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ZAP-2018-20

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

<strong>20</strong> <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

24. Oktober<br />

30. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W.<br />

Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith<br />

Kindermann, Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider,<br />

Neunkirchen • Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Der Untermieter: Freund oder Feind? (S. 1023)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Beschlüsse des 72. Deutschen Juristentages (S. 1025) • Angeklagtenrechte sollen weiter gestärkt<br />

werden (S. 1028) • Mehrbelastung für den richterlichen Bereitschaftsdienst (S. 1030)<br />

Aufsätze<br />

Caspers, Das Recht zur Untervermietung: Voraussetzungen und Grenzen (S. 1041)<br />

Viefhues, Elternunterhalt – Teil 1 (S. 1051)<br />

Vierkötter, Zur Haftung des Anschlussinhabers eines öffentlich zugänglichen WLANs (S. 1059)<br />

Sartorius, Rechtsprechungsübersicht zum Sozialrecht (S. 1063)<br />

Eilnachrichten<br />

BVerfG: Verfassungsmäßigkeit der Beitragspflicht für Versorgungsbezüge (S. 1037)<br />

EuGH: Auswirkungen des Brexits auf die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (S. 1039)<br />

BGH: Zumutbare Vorkehrungen eines Einzelanwalts für den Verhinderungsfall (S. 1040)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 1023–1024<br />

Anwaltsmagazin – – 1024–1030<br />

Eilnachrichten 1 155–164 1031–1040<br />

Caspers, Das Recht zur Untervermietung: Voraussetzungen<br />

und Grenzen 4 1757–1766 1041–1050<br />

Viefhues, Elternunterhalt – Teil 1: Anspruchsvoraussetzungen<br />

und Bedürftigkeit eines Elternteils 11 1457–1464 1051–1058<br />

Vierkötter, Urheberrechtsverletzung: Zur Haftung des<br />

Anschlussinhabers eines öffentlich zugänglichen WLANs 16 467–470 1059–1062<br />

Sartorius, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht zum<br />

Sozialrecht – 1. Halbjahr <strong><strong>20</strong>18</strong> 18 1605–16<strong>20</strong> 1063–1078<br />

Nutzen Sie die <strong>ZAP</strong> auch digital: mit der <strong>ZAP</strong> App für PC, Smartphone und Tablet. Sie finden<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F <strong>20</strong>) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />

Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />

Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />

Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />

Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />

Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />

Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 243,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Der Untermieter: Freund oder Feind?<br />

