH, Urt. v. 21.4.<strong>20</strong>10 – VIII ZR 6/09;<br />
SCHMIDT-FUTTERER/STRYL, a.a.O., § 546 Rn 99). Bei einer Überlassung der Mietsache durch den Hauptmieter<br />
an einen Untermieter nach Rechtshängigkeit der gegen den Hauptmieter gerichteten Räumungsklage –<br />
was auch einen Besitzwechsel erst nach Rechtskraft des betreffenden Räumungsurteils einschließt<br />
1046 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1763<br />
Untervermietung<br />
(BGH, Urt. v. 13.3.1981 – V ZR 150/80) – wirkt ein stattgebendes Urteil gem. § 325 ZPO auch gegen den<br />
besitzenden Untermieter, auf welchen der Vermieter/Eigentümer das Räumungsurteil gem. § 727 ZPO<br />
umschreiben lassen kann bzw. eine Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO erheben kann, so dass der<br />
Untermieter im Erfolgsfall vom Räumungstitel mitumfasst wird.<br />
Soweit eine Rechtskrafterstreckung wegen materiell-rechtlicher Abhängigkeit befürwortet wird, soll dies<br />
der Vermeidung nachfolgender Prozesse zwischen anderen Parteien dienen, in denen der Streitgegenstand<br />
des ersten Verfahrens Vorfrage ist. Eine solche Durchbrechung des Grundsatzes, dass die Rechtskraft<br />
einer Entscheidung sich auf die Parteien beschränkt, zwischen denen sie ergeht, ist aber generell<br />
abzulehnen, da dies für den Dritten, der auf diese Entscheidung mangels Parteistellung keinen Einfluss<br />
nehmen konnte, zu prozessual unzumutbaren Ergebnissen führen würde (CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 42 m.w.<br />
N.). Die Unbilligkeit einer solchen Rechtskrafterstreckung wird insbesondere bei dem Beispiel deutlich, dass<br />
im Räumungsprozess zwischen Vermieter und Hauptmieter ein klagestattgebendes Versäumnisurteil<br />
ergangen ist, das mangels rechtzeitiger Einspruchseinlegung rechtskräftig geworden ist. Der Untermieter<br />
könnte dann in seinem Räumungsverfahren nicht mehr erfolgversprechend einwenden, dass er aufgrund<br />
seines Untermietvertrags ein durch den Hauptmieter abgeleitetes Recht zum Besitz hat, obgleich er auf<br />
den Ausgang des Rechtsstreits zwischen Vermieter und Hauptmieter keinerlei Einfluss nehmen konnte.<br />
Weiteres Beispiel:<br />
Der Untermieter, der vom (Haupt-)Vermieter nach Kündigung des Hauptmietvertrags bedrängt wird,<br />
entweder einen Mietvertrag unmittelbar mit ihm zu schließen oder aber zu räumen, stellt die Mietzahlung<br />
an den Hauptmieter ein und beruft sich auf einen Rechtsmangel des Untermietvertrags.<br />
Der Einwand des Untermieters, sein (Unter-)Mietbesitz sei durch das Recht eines Dritten (hier: des Hauptvermieters)<br />
beeinträchtigt, darf ihm nicht dadurch abgeschnitten werden, dass – ggf. Jahre später – in einem<br />
Verfahren zwischen den Parteien des Hauptmietvertrags rechtskräftig festgestellt wird, dass dieses Recht des<br />
Hauptvermieters auf Räumung und Herausgabe mangels wirksamer Beendigung des Hauptmietvertrags<br />
nicht bestanden hat (vgl. zum ganzen Problemkreis SCHMIDT-FUTTERER/STRYL, a.a.O., § 546 Rn 99 f. m.w.N.).<br />
III.<br />
Gestattung der Gebrauchsüberlassung an Dritte (§ 553 BGB)<br />
1. Berechtigtes Interesse des Mieters an einer Untervermietung<br />
Entsteht für den Mieter nach Abschluss des Mietvertrags ein berechtigtes Interesse, einen Teil des<br />
Wohnraums einem Dritten zum Gebrauch zu überlassen, so kann er vom Vermieter die Erlaubnis hierzu<br />
verlangen. Zur Begründung eines berechtigten Interesses reicht der bloße Wunsch des Mieters, einen<br />
Dritten in die Räume aufzunehmen, allein nicht aus (BGH, Urt. v. 3.10.1984 – VIII ARZ 2/84). Auch der<br />
bloße Wunsch, durch die Untervermietung Einnahmen zu erzielen, ist nicht ausreichend.<br />
Gleichwohl sind an die Annahme eines berechtigten Interesses keine besonders hohen Anforderungen<br />
zu stellen (BGH, a.a.O.). Vielmehr ist jedes höchstpersönliche Interesse eines Mieters von nicht ganz<br />
unerheblichem Gewicht als berechtigtes Interesse anzusehen, sofern es mit der geltenden Rechts- und<br />
Sozialordnung im Einklang steht. Es kann sich sowohl um ein wirtschaftliches als auch ein persönliches<br />
Interesse des Mieters handeln (BGH, a.a.O.; LG Frankfurt/M., Urt. v. 15.5.1979 – 2 S 32/79).<br />
Hinweis:<br />
Dabei wird in der Praxis am häufigsten das Interesse des Mieters angeführt, sein Leben nicht mehr alleine zu<br />
verbringen, sondern in einer auf Dauer angelegten (Lebens-)Gemeinschaft (BGH, Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>05 – VIII ZR<br />
4/05). Insoweit ist es unerheblich, ob der Mieter eine Person des eigenen oder des anderen Geschlechts<br />
aufnehmen will oder ob ein Ehepaar mit einem Dritten eine Wohngemeinschaft bilden will.<br />
Es kommt auch nicht darauf an, ob der Mieter in der Wohnung seinen Lebensmittelpunkt unterhält (BGH,<br />
a.a.O.). Ebenso zählt zu den geschützten wirtschaftlichen Interessen des Mieters die Entscheidung, durch<br />
eine Untervermietung seine Wohnkosten zu reduzieren, wobei es nach richtiger Ansicht irrelevant ist, ob<br />
den Mieter an (vorübergehenden) finanziellen Schwierigkeiten ein Verschulden trifft (BGH, Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>05<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1047
Fach 4, Seite 1764<br />
Untervermietung<br />
Miete/Nutzungen<br />
– VIII ZR 4/05; v. 11.6.<strong>20</strong>17 – VIII ZR 349/13, betreffend die Untervermietung eines Teils der Wohnung bei<br />
einem längeren berufsbedingten Aufenthalt; AG München, Urt. v. 15.10.<strong>20</strong>13 – 422 C 13968/13).<br />
Wesentlich für alle Fallgruppen des berechtigten Interesses bei § 553 BGB ist, dass das jeweilige<br />
Interesse an der Gebrauchsüberlassung erst nach dem Mietvertragsschluss entsteht, wovon auch<br />
dann auszugehen ist, wenn die später eingetretene Entwicklung bereits beim Mietvertragsschluss<br />
absehbar war. Unerheblich ist also, ob der Mieter eine später eintretende Entwicklung hätte<br />
voraussehen können (AG München, a.a.O.).<br />
2. Anspruch des Mieters auf Genehmigung der Untervermietung durch den Vermieter<br />
Liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Erlaubnis nach § 553 Abs. 1 BGB vor, kann der Mieter<br />
seinen Anspruch klageweise durchsetzen. Nimmt der Mieter den Dritten ohne vorherige Erlaubnis des<br />
Vermieters in die Räume auf, stellt bereits die formell unerlaubte Gebrauchsüberlassung einen<br />
Vertragsverstoß dar. Eine außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund nach § 543 BGB<br />
kann jedoch unwirksam sein, wenn der Mieter im Zeitpunkt der Kündigung einen Anspruch auf Erteilung<br />
der Erlaubnis des Vermieters hatte (BayObLG, Beschl. v. 26.10.1990 – RE-Miet 1/90). Gleichwohl kommt<br />
eine ordentliche Kündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB in Betracht, weil der Mieter gegen seine Pflicht zur<br />
Einholung der Erlaubnis verstoßen hat; dabei ist jedoch im Rahmen der Einzelfallprüfung zu würdigen, ob<br />
ein nicht unerheblicher Pflichtenverstoß vorliegt, der noch nicht allein dadurch ausgeschlossen wird, dass<br />
ein Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis bestand (BayObLG, Urt. v. 26.4.1995 – RE-Miet 3/94).<br />
Hinweis:<br />
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es in aller Regel an einer erheblichen Verletzung der Rechte des<br />
Vermieters fehlt, wenn der Mieter einen Anspruch auf Erteilung einer Untervermietungserlaubnis hat (LG<br />
Berlin, Urt. v. 11.7.<strong>20</strong>11 – 63 S 517/10). In den übrigen Fällen ist über die Erheblichkeit der Rechtsverletzung<br />
aufgrund einer Interessenabwägung zu entscheiden (BayObLG, Beschl. v. 26.10.1990 – RE-Miet 1/90).<br />
Hat der Vermieter dem Mieter die Erlaubnis zur Untervermietung erteilt, sollte ein Grund zur fristlosen<br />
Kündigung bestehen, wenn der Mieter nach Erlaubniserteilung aus den Räumen auszieht und der Untermieter<br />
die Räume alleine nutzt (LG Berlin, Urt. v. 22.2.1993 – 66 S 126/92). Das gleiche Recht sollte bestehen,<br />
wenn sich die Erlaubnis von vornherein auf einen numerisch begrenzten Personenkreis bezieht. Diese<br />
Rechtsprechung ist nach der Entscheidung des BGH vom 23.11.<strong>20</strong>05 (Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>05 – VIII ZR 4/05) überholt.<br />
3. Versagung der Genehmigung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes<br />
Obwohl der Mieter ein berechtigtes Interesse für die Aufnahme eines Dritten reklamieren kann, ist der<br />
Vermieter ausnahmsweise zur Verweigerung der Erlaubnis berechtigt, wenn in der Person des Dritten<br />
ein wichtiger Grund vorliegt, der Wohnraum übermäßig belegt würde oder dem Vermieter die<br />
Überlassung aus sonstigen Gründen nicht zugemutet werden kann, § 553 Abs. 1 S. 2 BGB. Als wichtiger<br />
Grund kommen insbesondere in Betracht:<br />
• die Besorgnis der Belästigung der übrigen Hausbewohner,<br />
• die nachvollziehbare persönliche Feindschaft zwischen Untermieter und Vermieter oder anderen Mietern,<br />
• der Beruf des Untermieters (Klavierlehrer, Berufsposaunist, Schlagzeuger, Sänger, Nachtarbeiter),<br />
• sonstige negative Eigenschaften des Dritten (Trinker, Drogenabhängiger, entlassener Serienstraftäter,<br />
chronisch Kranker, Pflegebedürftiger) oder<br />
• die fehlende Wohnberechtigung hinsichtlich einer öffentlich geförderten oder mit Wohnungsfürsorgemitteln<br />
geförderten Wohnung.<br />
Hinweis:<br />
Eine Zahlungsunfähigkeit des Untermieters oder eine nachgewiesene mangelnde Zahlungsmoral in der Vergangenheit<br />
können hingegen keine Rolle spielen, weil der Untermieter nicht gegenüber dem Vermieter für<br />
die Verbindlichkeiten aus dem Mietvertrag haftet (vgl. für alle Beispiele CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 46 m.w.N.).<br />
1048 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1765<br />
Untervermietung<br />
Ausnahmsweise kann der Vermieter die Zustimmung zur Gebrauchsüberlassung von der Erhebung<br />
eines Untermietzuschlags nach § 553 Abs. 2 BGB abhängig machen. Dabei handelt es sich nicht um<br />
einen neben der Miete geschuldeten „Zuschlag“, sondern um eine Vertragsanpassung wegen eines im<br />
Vergleich zum ursprünglich vereinbarten Mietvertrag erweiterten Mietgebrauchs (SCHMIDT-FUTTERER/<br />
BLANK, a.a.O., § 553 Rn 17; a.A. LG München, Urt. v. 28.7.1999 – 14 S 7728/99). Durch die Erlaubnis des<br />
Vermieters wird das Mietgebrauchsrecht erweitert, als Gegenleistung soll der Mieter in eine Erhöhung<br />
der Miete (Grundmiete oder Betriebskosten) einwilligen. Es handelt sich folglich um eine Form der<br />
Vertragsanpassung. Für den preisgebundenen Wohnraum bestimmt § 26 Abs. 3 NMV die Höhe dieses<br />
Zuschlags auf 2,50 € pro Person und Monat bei Nutzung des untervermieteten Raums durch eine<br />
Person und auf 5 € monatlich bei Nutzung durch zwei und mehr Personen. Im preisfreien Wohnraum<br />
wird ein Betrag von <strong>20</strong> % des Untermietzinses als angemessen angesehen (AG Hamburg, Urt. v.<br />
30.9.<strong>20</strong>07 – 49 C 95/07). Allerdings kommt die Erhebung eines Untermietzuschlags nur in Betracht,<br />
wenn die Untervermietung vom Vermieter (ansonsten) gestattet wird; es darf also keine unberechtigte<br />
Untervermietung vorliegen (BGH, Urt. v. 13.12.1995 – XII ZR 194/93).<br />
Schließlich bestimmt § 540 Abs. 2 BGB, dass der Mieter bei einer Gebrauchsüberlassung an einen Dritten<br />
für dessen Verschulden auch dann einzutreten hat, wenn der Vermieter die Erlaubnis zur Überlassung<br />
erteilt hat. Rechtstechnisch handelt es sich dabei um eine spezialgesetzliche Zurechnungsnorm fremden<br />
Verschuldens entsprechend dem Einstehenmüssen für Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB.<br />
Praxishinweis:<br />
Diese Vorschrift hat das KG (Rechtsentscheid v. 15.7.<strong>20</strong>00 – 16 RE-Miet 10611/99) als wesentliches Argument<br />
dafür angeführt, dass eine fristgerechte Kündigung wegen nicht unerheblicher Pflichtverletzungen voraussetzt,<br />
dass den Mieter ein eigenes Verschulden trifft. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Vorschrift des<br />
§ 549 Abs. 3 BGB a.F. (= § 540 Abs. 2 BGB n.F.) nur klarstellen soll, dass die Erlaubnis des Vermieters zur<br />
Untervermietung gerade keine Enthaftung des Mieters bzw. einen Ausschluss des Grundsatzes aus § 278<br />
BGB herbeiführen soll.<br />
4. Abweichende Vereinbarungen der Mietparteien<br />
§ 553 Abs. 3 BGB bestimmt zum Nachteil des Mieters abweichende Vereinbarungen als unwirksam.<br />
Nach der Gesetzessystematik können davon nur die Regelungen des § 553 Abs. 1, Abs. 2 BGB erfasst sein.<br />
Nach wie vor bleibt also die Regelung des § 540 BGB abdingbar. Gleichwohl ist das Recht zur Kündigung<br />
nach § 540 Abs. 1 S. 2 BGB nicht abdingbar (BGH, Urt. v. 24.5.1995 – XII ZR 172/94). Mitumfasst vom<br />
Verbot des § 553 Abs. 3 BGB sind auch solche Vereinbarungen, durch die ein nur mittelbarer Ausschluss<br />
des Anspruchs des Mieters auf Aufnahme eines Dritten bewirkt wird (z.B. „Die Benutzung der<br />
Mietwohnung ist nur durch eine Person gestattet.“).<br />
Ebenso ist eine Bestimmung unwirksam, wonach der Vermieter die Erlaubnis zur Untervermietung<br />
uneingeschränkt widerrufen kann (BGH, Urt. v. 11.2.1987 – VIII ZR 56/86).<br />
Eine formularmäßige Regelung, nach der der Mieter in jedem Fall der Untervermietung einen<br />
konkreten Zuschlag zu zahlen hat, ist schon wegen Verstoßes gegen § 553 Abs. 2 BGB unwirksam (LG<br />
Mainz, Urt. v. 17.3.1981 – 3 S 243/80). Dies gilt auch dann, wenn ein von vornherein begrenzter Zuschlag<br />
(hier: 100 DM = ca. 50 €) vereinbart wurde (AG Hamburg-Altona, Urt. v. 18.11.1997 – 317b 334/97).<br />
Hintergrund dafür ist, dass hierüber nicht generell und im Vorhinein, sondern nur entsprechend den<br />
Gegebenheiten des Einzelfalls entschieden werden kann. Eine mietvertragliche Klausel, wonach der<br />
Mieter die im Falle der Untervermietung entstehenden Forderungen auf Untermietzins an den<br />
Vermieter in Höhe von dessen Mietforderungen zur Sicherheit abtritt, ist mangels ausreichender<br />
Bestimmtheit unwirksam. Unabhängig hiervon ist bei der Wohnraummiete zu beachten, dass selbst<br />
individualvertraglich vereinbarte Sicherungsabtretungen gegen § 551 BGB verstoßen, wenn der<br />
zulässige Sicherungshöchstbetrag von drei Monatsmieten durch eine vom Mieter geleistete Barkaution<br />
bereits erbracht wurde (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 553 Rn 22 m.w.N.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1049
Fach 4, Seite 1766<br />
Untervermietung<br />
Miete/Nutzungen<br />
5. Muster einer Genehmigung des Vermieters zur Untervermietung<br />
Genehmigung des Vermieters zur Untervermietung<br />
Sehr geehrter Mieter,<br />
gemäß Ihrem Antrag vom (…) genehmige ich hiermit die Untervermietung an Herrn/Frau X unter folgenden<br />
Bedingungen:<br />
1. Die Genehmigung zur Untervermietung wird ausschließlich zu Wohnzwecken erteilt und ist beschränkt auf die<br />
Untervermietung an Herrn/Frau X. Die Untervermietung an eine andere Person bedarf einer erneuten<br />
Zustimmung.<br />
2. Der Untermieter ist verpflichtet, die Hausordnung zu beachten und einzuhalten. Dies gilt insbesondere für das von<br />
ihm angegebene Hobby „Stepptanz“. Sollten Mitbewohner des Hauses unzumutbar beeinträchtigt werden, werde<br />
ich die Erlaubnis zumindest widerrufen.<br />
3. Die Zustimmung zur Untervermietung kann im Übrigen widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für ihre<br />
Erteilung wegfallen oder ein anderer wichtiger Grund vorliegt.<br />
4. Für Schäden, die der Untermieter an den Mieträumen verursacht, haftet der Mieter gegenüber dem Vermieter.<br />
5. Die Beendigung der Untervermietung ist durch Abmeldebestätigung unverzüglich schriftlich anzuzeigen. Eine<br />
rückwirkende Erstattung des Untermietzuschlags kann der Mieter nicht verlangen.<br />
Die Geltendmachung eines angemessenen Untermietzuschlags behalte ich mir vor.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
(…)<br />
IV. Prozessuale Geltendmachung<br />
Die Erlaubnis zur Untervermietung muss – sofern der Vermieter seine Genehmigung nicht erteilt –<br />
seitens des Mieters mit der Leistungsklage geltend gemacht werden. Die Beantragung einer<br />
einstweiligen Verfügung ist wegen unzulässiger Vorwegnahme der Hauptsache nicht möglich.<br />
Bei einer Mietermehrheit ist jeder Mieter alleine zur Klageerhebung befugt, wobei der Klageantrag<br />
auf Erteilung einer Untervermietungserlaubnis an alle Mieter lauten muss (im Einzelnen strittig, vgl.<br />
SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 Rn 81/81a m.w.N.).<br />
Praxishinweis:<br />
Da nach Ablauf einer Kündigungsfrist in einem gekündigten Mietverhältnis kein Anspruch auf Erlaubniserteilung<br />
mehr besteht, sollte eine darauf gerichtete Klage bei einem etwaig zeitgleich bestehenden<br />
Räumungsrechtsstreit bis zur rechtskräftigen Erledigung des letzteren ausgesetzt werden (LG Berlin, Urt.<br />
v. 17.6.1991 – 62 S 48/91). Verliert der konkret benannte Untermieter im Laufe des Prozesses sein Interesse<br />
am Bezug der Wohnräume, so kann der Mieter den Rechtsstreit nach § 91a ZPO analog für erledigt<br />
erklären (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 Rn 81/81a; a.A. AG Tempelhof-Kreuzberg, Urt. v. 2.7.1986 –<br />
6 C 545/85).<br />
Ausnahmsweise kann der Mieter den Anspruch auf Zustimmung im einstweiligen Verfügungsverfahren<br />
geltend machen, wenn der Mieter im Falle der Verweigerung der Erlaubnis mit der fristlosen<br />
Kündigung wegen Zahlungsverzugs rechnen muss und hinreichende Gründe dafür bestehen, dass<br />
dem Vermieter durch die Überlassung der Wohnräume kein ins Gewicht fallender Nachteil erwächst<br />
(LG Hamburg, Beschl. v. 13.11.<strong>20</strong>12 – 316 T 70/12).<br />
Der Streitwert der Klage ist gem. § 48 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO nach dem Jahresbetrag des Untermietzinses<br />
inklusive besonderer Zahlungspflichten des Untermieters (z.B. einmalige Zusatzzahlung) zu berücksichtigen.<br />
1050 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1457<br />
Elternunterhalt<br />
Unterhaltsrecht<br />
Elternunterhalt<br />