Die Vorsilbe „Unter“ hat nicht selten einen wenig<br />

schmeichelhaften Beigeschmack. Denke ich an meine<br />

Bundeswehrzeit zurück, dann war es ein nach<br />

meinem höchstpersönlichen Empfinden unterbelichteter<br />

Unteroffizier, der zu meinem Pech mit einer<br />

Pistole, die zu meinem Glück nicht geladen war, auf<br />

mich zielte und abdrückte. Er tat es wohl, weil ich,<br />

obwohl sein Untergebener, in seinen Augen nicht<br />

unterwürfig genug war. Für ihn offenbar unterhaltsam,<br />

für mich, wäre die Waffe geladen gewesen,<br />

mein Untergang. Mein Nervenkostüm war seinerzeit<br />

bereits stabil genug, um mich davon nicht unterkriegen<br />

zu lassen. Schon damals war mir allerdings<br />

klar, ich tauge nicht zum Untertan. Dann schon eher<br />

zum Untermieter, auch wenn ich in diese Rolle Zeit<br />

meines Lebens noch nicht schlüpfen musste.<br />

Den Begriff „Untermiete/r“ sucht man im BGB<br />

vergebens. Trotz Recherche konnte ich den Erfinder<br />

des Wortes nicht ausfindig machen. Gleichwohl<br />

weiß vermutlich jeder, was damit gemeint<br />

ist. Gleich zwei wichtige mietrechtliche Normen<br />

beschäftigen sich mit diesem Phänomen, § 540<br />

und § 553 BGB, auch wenn es Kollegen/Kolleginnen<br />

geben soll, die selbst nach jahrzehntelanger intensiver<br />

Tätigkeit im Mietrecht nicht ein einziges<br />

Mal damit in Berührung gekommen sind.<br />

Bei der Untermiete treten i.d.R. drei Personen in<br />

Erscheinung: Vermieter, Mieter und Untermieter.<br />

Der Vermieter vermietet dem Mieter eine Wohnung,<br />

dieser vermietet sie entweder komplett oder<br />

zimmerweise an seinen Untermieter. Ob der Mieter<br />

dazu überhaupt befugt ist, stellt man durch einen<br />

Blick in den Mietvertrag fest. Nach BLANK (SCHMIDT-<br />

FUTTERER, Mietrecht, 13. Aufl. <strong>20</strong>17 § 540 Rn 3) ist bei<br />

den üblichen unbefristeten Mietverhältnissen selbst<br />

ein formularmäßiger Ausschluss der Untervermietung<br />

wirksam. Durch einen wirksamen Ausschluss<br />

könnte ein Vermieter zwei Fliegen mit einer Klappe<br />

schlagen: Er verhindert den unerwünschten Einzug<br />

von Untermietern und beseitigt das Sonderkündigungsrecht<br />

des Mieters nach § 540 Abs. 1 S. 2 BGB.<br />

Und die meisten Mieter denken bei Eingehung<br />

eines Mietvertrags ohnehin nicht daran, dass sie<br />

jemals in die Lage kommen könnten, untervermieten<br />

zu wollen oder sogar zu müssen.<br />

Ist die Untervermietung nicht ausgeschlossen, müsste<br />

der Mieter seinen Vermieter vorher um Erlaubnis<br />

fragen. Unterlässt er das, berührt das die Wirksamkeit<br />

eines ohne Zustimmung des Vermieters<br />

geschlossenen Untermietvertrags aber nicht. Der<br />

Mieter darf trotz Vertragsverstoßes in Form nicht<br />

eingeholter Zustimmung fleißig die Miete von<br />

seinem Untermieter kassieren. Die Ansicht, dass<br />

der Vermieter vom vertragswidrig handelnden Mieter<br />

die Untermiete herausverlangen dürfe, hat sich<br />

gegen die h.M. bislang nicht durchsetzen können<br />

(BLANK, in:SCHMIDT-FUTTERER, a.a.O., § 540 Rn 15 m.w.N.).<br />

Einer der eher seltenen Fälle, in denen Vertragsverstöße<br />

des Mieters zumindest solange sogar noch<br />

belohnt werden, wie der Vermieter nicht von seinem<br />

Unterlassungsanspruch nach § 541 BGB oder von<br />

seinem Kündigungsrecht nach § 543 Abs. 2 Nr. 2 BGB<br />

Gebrauch macht – wobei nicht übersehen werden<br />

darf, dass in den Fällen, in denen mieterseits ein<br />

Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung zur Untervermietung<br />

besteht, diese Pflichtverletzung zumindest<br />

nach Ansicht des OLG Dresden (Urt. v. 30.6.<strong>20</strong>15<br />

– 5 U 375/15) regelmäßig keinen Kündigungsgrund<br />

darstellt. Und da die Durchsetzung der Vermieterrechte<br />

regelmäßig auch eine vorherige Abmahnung<br />

notwendig macht, freut sich das Belohnungssystem<br />

im Mieterhirn noch einige Zeit über regelmäßige<br />

Einnahmen aus dem mit reichlich Geschmäckle<br />

zustande gekommenen Untermietvertrag.<br />

In der Regel sind es drei Beweggründe, die Mieter<br />

dazu veranlassen, Untermieter aufzunehmen: Ein-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1023