– Teil 1: Anspruchsvoraussetzungen und Bedürftigkeit eines Elternteils<br />
Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Aufsicht führender Richter am Amtsgericht a.D., Gelsenkirchen<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
II. Gesetzliche Voraussetzungen des Anspruchs<br />
auf Elternunterhalt<br />
III. Unterhaltsrechtlicher Bedarf des Elternteils<br />
1. Maßstab für den Bedarf<br />
2. Bedarfserhöhung bei Pflegebedürftigkeit<br />
(Heimkosten)<br />
3. Exkurs: Unterhaltspflicht des Ehegatten bei<br />
Pflegebedürftigkeit (Heimunterbringung)<br />
4. Bedarfserhöhung durch Abschluss einer<br />
Pflegeversicherung<br />
IV. Bedürftigkeit des unterhaltsberechtigten<br />
Elternteils<br />
1. Anrechenbare Einkünfte des unterhaltsberechtigten<br />
Elternteils<br />
2. Anrechnung von Vermögen<br />
3. Rückgewähransprüche aus Schenkungsrecht<br />
4. Anrechnung von Unterhaltsforderungen<br />
gegen den eigenen Ehegatten<br />
V. Anteilige Haftung aller Kinder<br />
I. Vorbemerkung<br />
Der Elternunterhalt nimmt in der Praxis eine immer bedeutsamere Rolle ein. Denn die demografische<br />
Entwicklung ist eindeutig: Die Bevölkerung wird älter, eine steigende Zahl von Seniorinnen und Senioren<br />
lebt in Alters- und Pflegeheimen. Da die eigene Rente in aller Regel nicht ausreicht, die Kosten zu<br />
decken, müssen die Sozialämter einspringen. Diese versuchen, das Geld von den unterhaltspflichtigen<br />
Kindern oder noch vom außerhalb des Heimes lebenden Ehegatten zurückzuholen. Zu dieser Thematik<br />
sind einige für die praktische Behandlung der Fälle bedeutsame Entscheidungen des BGH ergangen.<br />
II. Gesetzliche Voraussetzungen des Anspruchs auf Elternunterhalt<br />
Verwandte in gerader Linie – also Eltern und Kinder – sind wechselseitig verpflichtet, einander Unterhalt zu<br />
gewähren (§ 1601 BGB). Die Unterhaltsverpflichtung trifft also nicht nur die Eltern gegenüber ihren –<br />
minderjährigen und volljährigen – Kindern (s. dazu VIEFHUES <strong>ZAP</strong> F. 11, S. 1391 ff., 1411 ff.), sondern umgekehrt<br />
auch die Kinder gegenüber ihren Eltern. Der Unterhaltsanspruch richtet sich auf den angemessenen<br />
Unterhalt (§ 1610 Abs. 1 BGB).<br />
Hinweis:<br />
Vom Gesetzgeber wird jedoch unterhaltsberechtigten Eltern gegenüber Kindern eine relativ schwache Rechtsposition<br />
zugewiesen. Denn die Eltern gehen im Rang nicht nur den minderjährigen sowie volljährigen Kindern<br />
und Ehegatten der Unterhaltspflichtigen nach, sondern stehen im Rang auch hinter deren Enkeln (§ 1609 BGB).<br />
Mit der Einführung der gesetzlich geförderten privaten Altersvorsorge hat der Gesetzgeber außerdem<br />
deutlich gemacht, dass jeder Einzelne für seine Alterssicherung neben der gesetzlichen Renten-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1051
Fach 11, Seite 1458<br />
Elternunterhalt<br />
Familienrecht<br />
versicherung rechtzeitig und ausreichend vorsorgen sollte. Die Grundsicherung im Alter (§§ 41 ff.<br />
SGB XII) verdeutlicht weiterhin die Zielvorstellung des Gesetzgebers, bei der Frage, ob und inwieweit<br />
Eltern gegenüber ihren Kindern Unterhaltsansprüche geltend machen können, die Nachrangigkeit<br />
dieses Anspruchs ebenso wie die besondere Belastungssituation des Unterhaltspflichtigen zu beachten<br />
(BVerfG FamRZ <strong>20</strong>05, 1051, 1055 m. Anm. KLINKHAMMER).<br />
Maßgebliche Eckpunkte für jeden Unterhaltsanspruch – und damit auch für den Elternunterhalt – sind<br />
• der Bedarf des Unterhaltsberechtigten (s. III.),<br />
• seine aktuelle Bedürftigkeit aufgrund nicht ausreichender eigener Einkünfte und eigenen Vermögens<br />
(s. IV.),<br />
• die aktuelle Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen, § 1603 BGB.<br />
III. Unterhaltsrechtlicher Bedarf des Elternteils<br />
Der Unterhaltsbedarf von Eltern im Ruhestand umfasst den gesamten Lebensbedarf, wie z.B. die Miete<br />
für die Wohnung, Ernährung, Bekleidung, Beiträge für die Krankenkasse und Pflegeversicherung (BGH,<br />
Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860) und ist i.d.R. im Unterhaltsprozess konkret<br />
entsprechend den individuellen Verhältnissen vorzutragen.<br />
1. Maßstab für den Bedarf<br />
Das Maß des geschuldeten Unterhalts bestimmt sich gem. § 1610 BGB nach der eigenen Lebensstellung<br />
des Elternteils. Der – eigenständige – Bedarf eines unterhaltsberechtigten Elternteils beurteilt sich folglich<br />
in erster Linie nach den persönlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen des betreffenden<br />
Elternteils (BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860, 861 = NJW <strong>20</strong>03, 1660).<br />
Hinweis:<br />
Dadurch unterscheidet sich der Elternunterhalt deutlich von anderen Unterhaltsverhältnissen. Der Bedarf<br />
des minderjährigen und auch des volljährigen noch in der Berufsausbildung befindlichen Kindes leitet sich<br />
von der Lebensstellung des Unterhaltspflichtigen ab. Auch beim Ehegattenunterhalt wird der Bedarf<br />
entscheidend von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des anderen Ehegatten, also des<br />
Unterhaltspflichtigen bestimmt.<br />
Grundsätzlich führen nachteilige Einkommensveränderungen auch zu einer Änderung der Lebensstellung,<br />
die gem. § 1610 BGB den Unterhaltsbedarf prägt. Folglich scheidet ein Anspruch auf Unterhalt<br />
entsprechend einer früheren Lebensstellung aus. Durch den Eintritt in den Ruhestand werden aber<br />
regelmäßig nachteilige Veränderungen der Einkommensverhältnisse ausgelöst, die auch eine Änderung<br />
der Lebensstellung des Elternteils zur Folge haben. Dessen Lebensstellung bestimmt sich daher nicht<br />
nach dem eigenen Einkommen in „besseren Zeiten“, als er noch erwerbstätig war, sondern nach den<br />
aktuell gegebenen tatsächlichen Verhältnissen. Dies gilt auch dann, wenn die Einkommensverschlechterung<br />
durch den Tod eines Ehegatten bedingt ist (BGH FamRZ <strong>20</strong>06, 935).<br />
Daher können Eltern von ihren Kindern keinen Unterhalt mehr nach einer früheren – besseren – Lebensstellung<br />
verlangen. Ist der Elternteil im Alter sozialhilfebedürftig geworden, beschränkt sich sein angemessener<br />
Lebensbedarf i.d.R. auf das Existenzminimum (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW <strong>20</strong>13, 301 =<br />
FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm. HAUß; BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860). Dieses Existenzminimum<br />
des nicht erwerbstätigen Unterhaltsberechtigten von 880 € (Wert der Düsseldorfer Tabelle<br />
<strong><strong>20</strong>18</strong>) bildet jedoch auch beim Elternunterhalt die Untergrenze des Bedarfs (BGH FamRZ <strong>20</strong>03, 860, 861).<br />
Praxishinweis:<br />
Der Bedarf kann bei bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen ohne Auflistung einzelner Bedarfspositionen<br />
zur Vereinfachung auch nur mit dem am sozialhilferechtlichen Existenzminimum orientierten<br />
notwendigen Eigenbedarfssatz, wie er nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte (Nr. 21.4, Stand<br />
1052 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1459<br />
Elternunterhalt<br />
1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong>) dem nicht erwerbstätigen unterhaltsberechtigten Ehegatten zustehen soll, angegeben werden.<br />
Die Kosten für Unterkunft, einschließlich umlagefähiger Nebenkosten und Heizung (Warmmiete), sind<br />
i.H.v. 380 € (21.2 Leitlinien der OLG, Stand 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong>) in diesem Betrag enthalten.<br />
Es gibt jedoch auch Lebenssituationen, in denen sich bestimmte Faktoren bedarfserhöhend auf den<br />
Unterhalt auswirken, z.B. wenn der unterhaltberechtigte Elternteil in einem Pflegeheim lebt (s. hierzu 2.)<br />
oder noch Kosten für Kranken- und Pflegeversicherung anfallen (s. unten 4.). Diese Positionen finden in<br />
den Eigenbedarfssätzen nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte keine Berücksichtigung und müssen<br />
gesondert geprüft werden.<br />
2. Bedarfserhöhung bei Pflegebedürftigkeit (Heimkosten)<br />
Eine Heimunterbringung wirkt sich regelmäßig bedarfserhöhend aus, denn die damit verbundenen<br />
Heim- und Pflegekosten gehören zum Lebensbedarf i.S.d. § 1610 BGB (BGH FamRZ <strong>20</strong>04, 1370).<br />
a) Heimkosten<br />
Lebt der unterhaltsbedürftige Elternteil im Pflegeheim, ist eine konkrete Bedarfsbestimmung vorzunehmen<br />
und als deren Grundlage die Notwendigkeit der Heimunterbringung darzulegen. Die Notwendigkeit der<br />
Unterbringung in einem Heim ist immer dann gegeben, wenn dem alten Menschen die Selbstversorgung in<br />
einer eigenen Wohnung nicht mehr möglich ist (OLG Oldenburg FamRZ <strong>20</strong>10, 991). Diese Notwendigkeit<br />
wird durch Zuerkennung eines entsprechenden Pflegegrads indiziert (HAUß FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>6, <strong>20</strong>7).<br />
Der Unterhaltsbedarf des Elternteils bestimmt sich in diesem Fall ganz konkret durch seine Unterbringung<br />
im Heim und deckt sich mit den dort im Einzelfall anfallenden notwendigen Kosten. Der Bedarf wird i.d.R.<br />
mit den Heimunterbringungskosten identisch sein, so dass es zunächst reicht, die Heimkosten<br />
aufzuschlüsseln und genau zu beziffern (BGH, Urt. v. 23.10.<strong>20</strong>02 – XII ZR 266/99, NJW <strong>20</strong>03, 128).<br />
Oft besteht über die Angemessenheit der Heimkosten Streit zwischen dem auf Zahlung in Anspruch<br />
genommen Kind und dem Sozialhilfeträger, der den übergeleiteten Unterhaltsanspruch durchsetzen<br />
will. Aus der sozialhilferechtlichen Anerkennung der jeweiligen Kosten folgt noch nicht zwingend<br />
auch deren unterhaltsrechtliche Notwendigkeit. Sozialrechtlich und unterhaltsrechtlich anzuerkennende<br />
Kosten können vielmehr voneinander abweichen (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW<br />
<strong>20</strong>13, 301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm. HAUß).<br />
Ein höherer an der früher besseren Lebensstellung des Elternteils orientierter Standard ist jedoch<br />
grundsätzlich nicht mehr angemessen i.S.v. § 1610 Abs. 1 BGB, die Angemessenheit richtet sich nach der<br />
konkreten (aktuellen) Lebenssituation (s. oben unter 1.). Der Unterhaltsbedarf eines im Pflegeheim<br />
untergebrachten Elternteils richtet sich nach den notwendigen Heimkosten zzgl. eines Barbetrags für<br />
die Bedürfnisse des täglichen Lebens und beschränkt sich damit beim Elternteil, der sozialhilfebedürftig<br />
geworden ist, auf das Existenzminimum und damit auf eine – dem Unterhaltsberechtigten zumutbare<br />
– einfache und kostengünstige Heimunterbringung (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW <strong>20</strong>13,<br />
301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm. HAUß; BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860).<br />
Will der Unterhaltspflichtige die tatsächlich anfallenden Kosten nicht akzeptieren, muss er seinerseits<br />
substantiiert die Notwendigkeit der Heimkosten bestreiten (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW<br />
<strong>20</strong>13, 301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3; Urt. v. 23.10.<strong>20</strong>02 – XII ZR 266/09, NJW <strong>20</strong>03, 128 = FamRZ <strong>20</strong>02, 1698).<br />
Geschieht dies, trägt der Unterhaltsberechtigte die Beweislast, beim sozialhilferechtlichen Anspruchsübergang<br />
also der Sozialhilfeträger (BGH, Urt. v. 27.11.<strong>20</strong>02 – XII ZR 295/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 444).<br />
Hinweise:<br />
Ausnahmsweise muss der Unterhaltspflichtige auch höhere Kosten der Heimunterbringung übernehmen,<br />
wenn dem Elternteil nicht zugemutet werden kann, ein preisgünstigeres Heim zu nutzen, z.B. wenn Eltern<br />
ihre Heimunterbringung zunächst noch selbst finanzieren konnten, erst später dazu nicht mehr in der<br />
Lage sind und ihnen der Umzug in ein anderes kostengünstigeres Heim nicht zugemutet werden kann.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1053
Fach 11, Seite 1460<br />
Elternunterhalt<br />
Familienrecht<br />
Der Unterhaltsbedarf eines im Pflegeheim lebenden Elternteils mit Hörbehinderung erstreckt sich auch<br />
auf den durch die Unterbringung in einer Gehörlosenwohngruppe bedingten Mehrbedarf. Der gehörlosen<br />
Hilfeempfängerin ist eine barrierefreie, aktivierende Pflege zuzugestehen, die der Gefahr ihrer Vereinsamung<br />
entgegenwirkt und insbesondere auch ihre Bedürfnisse nach Kommunikation berücksichtigt<br />
(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.6.<strong>20</strong>17 – II-1 UF 34/17, FamRZ <strong><strong>20</strong>18</strong>, 103).<br />
Wenn das unterhaltspflichtige Kind selbst die Auswahl des Heims beeinflusst hat, kann es ebenfalls<br />
nicht auf die Möglichkeit einer kostengünstigeren Unterbringung verweisen (Verbot widersprüchlichen<br />
Verhaltens; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.6.<strong>20</strong>17 – II-1 UF 34/17, FamRZ <strong><strong>20</strong>18</strong>, 103). Hat sich das<br />
unterhaltspflichtige Kind nicht an der Suche nach einem Heimplatz beteiligt, begründet allein dieser<br />
Umstand nicht die Verpflichtung, überhöhte Kosten zu tragen.<br />
b) Zusätzlicher Bedarf<br />
Dem im Heim lebenden Elternteil steht zudem ein zusätzlicher Barbetrag für die Bedürfnisse des<br />
täglichen Lebens zu (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW <strong>20</strong>13, 301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm.<br />
HAUß). Dazu gehört auch der nach § 35 SGB XII gezahlte Bar- und der nach § 133a SGB XII gewährte<br />
Zusatzbetrag, der Heimbewohnern, die einen Teil der Kosten des Pflegeheims aus eigenen Mitteln<br />
zahlen können, vom Sozialleistungsträger, der die nicht gedeckten Heimkosten übernimmt, gewährt<br />
wird (BGH FamRZ <strong>20</strong>10, 1535).<br />
3. Exkurs: Unterhaltspflicht des Ehegatten bei Pflegebedürftigkeit (Heimunterbringung)<br />
Die Frage der unterhaltsrechtlichen Haftung für einen pflegebedürftigen Angehörigen kann sich auch<br />
beim Ehegattenunterhalt stellen. Pflegebedürftig wird ein Ehegatte, dessen eigene Einkünfte nicht<br />
ausreichen, die Heimkosten zu decken. Auch hier stellen die Heimkosten den unterhaltsrechtlichen<br />
Bedarf dar (BGH, Beschl. v. 27.4.<strong>20</strong>16 – XII ZB 485/14, NJW <strong>20</strong>16, 2122 m. Anm. REINKEN = FamRZ <strong>20</strong>16, 12<strong>20</strong><br />
m. Anm. MAURER).<br />
Hinweis:<br />
Zum unterhaltsrechtlichen Bedarf eines getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten können auch die<br />
Kosten des betreuten Wohnens gehören (OLG Hamm, Beschl. v. 30.6. <strong>20</strong>17 – 6 WF 105/17, FUR <strong><strong>20</strong>18</strong>, 98;<br />
REINKEN jurisPR-FamR 25/<strong>20</strong>17 Anm. 5).<br />
Es stellt sich die Frage, ob der Ehegatte, der Rente bezieht und noch in der Ehewohnung verblieben ist,<br />
auf Zahlung von Unterhalt in Anspruch genommen werden kann (BGH, Beschl. v. 27.4.<strong>20</strong>16 – XII ZB<br />
485/14, NJW <strong>20</strong>16, 2122 m. Anm. REINKEN = FamRZ <strong>20</strong>16, 12<strong>20</strong> m. Anm. MAURER). Auch hier richtet sich –<br />
wie beim Elternunterhalt (s. oben 2. a) – der Bedarf nach den Heimkosten.<br />
Problematisch ist allerdings die Anspruchsgrundlage. Ein Anspruch auf Trennungsunterhalt nach § 1361<br />
Abs. 1 S. 1 BGB scheidet aus, da die Ehegatten trotz der getrennten Wohnung nicht im Rechtssinne<br />
getrennt leben. Denn die häusliche Gemeinschaft bezeichnet damit nur einen äußeren, freilich nicht<br />
notwendigen Teilaspekt dieser Gemeinschaft (BGHZ 149, 140). Eine eheliche Lebensgemeinschaft kann<br />
daher auch dann bestehen, wenn die Ehegatten einvernehmlich eigenständige Haushalte unterhalten.<br />
Der Anspruch auf Familienunterhalt aus § 1360 BGB richtet sich aber regelmäßig nicht auf Zahlung<br />
einer für den Empfänger frei verfügbaren Geldrente, sondern ist als Anspruch auf Teilhabe an dieser<br />
Lebensgemeinschaft ausgestaltet und gerichtet. Hieraus ergibt sich daher regelmäßig keine<br />
Leistungsfähigkeit zur Zahlung von Unterhalt (BGH, Urt. v. 12.12.<strong>20</strong>12 – XII ZR 43/11, NJW <strong>20</strong>13, 686<br />
= FamRZ <strong>20</strong>13, 363).<br />
Wird ein Ehegatte allerdings stationär pflegebedürftig, so entsteht ihm ein besonderer persönlicher<br />
Bedarf, der vor allem durch die anfallenden Heim- und Pflegekosten bestimmt wird. In diesem Fall<br />
1054 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1461<br />
Elternunterhalt<br />
richtet sich der Familienunterhaltsanspruch ausnahmsweise auf Zahlung einer Geldrente (BGH,<br />
Beschl. v. 27.4.<strong>20</strong>16 – XII ZB 485/14, NJW <strong>20</strong>16, 2122). Im Regelfall übersteigen allerdings die Pflegekosten<br />
das gesamte Familieneinkommen und würden bei unbeschränkter Unterhaltspflicht des anderen<br />
Ehegatten der übrigen Familie die Mittel entziehen, die diese für den eigenen Lebensbedarf benötigt.<br />
Würde man hier – wie sonst beim Familienunterhalt – auf eine Begrenzung durch die Leistungsfähigkeit<br />
des pflichtigen Ehegatten verzichten, blieben diesem keine Finanzmittel mehr für seinen eigenen Bedarf<br />
übrig. Der BGH stellt daher klar, dass in diesem Fall dem Unterhaltspflichtigen im Unterschied zum Fall<br />
des häuslichen Zusammenlebens auch beim Familienunterhalt der angemessene eigene Unterhalt als<br />
Selbstbehalt belassen werden muss.<br />
Hinweis:<br />
Der BGH betont hier zusätzlich den Halbteilungsgrundsatz zum Schutz des Unterhaltspflichtigen. Die<br />
Begrenzung des Anspruchs durch den Halbteilungsgrundsatz wirkt sich bei höheren Einkünften aus.<br />
Berechnungsbeispiele:<br />
Einkommen Ehegatte 3.000,00 €<br />
abzgl. angemessener Selbstbehalt – 1.<strong>20</strong>0,00 €<br />
Leistungsfähigkeit für Heimkosten 1.800,00 €<br />
Grenze Halbteilung 1.500,00 €<br />
reduzierter Anspruch 1.500,00 €<br />
Einkommen Ehegatte 4.000,00 €<br />
abzgl. angemessener Selbstbehalt – 1.<strong>20</strong>0,00 €<br />
Leistungsfähigkeit für Heimkosten 2.800,00 €<br />
Grenze Halbteilung 2.000,00 €<br />