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

samkeit, vorübergehende Abwesenheit oder Ebbe<br />

im Portemonnaie, wobei zuletzt Genanntes das<br />

vorherrschende Motiv sein dürfte. Mit dem Fall der<br />

vorübergehenden Abwesenheit durfte sich der BGH<br />

zuletzt am 11.6.<strong>20</strong>14 (Az. VIII ZR 349/13) beschäftigen:<br />

Ein längerer berufsbedingter Auslandsaufenthalt<br />

stellt demnach i.d.R. ein berechtigtes Interesse<br />

des Mieters an einer Untervermietung dar, solange<br />

der Mieter zumindest ein Zimmer seiner Wohnung<br />

selbst behält. Und spätestens seit der Entscheidung<br />

des BGH vom 31.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> (Az. VIII ZR 105/17) dürfte klar<br />

sein, dass auch Einsamkeit und der Wunsch, die<br />

Miete teilweise durch Untervermietung zu decken,<br />

ein nachvollziehbares Interesse an einer Untervermietung<br />

darstellen können.<br />

In der heutigen Zeit ist es demnach ebenso antiquiert<br />

wie falsch, wenn Vermieter glauben, sie<br />

könnten als Eigentümer des Mietobjekts die Spielregeln<br />

bestimmen, wie es borniert und falsch ist,<br />

wenn Mieter gebetsmühlenartig predigen, einmal<br />

im Monat dürfe man so laut feiern, wie man wolle.<br />

Einer der zahlreichen Vorteile unseres Mietrechts<br />

ist seine soziale Ausgewogenheit und die Tatsache,<br />

dass beide – Vermieter und Mieter – im Falle<br />

übergeordneter Interessen des jeweils anderen<br />

Vertragspartners ihre eigenen Interessen einfach<br />

mal hintanstellen müssen. Irgendwann, wie in der<br />

Schlange an der Kasse im Supermarkt, kommt<br />

jeder mal dran. Auch wenn die Vorsilbe „Unter“<br />

nicht selten ein Geschmäckle hat, ist nicht jeder<br />

Untermieter gleichzeitig im Wortsinne ein „Aftermieter“,<br />

wie er in früherer Zeit auch gerne genannt<br />

wurde. Erst recht kein häusliches Ungeziefer, das<br />

ebenfalls so bezeichnet wird. Auch wenn nicht<br />

jeder Vermieter bisher zu dieser Erkenntnis gelangt<br />

ist, spätestens vor Gericht wird er damit rechnen<br />

müssen, mit ihr konfrontiert zu werden.<br />

Rechtsanwalt DETLEF WENDT, Recklinghausen<br />

Anwaltsmagazin<br />

Neuregelungen im Oktober<br />

Im Oktober treten einige vorwiegend umweltund<br />

verbraucherschützende Vorschriften in Kraft.<br />

Sie betreffen Schadstoffe in Spielzeug und Haushalt<br />

sowie die Aufklärung von Bank- und Versicherungskunden.<br />

Im Einzelnen:<br />

• Grenzwerte für Blei in Spielzeug<br />

Kinder werden besser vor giftigen Schwermetallen<br />

geschützt: Für die Freisetzung von Blei<br />

aus Spielzeug hat die EU ab dem 28. Oktober<br />

dieses Jahres deutlich strengere Grenzwerte<br />

festgesetzt. So dürfen sich aus Kreide statt<br />

bisher 13,5 Milligramm nur noch zwei Milligramm<br />

Blei pro Kilogramm lösen. Flüssiges<br />

Material, z.B. Fingerfarbe, darf nur noch 0,5 statt<br />

bisher 3,4 Milligramm pro Kilogramm Blei abgeben.<br />

• Stickstoffoxid-Grenzwerte für Warmwasserbereiter<br />

Für konventionelle Warmwasserbereiter ist die<br />

3. Stufe der EU-Verordnung Nr. 814/<strong>20</strong>13 zu den<br />

Anforderungen an eine umweltgerechte Gestaltung<br />

von Warmwasserbereitern und Warmwasserspeichern<br />

in Kraft getreten. Seit dem 26. September<br />

gelten hier neue Grenzwerte für Stickstoffemissionen:<br />

Warmwasserbereiter mit gasförmigen<br />

Brennstoffen dürfen 56 Milligramm (mg) pro<br />

Kilowattstunde (kWh), Warmwasserbereiter mit<br />

flüssigem Brennstoff 1<strong>20</strong> mg/kWh nicht überschreiten.<br />

Bereits seit <strong>20</strong>15 müssen die Geräte<br />

zudem das EU-Energieeffizienzlabel aufweisen.<br />

• Aufklärung über Kosten von Zahlungskonten<br />

Ab dem 31. Oktober müssen Geldinstitute nach<br />

dem Zahlungskontengesetz, das die europäischen<br />

1024 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Zahlungskontenrichtlinie umsetzt, einheitlich und<br />

leicht verständlich über die Kosten ihrer Kontodienstleistungen<br />

informieren. Verbraucher in den<br />

EU-Mitgliedstaaten müssen zudem einen kostenlosen<br />

Zugang zu mindestens einer zertifizierten<br />

Vergleichswebseite erhalten. Grund dafür ist<br />

die Erwägung, dass kommerzielle Vergleichsportale<br />

die Verbraucher oft darüber im Unklaren<br />

lassen, auf welche Kriterien sie ihre Bewertung<br />

stützen und ob ihre Rankings von vertriebsorientierten<br />

Interessen beeinflusst sind.<br />

• Informationen beim Kauf von Versicherungsprodukten<br />

Versicherer müssen seit dem 1. Oktober die neuen<br />

Regeln der EU-Richtlinie über den Versicherungsvertrieb<br />

(IDD-Richtlinie) beachten: Bei den jährlichen<br />

Standmitteilungen von Lebensversicherungen<br />

sind detailliertere Informationen erforderlich.<br />

Zwischen Provisions-Versicherungsvermittlung und<br />

unabhängiger Honorarberatung ist klar zu trennen<br />

und es besteht die Pflicht darauf hinzuweisen, dass<br />

Kredite auch ohne Restschuldversicherung abgeschlossen<br />

werden können.<br />

• Online-Identifizierung im Ausland<br />

Seit dem 29. September gelten mit der sog. eIDAS-<br />

Verordnung neue EU-weite Regeln für die elektronische<br />

Identifizierung. Damit ist die eID-Funktion<br />

des Personalausweises jetzt auch im europäischen<br />

eGovernment einsetzbar. Dies erleichtert Bürgern<br />

und Unternehmen den grenzüberschreitenden<br />

Zugang zu Online-Diensten, z.B. die Möglich keit,<br />

Steuererklärungen online abzugeben, ein Bankkonto<br />

zu eröffnen oder ein Unternehmen zu<br />

gründen.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Beschlüsse des 72. Deutschen<br />