reduzierter Anspruch 2.000,00 €<br />
Wird dem Unterhaltspflichtigen lediglich sein Selbstbehalt belassen, muss er deutlich mehr als die Hälfte<br />
seines Einkommens als Unterhalt abführen. Der Halbteilungsgrundsatz schützt ihn vor zu hoher<br />
Belastung. Er muss lediglich die Hälfte seines anrechenbaren Einkommens als Elternunterhalt zahlen.<br />
4. Bedarfserhöhung durch Abschluss einer Pflegeversicherung<br />
Auch Beiträge, die in die Pflegeversicherung gezahlt werden, gehören zum unterhaltsrechtlichen Bedarf.<br />
Dies ist die logische Konsequenz aus der BGH-Rechtsprechung, die eine Obliegenheit zum Abschluss<br />
einer Pflegeversicherung bejaht (BGH, Beschl. v. 17.6.<strong>20</strong>15 – XII ZB 458/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1594; BORTH<br />
FamRZ <strong>20</strong>15, 1599). Der zu zahlende Beitrag zur Pflegeversicherung gehört damit zum Bedarf des<br />
unterhaltsberechtigten Elternteils, den das unterhaltspflichtige Kind ebenfalls decken muss.<br />
Praxishinweis:<br />
Zu prüfen ist, ob ggf. eine Beitragspflicht zur Pflegeversicherung besteht. Dies ist nach § <strong>20</strong> Abs. 1 S. 2 Nr. 11<br />
SGB XI nur der Fall, wenn der Unterhaltsberechtigte aufgrund des Rentenbezugs auch Beiträge zur Krankenversicherung<br />
der Rentner abführt (BORTH FamRZ <strong>20</strong>15, 1600).<br />
IV. Bedürftigkeit des unterhaltsberechtigten Elternteils<br />
Nachdem im konkreten Fall festgestellt ist, was zum Unterhaltsbedarf gehört, ist anschließend zu prüfen,<br />
ob der Anspruch stellende Elternteil konkret unterhaltsbedürftig ist. Die Bedürftigkeit des Elternteils ist<br />
gegeben, wenn er seinen Bedarf nicht durch eigene Einkünfte aus Rente oder auch aus Vermögensanlagen<br />
(Zinsen, Dividenden, Mieteinkünfte usw.) decken kann. Im Ergebnis darf weder einsetzbares Vermögen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1055
Fach 11, Seite 1462<br />
Elternunterhalt<br />
Familienrecht<br />
vorhanden sein, noch dürfen Einkünfte aus Vermögen oder Erwerbstätigkeit in ausreichender Höhe zur<br />
Verfügung stehen, um den festgestellten Bedarf selbst aus eigenen Mitteln zu decken.<br />
Hinweis:<br />
Auch beim unterhaltsberechtigten Elternteil können fiktive Einkünfte in Betracht kommen, wenn die<br />
Verletzung einer unterhaltsrechtlichen Obliegenheit vorliegt.<br />
1. Anrechenbare Einkünfte des unterhaltsberechtigten Elternteils<br />
Bedarfsdeckend sind sämtliche Einkünfte, also die eigene Rente, sonstige Versorgungsbezüge,<br />
Unterhaltsansprüche gegenüber dem vorrangig unterhaltspflichtigen – auch geschiedenen – Ehegatten,<br />
Vermögenserträge, Erträge aus Verwertung des Vermögens, Wohnvorteil beim Wohnen im<br />
Eigenheim oder bei einem Wohnrecht, Sozialleistungen – soweit sie nicht subsidiär gewährt werden,<br />
Wohngeld (BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860) – soweit es nicht erhöhte<br />
Wohnkosten abdeckt, Leistungen der Pflegeversicherung, Pflegegeld nach dem Landespflegegeldgesetz<br />
(BRUDERMÜLLER NJW <strong>20</strong>04, 633, 634).<br />
a) Pflegeversicherung<br />
Bezogenes Pflegegeld ist ebenfalls unterhaltsrechtlich relevantes Einkommen des Elternteils. Die<br />
monatlichen Leistungen der Pflegeversicherung betragen zzt. gem. §§ 36, 43 SGB XI bei stationärer<br />
Pflege:<br />
• Pflegegrad 1: 125 €<br />
• Pflegegrad 2: 770 €<br />
• Pflegegrad 3: 1.262 €<br />
• Pflegegrad 4: 1.775 €<br />
• Pflegegrad 5: 2.005 €<br />
Hinweis:<br />
Die aktuelle Übersicht über die Leistungen der Pflegeversicherung bietet das Bundesgesundheitsministerium<br />
im Internet unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-pflege/<br />
leistungen-der-pflegeversicherung/leistungen-im-ueberblick.html.<br />
Der BGH hat bestätigt, dass grundsätzlich auch ein fiktiver Ansatz des Pflegegelds vom Unterhaltsbedarf<br />
des pflegebedürftigen berechtigten Elternteils abgezogen werden kann, wenn dieser es versäumt<br />
hat, sich hinreichend für den Eintritt seines Pflegefalls zu versichern (BGH, Beschl. v. 17.6.<strong>20</strong>15 – XII ZB<br />
458/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1594 m. Anm. BORTH; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 31.7.<strong>20</strong>14 – 16 UF 129/13, FamRZ <strong>20</strong>15,<br />
515; OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.10.<strong>20</strong>12 – 14 UF 82/12, FamRZ <strong>20</strong>13, 1143). Es muss aber eine<br />
tatsächliche Obliegenheitsverletzung der Berechtigten festgestellt werden, um hier ein fiktives<br />
Einkommen in Form der Leistungen der Pflegeversicherung ansetzen zu können.<br />
b) Verhältnis Grundsicherungs- zu Unterhaltsleistungen<br />
Leistungen der Grundsicherung im Alter sind ebenfalls unterhaltsrechtlich relevante Einkünfte, die den<br />
Bedarf des unterhaltsberechtigten Elternteils decken. Sie sind gegenüber dem Anspruch auf Elternunterhalt<br />
vorrangig, gelten als Einkommen und reduzieren dadurch den unterhaltsrechtlichen Bedarf,<br />
ohne dass es darauf ankommt, ob sie zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden sind (BGH, Urt. v.<br />
<strong>20</strong>.12.<strong>20</strong>06 – XII ZR 84/04, FamRZ <strong>20</strong>07, 1158 Rn 14).<br />
Daraus ergibt sich für den Unterhaltsberechtigten grundsätzlich die Obliegenheit zur Inanspruchnahme<br />
von Grundsicherungsleistungen; eine Verletzung dieser Obliegenheit kann daher zur Anrechnung<br />
fiktiver Einkünfte in der Höhe der entgangenen Grundsicherung führen (BGH, Beschl. v.<br />
8.7.<strong>20</strong>15 – XII ZB 56/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1467 m.w.N.).<br />
1056 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1463<br />
Elternunterhalt<br />
Grundsicherungsleistungen werden unabhängig von etwaigen Unterhaltsansprüchen gegen Eltern und<br />
Kinder gewährt, wenn die Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach<br />
den §§ 41 ff. SGB XII vorliegen (BGH, Urt. v. 8.7.<strong>20</strong>15 – XII ZB 56/14 a.a.O. unter Hinweis auf BSG FamRZ<br />
<strong>20</strong>09, 44 Rn 16). Eltern haben ab Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. bei dauerhaft eingetretener<br />
Erwerbsminderung Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, wenn sie ihren Unterhalt nicht aus<br />
ihren Einkünften und Vermögen bestreiten können (§§ 41 ff. SGB XII).<br />
Hinweis:<br />
Aktuelle Informationen bietet die Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unter<br />
http://www.bmas.de/DE/Themen/Soziale-Sicherung/Sozialhilfe/grundsicherung-im-alter-und-bei-erwerbsminderung.html.<br />
c) Besonderheiten bei der Anrechnung von Wohngeld<br />
Falls der bedürftige Elternteil noch in einer eigenen Wohnung lebt und Wohngeld bezieht, kann eine<br />
Anrechnung des Wohngelds in Betracht kommen. Allerdings ist der Anteil des Wohngelds, der dazu<br />
dient, erhöhte Wohnkosten auszugleichen, unterhaltsrechtlich nicht bedarfsmindernd zu berücksichtigen.<br />
Wohnkosten sind dann erhöht, wenn sie die den im notwendigen Eigenbedarfssatz der<br />
Leitlinien enthaltenen Wohnkostenanteil (von derzeit 380 €, vgl. 21.2 Leitlinien der OLG, Stand 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong>)<br />
übersteigen (BGH, Urt. v. <strong>20</strong>.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860).<br />
2. Anrechnung von Vermögen<br />
Der Unterhaltsberechtigte muss vor einer Inanspruchnahme des Verpflichteten zunächst seinen Bedarf<br />
auch mit der Verwertung seines Vermögens bestreiten. Soweit Vermögen vorhanden ist, müssen daher<br />
nicht nur die Erträge für den Unterhalt, sondern es muss der Vermögensstamm verwertet werden<br />
(BVerfG, Urt. v. 3.7.1956 – III C 130/56, NJW 1957, 154; BGH FamRZ <strong>20</strong>04, 370, 371 m. Anm. STROHAL FamRZ<br />
<strong>20</strong>04, 441).<br />
Den Eltern ist jedoch ein Schonbetrag – ein sog. Notgroschen – für eventuell auftretenden Sonderbedarf<br />
als Vermögensreserve zu belassen. Dessen Bemessung richtet sich nach den Umständen des<br />
Einzelfalls. Die untere Grenze bildet jedoch das Vermögen, das nach den Vorschriften des Sozialhilferechts<br />
als unverwertbares Vermögen gilt. Bezogen auf Barmittel liegt der Freibetrag seit <strong>20</strong>17 bei<br />
5.000 € (§ 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 der DVO).Unter besonderen Umständen – die im Streitfall<br />
darzulegen sind – kann ein höherer Betrag anerkannt werden.<br />
Beispiele:<br />
Wenn der Elternteil eine zweckgebundene Rücklage zur Abdeckung der angemessenen Kosten seiner<br />
eigenen Beerdigung gebildet hat, ist ein höherer Betrag gerechtfertigt. Verfügt der Elternteil über eine<br />
Immobilie, die Mieteinkünfte erzielt, die bedarfsdeckend herangezogen werden, ist auch eine angemessene<br />
Rücklage für Instandhaltungsmaßnahmen geschützt.<br />
Bei der notwendigen Abwägung sind aber auch immer die schutzwürdigen Interessen des unterhaltspflichtigen<br />
Kindes, nicht mit Unterhaltszahlungen belastet zu werden, mitzuberücksichtigen (BGH, Urt.<br />
v. 5.11.1997 – XI ZR <strong>20</strong>/96, FamRZ 1998, 367).<br />
3. Rückgewähransprüche aus Schenkungsrecht<br />
Auch Rückgewähransprüche aus Schenkungsrecht, die Eltern dann geltend machen müssen, wenn sie<br />
ihr Vermögen vor Eintritt der Bedürftigkeit an Dritte oder an die Kinder selbst übertragen haben,<br />
gehören zum Vermögen. Dann steht ihnen ein Rückforderungsanspruch wegen Notbedarfs gegen den<br />
Beschenkten unter den Voraussetzungen des § 528 BGB zu (vgl. BGH, Urt. v. <strong>20</strong>.5.<strong>20</strong>03 – X ZR 246/02,<br />
NJW <strong>20</strong>03, 2449; zu den möglichen Einschränkungen gem. § 529 Abs. 2 BGB s. OLG Köln, Beschl. v.<br />
2.12.<strong>20</strong>16 – 1 U 21/16, FamRZ <strong>20</strong>17, 1313).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1057
Fach 11, Seite 1464<br />
Elternunterhalt<br />
Familienrecht<br />
Praxishinweise:<br />
Bei der Revokationsfrist von zehn Jahren kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Beantragung von Sozialhilfe,<br />
sondern auf den Zeitpunkt der Bedürftigkeit an. Den Zeitpunkt durch Tricks herauszuschieben (Finanzierung<br />
aus Mitteln des Kindes) nützt nichts, weil diese als Unterhaltsleistungen die Bedürftigkeit des Schenkers<br />
(Elternteils) beseitigen würden, also diesen Zeitpunkt ebenfalls verschieben (HAUß FamRB <strong>20</strong>17, <strong>20</strong>8).<br />
Der Revokationsanspruch verjährt in drei Jahren (§ 195 BGB). Da der Sozialhilfeträger nur aus übergeleitetem<br />
Recht für den Revokationsberechtigten vorgeht, kommt es für die Berechnung der Frist auf die Kenntnis des<br />
Berechtigten, nicht des Sozialhilfeträgers an (HAUß FamRB <strong>20</strong>17, <strong>20</strong>8).<br />
4. Anrechnung von Unterhaltsforderungen gegen den eigenen Ehegatten<br />
Auch an den bedürftigen Elternteil gezahlter Barunterhalt ist Einkommen, denn er tritt an die Stelle<br />
sonstiger Erwerbseinkünfte und ist daher in gleicher Weise zu berücksichtigen. Auf den Bedarf sind auch<br />
Unterhaltsforderungen des Anspruch stellenden Elternteils gegen seinen getrennt lebenden (§ 1361<br />
BGB) oder geschiedenen Ehegatten (§§ 1569 ff. BGB) anzurechnen (zur Berechnung des Ehegattenunterhaltsanspruchs<br />
s. VIEFHUES <strong>ZAP</strong> F. 11, S. 1431 ff. und 1439 ff.).<br />
Da die Kinder nur ersatzweise nach dem Ehegatten des Anspruch stellenden Elternteils haften (§ 1608 S. 1<br />
BGB) muss der bedürftige Elternteil zunächst seinen Ehegatten auf Zahlung in Anspruch nehmen. Lässt<br />
sich der Anspruch gegen den Ehegatten jedoch nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchsetzen,<br />
können die Kinder zuvor in Anspruch genommen werden. Allerdings geht dann der Anspruch gegen den<br />
Ehegatten kraft Gesetzes auf das leistende Kind über (§ 1607 Abs. 2 S. 2 BGB in entsprechender<br />
Anwendung). Die Kinder können dann im eigenen Namen Rückgriff beim Ehegatten nehmen und gegen<br />
diesen gerichtlich Zahlung des von ihnen verauslagten Unterhalts durchsetzen.<br />
V. Anteilige Haftung aller Kinder<br />
Mehrere Kinder haften gem. § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB als Teilschuldner nach Maßgabe ihrer Erwerbs- und<br />
Vermögensverhältnisse auf Elternunterhalt (vgl. BGH FamRZ <strong>20</strong>04, 186). Wird ein Kind in Anspruch<br />
genommen, gehört daher zur schlüssigen Darlegung des Anspruchs gegen dieses Kind auch die<br />
Begründung seiner Haftungsquote. Dazu sind im Verfahren gegen ein Kind auch Angaben zu den<br />
finanziellen Verhältnissen der übrigen Geschwister zwingend erforderlich.<br />
Praxishinweis:<br />
Werden diese Angaben trotz vorheriger Aufforderung erst innerhalb des gerichtlichen Verfahrens gemacht,<br />
können die Kosten des Verfahrens nach § 243 S. 2 Nr. 2 FamFG dem unterhaltsberechtigten Antragsteller<br />
auferlegt werden.<br />
Geschwister sind deshalb auch untereinander zur Auskunft verpflichtet (BGH FamRZ <strong>20</strong>03, 1836),<br />
wobei auch ein Auskunftsanspruch hinsichtlich der Einkommensverhältnisse des jeweiligen Ehegatten<br />
besteht (s. BGH, Urt. v. 2.6.<strong>20</strong>10 – XII ZR 124/08, NJW <strong>20</strong>11, 226 und OLG Hamm, Beschl. v. 15.12.<strong>20</strong>10 –<br />
II-5 WF 157/10, FamRZ <strong>20</strong>11, 1302), da auch dessen Einkünfte über den Familienunterhalt von Bedeutung<br />
sein können.<br />
Praxishinweis:<br />
Die anteilige Haftung aller Kinder kann auch als Grund für die Einschränkung des Anspruchsübergangs<br />
auf den Sozialhilfeträger (§ 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII) von Bedeutung sein (BGH, Beschl. v. 8.7.<strong>20</strong>15 – XII<br />
ZB 56/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1467).<br />
1058 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Urheberrecht Fach 16, Seite 467<br />
Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />
Rechtsprechung<br />
Urheberrechtsverletzung: Zur Haftung des Anschlussinhabers eines<br />
öffentlich zugänglichen WLANs<br />
Der BGH bestätigt die Abschaffung der Anwendung der Grundsätze der Störerhaftung auf die<br />
Betreiber öffentlichen WLANs und hebt gleichzeitig einen evtl. vorhandenen Anspruch auf Sperrung<br />
des Zugangs zu Informationen hervor. (Leitsatz des Verfassers)<br />
BGH, Urt. v. 26.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – I ZR 64/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 586/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Bearbeiter: Rechtsanwalt GUIDO VIERKÖTTER, LL.M., Neunkirchen-Seelscheid<br />
I. Sachverhalt<br />
Die Klägerin war Inhaberin der ausschließlichen Nutzungsrechte an einem Computerspiel. Der Beklagte<br />
unterhielt einen Internetanschluss, über den in einer Internet-Tauschbörse Teile des Computerspiels<br />
zum Herunterladen angeboten wurden. Die Klägerin mahnte den Beklagten diesbezüglich ab und<br />
forderte ihn u.a. zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf. Der Beklagte wies dies<br />
zurück. Er war der Ansicht, dass er keine Rechtsverletzung begangen habe. Unter seiner IP-Adresse<br />
stelle er lediglich fünf öffentlich zugänglichen WLAN-Hotspots sowie drahtgebunden zwei eingehende<br />
Kanäle aus dem sog. TOR-Netzwerk zur Verfügung.<br />
Nachdem das Landgericht den Beklagten antragsgemäß zur Unterlassung und zur Zahlung von<br />
vorgerichtlichen Abmahnkosten verurteilt hatte, ging der Beklagte in Berufung. Das Berufungsgericht<br />
hat die Verurteilung zur Zahlung bestätigt. Im Hinblick auf den Unterlassungsanspruch hat das<br />
Berufungsgericht die Berufung des Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass diesem unter<br />
Androhung von Ordnungsmitteln aufgegeben wird, Dritte daran zu hindern, das Computerspiel oder<br />
Teile davon der Öffentlichkeit mittels seines Internetanschlusses über eine Internettauschbörse zur<br />
Verfügung zu stellen. Gegen diese Verurteilung wendete sich der Beklagte mit der Revision.<br />
II. Wesentlicher Inhalt<br />
Der BGH hob die Verurteilung des Beklagten zur Unterlassung auf. Aus prozessualen Gründen hat er<br />
das Verfahren ferner an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Klägerin sollte vor dem Hintergrund<br />
des Grundsatzes des Vertrauensschutzes sowie des Anspruchs der Parteien auf ein faires Gerichtsverfahren<br />
durch die Wiedereröffnung des Berufungsverfahrens Gelegenheit gegeben werden, eine –<br />
infolge der Änderung der Rechtslage – angepasste Antragsfassung einzureichen.<br />
Das Berufungsgericht (OLG Düsseldorf) hatte zuvor am 16.3.<strong>20</strong>17 (I-<strong>20</strong> U 17/16) über den Sachverhalt<br />
entschieden. Hiernach ist mit Wirkung zum 13.10.<strong>20</strong>17 eine Neufassung u.a. des § 8 Abs. 1 S. 2<br />
Telemediengesetz (TMG) in Kraft getreten.<br />
Nach § 8 Abs. 1 S. 1 TMG, der die Haftung von Zugangsprovidern (Access-Providern) regelt, sind<br />
Diensteanbieter für fremde Informationen, die sie in einem Kommunikationswerk übermitteln oder zu<br />
denen sie den Zugang zur Nutzung vermitteln, nicht verantwortlich, sofern sie die Übermittlung nicht<br />
veranlasst, den Adressaten der übermittelten Informationen nicht ausgewählt und die übermittelten<br />
Informationen nicht ausgewertet oder verändert haben. Fehlt eine Verantwortlichkeit des Dienste-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1059
Fach 16, Seite 468<br />
Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />
Urheberrecht<br />
anbieters nach dieser Norm, kann er nach der Neufassung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG insbesondere nicht<br />
wegen einer rechtswidrigen Handlung eines Nutzers auf u.a. Unterlassung einer Rechtsverletzung in<br />
Anspruch genommen werden. Diese Gesetzesfassung gab es weder zum Zeitpunkt der beanstandeten<br />
Handlung, noch zum Zeitpunkt der Abmahnung, noch zu dem des Berufungsurteils.<br />
Da die Klägerin ihren Unterlassungsanspruch jedoch auf eine Wiederholungsgefahr gestützt hatte, war<br />
die Klage nur begründet, wenn das beanstandete Verhalten des Beklagten sowohl zum Zeitpunkt der<br />
Vornahme als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Revisionsinstanz rechtswidrig ist.<br />