Juristentages<br />

Vom 26. bis 28. September fand der 72. Deutsche<br />

Juristentag (djt) in Leipzig statt. Rund 2.600<br />

Juristen diskutierten aktuelle Rechtsfragen, darunter<br />

solche zur Migration, zum kollektiven<br />

Rechtsschutz sowie zum Familienrecht. In sechs<br />

Abteilungen wurden Anregungen an den Gesetzgeber<br />

formuliert. Die wichtigsten Beschlüsse sind<br />

nachstehend zusammengefasst:<br />

1. Kollektiver Rechtsschutz im Zivilrecht<br />

Vor dem Hintergrund des Dieselskandals widmete<br />

sich die Abteilung Verfahrensrecht des djt der<br />

Frage, ob es neuer Instrumente des kollektiven<br />

Rechtsschutzes wie Sammelklagen, Gruppenklagen<br />

oder Verbandsklagen bedarf. Die vom Bundestag<br />

kürzlich beschlossene Musterfeststellungsklage<br />

wurde von der Mehrheit als unzureichend kritisiert,<br />

weil sie die mit Streuschäden – also geringen<br />

Schäden bei einer Vielzahl von Betroffenen –<br />

einhergehenden Defizite bei der Sanktionierung<br />

und Prävention von Rechtsbrüchen voraussichtlich<br />

weder behebt noch die Justiz entlastet. Vielmehr<br />

votierte die Abteilung für eine erleichterte Gewinnabschöpfung<br />

bei Streuschäden, für die Einführung<br />

der Gruppenklage bei Massenschäden und ein<br />

Verfahren zur gerichtlichen Genehmigung von<br />

Kollektivvergleichen. Zur Verfügung stehen sollen<br />

diese Instrumente in Zukunft nicht nur den Verbraucherverbänden,<br />

sondern auch den Industrieund<br />

Handelskammern, registrierten Rechtsdienstleistern<br />

und überdies individuellen geschädigten<br />

Verbrauchern und Unternehmen. Der Antrag, im<br />

Interesse prozessualer Waffengleichheit neue Auskunfts-<br />

und Beweiserhebungsregeln einzuführen,<br />

fand hingegen nicht die Mehrheit der Mitglieder.<br />

2. Elternverantwortung nach Trennung und<br />

Scheidung<br />

Die Abteilung Familienrecht befasste sich mit dem<br />

Reformbedarf im Sorge-, Umgangs- und Unterhaltsrecht.<br />

Einig waren sich die Teilnehmer, dass<br />

das derzeit geltende Residenzmodell, bei dem<br />

das Kind ganz überwiegend von einem Elternteil<br />

betreut wird, nicht mehr den aktuellen Verhältnissen<br />

entspricht. Heute würden zunehmend Betreuungsmodelle<br />

gelebt, bei denen beide Elternteile<br />

das Kind in mehr oder minder großem Umfang<br />

oder sogar paritätisch betreuten. Nahezu einstimmig<br />

wurde deshalb gefordert, die geteilte Betreuung<br />

als gleichwertiges Betreuungsmodell im Gesetz<br />

zu verankern. Dieses müsse notfalls auch<br />

gegen den Willen eines Elternteils durchzusetzen<br />

sein, wenn es dem Wohl des Kindes am besten<br />

entspreche. Auch das Unterhaltsrecht müsse an die<br />

Vielfalt der Betreuungsmodelle angepasst werden.<br />

3. Einführung von Strafzumessungs-Richtlinien<br />

Die strafrechtliche Abteilung des djt beschäftigte<br />

sich u.a. mit dem Vorschlag, die empirisch belegten<br />

regionalen Unterschiede in der Strafzumessungspraxis<br />

der Strafgerichte durch tabellarische Vorgaben<br />

oder Strafzumessungsrichtlinien nach USamerikanischem<br />

Vorbild („Sentencing Guidelines“)<br />

zu überwinden. Einen solchen radikalen Systemwechsel<br />

wollten die Teilnehmer aber nicht mit-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1025