Hinweis:<br />
Der BGH konnte daher die nach Verkündung des Berufungsurteils (16.3.<strong>20</strong>17) eingetretene Neufassung des<br />
§ 8 Abs. 1 S. 2 TMG (13.10.<strong>20</strong>17) bei seiner Entscheidung nicht unberücksichtigt lassen.<br />
Der BGH stellte eingangs fest, dass sowohl im Zeitpunkt der Abmahnung als auch im Zeitpunkt der<br />
beanstandeten Handlung die Voraussetzungen der Störerhaftung des Beklagten vorgelegen hätten. Infolge<br />
der Änderung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG habe sich die Rechtslage jedoch dahingehend geändert, dass der von<br />
der Klägerin geltend gemachte Unterlassungsanspruch seit dem 13.10.<strong>20</strong>17 dem Ausschlusstatbestand des<br />
§ 8 Abs. 1 S. 2 TMG unterfalle. Hierbei sei unbeachtlich, ob der Anspruch auf die Begehung der Rechtsverletzung<br />
über das bereitgestellte WLAN oder über das Unterhalten von sog. Tor-Netzwerken gestützt<br />
werde.<br />
Die Bedenken der Klägerin, dass die Anwendung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG gegen Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie<br />
<strong>20</strong>01/29/EG (sog. Urheberrechtsrichtlinie) und Art. 11 S. 3 der Richtlinie <strong>20</strong>04/48/EG (sog. Rechtsdurchsetzungsrichtlinie)<br />
verstoße, teilte der Senat nicht. Die Klägerin hatte insofern die Ansicht<br />
vertreten, dass § 8 Abs. 1 S. 2 TMG vor dem Hintergrund dieser europarechtlichen Vorgaben nicht<br />
angewendet werden dürfe; dies hätte die Fortgeltung der Grundsätze der Störerhaftung bedeutet. Nach<br />
Art. 8 Abs. 3 der Urheberrechtsrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Rechtsinhaber<br />
gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur<br />
Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden (ebenso Art. 11 S. 3 der<br />
Rechtsdurchsetzungsrichtlinie im Hinblick auf die Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums).<br />
Der Senat führte aus, dass bei Anwendung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG die – ebenfalls mit Wirkung zum 13.10.<strong>20</strong>17<br />
eingefügte – Regelung des § 7 Abs. 4 TMG dem Rechtsinhaber ausreichende Schutzmöglichkeiten biete.<br />
Diese Norm sieht einen Anspruch auf Sperrung der Nutzung von Informationen vor. Hiernach kann der<br />
Inhaber eines Rechts von dem betroffenen Diensteanbieter i.S.d. § 8 Abs. 3 TMG die Sperrung der Nutzung<br />
von Informationen verlangen, um die Wiederholung der Rechtsverletzung zu verhindern, sofern (1) ein<br />
Telemediendienst von einem Nutzer in Anspruch genommen wurde, um das Recht am geistigen Eigentum<br />
eines anderen zu verletzen, und (2) für den Inhaber dieses Rechts keine andere Möglichkeit besteht, der<br />
Verletzung seines Rechts abzuhelfen. Der BGH verwies mit Blick auf die Gesetzesmaterialien darauf, dass die<br />
Regelung des § 7 Abs. 4 TMG geschaffen worden sei, um die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 8<br />
Abs. 3 der Urheberrechtsrichtlinie und Art. 11 S. 3 der Rechtsdurchsetzungsrichtlinie umzusetzen.<br />
Der aus § 7 Abs. 4 TMG resultierende Anspruch auf Sperrung ist nach Ansicht des Senats kein<br />
Unterlassungsanspruch, sondern ein Anspruch auf aktives Tun, der auf die Sperre bestimmter Ports am<br />
Router oder einer bestimmten Website oder auf Datenmengenbegrenzung gerichtet sein könne.<br />
Diensteanbieter i.S.d. § 8 Abs. 3 TMG sind im Übrigen solche, die Nutzern einen Internetzugang über ein<br />
drahtloses lokales Netzwerk zur Verfügung stellen (also Betreiber eines öffentlich zugänglichen WLANs).<br />
Vor dem Hintergrund, dass der aus § 7 Abs. 4 S. 1 TMG resultierende Anspruch auf Sperrung gegen Diensteanbieter<br />
i.S.d. § 8 Abs. 3 TMG (wie vorstehend erläutert) gerichtet sei, führte der BGH auf entsprechende<br />
Bedenken der Klägerin aus, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des § 7 Abs. 4 S. 1 TMG geboten sei.<br />
Hiernach müsse diese Regelung nicht nur gegenüber Anbietern von Internetzugängen über WLAN, sondern<br />
in entsprechender Anwendung auch gegenüber übrigen Internetzugangsvermittlern zur Anwendung<br />
gelangen. Die für eine analoge Anwendung erforderliche planwidrige Regelungslücke sei gegeben.<br />
1060 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Urheberrecht Fach 16, Seite 469<br />
Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />
Der BGH verwies ferner darauf, dass der Anspruch auf Sperrung nach § 7 Abs. 4 S. 1 TMG nicht auf<br />
bestimmte Sperrmaßnahmen beschränkt sei, insbesondere nicht auf die in der Begründung des<br />
Regierungsentwurfs ausdrücklich genannten Sperrmaßnahmen. Unter Berücksichtigung der Vorgaben<br />
des EuGH (vgl. Urt. v. 15.9.<strong>20</strong>16 – C-484/14 – McFadden/Sony Music) handele es sich auch bei der<br />
Verschlüsselung des Zugangs mit einem Passwort oder – im äußersten Fall – der vollständigen Sperrung<br />
des Zugangs um Maßnahmen i.S.d. § 7 Abs. 4 S. 1 TMG.<br />
Hinweis:<br />
Infolge der Zurückverweisung an die Berufungsinstanz muss nunmehr die Klägerin die begehrten<br />
Sperrmaßnahmen im – auf positive Leistungen gerichteten – Klageantrag benennen.<br />
III. Anmerkung<br />
Die mit Wirkung zum 13.10.<strong>20</strong>17 neu eingefügten Regelungen des § 7 Abs. 4 TMG sowie des § 8 Abs. 1 S. 2<br />
TMG haben ihre Grundlage im Gesetzentwurf der Bundesregierung betreffend den „Entwurf eines<br />
Dritten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes“ vom 28.4.<strong>20</strong>17 (BT-Drucks 18/12<strong>20</strong>2). Dieser<br />
zielte u.a. darauf ab, den Betreibern öffentlich zugänglichen WLANs so weit wie möglich Rechtssicherheit<br />
zu verschaffen, um dem gestiegenen Bedürfnis nach einem öffentlichen Zugang zum Internet<br />
auch unter Nutzung von WLAN zu entsprechen (BT-Drucks, a.a.O., S. 1). Die neu eingefügten Regelungen<br />
betreffen die Betreiber öffentlich zugänglichen WLANs, z.B. Kommunen, Einzelhändler, die<br />
Betreiber von Bahnhöfen, Flughäfen, Verkehrsgesellschaften, Hotels, Krankenhäusern, und sollten nicht<br />
an die „als unübersichtlich und unvorhersehbar empfundene Rechtsprechung zur Störerhaftung“ (BT-<br />
Drucks, a.a.O., S. 10) anknüpfen, sondern vielmehr Rechtsklarheit und Rechtssicherheit herbeiführen.<br />
Diese gesetzgeberischen Vorgaben setzt der BGH mit seiner vorstehend dargestellten Entscheidung<br />
teilweise um, insbesondere indem er der Anwendung der Grundsätze der Störerhaftung auf die<br />
Betreiber öffentlich zugänglichen WLANs eine Absage erteilt, andererseits betont er aber anstelle dieser<br />
Störerhaftung einen neuen Anspruch, nämlich den aus § 7 Abs. 4 S. 1 TMG resultierenden Anspruch auf<br />
Sperrung von Informationen. Dieser Anspruch solle eine europarechtskonforme Anwendung der neuen<br />
Regelung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG sicherstellen. Diesen Anspruch auf Sperrung erweitert der BGH in<br />
analoger Anwendung des § 7 Abs. 4 S. 1 TMG sogar auf Zugangsvermittler, die nicht öffentliche WLAN-<br />
Betreiber sind.<br />
Der urheberrechtliche Unterlassungsanspruch auf Grundlage der Störerhaftung mag damit zwar<br />
„überholt“ sein, gleichzeitig wird jedoch ein neuer Anspruch erschaffen. Die Rechtslage mag damit für<br />
öffentliche WLAN-Betreiber und andere Zugangsvermittler nicht unbedingt einfacher, sondern lediglich<br />
„anders“ werden.<br />
Bei dieser „Andersartigkeit“ sind vor allem die Voraussetzungen des Anspruchs auf Sperrung nach § 7<br />
Abs. 4 S. 1 und S. 2 TMG zu berücksichtigen, nämlich:<br />
• Inanspruchnahme eines Telemediendienstes durch einen Nutzer zwecks Verletzung eines Rechts am<br />
geistigen Eigentum eines Anderen,<br />
• Sperrung der Nutzung von Informationen als einzige Möglichkeit („keine andere Möglichkeit“) des<br />
Rechtsinhabers, um der Verletzung seines Rechts abzuhelfen,<br />
• Zumutbarkeit der Sperrung sowie<br />
• Verhältnismäßigkeit der Sperrung.<br />
Von diesen Voraussetzungen dürfte das erstgenannte Merkmal (Inanspruchnahme eines Telemediendienstes<br />
durch einen Nutzer) in rechtlicher Hinsicht wohl noch einfach zu beurteilen sein.<br />
Die weitere Anforderung betreffend die Sperrung als einzige Möglichkeit zur Verhinderung weiterer<br />
Rechtsverletzungen stellt ein Subsidiaritätsmerkmal dar, so dass im Einzelfall beurteilt werden muss, ob<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1061
Fach 16, Seite 470<br />
Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />
Urheberrecht<br />
es nicht mildere Mittel als das der Sperrung gibt. Die Sperrung wird als „ultima ratio“ angesehen. Im<br />
Gesetzentwurf (BT-Drucks, a.a.O., S. 12) wird als milderes Mittel der Versuch des Vorgehens gegen den<br />
eigentlichen Rechtsverletzer oder den Hostanbieter genannt. Der Rechteinhaber müsse vorrangig<br />
zumutbare Anstrengungen unternommen haben, gegen diejenigen Beteiligten vorzugehen, die die<br />
Rechtsverletzung selbst begangen oder zur Rechtsverletzung durch die Erbringung von Dienstleistungen<br />
beigetragen haben. Nur dann, wenn die Inanspruchnahme dieser Beteiligten scheitere oder<br />
ihr jede Erfolgsaussicht fehle und daher eine Rechtsschutzlücke entstehen könne, sei die Inanspruchnahme<br />
des Zugangsvermittlers zumutbar. Diese Subsidiaritätsprüfung kann damit im Einzelfall<br />
schwierige Fragen tatsächlicher und/oder rechtlicher Art aufwerfen.<br />
Auch die weiteren Merkmale wie die Zumutbarkeit (der Sperrung) und die Verhältnismäßigkeit (der<br />
Sperrung) stellen bekanntlich Anforderungen dar, die der Auslegung und Anwendung durch die<br />
Rechtsprechung im Einzelfall bedürfen. Pauschale Aussagen, unter welchen Umständen eine Sperrung<br />
zumutbar sowie verhältnismäßig sein dürfte, sind nicht möglich. Die Gesetzesbegründung fordert die<br />
technische Möglichkeit der Sperrung und begrenzt die Frage der Zumutbarkeit auf die wirtschaftliche<br />
Zumutbarkeit (BT-Drucks, a.a.O., S. 12). Ferner sei stets eine Interessenabwägung im Einzelfall<br />
erforderlich, bei der z.B. ein Gericht die grundrechtlich geschützten Interessen aller Betroffenen sowie<br />
das Telekommunikationsgeheimnis angemessen berücksichtigen müsse.<br />
Sollte sich hiernach im Einzelfall herausstellen, dass eine Sperrung als „ultima ratio“ erforderlich sei, muss<br />
ferner entschieden werden, welche Sperrmaßnahmen im Einzelfall geeignet sind. Der BGH hat<br />
diesbezüglich ausgeführt, dass die im Gesetzentwurf ausdrücklich genannten Sperrmaßnahmen nicht<br />
abschließend seien, sondern dass als solche auch eine Verschlüsselung des Zugangs mit einem Passwort<br />
und die vollständige Sperrung des Zuganges denkbar seien. Der Gesetzgeber betont hingegen, dass eine<br />
Sperrmaßnahme nicht zum „Overblocking“ führen und „über ihr Ziel hinausschießen“ dürfe (BT-Drucks,<br />
a.a.O., S. 12). Trotzdem wurde nun höchstrichterlich ausgeführt, dass die Gesetzgebungsmaterialien<br />
nicht abschließend sind, sondern dass vielmehr die Gerichte im Einzelfall – darüber hinausgehend –<br />
weitere geeignete Sperrmaßnahmen definieren können.<br />
Man mag damit darüber streiten können, ob die – durch die TMG-Neuregelungen – von dem Gesetzgeber<br />
beabsichtigte Rechtssicherheit und Rechtsklarheit tatsächlich eingetreten sind oder ob die im<br />
Einzelfall zu klärenden Rechtsfragen nicht lediglich „verschoben“ worden sind, und zwar weg von den<br />
Grundsätzen der Störerhaftung bei den Betreibern öffentlichen WLANs hin zu den im Einzelfall durchaus<br />
komplexen Fragestellungen des Anspruchs auf Sperrung von Zugang zu Informationen. Dass der BGH in<br />
seiner ersten Entscheidung zu den neuen Regelungen die Regelung des § 7 Abs. 4 S. 1 TMG sogleich auf<br />
Zugangsvermittler, die keine Betreiber öffentlichen WLANs sind, analog angewendet hat, macht die<br />
Gesamtsituation ferner nicht übersichtlicher.<br />
Für Anspruchsteller wird sich damit in Zukunft die Situation insbesondere dahingehend ändern, dass sie<br />
im – neuen – Antrag i.S.d. § 7 Abs. 4 S. 1 TMG die begehrten Sperrmaßnahmen ausdrücklich benennen<br />
müssen (Anspruch auf ein aktives Tun). Auch die Antragsgegner werden darauf hoffen müssen, dass die<br />
Rechtsprechung die Vorgaben der neuen Regelungen präzisiert, um dadurch (weitere) Rechtsklarheit<br />
zu schaffen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der BGH aufgrund der neuen Gesetzeslage das Verfahren<br />
zum Berufungsgericht zurückverwiesen hat, damit die Klägerin im wiedereröffneten Berufungsverfahren<br />
ihre Klageanträge zum Anspruch auf Sperrung anpassen kann. Gegebenenfalls haben damit<br />
das OLG Düsseldorf und vielleicht erneut der BGH die Möglichkeit, in diesem Verfahren für Präzisierung<br />
zu sorgen.<br />
1062 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1605<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Sozialrecht<br />
– 1. Halbjahr <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht DR. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />
Inhalt<br />
I. Existenzsicherungsrecht<br />
1. Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung<br />
2. Keine Abweichung vom Kopfteilprinzip bei<br />
Leistungsversagung wegen fehlender<br />
Mitwirkung nach § 66 SGB I<br />
3. Höhe des Arbeitslosengelds II nach Umzug<br />
von einem Unter-25-Jährigen<br />
4. Angemessenheit der Aufwendungen für<br />
Unterkunft und Heizung<br />
II. Arbeitsförderungsrecht<br />
1. Sperrzeit: Mehrfache Arbeitsablehnung in<br />
engem zeitlichen Abstand<br />
2. Berufliche Weiterbildung: Arbeitslosengeld/Verfügbarkeit<br />
3. Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs bei<br />
Entlassungsentschädigung<br />
4. Rückzahlung von SGB II-Leistungen:<br />
Verzugsschaden?<br />
III. Unfallversicherungsrecht<br />
1. Projektarbeit von Schülern im privaten<br />
Bereich<br />
2. Prüfung der Fahrbahn auf Glätte vor<br />
Fahrtantritt<br />
IV. Schwerbehindertenrecht<br />
1. GdB: Feststellung/Rechtsschutzbedürfnis<br />
2. Blindheit bei cerebralen Schäden ohne<br />
spezifische Störung des Sehvermögens<br />
V. Status- und Beitragsrecht<br />
VI. Verfahrensrecht<br />
1. Wiedereinsetzung bei Versäumen der<br />
Klagefrist wegen Störung des Telefaxeingangs<br />
bei Gericht<br />
2. Wiedereinsetzung bei Verletzung gerichtlicher<br />
Hinweispflichten<br />
3. Einverständnis zur Entscheidung ohne<br />
mündliche Verhandlung und Verlegungsantrag<br />
I. Existenzsicherungsrecht<br />
1. Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung<br />
Der alleinstehende Kläger bewohnt eine Zweizimmerwohnung, die mit Kohle beheizt wird. Die<br />
Warmwassererzeugung erfolgt mittels eines elektrischen Durchlauferhitzers, dessen Verbrauch nicht<br />
gesondert erfasst wird. Das beklagte Jobcenter bewilligte dem Kläger für den streitbefangenen Zeitraum<br />
Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung u.a. des Regelbedarfs und des pauschalierten Mehrbedarfs für<br />
dezentrale Warmwassererzeugung, nicht aber eines abweichenden Bedarfs nach der 1. Alternative des<br />
§ 21 Abs. 7 S. 2 Hs. 2 SGB II. Die Klage blieb in den ersten beiden Rechtszügen ohne Erfolg. Das LSG vertrat<br />
die Auffassung, ein abweichender Bedarf sei nur anzuerkennen, wenn eine technische Einrichtung die<br />
konkrete Ermittlung erlaube, was hier nicht möglich sei. Mit seiner vom BSG zugelassenen Revision rügt<br />
der Kläger eine Verletzung von § 21 Abs. 7 S. 2 Hs. 2 SGB II. Zu Unrecht habe das LSG das Bestehen eines<br />
abweichenden Bedarfs von dem Vorhandensein einer technischen Einrichtung abhängig gemacht. Das<br />
begründe eine unberechtigte Übertragung der Beweisführungslast auf ihn und eine Ungleichbehandlung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1063
Fach 18, Seite 1606<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
gegenüber Personen mit zentraler Warmwassererzeugung. Die Revision hatte im Rahmen der Aufhebung<br />
des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits Erfolg (BSG, Urt. v. 7.12.<strong>20</strong>17 – B 14 AS 6/17 R,<br />
SGb <strong><strong>20</strong>18</strong>, 564 m. Anm. STRAßFELD).<br />
Hinweis:<br />
Mit der zum 1.1.<strong>20</strong>11 eingetretenen Gesetzesänderung hat der Gesetzgeber den Bedarf für die Warmwassererzeugung<br />
vollständig aus dem Regelbedarf herausgelöst. Letzterer umfasst nunmehr die Haushaltsenergie<br />
ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile, § <strong>20</strong> Abs. 1 S. 1<br />
SGB II. Es sind deshalb von den Hilfebedürftigen weder bei zentraler noch bei dezentraler Versorgung<br />
Anteile des Regelbedarfs für die Warmwassererzeugung einzusetzen. Bei Bezug über eine zentrale Heizungsanlage<br />
sind die Aufwendungen als Teil des Bedarfs für Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II nunmehr<br />
– anders als nach früherer Rechtslage – im Rahmen der Angemessenheit ohne Kürzung um einen<br />
Regelbedarfsanteil in tatsächlicher Höhe anzuerkennen.<br />
Bei dezentraler Warmwassererzeugung ist nach § 21 Abs. 7 S. 1 SGB II ein Mehrbedarf für jede im<br />
Haushalt lebende leistungsberechtigte Person anzuerkennen. Dessen Betrag richtet sich gem. § 21 Abs. 7<br />
S. 2 SGB II nach der Höhe des Regelbedarfs und beträgt nach § 21 Abs. 7 S. 2 Nr. 1 SGB II u.a. für<br />
Alleinstehende 2,3 % des für sie geltenden Regelbedarfs nach § <strong>20</strong> Abs. 2 S. 1 SGB II, soweit nicht im<br />
Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht oder ein Teil des angemessenen Warmwasserbedarfs nach<br />
§ 22 Abs. 1 SGB II anerkannt wird (sog. gemischte Wasserversorgung).<br />
Anspruch auf Berücksichtigung eines Mehrbedarfs über die Warmwasserpauschale hinaus besteht<br />
hiernach, soweit die Aufwendungen für die Warmwassererzeugung durch die Warmwasserpauschale<br />
nicht vollständig gedeckt werden und sie nicht unangemessen sind. Maßgebend dafür, ob ein<br />
abweichender Bedarf besteht, sind die für die dezentrale Warmwassererzeugung tatsächlich anfallenden<br />
Aufwendungen. Keine Bedeutung haben hingegen besondere Lebensumstände, wie krankheitsbedingt<br />
höherer Hygienebedarf, oder etwa das Alter der Anlage.<br />
Die Anerkennung eines abweichenden Mehrbedarfs setzt – entgegen der Auffassung des LSG – keine<br />
separate Verbrauchserfassung durch technische Einrichtungen wie z.B. einen Verbrauchszähler voraus.<br />
Den Feststellungen des LSG war zudem nicht zu entnehmen, dass eine einzelfallbezogene Ermittlung hier<br />
trotzdem entbehrlich war, weil die Warmwasserpauschale zur Deckung der Aufwendungen für die<br />
dezentrale Warmwassererzeugung im Allgemeinen ausreichend bemessen ist. Entsprechende empirische<br />
Erhebungen hat das LSG nicht festgestellt. Ungeachtet der fehlenden statistischen Erhebungen im<br />
Allgemeinen kann auch im Fall des Klägers nicht ausreichend sicher von einer ausreichenden Bemessung<br />
der Warmwasserpauschale ausgegangen werden. Zwar war der Energieverbrauch des Klägers im<br />
streitbefangenen Zeitraum nach Einschätzung des LSG für einen Haushalt mit dezentraler Warmwassererzeugung<br />
als durchschnittlich anzusehen, die Ausgaben für Haushaltsstrom mit den darauf entfallenden<br />
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts waren jedoch nicht vollständig zu bestreiten.<br />
2. Keine Abweichung vom Kopfteilprinzip bei Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung<br />
nach § 66 SGB I<br />
Leben mehrere Leistungsberechtigte gemeinsam in einer Wohnung, so entfallen nach ständiger BSG-<br />
Rechtsprechung (seit Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>06 – B 11b AS 1/06 R, ebenso bereits die frühere Rechtsprechung des<br />
BVerwG zur Sozialhilfe) die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung grundsätzlich zu gleichen Anteilen<br />
auf jede Person – unabhängig von Alter, konkretem Wohnflächenbedarf oder Nutzungsintensität (sog.<br />
Kopfteilprinzip). Allerdings handelt es sich insoweit nicht um eine normative Anspruchsbegrenzung,<br />
sondern lediglich um eine aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität getroffene generalisierende und<br />
typisierende Annahme. So hat das BSG in der Vergangenheit mehrfach Abweichungen vom Kopfteilprinzip<br />
zugelassen, wenn bedarfsbezogene Gründe eine Ausweitung der Leistungsansprüche von einzelnen<br />
Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zur Sicherung ihres Grundbedürfnisses „Wohnen“ erforderten (s. etwa<br />
PATTAR/SARTORIUS <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1330 m.w.N.; BSG v. 22.8.<strong>20</strong>13 – B 14 AS 85/12, hierzu BERLIT juris PR-SozR 7/<strong>20</strong>14<br />
Anm. 1; BSG v. 2.12.<strong>20</strong>14 – B 14 AS 50/13 R).<br />
1064 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1607<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
In dem nunmehr vom BSG entschiedenen Fall (Urt. v. 14.2.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 14 AS 17/17 R; REICHEL juris PR-SozR<br />
13/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 2) lebten die miteinander verheirateten Kläger gemeinsam mit ihrem unverheirateten<br />
21-jährigen Sohn in einer nur von ihnen gemieteten Wohnung. Sie bezogen zunächst alle drei als<br />
Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Nachdem der<br />
Sohn ein Gewerbe angemeldet hatte, war er vom beklagten Jobcenter vergeblich zur Abgabe einer<br />
Erklärung zum Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit aufgefordert worden. Wegen fehlender<br />
Mitwirkung des Sohnes berücksichtigte der Beklagte gem. § 66 Abs. 1 SGB I bei den Leistungen für<br />
Unterkunft und Heizung nur den jeweiligen Kopfteil der beiden Kläger an den Aufwendungen für<br />
Unterkunft und Heizung, nicht den „fehlenden“ Kopfteil ihres Sohnes. Die auf Übernahme der<br />
tatsächlichen Unterkunftsaufwendungen gerichtete Klage hatte in der Berufungsinstanz Erfolg. Das<br />
LSG verwies zur Begründung seines Urteils auf die Entscheidung des BSG (Urt. v. 23.5.<strong>20</strong>13 – B 4 AS 67/12<br />
R), die zur Vermeidung einer Bedarfsunterdeckung im Rahmen von Sanktionen gegen ein Mitglied der<br />
Bedarfsgemeinschaft eine Abweichung vom Kopfteilprinzip für erforderlich gehalten hatte und meinte,<br />
entsprechend sei auch hier eine Abweichung notwendig. Dem folgte das BSG nicht. Die vom Beklagten<br />
eingelegte, vom LSG zugelassene Revision führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückweisung<br />
der Berufung der Kläger gegen das klageabweisende Urteil des SG.<br />
Das BSG verweist zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach eine Abweichung vom<br />
Kopfteilprinzip und die aus ihr folgende Erhöhung der Einzelansprüche auf Leistungen für Unterkunft und<br />
Heizung voraussetzt, dass dies aus bedarfsbezogenen Gründen geboten ist. Verfügt das weitere<br />
Bedarfsgemeinschaftsmitglied, für das Leistungen für Unterkunftsaufwendungen nicht erbracht werden,<br />
über Einkommen oder Vermögen, aus dem es seinen Kopfteil ganz oder teilweise bestreiten kann, ist<br />
insoweit eine Abweichung von dem Prinzip nicht geboten, denn es ist nicht Aufgabe der Grundsicherung<br />
für Arbeitssuchende, wirtschaftlich leistungsfähigen Dritten ein kostenfreies Wohnen zu ermöglichen.<br />
Anders etwa, als wenn infolge von durch das Jobcenter verfügten Sanktionen nach § 31 ff. SGB II ein<br />
Anspruch auf Leistungen für Unterkunftsaufwendungen wegfällt, ist im vorliegenden Fall die Hilfebedürftigkeit<br />
des dritten Haushaltsmitglieds, bei deren Vorliegen dessen Kopfteil als Bedarf anerkannt und<br />
übernommen würde, ungeklärt. Dies lässt den Bedarf der anderen Mitglieder unberührt. Der Hintergrund<br />
für die nach der BSG-Rechtsprechung vom Kopfteil als Maßstab für die Aufteilung der Unterkunftsaufwendungen<br />
bestehenden Ausnahmen ist die Sicherung des Grundbedürfnisses Wohnen, die in<br />
diesen Fällen nur über Ansprüche der jeweiligen leistungsberechtigten Person sichergestellt werden kann.<br />
Hier jedoch lebte in den streitigen Monaten der Sohn der Kläger weiterhin mit diesen in einem Haushalt<br />
und nutzte gemeinsam mit ihnen die Wohnung, die seinen aktuellen Unterkunftsbedarf deckte, und bei<br />
nachgewiesener Hilfebedürftigkeit in diesen Monaten konnte sein aktueller anteiliger Unterkunftsbedarf<br />
durch Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II sichergestellt werden. Die nachträgliche<br />
Erbringung der vollständigen Aufwendungen durch das Jobcenter war zudem trotz Versagung nach § 66<br />
Abs. 1 SGB I noch durch Nachholung der Mitwirkung nach § 67 SGB I erreichbar.<br />
Hinweis:<br />
§ 67 SGB I sieht vor, dass Leistungsträger Sozialleistungen, die sie nach § 66 SGB I versagt haben, nachträglich<br />
ganz oder teilweise erbringen können, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird und die Leistungsvoraussetzungen<br />
vorliegen. Die Entscheidung ist von Amts wegen zu treffen, hierbei besteht aber hinsichtlich des<br />
„Ob“ und „Wie“ Ermessen. Abzustellen ist insoweit u.a. auf § 2 Abs. 2 SGB I, wonach sicherzustellen ist, dass<br />
die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Regelmäßig wird man bei Geldleistungen<br />
eine vollständige Nachzahlung als erforderlich ansehen müssen, was insbesondere für existenzsichernde<br />
Leistungen nach dem SGB II zutreffen dürfte.<br />
3. Höhe des Arbeitslosengelds II nach Umzug von einem Unter-25-Jährigen<br />
Der unter-25-jährige Kläger bezog zunächst mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Leistungen zur<br />
Sicherung des Lebensunterhalts. Wegen Teilnahme an einer Maßnahme sollte er in ein Internat ziehen.<br />
Später zog er zu seiner Freundin, die in der Wohnung der Eheleute K wohnte und ebenso wie die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1065
Fach 18, Seite 1608<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
Eheleute Arbeitslosengeld II vom beklagten Jobcenter erhielt. Auf Antrag des Klägers bewilligte der<br />
Beklagte Leistungen nur i.H.v. 306 € monatlich als Regelbedarf für erwerbsfähige, volljährige Angehörige<br />
einer Bedarfsgemeinschaft (Regelbedarfsstufe 3, § <strong>20</strong> Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB II) und keine Leistungen für<br />
Unterkunft und Heizung, weil er als Unter-25-Jähriger ohne Zusicherung des Leistungsträgers nach<br />
§ 22 Abs. 5 SGB II umgezogen sei. Der Kläger war vor dem SG und dem LSG erfolglos, mit seiner vom<br />
BSG zugelassenen Revision beanstandete er, bei der verfassungsrechtlich gebotenen restriktiven<br />
Anwendung des § 22 Abs. 5 SGB II sei eine Zusicherung nicht erforderlich, wenn vor dem Umzug kein<br />
Vertrag über die Unterkunft abgeschlossen worden sei und nur in einen Haushalt eingezogen werde,<br />
dessen Unterkunftsaufwendungen das Jocenter zuvor auch schon getragen habe. Die Revision war im<br />
Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich (BSG, Urt. v. 25.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 14 AS 21/17 R).<br />
Grundsätzlich haben alleinstehende Personen, wie der Kläger (mit seiner Freundin bzw. den Eheleuten<br />
K bestand keine Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 SGB II), Anspruch auf einen Regelbedarf (§ <strong>20</strong> Abs. 1<br />
SGB II) nach Regelbedarfsstufe 1 (§ <strong>20</strong> Abs. 2 S. 1 SGB II). Abweichend hiervon besteht als sonstiger<br />
erwerbsfähiger, volljähriger Angehöriger einer Bedarfsgemeinschaft nur ein Anspruch nach Regelbedarfsstufe<br />
3 (§ <strong>20</strong> Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB II) für Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet<br />
haben und ohne Zusicherung des zuständigen Trägers nach § 22 Abs. 5 SGB II umziehen. Bedarfe für<br />
Unterkunft und Heizung werden, soweit sie angemessen sind, bei leistungsberechtigten Personen<br />
grundsätzlich in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt (§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB II). Leben<br />
mehrere Personen in einer Wohnung, erfolgt ohne Rücksicht auf die mietvertraglichen Verpflichtungen<br />
eine Aufteilung der Aufwendungen nach Kopfteilen (s. oben 2.). Bei Personen, die das 25. Lebensjahr<br />
noch nicht vollendet haben und umziehen, werden diese Bedarfe nach § 22 Abs. 5 SGB II aber nur<br />
anerkannt, wenn der Leistungsträger dies vor Abschluss des Vertrags über die Unterkunft zugesichert<br />
hat. Den Feststellungen des LSG war nicht klar zu entnehmen, ob der Kläger vorliegend überhaupt einen<br />
Vertrag über die Unterkunft – den § 22 Abs. 5 SGB II ausdrücklich vorsieht – eingegangen ist. Nur wenn<br />
dies der Fall ist, gibt es einen Ansatz für das Erfordernis der Zusicherung und damit für das Eingreifen der<br />
leistungsbegrenzenden Ausnahmeregelungen für den Kläger als Unter-25-Jährigen nach einem Umzug.<br />
4. Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung<br />
Die Entscheidung des BSG (Urt. v. 25.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 14 AS 14/17 R) betraf die Höhe der Leistungen für<br />
Unterkunft und Heizung gem. § 22 Abs. 1 SGB II im Kalenderjahr <strong>20</strong>12. Die Klägerin und ihre 1996<br />
geborene Tochter – die ihren Bedarf mit eigenem Einkommen decken kann, also mit der Klägerin nach<br />
§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II keine Bedarfsgemeinschaft bildet – lebten in einer Dreizimmerwohnung, für die<br />
eine Bruttokaltmiete von 430 € sowie Heizkosten von 75 € (insgesamt 505 €) monatlich zu zahlen<br />
waren. Der Klägerin wurde für die Unterkunft 193,60 €, zzgl. Heizung insgesamt 231,10 €, bewilligt.<br />
Hierbei leitete das Jobcenter den Betrag aus dem Tabellenwert für einen Zweipersonenhaushalt im<br />
Wohnort der Klägerin nach dem Wohngeldgesetz zzgl. 10 % ab und teilte diesen durch 2. Die vertraglich<br />
vereinbarte Kaltmiete für einen Zweipersonenhaushalt – auf diesen wurde abgestellt, obwohl die<br />
Klägerin und ihre Tochter keine Bedarfsgemeinschaft bildeten – von 430 € hielt das Jobcenter für<br />
unangemessen. Die Klage auf Zahlung der Differenz zwischen den übernommenen Kosten für<br />
Unterkunft und Heizung und den insoweit bestehenden tatsächlichen Aufwendungen (½ von 505 €:<br />
monatlich 252,50 €) war in den Tatsacheninstanzen erfolglos. Auf die vom LSG zugelassene Revision hin<br />
hob das BSG die Urteile der Vorinstanzen auf und verurteilte zur Zahlung.<br />
Nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II sind als Leistungen für die Unterkunft und Heizung die entsprechenden<br />
tatsächlichen Aufwendungen zu erbringen, soweit diese angemessen sind. Bei mehreren Personen, die<br />
eine Wohnung gemeinsam bewohnen, hat grundsätzlich eine Aufteilung der gesamten Aufwendungen<br />
nach Kopfteilen zu erfolgen (s. oben 1.). Dieser beträgt vorliegend pro Person 215 € für die Unterkunft<br />
und 37,50 € für die Heizung (Summe: 252,50 €). Bei der Prüfung der Angemessenheit der Aufwendungen<br />
ist im Rahmen der sog. Produkttheorie (maßgeblich ist das Produkt aus angemessener Wohnfläche und<br />
angemessenem Quadratmeterzins) hinsichtlich der abstrakt angemessenen Wohnungsgröße von den<br />
Werten des sozialen Wohnungsbaus auszugehen, und zwar hierbei allein von der Anzahl der Mitglieder<br />
einer Bedarfsgemeinschaft, nicht von den Bewohnern – auch wenn diese alle einer Familie angehören<br />
1066 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1609<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
(so bereits BSG, Urt. v. 18.2.<strong>20</strong>10 – B 14 AS 73/08 R). Demnach ist lediglich auf die Klägerin abzustellen.<br />
Nach den Durchführungsregelungen im sozialen Wohnungsbau sind hiernach 45–50 m² Wohnfläche<br />
angemessen. Die Zahl der Bewohner hat in diesem Fall nur bei der Aufteilung der Wohnkosten nach<br />
Kopfzahl Bedeutung, so dass der Klägerin die Hälfte der Kosten zustand, wobei sowohl die vertraglich<br />
geschuldete Bruttokaltmiete als auch die Heizkosten mit insgesamt monatlich 252,50 € für einen<br />
Einpersonenhaushalt als angemessen anzusehen war.<br />
II.<br />
Arbeitsförderungsrecht<br />
1. Sperrzeit: Mehrfache Arbeitsablehnung in engem zeitlichen Abstand<br />
Arbeitssuchende oder Arbeitslose, die trotz Belehrung eine von der Agentur für Arbeit angebotene<br />
Beschäftigung nicht annehmen oder nicht antreten oder die Anbahnung eines solchen Beschäftigungsverhältnisses<br />
verhindern, müssen nach näherer Maßgabe von § 159 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III mit einer<br />
Sperrzeit bei Arbeitsablehnung rechnen. Deren Dauer beträgt im Fall des erstmaligen versicherungswidrigen<br />
Verhaltens dieser Art drei Wochen, im Fall des zweiten versicherungswidrigen Verhaltens<br />
sechs Wochen, in den übrigen Fällen 12 Wochen, § 159 Abs. 4 SGB III. Um die Anzahl von Tagen solcher<br />
Sperrzeiten mindert sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, § 148 Abs. 1 Nr. 3 SGB III.<br />
Das BSG (Urt. v. 3.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 11 AL 2/17 R) hatte über den Fall eines in Sachsen wohnenden Klägers zu<br />
entscheiden, dem die Agentur für Arbeit am 29.11.<strong>20</strong>11 im Rahmen einer persönlichen Vorsprache zwei<br />
Vermittlungsvorschläge (für Arbeitsstellen in Baden-Württemberg bzw. in Bayern) unterbreitete und<br />
am 30.11.<strong>20</strong>11 ein weiteres Stellenangebot auf dem Postweg übersandte. Der Kläger bewarb sich auf<br />
keine dieser Stellen. Daraufhin stellte die Beklagte mit drei Bescheiden den Eintritt einer dreiwöchigen<br />
Sperrzeit vom 1.12.<strong>20</strong>11 bis 21.12.<strong>20</strong>11 (dieser Bescheid wurde bindend), einer sechswöchigen Sperrzeit<br />
vom 1.12.<strong>20</strong>11 bis 11.1.<strong>20</strong>12 und einer 12-wöchigen Sperrzeit für die Zeit vom 12.1.<strong>20</strong>12 bis 4.4.<strong>20</strong>12 fest.<br />
Widerspruch und Klage gegen die beiden Bescheide hinsichtlich der sechs- und 12-wöchigen Sperrzeit<br />
blieben erfolglos, im Berufungsverfahren wurden die Urteile des SG und die beiden Bescheide<br />
aufgehoben. Die Revision der Beklagten war nur teilweise begründet, und zwar insoweit, als das LSG<br />
zu Unrecht das Verfahren, das eine Sperrzeit von sechs Wochen betraf, aufgehoben hatte. Die Berufung<br />
gegen dieses Urteil war bereits unzulässig, weil der Gegenstandswert von 750 €, § 141 Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />
SGG, nicht erreicht war.<br />
Im Übrigen bestätigte das BSG die Auffassung des LSG, wonach bei mehreren Beschäftigungsangeboten,<br />
die in einem so engen zeitlichen Zusammenhang durch die Agentur für Arbeit ergehen,<br />
dass sie der arbeitslosen Person gleichzeitig vorliegen und diese hierauf zu reagieren hat, von einem<br />
einheitlich zu betrachtenden Lebenssachverhalt auszugehen ist. Bewerben sich Arbeitslose in einer<br />
solchen Situation gar nicht, muss dies nach allgemeiner Lebensanschauung auch als eine einheitliche<br />
Verhaltensweise gewertet werden. Ist diese als versicherungswidrig zu beurteilen, kann infolgedessen<br />
nur eine Sperrzeit bei Arbeitsablehnung eintreten und darf nicht mehrfach sanktioniert werden. Im<br />
konkreten Fall sieht es das BSG hinsichtlich des von ihm angenommenen einheitlichen Lebenssachverhalts<br />
als unerheblich an, dass dem Kläger das am 30.11.<strong>20</strong>11 per Post übersandte Angebot erst einige<br />
Tage nach den am 29.11.<strong>20</strong>11 persönlich überreichten Angeboten zugegangen war. Eine etwas längere<br />
Prüf- und Bedenkzeit war dem Kläger im vorliegenden Fall einzuräumen, weil die angebotenen<br />
Arbeitsstellen außerhalb seines zumutbaren Pendelbereichs lagen und einen Umzug erfordert hätten.<br />
2. Berufliche Weiterbildung: Arbeitslosengeld/Verfügbarkeit<br />
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können nach näherer Maßgabe von § 81 SGB III bei beruflicher<br />
Weiterbildung durch Übernahme von Weiterbildungskosten gefördert werden. Während der Anspruch<br />
auf Arbeitslosengeld u.a. Verfügbarkeit voraussetzt (die Betreffenden müssen den Vermittlungsbemühungen<br />
der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen, § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III), besteht abweichend<br />
hiervon ein Anspruch auf Arbeitslosengeld auch dann, wenn die Voraussetzungen hierfür allein<br />
wegen einer nach § 81 SGB III geförderten beruflichen Weiterbildung nicht erfüllt werden, § 144 Abs. 1<br />