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

tragen. Vielmehr einigten sie sich darauf, auf eine<br />

Verbesserung der Information über die Praxis der<br />

Strafzumessung hinzuwirken. Zu diesem Zweck<br />

wird die Einrichtung einer zentralen Entscheidungsdatenbank<br />

und einer fortlaufenden Rückfall- und<br />

Verlaufsstatistik vorgeschlagen. Zudem sprach sich<br />

die Abteilung mit deutlicher Mehrheit für eine<br />

Abschaffung der absoluten Strafdrohung bei § 211<br />

StGB aus.<br />

4. Herausforderungen durch Migration<br />

Ein Novum in der Geschichte des Juristentages<br />

war die Bildung einer gemeinsamen Abteilung<br />

„Öffentliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht“.<br />

Der Grund für diese „Fusion“ mehrerer bisher<br />

selbstständiger Arbeitsgruppen war die Flüchtlingswelle<br />

der vergangenen Jahre, die das Recht<br />

und die Verwaltung vor neue Herausforderungen<br />

gestellt hat. Ein Schwerpunkt der Diskussion war<br />

der sog. Spurwechsel, d.h. der Übergang von der<br />

humanitären Migration in die Erwerbsmigration<br />

mit dem damit verbundenen Wechsel des Aufenthaltsrechts.<br />

Die Mitglieder sprachen sich deutlich<br />

für eine Zulässigkeit eines solchen Spurwechsels<br />

aus. Der Zugang zum Arbeitsmarkt<br />

für Flüchtlinge solle beschleunigt, bestehende<br />

Beschäftigungsverbote abgeschafft werden. Die<br />

von der Regierungskoalition geplanten Ankerzentren<br />

wurden gebilligt, verbunden mit dem Appell,<br />

dass die Rechtsschutzmöglichkeiten gewahrt<br />

bleiben. Mit großer Mehrheit plädieren die Teilnehmer<br />

auch dafür, dem BVerwG eine auf grundsätzliche<br />

Tatsachenfragen beschränkte Tatsachenfeststellungsbefugnis<br />

zu den Verhältnissen<br />

in den Herkunfts- und Abschiebungszielstaaten<br />

zuzusprechen, um die Verfahren insgesamt zu<br />

straffen. Schließlich hat sich die Abteilung auch<br />

für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz ausgesprochen,<br />

das flexible Instrumente zur Anerkennung<br />

von im Ausland erworbenen beruflichen<br />

Qualifikationen enthalten sollte.<br />

5. Beschlussmängelrecht im Gesellschaftsrecht<br />

Die wirtschaftsrechtliche Abteilung beschäftigte<br />

sich mit einem „Dauerbrenner“ im Gesellschaftsrecht,<br />

nämlich der Frage, ob das Beschlussmängelrecht<br />

reformiert werden muss. Das derzeit<br />

geltende Recht wird von vielen als unzulänglich<br />

beurteilt. Zum einen wird der Schutz von Minderheitsgesellschaftern<br />

teilweise für unzureichend<br />

gehalten, zum anderen wird auf Wettbewerbsnachteile<br />

für deutsche Unternehmen im<br />

internationalen Vergleich verwiesen. Die Mitglieder<br />

schlossen sich diesmal der Kritik an und<br />

sprachen sich klar für die Notwendigkeit weiterer<br />

Reformen, insbesondere des aktienrechtlichen<br />

Beschlussmängelrechts, aus. Danach sollen fehlerhafte<br />

Beschlüsse nicht mehr unmittelbar zur<br />

Nichtigkeit führen, vielmehr sollten flexible alternative<br />

Rechtsfolgen ins Gesetz eingefügt werden.<br />

Gesetzliche Regelungen fordert die Abteilung<br />

auch für die sonstigen Gesellschaftsformen,<br />

insbesondere die GmbH und die Personengesellschaften,<br />

für die es bisher keine Regelungen zu<br />

Beschlussmängeln gibt. Für alle Gesellschaftsformen<br />

solle in Zukunft auch die Möglichkeit<br />

eröffnet werden, Schiedsverfahren zu führen.<br />

6. Rahmenbedingungen für Non-Profit-<br />

Organisationen<br />

Erstmalig befasste sich der djt mit den sog. Non-<br />

Profit-Organisationen (NPO), d.h. solchen, die zwar<br />

Gewinne erwirtschaften dürfen, nicht jedoch im<br />

Interesse der hinter ihnen stehenden Mitglieder und<br />

Gesellschafter. Begrüßt wurde die Absicht der<br />