SGB III.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1067
Fach 18, Seite 1610<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
Durch Urteil vom 3.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> hat das BSG entschieden, auch in dem Zeitraum vom Unterrichtsende bis<br />
zum Abschluss der Prüfung könne ein Anspruch auf Arbeitslosengeld bestehen, und gab insoweit der<br />
Revision der Klägerin statt (Az. B 11 AL 6/16 R). Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte der Klägerin<br />
Leistungen für die Weiterbildungsmaßnahme mit der Bezeichnung „zertifizierte Projektmanagerin“<br />
bewilligt, die ausdrücklich mit einer Abschlussprüfung verbunden war. Die Fiktion des § 81 Abs. 1 S. 2<br />
SGB III, nach der als Weiterbildung die Zeit vom ersten bis zum letzten Tag der Maßnahme mit<br />
Unterrichtsveranstaltungen gilt, enthält keine Regelung zur Einschränkung der Dauer des Anspruchs<br />
auf Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung. Die Vorschrift ist vielmehr dahingehend zu<br />
verstehen, dass jedenfalls der Zeitraum vom ersten bis zum letzten Tag der Unterrichtsveranstaltungen<br />
einheitlich als Weiterbildung anzusehen ist, soweit die Maßnahme nicht vorzeitig beendet wurde. Bei<br />
generalisierender Betrachtungsweise ist vorauszusetzen, dass der Lehrgang und die abschließende<br />
Prüfung im Sinne einer einheitlichen geförderten Bildungsmaßnahme anzusehen sind und die Prüfung in<br />
zeitlichem und organisatorischem Zusammenhang mit dem Lehrgang steht, wie dies auch vorliegend<br />
der Fall war.<br />
3. Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs bei Entlassungsentschädigung<br />
Haben Arbeitslose wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Entlassungsentschädigung<br />
erhalten oder zu beanspruchen und ist das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer der ordentlichen<br />
Kündigungsfrist des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden, so ruht der Anspruch auf<br />
Arbeitslosengeld von dem Ende des Arbeitsverhältnisses an bis zu dem Tag, an dem das Arbeitsverhältnis<br />
bei Einhaltung dieser Frist geendet hätte, § 158 Abs. 1 S. 1 SGB III.<br />
Hinweis:<br />
Das Ruhen des Anspruchs führt (nur) zu einer vorübergehenden Zahlungssperre, der Arbeitslosengeldanspruch<br />
als Stammrecht wird durch das Ruhen – anders als bei Sperrzeiten nach § 159 SGB III – nicht<br />
gemindert, die hierfür bestehenden gesetzlichen Voraussetzungen in § 148 Abs. 1 SGB III sind nicht erfüllt.<br />
Allerdings kann der Anspruch als Folge des Ruhens nach § 161 Abs. 2 SGB III verfallen.<br />
Bei einem zeitlich unbegrenzten Ausschluss der ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses<br />
durch den Arbeitgeber gilt nach § 158 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB III eine Kündigungsfrist von 18 Monaten. In<br />
einem Rechtsstreit, in dem noch die inhaltsgleiche Vorgängervorschrift in § 143a Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB III a.F.<br />
anzuwenden war, hatte das Berufungsgericht angenommen, ein Ausschluss der ordentlichen<br />
Kündigung im Sinne dieser Vorschrift mit der Rechtsfolge eines Ruhenzeitraums unter Berücksichtigung<br />
einer (fiktiven) Kündigungsfrist von 18 Monaten sei auch anzunehmen, wenn eine ordentliche<br />
Kündigung zwar nicht generell aufgrund der Regelungen der Arbeitsvertragsparteien ausgeschlossen<br />
sei, aber im konkreten Fall wegen Fehlens der dafür notwendigen Voraussetzungen nicht in Betracht<br />
komme.<br />
Dem folgte das BSG nicht und hob auf die (vom LSG zugelassene) Revision der Klägerin das<br />
Berufungsurteil auf, da keine der Fallgestaltungen des § 143a SGB III a.F. für ein Ruhen vorlag (BSG, Urt.<br />
v. 21.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 11 AL 13/17 R). Die Klägerin hatte am 5.11.<strong>20</strong>09 wegen Wegfalls ihres Arbeitsplatzes mit<br />
ihrem Arbeitgeber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.3.<strong>20</strong>10 gegen Zahlung einer<br />
Sozialabfindung vereinbart. Nach den hier einschlägigen Bestimmungen des BAT war das Arbeitsverhältnis<br />
von der Klägerin mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten zum Quartalsende ordentlich<br />
kündbar. Diese Frist wurde bei Abschluss des Aufhebungsvertrags eingehalten. Aus dem weiter<br />
(eventuell) anwendbaren Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz für Angestellte ergab sich keine<br />
Modifikation der Kündigungsfristen des BAT. Die vom LSG zugrunde gelegte Einzelfallprüfung zu<br />
konkret vorhandenen Kündigungsmöglichkeiten ist weder mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte<br />
noch mit dem Sinn und Zweck der Ruhensregelungen vereinbar. Dort wird grundsätzlich an<br />
das Vorhandensein der Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung und die Einhaltung bzw. Nichteinhaltung<br />
der Kündigungsfristen angeknüpft. Auch wenn vorliegend eine ordentliche Kündigung im<br />
Falle der Klägerin durch objektiv erforderliche und vorrangige Maßnahmen der Arbeitsplatzsicherung<br />
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Sozialrecht Fach 18, Seite 1611<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
nach dem Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz möglicherweise erschwert gewesen wäre,<br />
hätte dies nicht dazu geführt, einen zeitlich unbegrenzten Ausschluss der ordentlichen Kündigung i.S.v.<br />
§ 143a Abs. 1 S. 3 SGB III a.F. annehmen zu können.<br />
4. Rückzahlung von SGB II-Leistungen: Verzugsschaden?<br />
Die Parteien dieses Rechtsstreits stritten über die Pflicht des Beklagten, den Kläger wegen verspäteter<br />
Lohnzahlung von der Erstattung von Leistungen nach dem SGB II freizustellen (BAG v. 17.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 5 AZR<br />
<strong>20</strong>5/17, NZA <strong><strong>20</strong>18</strong>,784). Der bei dem Beklagten beschäftigte Kläger erhielt von diesem den Lohn<br />
verspätet. Auf seinen Antrag hin bewilligte ihm das zuständige Jobcenter am 10.7.<strong>20</strong>14 Leistungen zur<br />
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum Juli bis November <strong>20</strong>14. Nachdem<br />
der Kläger im Juli den Lohn für Mai <strong>20</strong>14 nachgezahlt erhielt, hob das Jobcenter wegen fehlender<br />
Hilfebedürftigkeit für diesen Monat die Bewilligung von Leistungen auf und verlangte vom Kläger<br />
Erstattung von rund 535 €. Über die vom Kläger dagegen nach erfolglosem Widerspruch erhobene<br />
Klage zum SG ist noch nicht entschieden. Der Kläger hat Klage erhoben und von dem Beklagten<br />
Freistellung von der Erstattungsforderung des Jobcenters verlangt. Er vertrat die Auffassung, durch die<br />
Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II erleide er einen Vermögensschaden, den ihm der<br />
Beklagte wegen der verspäteten Lohnzahlung für Mai <strong>20</strong>14 ersetzen müsse.<br />
Entscheidungserheblich ist, ob dem Kläger ein Vermögensschaden entstanden ist. Dies bemisst sich<br />
zunächst nach der Differenzhypothese durch Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses<br />
eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die ohne dieses Ereignis bestünde. Die Differenzhypothese ist<br />
aber nur Ausgangspunkt für die Beurteilung, ob ein Schaden eingetreten ist. Sie muss stets einer<br />
normativen Kontrolle unterzogen werden. Erforderlich ist eine wertende Überprüfung des zunächst<br />
gewonnenen Ergebnisses gemessen am Schutzzweck der Haftung und an der Ausgleichsfunktion des<br />
Schadensersatzes. Im Falle des Verzugs des Arbeitgebers mit der Entgeltzahlung hat der Arbeitnehmer<br />
jedoch keinen Anspruch auf Arbeitsentgelt und zugleich auf die auf dem Verzug beruhenden zusätzlichen<br />
Leistungen nach dem SGB II. Bei zeitlicher Kongruenz von Arbeitsentgelt und Sozialleistung geht der<br />
Anspruch auf Arbeitsentgelt in Höhe der bezogenen Sozialleistung auf den Leistungsträger über, § 115<br />
Abs. 1 SGB X. Bei zeitlicher Inkongruenz entfällt der Anspruch auf die Leistung nach dem SGB II rückwirkend,<br />
sofern der Arbeitnehmer wegen des infolge der Nachbewilligung der Sozialleistung zugeflossenen<br />
Arbeitsentgelts im Bezugszeitraum oder Teilen davon objektiv nicht hilfebedürftig i.S.v. § 9 SGB II war.<br />
Das BAG hält es demnach für ausgeschlossen, eineberechtigte Rückforderung von Leistungen nach dem<br />
SGB II wegen verspätet gezahlten Arbeitsentgelts als Schaden des Arbeitnehmers zu werten.<br />
III.<br />
Unfallversicherungsrecht<br />
1. Projektarbeit von Schülern im privaten Bereich<br />
Schülerinnen und Schüler stehen nach § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII während des Besuchs allgemeinbildender<br />
Schulen unter gesetzlichem Unfallversicherungsschutz, der nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch den Weg zur<br />
Schule und von der Schule zurück nach Hause einschließt. Nach ständiger BSG-Rechtsprechung ist der<br />
Versicherungsschutz auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule begrenzt. Dieser<br />
erfordert regelmäßig einen unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zum Schulbesuch,<br />
der dann nicht mehr vorliegt, wenn schulische Aufsichtsmaßnahmen nicht mehr gewährleistet sind.<br />
Versicherungsschutz kann aber auch bestehen, wenn der räumlich-zeitliche Zusammenhang (etwa bei<br />
Klassenfahrten, Museums- und Theaterbesuchen ggf. außerhalb der Unterrichtszeit) oder wirksame<br />
schulische Aufsichtsmaßnahmen (z.B. bei Schülerbetriebspraktika im In- und Ausland) weitgehend<br />
gelockert sind. Demnach kann auch ein außerschulischer Lernort „Ort der Tätigkeit“ und damit zugleich<br />
Start- und Zielpunkt eines nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Weges sein. Der Schutzbereich endet<br />
– jedenfalls bei Minderjährigen – dort, wo der elterliche Verantwortungsbereich beginnt, also dann,<br />
wenn Schüler ihre Hausaufgaben zu Hause erledigen.<br />
In dem vom BSG zu entscheidenden Fall, der im Grenzbereich von schulischem und elterlichem<br />
Verantwortungsbereich angesiedelt ist, hatte der Kläger als Schüler einer Realschule im Rahmen des<br />
Musikunterrichts (nach dem erteilten Unterricht über die hierzu benötigten theoretischen Grundlagen)<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1069
Fach 18, Seite 1612<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
die Aufgabe, in Kleingruppen Werbeclips herzustellen. Die Schüler erhielten von der Lehrerin die<br />
Möglichkeit, den Werbeclip auch außerhalb des Schulunterrichts im privaten Bereich zu drehen.<br />
Vorgegeben war der Abgabetermin, nicht aber Drehzeit und Drehort. Von dieser Möglichkeit machte<br />
ein Teil der Schüler Gebrauch. Am Unfalltag traf sich der Kläger mit drei Mitschülern zu Hause bei einem<br />
Mitschüler, um den Werbeclip zu drehen, in dem er mehrere Szenen spielen sollte. Bei den Dreharbeiten<br />
kam es zu einer Rangelei zwischen dem Kläger und einem Mitschüler. Hierbei stolperte der Kläger, fiel<br />
auf den Rücken und wurde schwer verletzt. Er ist mittlerweile rollstuhlpflichtig und wird in einer<br />
Internatsschule für körperbehinderte Menschen beschult.<br />
Das BSG hat (Urt. v. 23.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 2 U 8/16 R; WESTERMANN jurisPR-SozR 14/<strong><strong>20</strong>18</strong>, Anm. 5; PFRIENDER JM<br />
<strong><strong>20</strong>18</strong>, 1327) das Berufungsurteil, das Versicherungsschutz bejahte, bestätigt und die Revision der<br />
Beklagten zurückgewiesen. Es handele sich, so das BSG, nicht um eine unversicherte „Hausaufgabe“,<br />
wenn Lehrpersonen aus organisatorischen oder pädagogischen Gründen eine Gruppe von Schülern für<br />
ein gemeinsames Tun zusammenstellen, das sich außerhalb der Schule selbstorganisiert fortsetzt.<br />
Dies gilt auch, wenn diese Gruppenarbeit, wie hier, gemeinsam im häuslichen Bereich eines Mitschülers<br />
verrichtet wird. Realisiert sich bei der schulisch initiierten (Projekt-)Arbeit in einer durch die Schule<br />
gebildeten Gruppe eine gruppentypische Gefahr, so besteht für alle Gruppenmitglieder Unfallversicherungsschutz<br />
mit gleichzeitiger Haftungsbeschränkung nach § 106 Abs. 1 SGB VII. Der erforderliche<br />
zeitlich-räumliche Schulbezug besteht hier darin, dass die Schule aus der Menge aller Schüler<br />
(einer Klasse) eine Gruppe bildet und ihr bestimmte Aufgaben zuweist, die die Schüler als Teil dieser<br />
Gruppe gemeinsam lösen sollen. Während dieser Tätigkeit findet für jedes Mitglied „Schule“ (und damit<br />
ein „Schulbesuch“) ausnahmsweise an dem Ort und zu dem Zeitpunkt statt, an dem sich die Gruppe<br />
innerhalb oder außerhalb des Schulgebäudes zur Durchführung der Projektarbeit trifft.<br />
2. Prüfung der Fahrbahn auf Glätte vor Fahrtantritt<br />
Vom Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch<br />
Arbeitsunfälle beim Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren<br />
Weges nach und von dem Ort der versicherten Tätigkeit umfasst. Dabei ist nicht der Weg als<br />
solcher versichert, sondern dessen Zurücklegen, also der Vorgang des Sichfortbewegens auf einer<br />
Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist. Grundsätzlich nicht versichert sind<br />
Unterbrechungen des unmittelbaren Wegs zur Erledigung von in eigenwirtschaftlichem Interesse<br />
stehenden Verrichtungen (s. hierzu bereits SARTORIUS <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1591, 1602 ff. m.w.N.).<br />
Der Kläger verließ in dem vom BSG zu entscheidenden Fall am Unfalltag, dem 11.3.<strong>20</strong>13, sein Wohnhaus<br />
und ging zu seinem auf dem Grundstück abgestellten Pkw, um mit dem Fahrzeug zu seiner Arbeitsstätte<br />
zu fahren (BSG, Urt. v. 23.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 2 U 23/16 R, NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, 2149; hierzu SCHLAEGER jurisPR-SozR<br />
11/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 6 und krit. SCHNEIDER WzS <strong><strong>20</strong>18</strong>, 191). Er legte seine Arbeitstasche in den Wagen, verließ<br />
anschließend das Grundstück zu Fuß und ging wenige Meter auf der öffentlichen Straße, um zu<br />
überprüfen, ob diese glatt sei. Der Deutsche Wetterdienst hatte am Vortag für den Bereich des<br />
Wohnorts des Klägers die Warnung herausgegeben, dass in der kommenden Nacht mit Glätte durch<br />
überfrierende Nässe zu rechnen sei. Während des Rückwegs zu seinem Pkw knickte der Kläger am<br />
Bordstein um, fiel auf seinen rechten Arm und erlitt dadurch Unterarmfrakturen. Das BSG bestätigte das<br />
Urteil des LSG (s. hierzu ULMER jurisPR-SozR 11/<strong>20</strong>16 Anm. 5), das auf die Berufung der Beklagten das der<br />
Klage stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen hatte.<br />
Zu den in der gesetzlichen Unfallversicherung gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Tätigkeiten zählt<br />
das Zurücklegen des mit der Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem<br />
Ort der Tätigkeit – mithin als Vorbereitungshandlung der eigentlichen Tätigkeit. Der Kläger hatte den<br />
an sich versicherten Weg zur Arbeitsstätte unterbrochen, als er zur Straße ging, um die Fahrbahn auf<br />
Glätte zu überprüfen. Wie sich aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII und dem dort verwendeten<br />
Begriff „unmittelbar“ ergibt, steht grundsätzlich nur das Zurücklegen des direkten Weges unter dem<br />
Schutz der Unfallversicherung. Wird dieser aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen, entfällt<br />
der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz.<br />
1070 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1613<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Hinweis:<br />
Unterbrechungen sind für den Versicherungsschutz unschädlich, wenn sie geringfügig sind, was der Fall ist,<br />
wenn sie nicht zu einer erheblichen Zäsur in der Fortbewegung in Richtung auf das ursprünglich geplante Ziel<br />
führen, weil sie ohne nennenswerte Verzögerung „im Vorbeigehen“ oder „ganz nebenher“ erledigt werden<br />
können. Das Gericht sieht das Zurücklegen des Weges vom Grundstück des Klägers auf die Fahrbahn, die<br />
Prüfung der Fahrbahnverhältnisse und den Weg zurück nicht als solche geringfügige Handlungen an.<br />
Die Prüfung der Fahrbahn auf Glätte ist zudem keine Vorbereitungshandlung, die in § 8 Abs. 2 SGB VII<br />
unter Versicherungsschutz gestellt ist. Eine Ausweitung des Versicherungsschutzes auf weitere<br />
Vorbereitungshandlungen kommt nach der Rechtsprechung des BSG nur dann in Betracht, wenn diese<br />
mit der eigentlich versicherten Tätigkeit oder der kraft Gesetzes versicherten Vorbereitungshandlung so<br />
eng verbunden sind, dass sie bei natürlicher Betrachtungsweise eine Einheit bilden. Hierfür ist ein<br />
besonders enger sachlicher, örtlicher und zeitlicher Zusammenhang erforderlich, der die Vorbereitungshandlungen<br />
nach den gesamten Umständen bereits selbst als Bestandteil der versicherten Tätigkeit<br />
erscheinen lässt. Andere vorbereitende Maßnahmen gehören ausnahmsweise dann zur versicherten<br />
Tätigkeit, wenn solche Verrichtungen unvorhergesehen während des Zurücklegens des Weges von oder<br />
zur Arbeitsstätte erforderlich werden. So hat das Gericht Versicherungsschutz etwa angenommen bei<br />
Maßnahmen zur Behebung einer während eines versicherten Weges auftretenden Störung am<br />
benutzten Fahrzeug, beim Auftanken eines Fahrzeugs bei unvorhergesehenem Benzinmangel oder<br />
beim Beschaffen von Medikamenten, wenn dies dazu diente, trotz einer während der Dienstzeit oder auf<br />
einer Geschäftsreise plötzlich aufgetretenen Gesundheitsstörung die betriebliche Tätigkeit fortsetzen zu<br />
können. Im vorliegenden Fall verneint das BSG solche Umstände, die zu einer weiteren Ausweitung des<br />
Versicherungsschutzes führen können. Die Prüfung des Fahrbahnbelags auf Glätte wird schon deshalb<br />
nicht als unerwartet notwendig gewordene Verrichtung angesehen, weil eine mögliche Straßenglätte<br />
nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht unvorhersehbar war, u.a. wegen der entsprechenden<br />