Regierungskoalition, den Rechtsrahmen für ehrenamtliche<br />

und gemeinnützige Tätigkeit zu verbessern.<br />

Dem Gesetzgeber wurde empfohlen, für alle<br />

NPO ein einheitliches Registersystem zu schaffen,<br />

d.h. sie sollen unabhängig von ihrer Rechtsform<br />

unter gleichen Voraussetzungen in das gleiche<br />

(Handels-)Register mit den gleichen Publizitätswirkungen<br />

eingetragen werden. Für rechtsfähige<br />

Stiftungen fordern die Teilnehmer die Einrichtung<br />

eines Stiftungsregisters. Unabhängig von der<br />

Rechtsform sollen auch einheitliche Berichts- und<br />

Rechnungslegungsstandards geschaffen werden.<br />

Das starre Sanktionenrecht, das bei Verstößen<br />

gegen die Gemeinnützigkeitsvorschriften nur die<br />

Versagung oder Aberkennung der Gemeinnützigkeit<br />

vorsieht, müsse flexibilisiert werden. Für Großvereine,<br />

wie etwa den ADAC und die Vereine der<br />

Fußballbundesliga, ist nach der Vorstellung der<br />

Delegierten ein an das Recht der Kapitalgesellschaften<br />

angenähertes Sonderrecht zu schaffen.<br />

[Quelle: djt]<br />

Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung<br />

Das Bundeskabinett hat Anfang Oktober nach<br />

einer Einigung der Koalitionsspitzen ein Eckpunktepapier<br />

zur Zuwanderung von Fachkräften beschlossen.<br />

In der Diskussion um Arbeitsmigration,<br />

aber auch um den sog. Spurwechsel für nur<br />

1026 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

geduldete Ausländer, die jedoch hierzulande gefragte<br />

Qualifikationen vorweisen können (vgl.<br />

dazu auch die Forderung des diesjährigen Deutschen<br />

Juristentages, s. vorstehende Meldung), hat<br />

sich die Koalition auf Leitlinien, aber noch nicht<br />

auf konkrete Kriterien geeinigt.<br />

Der Fachkräftemangel, so die Begründung des<br />

Eckpunktepapiers, habe sich zu einem bedeutenden<br />

Risiko für die deutsche Wirtschaft entwickelt.<br />

Der zunehmend spürbare demografische Wandel<br />

und eine rapide voranschreitende Digitalisierung<br />

werden dies künftig noch verstärken. Daher wolle<br />

sich die Regierung gemeinsam mit der Wirtschaft<br />

um die Fachkräfte aus dem Ausland bemühen,<br />

die der Arbeitsmarkt hierzulande brauche. Aber<br />

auch die „Potenziale der Personen mit Fluchthintergrund“<br />

sollen genutzt werden, heißt es ausdrücklich.<br />

Das Papier sieht fünf Eckpunkte vor:<br />

1. Neuer Rechtsrahmen<br />

Das geplante Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll<br />

den Grundsatz der Vorrangprüfung und die Beschränkung<br />

auf Engpassberufe abschaffen. Sowohl<br />

Hochschulabsolventen als auch Fachkräfte mit<br />

qualifizierter Berufsausbildung sollen in Deutschland<br />

arbeiten dürfen, insbesondere in den Branchen<br />

mit dem drängendsten Fachkräftemangel.<br />

2. Schnelle, einfache Anerkennungsverfahren<br />

Um Deutschland für internationale Fachkräfte<br />

attraktiver zu machen, sollen die Voraussetzungen<br />

dafür geschaffen werden, dass die Gleichwertigkeitsprüfung<br />

der beruflichen bzw. akademischen<br />

Qualifikationen möglichst schnell und<br />

unkompliziert durchgeführt wird. Eine neue Clearingstelle<br />

soll die Fachkräfte aus dem Ausland<br />

durch das Anerkennungsverfahren begleiten und<br />

unterstützen.<br />

3. Marketing in ausgewählten Zielländern<br />

Zusammen mit der Wirtschaft und der Pflegebranche<br />

soll eine bedarfsorientierte und gezielte<br />

Werbestrategie zur Gewinnung von Fachkräften<br />

mit Blick auf ausgewählte Zielländer erarbeitet<br />

werden. Neben einem gezielten Marketing sowie<br />

Vermittlungsaktivitäten soll diese auch die Etablierung<br />

von Ausbildungsangeboten im Ausland<br />

beinhalten.<br />