Warnung des Wetterdienstes. Ferner erfolgt der Hinweis, objektiv sei die Prüfung der Straße auf<br />
Glätte in der vorgenommenen Weise nicht erforderlich gewesen, es hätte ausgereicht, vorsichtig mit dem<br />
Fahrzeug auf die Fahrbahn einzubiegen, ggf. Bremsproben durchzuführen.<br />
Das BSG hebt ferner darauf ab, der Kläger sei mit der Fahrbahnprüfung keiner rechtlichen Verpflichtung,<br />
insbesondere keiner straßenverkehrsrechtlichen Pflicht nachgekommen. Zwar darf ein Fahrzeug nur so<br />
schnell gefahren werden, dass es ständig beherrscht werden kann; seine Geschwindigkeit ist insbesondere<br />
den Wetterverhältnissen anzupassen. Daraus ergibt sich zwar eine Verpflichtung, bei möglicher<br />
Fahrbahnglätte so langsam zu fahren, dass das Fahrzeug jederzeit gefahrlos angehalten werden kann.<br />
Grundsätzlich ist der Fahrer eines Pkws aber nicht gehalten, bei Glätte sein Fahrzeug stehen zu lassen.<br />
Schließlich führt das Gericht aus, die – nicht versicherte – Unterbrechung des Weges sei zum Zeitpunkt<br />
des Unfalls noch nicht beendet gewesen. Der Versicherungsschutz habe deshalb auch nicht neu<br />
entstehen können. Mit dem bloßen Rückweg von der Fahrbahn in Richtung des Pkw hatte der Kläger<br />
den direkten Weg zu seiner Arbeitsstätte zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht wieder erreicht und<br />
den ursprünglichen Weg – Beginn der Fahrt mit dem Pkw – noch nicht wieder aufgenommen. Allein<br />
eine auf das Zurücklegen des versicherten Weges ggf. gerichtete Handlungstendenz vermag den<br />
Versicherungsschutz jedenfalls im Regelfall nicht zu begründen, wenn sich der Verletzte – wie hier der<br />
Kläger – noch nicht wieder auf dem ursprünglichen, versicherten direkten Weg befindet.<br />
Hinweis:<br />
Die Entscheidung wird z.T. kritisch kommentiert (vgl. SCHLAEGER jurisPR-SozR 11/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 6; SCHNEIDER WzS<br />
<strong><strong>20</strong>18</strong>, 191; zum Berufungsurteil ULMER jurisPR-SozR 11/<strong>20</strong>16 Anm. 5). So wird etwa zu Recht eingewandt, die<br />
Prüfung auf Glätte sei nicht deshalb keine unerwartet notwendig gewordene Verrichtung, weil es am Tag<br />
zuvor eine entsprechende Warnung des Deutschen Wetterdienstes gegeben habe. Solche Hinweise sind<br />
mehr oder weniger allgemein gehalten und schließen örtliche Besonderheiten bzw. Abweichungen nicht<br />
aus. Auch wenn die vom Kläger vorgenommene Prüfung nicht rechtlich verpflichtend ist, erscheint sein Ver-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1071
Fach 18, Seite 1614<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
halten objektiv verantwortungsbewusst und trägt dem Umstand Rechnung, dass mit dem Betrieb eines<br />
Kraftfahrzeugs immer, insbesondere bei Glätte, Gefahren für ihn und andere Verkehrsteilnehmer verbunden<br />
sind. Seine Prüfung hätte ggf. das Ergebnis haben können, nach Rücksprache mit dem Arbeitgeber die Fahrt<br />
auf einen späteren Zeitpunkt bzw. auf den Folgetag zu verschieben oder aber den Weg mit öffentlichen<br />
Verkehrsmitteln anzutreten.<br />
IV.<br />
Schwerbehindertenrecht<br />
1. GdB: Feststellung/Rechtsschutzbedürfnis<br />
Die Klägerin beantragte im Klageverfahren, die Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB) mit<br />
„mindestens <strong>20</strong>“ festzustellen und führte hierzu aus, die bei ihr bestehenden und im Einzelnen von ihr<br />
angegebenen Behinderungen einschließlich der hiermit einhergehenden erheblichen Schmerzen<br />
rechtfertigten einen GdB von 30. Im Verfahren gab der Beklagte ein Teilanerkenntnis über einen<br />
GdB von <strong>20</strong> ab, welches die Klägerin nicht annahm. Das SG wies die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses<br />
ab. Die Berufung war erfolgreich im Sinne einer Aufhebung und Zurückverweisung an das<br />
SG. Dieses habe, so das LSG, zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen. Die Klägerin habe ersichtlich<br />
von Anfang an mit ihrer auf Feststellung eines GdB von „mindestens <strong>20</strong>“ gerichteten Klage einen GdB<br />
von 30 erreichen wollen. Die Revision des Beklagten blieb erfolglos (BSG, Urt. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 9 SB 2/16<br />
R). Der konkrete Antrag der Klägerin umfasst, so das Gericht, auch die Feststellung eines GdB von 30.<br />
Unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Klagebegründung war das Begehren auf eine<br />
Feststellung eines GdB von 30 gerichtet. Diese tatsächliche Zielrichtung ist nach dem Teilanerkenntnis<br />
des Beklagten unverändert geblieben, da die Klägerin die Klage aufrechterhalten hat.<br />
Die Revision hatte zur Stützung ihrer Ansicht auf eine frühere Entscheidung (BSG, Urt. v. 9.8.1995 –<br />
9 RVs 7/94) abgehoben, die bei einem auf einen Mindest-GdB gerichteten Antrag das Fehlen eines<br />
weiteren Begehrens annimmt. Diese Entscheidung hat jedoch, wie das BSG nunmehr klarstellend<br />
ausführt, für die Auslegung von Anträgen im Schwerbehindertenverfahren nur insofern Bedeutung, als<br />
es ausschließlich um die Beurteilung eines Klageantrags mit einem Mindest-GdB-Wert geht, bei dem<br />
sich aber aus den weiteren Umständen des Falls, insbesondere der Klagebegründung, kein höheres<br />
Klagebegehren erkennen lässt.<br />
Hinweis:<br />
Die Entscheidung belegt, dass allein durch einen bloßen auf einen Mindest-GdB gerichteten Klageantrag kein<br />
Klagebegehren hinsichtlich eines höheren GdB erfolgt, wenn sich nicht insofern deutliche Hinweise ergeben.<br />
Einzelheiten zur Feststellung der Behinderung, die nur auf Antrag erfolgt, finden sich seit 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> in § 152<br />
SGB IX. Der GdB stellt die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fest,<br />
er erfolgt abgestuft nach Zehnergraden ab einem GdB von wenigstens <strong>20</strong>, § 152 Abs. 1 S. 5, 6 SGB IX. Ab einem<br />
GdB von 30 – und einem GdB von weniger als 50 – kommt ein Anspruch auf Gleichstellung nach § 2 Abs. 3<br />
SGB IX in Betracht, über den auf Antrag die Bundesagentur für Arbeit entscheidet, § 151 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Die<br />
Gleichstellung führt dazu, dass den Betroffenen mit Ausnahme des Rechts auf Zusatzurlaub (§ <strong>20</strong>8 SGB IX)<br />
und dem Anspruch auf unentgeltliche Beförderung (§§ 228 ff. SGB IX) die gleichen Rechte und Ansprüche<br />
wie schwerbehinderten Menschen zukommen (zur neueren Rechtsprechung des BSG zur Gleichstellung s.<br />
SARTORIUS/PATTAR <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1409 ff., 1421 ff. m.w.N.). Ab einem GdB von 30 besteht auch – nach weiterer<br />
Maßgabe von § 33b Abs. 2 EStG – ein Vorteil bei der Einkommensteuer in Form eines Pauschbetrags, § 33b<br />
Abs. 3 S. 2 EStG.<br />
2. Blindheit bei cerebralen Schäden ohne spezifische Störung des Sehvermögens<br />
Das BSG setzt seine Rechtsprechung (BSG v. 11.8.<strong>20</strong>15 – B 9 BL 1/14 R; DAU jurisPR-SozR 10/<strong>20</strong>16 Anm. 5)<br />
zum Bestehen von Blindheit bei cerebralen Schäden, ohne dass eine spezifische Störung des<br />
Sehvermögens vorliegt, fort (BSG, Urt. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 9 BL 1/17 R). Im vorliegenden Fall hatte das<br />
1072 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1615<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Berufungsgericht der Klage auf Blindengeld bei einer an einer schweren Alzheimer-Demenz leidenden<br />
Klägerin stattgegeben, obwohl keinerlei Anhaltspunkte dafür bestanden, dass für die fehlende<br />
Wahrnehmung von optischen Reizen eine spezielle Schädigung der Sehstrukturen ursächlich war. Es<br />
hat sich hierbei auf das BSG-Urteil aus <strong>20</strong>15 (a.a.O.) gestützt.<br />
Die Revision des beklagten Landes war im Sinne der Zurückverweisung begründet. Zwar hält das Gericht an<br />
seiner Rechtsprechung fest, wonach auch bei cerebralen Störungen Blindheit anzunehmen ist, wenn die<br />
Betroffenen nicht sehen. Es kommt dabei nicht (mehr) darauf an, ob die konkrete Ursache der Blindheit im<br />
Einzelfall nachvollzogen werden kann oder eine spezifische Sehstörung nachweisbar ist. Bei Blindheit wird<br />
Blindengeld zum Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen als Pauschalleistung erbracht. Kann ein<br />
blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes aber gar nicht erst entstehen,<br />
wird der Zweck des Blindengelds verfehlt. In diesen besonderen Fällen darf der zuständigen Behörde der<br />
anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung nicht verwehrt werden, wenn bestimmte Krankheitsbilder<br />
blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen<br />
krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgleichbar ist. Solches kann<br />
etwa bei generalisierten cerebralen Leiden zutreffen, die z.B. mit dauernder Bewusstlosigkeit oder Koma<br />
einhergehen. Ob ein solches Krankheitsbild im konkreten Einzelfall tatsächlich vorliegt, ist von der Behörde<br />
darzulegen, die insofern die Darlegungs- und Beweislast trägt. Die entsprechenden Feststellungen, die<br />
bisher nicht getroffen wurden, sind im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen.<br />
V. Status- und Beitragsrecht<br />
Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen in der gesetzlichen Kranken-, Pflegeund<br />
Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung der Versicherungspflicht (und<br />
Beitragspflicht), § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § <strong>20</strong> Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB XI, § 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI und § 25 Abs. 1 S. 1<br />
SGB III. Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 SGB IV.<br />
Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.<br />
Nach ständiger BSG-Rechtsprechung setzt eine Beschäftigung voraus, dass Arbeitnehmer vom Arbeitgeber<br />
persönlich abhängig sind. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall,<br />
wenn Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert sind und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der<br />
Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegen. Diese Weisungsgebundenheit<br />
kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden<br />
Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein.<br />
Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das<br />
Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft<br />
und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand<br />
beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild prägen.<br />
Das kann bei manchen Tätigkeiten dazu führen, dass sie in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen<br />
sowohl als Beschäftigung als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses ausgeübt werden<br />
können. Die Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung<br />
bzw. der selbstständigen Tätigkeit setzt dabei voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in<br />
Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in<br />
die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, d.h. den Gesetzen der Logik<br />
entsprechend und widerspruchsfrei gegeneinander abgewogen werden (s. zum Ganzen etwa BSG, Urt.<br />
v. 31.3.<strong>20</strong>17 – B 12 R 7/15 R, Rn 21 m.w.N. und nunmehr BSG, Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 12 R 3/17 R, Rn 12).<br />
Eine Statusklärung kann im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV erfolgen oder durch ein<br />
Anfrageverfahren nach § 7a SGB IV. Letzteres hat u.a. den Vorteil, dass der Beginn der Versicherungspflicht<br />
auf Grundlage des § 7a Abs. 6 SGB IV mit der Bekanntgabe der ersten Entscheidung der<br />
Rentenversicherung hinausgeschoben werden kann.<br />
In der Entscheidung vom 31.3.<strong>20</strong>17 – bei der es um die Tätigkeit eines Erziehungsbeistands nach § 30<br />
SGB VIII ging – hat das BSG u.a. ausgeführt, die Vereinbarung eines festen Stundenhonorars spreche<br />
nicht zwingend für eine abhängige Beschäftigung. Jedenfalls bei reinen Dienstleistungen sei ein<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1073
Fach 18, Seite 1616<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
erfolgsabhängiges Entgelt aufgrund der Eigenheiten der zu erbringenden Leistungen nicht zu erwarten.<br />
Dies gelte auch dann, wenn die Honorare nicht frei ausgehandelt, sondern in Form gebräuchlicher Sätze<br />
festgelegt werden (BSG, a.a.O., Rn 48). Erstmals misst das BSG der Honorarhöhe maßgebliche<br />
Bedeutung zu, wenn es in Rn 50 der Entscheidung heißt, es sei ein gewichtiges – wenn auch nur eines<br />
von u.U. vielen in der Gesamtwürdigung zu berücksichtigende – Indiz für eine selbstständige Tätigkeit,<br />
wenn das vereinbarte Honorar deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten<br />
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt und dadurch Eigenfürsorge zulässt.<br />
Hinweis:<br />
Lesenswert ist ferner die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg zur selbstständigen Tätigkeit einer<br />
Bilanzbuchhalterin/Lohnbuchhalterin (Urt. v. 23.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – L 4 R 21<strong>20</strong>/15 ZVW, ASR <strong>20</strong>17, 24).<br />
Der 12. Senat des BSG hat am 14. März <strong><strong>20</strong>18</strong> über insgesamt sechs Revisionen aus dem Versicherungsund<br />
Beitragsrecht entschieden. Über drei dieser Urteile wird nachfolgend berichtet:<br />
1. Status eines Opernchorsängers<br />
Der Kläger war als Opernchorsänger in verschiedenen Theatern und Opernhäusern mehrwöchig oder tageweise<br />
tätig. An zwei Tagen wurde er als Aushilfe im Opernchor der Beigeladenen Ziff. 1 gegen ein Bruttoentgelt<br />
von jeweils 344 € eingesetzt. Der Kläger war weder zu allgemeinem Dienst noch zur Chorprobe<br />
verpflichtet. Unmittelbar vor seinen Auftritten erhielt er eine kurze szenarische (Sicherheits-)Einweisung und<br />
Kenntnis von der musikalischen Strichfassung. Die Beigeladene zu 1 vertrat die Auffassung, es handele sich um<br />
eine versicherungspflichtige Beschäftigung. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung stellt im Rahmen<br />
eines Anfrageverfahrens nach § 7a SGB IV Versicherungspflicht in allen Zweigen der Sozialversicherung fest.<br />
Das BSG (Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 12 KR 3/17 R) billigt die Auffassung der Vorinstanz, dass eine abhängige<br />
Beschäftigung nicht vorlag. Nach den tatsächlichen Gegebenheiten war der Kläger gegenüber der<br />
Beigeladenen zu 1 nicht weisungsgebunden und nicht in deren Arbeitsorganisation eingegliedert. Die mit<br />
dem Auftritt zwingend einhergehende zeitliche und örtliche Abhängigkeit sowie eine gewisse Vorgabe der<br />
künstlerischen Darbietung ergeben sich aus der „Natur der Tätigkeit“. Ein von der Notwendigkeit des<br />
Zusammenwirkens im Ensemble und der damit verbundenen Festlegung gewisser Eckpunkte der<br />
Aufführungen unabhängiges Weisungsrecht lag nicht vor. Auch bestand keine Eingliederung in die<br />
Arbeitsorganisation des Theaters. Im Vordergrund stand nicht der Einsatz der Arbeitskraft als Opernchorsänger,<br />
sondern vor allem die mit der Kurzfristigkeit seines Einsatzes einhergehende besondere<br />
gesangliche, künstlerisch-gestaltende Fähigkeit. Dieser Beurteilung steht auch nicht der Aspekt eines<br />
fehlenden Unternehmerrisikos entgegen, da aufgrund der Eigenheiten der erbrachten künstlerischen<br />
Leistung weder ein erfolgsabhängiges Entgelt noch der Einsatz eigenen Kapitals zu erwarten war.<br />
2. Tätigkeit eines Einzelunternehmers als Datenbank-Administrator<br />
Die Klägerin betreibt ein IT-Service-Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen. Der Beigeladene zu 1, ein<br />
Datenbank-Administrator, bietet entsprechende Leistungen als Einzelunternehmer an und war im streitigen<br />
Zeitraum ausschließlich für die Klägerin tätig. Seine Tätigkeit erfolgte im Rahmen von mehreren zeitlich<br />
begrenzten Einsätzen bei Drittunternehmen, den sog. Endkunden der Klägerin. Den Einsätzen lagen jeweils<br />
schriftliche, als „Beauftragung“ bezeichnete Einzelvereinbarungen zwischen der Klägerin und dem dort als<br />
„freier Mitarbeiter“ bezeichneten Beigeladenen zugrunde, in denen u.a. der Einsatzort und der geplante<br />
zeitliche Umfang festgehalten wurden. Die Projektleitung oblag bei allen Aufträgen einem IT-Unternehmen,<br />
mit dessen Betriebssystem die Endkunden ausgestattet waren. Der Beigeladene beantragte bei der<br />
Deutschen Rentenversicherung (DRV) die Feststellung, hinsichtlich seiner bei der Klägerin ausgeübten<br />
Tätigkeit liege ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht vor. Die Beklagte stellte hingegen<br />
gegenüber Beigeladenem und Klägerin fest, die Tätigkeit werde in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis<br />
ausgeübt. Das LSG hat die dagegen gerichtete Klage in vollem Umfang abgewiesen.<br />
Die Revision führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung. Das BSG beanstandet<br />
zunächst, das LSG habe nicht ausreichend ausgeführt, welche Tatsachen es seiner Entscheidung zugrunde<br />
1074 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1617<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
lege (BSG, Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 12 KR 12/17 R). Es habe i.Ü. nach der Zurückverweisung zwar nur zu prüfen,<br />
ob ein Beschäftigungsverhältnis gerade zwischen dem Beigeladenen und der Klägerin vorlag. Diese<br />
Prüfung schließe es aber nicht aus, auch die Rechtsbeziehungen zwischen der Klägerin und den<br />
Endkunden sowie einem beim Endkunden tätig gewordenen Dienstleister zu betrachten, mit dessen<br />
Beschäftigten der Beigeladene zusammengearbeitet hat. Zu klären sei dabei insbesondere, ob und ggf.<br />
welche Weisungen der Beigeladene von der Klägerin bzw. in deren Absprache mit dem Dienstleister von<br />
letzterem erhalten oder ob die Klägerin ggf. ihr Weisungsrecht an diesen Dienstleister abgetreten hat.<br />
3. Beauftragung eines Musikschullehrers auf Honorarvertragsbasis<br />
Die klagende Stadt betreibt eine kommunale Musikschule, in der sie neben 18 Angestellten zehn<br />
Musikschullehrer auf honorarvertraglicher Grundlage beauftragte, darunter den Beigeladenen zu 1. Die<br />
beklagte Rentenversicherung stellte im Rahmen eines von dem Beigeladenen zu 1 eingeleiteten Status-<br />
Feststellungsverfahrens gegenüber ihm und der Klägerin fest, er unterliege in seinen Tätigkeiten bei der<br />
Musikschule aufgrund abhängiger Beschäftigung der Versicherungspflicht in allen Zweigen der<br />
Sozialversicherung. Auf die Revision der Stadt hin hob das BSG die Entscheidungen der Vorinstanzen<br />
sowie die Bescheide der Beklagten auf (BSG, Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – BSG 12 R 3/17 R).<br />
Das Gericht hebt zunächst darauf ab, dass vorliegend keine zwingenden gesetzlichen Rahmenvorgaben<br />
bestehen und die zu prüfende Tätigkeit als Lehrer sowohl in der Form einer Beschäftigung als auch in der<br />
einer selbstständigen Tätigkeit erbracht werden kann. Letzteres folgt aus der Vorschrift des § 2 Abs. 1 S. 1<br />
SGB VI, die in der Rentenversicherung eine Versicherungspflicht für selbstständig tätige Lehrer und<br />
Erzieher statuiert. Bei diesen Gegebenheiten kommt, so das BSG, den vertraglichen Vereinbarungen<br />
zwischen Arbeitnehmer/Auftragnehmer und Arbeitgeber/Auftraggeber, wenn auch keine allein ausschlaggebende,<br />
so doch eine gewichtige Rolle zu. Zwar haben es die Vertragsparteien nicht in der Hand, die kraft<br />
öffentlichen Rechts angeordnete Sozialversicherungspflicht durch bloße übereinstimmende Willenserklärung<br />
auszuschließen. Dem Willen der Vertragsparteien, keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung<br />
begründen zu wollen, kommt aber indizielle Bedeutung zu, wenn dieser Wille den festgestellten sonstigen<br />
tatsächlichen Verhältnissen nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird<br />
bzw. die übrigen Umstände gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung<br />
sprechen (s. Rn 13 der Entscheidungsgründe).<br />
Da die Beteiligten in den jeweiligen Honorarverträgen schriftlich festgehalten hatten, kein Arbeitsverhältnis<br />
auch in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht begründen zu wollen, und Anhaltspunkte<br />
dafür, dass der Vertragsschluss und die darin übereinstimmend getroffenen Regelungen allein aufgrund<br />
eines erheblichen Ungleichgewichts der Verhandlungspositionen oder unter Ausnutzung besonderer<br />
Umstände des Beigeladenen zu 1 (z.B. geschäftliche Unerfahrenheit, Ausnutzen einer aktuellen<br />
Notsituation) zustande gekommen sind, nicht vorliegen, das „gelebte“ Vertragsverhältnis dem formell<br />
vereinbarten Vertrag über ein selbstständiges Dienstverhältnis entspricht und tatsächliche Umstände,<br />
die bei einer Gesamtschau zwingend zu einer Beurteilung des Vertragsverhältnisses als abhängige<br />
Beschäftigung führen müssten, nicht bestehen, geht das BSG von freiberuflicher Tätigkeit aus.<br />
Hinweise:<br />
Das BSG stützt seine Entscheidung im Übrigen ergänzend auf aktuelle Rechtsprechung des BAG (Urt. v.<br />
21.11.<strong>20</strong>17 – 9 AZR 117/17, NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>,1194), das ebenfalls einen Musikschullehrer als selbstständig Tätigen<br />
angesehen hat. Ob das Urteil des BSG zum Status des Musikschullehrers einen Schritt dahin darstellt, dem<br />
Aspekt der Vertragsgestaltung – wenn diese „gelebt“ wird – größere Bedeutung beizumessen, und damit<br />
eine leichtere Anerkennung von selbstständigen Dienstverhältnissen ermöglicht, bleibt abzuwarten. Der<br />
Präsident des BSG und Vorsitzende des 12. Senats hat zu diesem rechtlichen Aspekt kürzlich ausgeführt:<br />
„Zwingen die objektiv festgestellten Umstände nicht dazu, eine bestimmte Arbeitsleistung abhängiger Beschäftigung<br />
oder selbstständiger Tätigkeit zuzuweisen, sollte dem Willen der Vertragsparteien diejenige Bedeutung beigemessen<br />
werden, die ihm in einer von der verfassungsrechtlich garantierten Vertragsfreiheit geprägten Rechtsordnung gebührt“<br />
(neue Caritas 11/<strong><strong>20</strong>18</strong>, 13 ff., 15).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1075
Fach 18, Seite 1618<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
Zur Versicherungspflicht bzw. -freiheit bei einer Tätigkeit als Bereitschaftsarzt in einer geriatrischen<br />
Rehabilitationsklinik s. auch LSG Mainz v. 12.12.<strong>20</strong>17 – L 6 R 255/15 (die zugelassene Revision wurde<br />
eingelegt, BSG B 12 R 2/18 R; hierzu FREUDENBERG jurisPR-SozR 13/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 4). Zum Status von Honorarärzten<br />
sind derzeit weitere Verfahren beim BSG anhängig (B 12 R 10/18 R und B 12 R 13/18 R; zum<br />
Status von Pflegekräften, die auf Honorarbasis tätig werden, B 12 R 6/18 R sowie B 12 R 7/18).<br />
VI.<br />
Verfahrensrecht<br />
1. Wiedereinsetzung bei Versäumen der Klagefrist wegen Störung des Telefaxeingangs<br />
bei Gericht<br />
Die Parteien stritten um höhere Leistungen der Grundsicherung vom Zeitpunkt des Wirksamwerdens<br />
einer Mieterhöhung an. Der beklagte Landkreis lehnte dies durch Widerspruchsbescheid vom 13.5.<strong>20</strong>15<br />
ab. Der bevollmächtigte Rechtsanwalt der Klägerin übersandte am Tag des Ablaufs der Klagefrist<br />
vormittags die gegen den Bescheid gerichtete Klageschrift mittels Telefax an das knapp 30 km vom<br />
Kanzleisitz entfernte SG. Die Übermittlung schlug fehl, weil der Telefax-Eingang des SG an diesem Tag<br />
durchgehend gestört war. Als der Bevollmächtigte dies bemerkte, schickte er eine E-Mail an das SG,<br />
an die die eingescannte, unterschriebene Klageschrift als PDF-Datei angehängt war. Die Geschäftsstelle<br />
druckte den Anhang am selben Tag aus und versah ihn mit einem Eingangsstempel. Das<br />
Original der Klageschrift ging erst am nächsten Tag mit der Briefpost ein. Die Vorinstanzen haben die<br />
Klage als unzulässig abgewiesen, sie sei nicht rechtzeitig erhoben.<br />
Das BSG hat im Revisionsverfahren das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LSG<br />
zurückverwiesen, weil die Vorinstanzen die Klage zu Unrecht als unzulässig angesehen haben (Urt. v.<br />
24.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 8 SO 23/16 R). Das Gericht lässt es offen, ob die als Anhang einer E-Mail an das SG<br />
gesandte, eingescannte und unterschriebene Klageschrift, die am Tag des Fristablaufs vollständig<br />
ausgedruckt beim SG vorlag, verfristet war. Der Klägerin wäre bei Versäumen der Klagefrist jedenfalls<br />
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) zu gewähren.<br />
Hinweise:<br />
• Grundsätzlich wird Wiedereinsetzung nur auf Antrag gewährt, der binnen eines Monats nach Wegfall<br />
des Hindernisses zu stellen ist, § 67 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 SGG. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte<br />
Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag<br />
gewährt werden, § 67 Abs. 2 S. 3, 4 SGG.<br />
§ 67 SGG findet nach § 84 Abs. 2 S. 3 SGG auch im Widerspruchsverfahren Anwendung. Für<br />
Verfahrensfristen im Verwaltungsverfahren gilt § 27 SGB X. Neben den unterschiedlichen Anwendungsbereichen<br />
gibt es zwischen den beiden Vorschriften auch inhaltliche Abweichungen:<br />
• Die Frist, innerhalb derer Wiedereinsetzung zu beantragen ist, beträgt bei § 27 SGB X zwei Wochen,<br />
bei § 67 SGG einen Monat.<br />
• Nach § 27 Abs. 2 SGB X „sind“ die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft zu machen, § 67<br />
Abs. 2 S. 2 SGG sieht vor, dass dies geschehen „soll“.<br />
• Eine Regelung wie in § 27 Abs. 5 SGB X – Ausschluss der Wiedereinsetzung durch Rechtsvorschrift<br />
– fehlt in § 67 SGG.<br />
• Eine erleichterte Wiedereinsetzung bei Verfahrens- und Formfehlern findet sich in § 41 Abs. 3 SGB X.<br />
Kausal für die Fristversäumung um einen Tag war allein die Störung des Faxeingangs bei Gericht. Mit<br />
der Aufgabe der Klageschrift zur Post noch am Tag der gescheiterten Übersendung mittels Telefax hat<br />
der Prozessbevollmächtigte der Klägerin alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um<br />
weitere Verzögerungen zu verhindern.<br />
1076 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1619<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
2. Wiedereinsetzung bei Verletzung gerichtlicher Hinweispflichten<br />
Hinweis:<br />
Der Beschluss des BSG vom 9.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> (B 12 KR 26/18 B, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 411/<strong><strong>20</strong>18</strong> = NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, 2222 m. Anm. PLUM)<br />
hat über das sozialgerichtliche Verfahren hinaus Bedeutung.<br />
Vorbereitende Schriftsätze etc. können gem. § 65a Abs. 1 SGG in der ab 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> geltenden Fassung nach<br />
Maßgabe der Abs. 2–6 als elektronisches Dokument – durch Übermittlung an das elektronische<br />
Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) – bei Gericht eingereicht werden.<br />
Hinweis:<br />
Der Regelung in § 65a SGG entsprechende Vorschriften finden sich in den übrigen gerichtlichen Verfahrensordnungen:<br />
§ 46c ArbGG, § 130a ZPO, § 14a FamFG, § 32a StPO, § 55a VwGO und § 52a FGG.<br />
Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein, wobei die<br />
Bundesregierung durch Rechtsverordnung die für die Übermittlung und Bearbeitung geeigneten<br />
technischen Rahmenbedingungen bestimmt, § 65a Abs. 2 SGG. Diese sind in der zum 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> in Kraft<br />
getretenen Elektronischen-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV vom 27.11.<strong>20</strong>17 (BGBl I <strong>20</strong>17, S. 3803) in<br />
der Fassung vom 9.2.<strong><strong>20</strong>18</strong> (BGBl I <strong><strong>20</strong>18</strong>, S. <strong>20</strong>0) geregelt. Die technischen Anforderungen, die hierbei zu<br />
beachten sind, ergeben sich aus der Bekanntmachung des Bundesministeriums der Justiz und für<br />
Verbraucherschutz zu § 5 ERVV vom 19.12.<strong>20</strong>17.<br />
Das elektronische Dokument muss mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) der<br />
verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Personen (einfach) signiert<br />
und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden, § 65a Abs. 3, 4 SGG. Ein elektronisches<br />
Dokument, das mit einer qeS der verantwortenden Person versehen ist, darf lediglich auf einem<br />
sicheren Übermittlungsweg oder an das EGVP übermittelt werden, § 4 Abs. 1 ERVV. Mehrere elektronische<br />
Dokumente dürfen hingegen nicht mit einer gemeinsamen qeS (sog. Container-Signatur)<br />
versandt werden, § 4 Abs. 2 ERVV. Diese Einschränkung will verhindern, dass nach der Trennung eines<br />
elektronischen Dokuments vom Nachrichtencontainer die Containersignatur nicht mehr überprüft<br />
werden kann (zu weiteren Details s. MARDORF JM <strong><strong>20</strong>18</strong>, 140).<br />
Der Kläger hat gegen eine seine Berufung zurückweisende Entscheidung des LSG, die ihm am 23.2.<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
zugestellt wurde, am 6.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> durch ein an das EGVP übermitteltes elektronisches Dokument vom<br />
selben Tag Beschwerde eingelegt. Die dabei verwendete qeS bezog sich nicht auf das PDF-Dokument<br />
selbst, sondern auf den Nachrichtencontainer mit verschiedenen Inhaltsdaten. Auf den Hinweis des<br />
Berichterstatters vom 28.3.<strong><strong>20</strong>18</strong>, die Beschwerdeschrift sei nicht zulässig signiert worden, hat der Kläger<br />
am 6.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> mittels eines ordnungsgemäß signierten elektronischen Dokuments erneut Beschwerde<br />
eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Antrag hatte Erfolg.<br />
Wegen Formmangels der fehlerhaften Signatur hat der Kläger die Beschwerde am 6.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> nicht<br />
formwirksam eingelegt. Dieser Formmangel wurde nicht dadurch geheilt, dass der Kläger am 6.4.<strong><strong>20</strong>18</strong><br />
eine ordnungsgemäß signierte Beschwerde nachgereicht hat. Die Eingangsfiktion des § 65a Abs. 6 S. 2<br />
SGG greift nicht bei fehlerhaft signierten Dokumenten ein, sondern lediglich bei einem nicht zur<br />
Bearbeitung geeigneten Dokument.<br />
Wiedereinsetzung ist dem Kläger nach § 67 Abs. 1 SGG zu gewähren, weil er ohne Verschulden<br />
verhindert war, die gesetzliche Verfahrensfrist zur Einlegung einzuhalten. Ohne Verschulden im Sinne<br />
dieser Vorschrift ist nach ständiger Rechtsprechung eine Frist nur versäumt, wenn die Beteiligten<br />
diejenige Sorgfalt aufgewendet haben, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten<br />
Umständen zuzumuten ist. Ob eine solche Fallgestaltung hier vorliegt, lässt das BSG offen, da Wiedereinsetzung<br />
auch unabhängig vom Verschulden der Beteiligten zu gewähren ist, wenn dies wegen<br />
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Fach 18, Seite 16<strong>20</strong><br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />
Sozialrecht<br />
einer Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts geboten ist. In solchen Fällen tritt ein in<br />
der eigenen Sphäre der Beteiligten liegendes Verschulden hinter das staatliche Verschulden zurück.<br />
Ohne Verschulden „verhindert“, eine gesetzliche Frist einzuhalten, sind Beteiligte nach der BSG-<br />
Rechtsprechung auch dann, wenn ein Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für die Fristversäumnis<br />
nicht ursächlich gewesen ist oder ihnen nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im<br />
Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre. Das Gericht hat vorliegend<br />
die prozessuale Fürsorgepflicht dadurch verletzt, dass der gebotene Hinweis auf die Signatur zunächst<br />
unterblieben ist und verspätet erfolgte. Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts besteht immer<br />
dann, wenn es darum geht, eine Partei oder ihren Bevollmächtigten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen<br />
Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein hier demnach erforderlicher<br />
Hinweis erfordert keine außerordentlichen Maßnahmen, da sich die Art der verwendeten Signatur<br />
regelmäßig ohne Schwierigkeiten dem Transfervermerk über die Übermittlung des elektronischen<br />
Dokuments an das EGVP entnehmen lässt. Das fehlerhaft signierte elektronische Dokument war auch<br />
bereits am 6.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> und damit so rechtzeitig vor Ablauf der Beschwerdefrist am 23.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> eingegangen,<br />
dass die Frist bei einem Hinweis des Gerichts innerhalb des üblichen Geschäftsvorgangs hätte<br />
eingehalten werden können.<br />
Hinweis:<br />
PLUM (NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, 2224) weist zu Recht darauf hin, dass der Beschluss nicht als genereller Freibrief für eine<br />
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verstehen ist. Ob Wiedereinsetzung zu gewähren ist, hängt<br />
vielmehr wesentlich davon ab, wann das erste, fehlerhafte Dokument bei Gericht eingegangen ist. Je<br />
näher dies an den Fristablauf „heranrückt“, umso geringer werden die Chancen der Wiedereinsetzung<br />
(zu anwaltlichen Sorgfaltspflichten bei Führung eines elektronischen Fristenkalenders s. BSG, Urt. v.<br />
28.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 1 KR 59/17 B, Wiedereinsetzung abgelehnt; ausführlich zur Wiedereinsetzung ROHWETTER<br />
NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, <strong>20</strong>19).<br />
3. Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und Verlegungsantrag<br />
In der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden die Gerichte grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung,<br />
§ 124 Abs. 1 SGG. Mit Einverständnis der Beteiligten kann jedoch ohne mündliche Verhandlung durch<br />
Urteil entschieden werden, § 124 Abs. 2 SGG. Macht das Gericht von den ihm insoweit eingeräumten<br />
Ermessen keinen Gebrauch und bestimmt es Termin zur mündlichen Verhandlung, muss den Beteiligten<br />
unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben,<br />
grundsätzlich Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen. Ein vorab<br />
gegebenes Einverständnis nach § 124 Abs. 2 SGG entbindet das Gericht nicht davon, in dieser Weise<br />
rechtliches Gehör ausreichend zu gewähren. Es wäre verfahrensfehlerhaft (Verstoß gegen Art. 103 GG,<br />
§ 124 Abs. 1 SGG), in diesem Fall eine beantragte Terminsverlegung, für die ein erheblicher Grund besteht<br />
(§ <strong>20</strong>1 S. 1 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 S. 1 ZPO), abzulehnen. Eine Nichtzulassungsbeschwerde wäre in diesem<br />
Fall nach § 160a Abs. 2 Nr. 3 SGG zulässig, nähere Darlegungen, inwiefern das Urteil auf einer Verletzung<br />
des rechtlichen Gehörs beruhen könne, sind entbehrlich (BSG, Beschl. v. 21.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 13 R 4 101/15 B,<br />
Rn 12). Bei einem kurzfristig gestellten Verlegungsantrag – etwa erst einen Tag vor der anberaumten<br />
mündlichen Verhandlung –, der mit einer Erkrankung begründet wird, muss allerdings dieser Verhinderungsgrund<br />
so dargelegt und untermauert werden, dass das Gericht ohne weitere Nachprüfung<br />
selbst beurteilen kann, ob Verhandlungs- und/oder Reiseunfähigkeit besteht. Diese erfordert grundsätzlich<br />
die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, aus der das Gericht Schwere und voraussichtliche<br />
Dauer der Erkrankung entnehmen und die Frage der Verhandlungs- und/oder Reiseunfähigkeit der<br />
Betroffenen selbst beurteilen kann. Es bestehen demnach bei kurzfristig gestellten Anträgen auf<br />
Terminsverlegung hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Umstände, die der Verhinderung<br />
zugrunde liegen (BSG, Beschl. v. 16.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 9 V 66/17 B, Rn 5; v. 21.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 13 R 4 101/15 B, Rn 189).<br />
1078 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>