4. Verstärkte Sprachförderung<br />

Das Erlernen der deutschen Sprache im In- und<br />

Ausland soll auf einer Vielzahl von Kanälen<br />

gefördert werden, etwa durch das Goethe-Institut<br />

und die Auslandshandelskammern.<br />

5. Vereinfachung der Verwaltungsverfahren<br />

Die Verfahren zwischen den Visastellen, den<br />

Ausländerbehörden, der Arbeitsverwaltung, den<br />

zuständigen Stellen für die Anerkennung beruflicher<br />

Qualifikationen sowie dem Bundesamt für<br />

Migration und Flüchtlinge sollen mit dem Ziel<br />

überprüft werden, sie effizienter und transparenter<br />

zu gestalten.<br />

Bei der Vorstellung des Eckpunktepapiers betonten<br />

die Minister des Inneren, für Wirtschaft und<br />

für Arbeit, HORST SEEHOFER, PETER ALTMAIER und<br />

HUBERTUS HEIL, dass am Grundsatz der Trennung<br />

von Asyl und Erwerbsmigration festgehalten<br />

werden soll. Der Begriff des „Spurwechsels“ habe<br />

daher bei der Formulierung der Eckpunkte keine<br />

Rolle gespielt. Allerdings wolle man hier eine<br />

pragmatische, lebensnahe Lösung finden.<br />

[Red.]<br />

Bundesregierung beschließt<br />

Mieterschutzgesetz<br />

Am 4. Oktober hat die Bundesregierung den vom<br />

Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

(BMJV) erarbeiteten Entwurf eines<br />

Mietrechtsanpassungsgesetzes vorgelegt (vgl.<br />

zum Referentenentwurf und der Kritik daran<br />

zuletzt <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 17/<strong><strong>20</strong>18</strong>, S. 866). Mit<br />

dem Gesetz sollen die Regelungen der Mietpreisbremse<br />

effektiver handhabbar sein und<br />

Mieter vor überzogenen Mieterhöhungen durch<br />

Modernisierung und dem sog. Herausmodernisieren<br />

geschützt werden.<br />

Vermieter werden künftig verpflichtet, Mieterinnen<br />

und Mieter vor Abschluss eines Mietvertrags<br />

unaufgefordert darüber zu informieren, ob<br />

im konkreten Fall eine Ausnahme von der Mietpreisbremse,<br />

z.B. durch eine höhere Vormiete<br />

oder eine Modernisierung, vorliegt. Auch wird<br />

durch das Gesetz eine absolute Kappungsgrenze<br />

für modernisierungsbedingte Mieterhöhungen<br />

von monatlich 3 €/qm Wohnfläche innerhalb<br />

von sechs Jahren eingeführt. In angespannten<br />

Wohnungsmärkten wird zudem der Satz, mit<br />

dem Vermieter die Kosten einer Modernisierung<br />

an Mieter durch eine Mieterhöhung weitergeben<br />

können, für die Dauer von zunächst fünf Jahren<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1027


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

von 11 % auf 8 % abgesenkt. Schließlich sollen<br />

Mieterinnen und Mieter besser davor geschützt<br />

werden, durch missbräuchliche Modernisierungen<br />

aus ihren Wohnungen vertrieben zu werden.<br />

Vorgeschobene Modernisierungsmaßnahmen,<br />

mit denen Mieterinnen und Mieter zu einer Beendigung<br />

des Mietverhältnisses gebracht werden<br />

sollen, können in Zukunft mit einer Geldbuße<br />

bis zu 100.000 € geahndet werden. Für Mieter,<br />

die von einem solchen Herausmodernisieren<br />

betroffenen sind, soll es einfacherer werden,<br />

einen Schadensersatzanspruch geltend zu<br />

machen.<br />

Nicht nur Mieter, sondern auch die Vermieter<br />

sollen vom neuen Gesetz profitieren: Modernisierungsmaßnahmen<br />

bis zu einem Umfang von<br />

10.000 € pro Wohnung können durch ein vereinfachtes<br />

Verfahren vom Vermieter angekündigt<br />

und anschließend per Mieterhöhung geltend<br />

gemacht werden.<br />

[Quelle: BMJV]<br />

Angeklagtenrechte sollen weiter<br />

gestärkt werden<br />

Die Bundesregierung hat dem Bundestag den<br />

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts<br />

des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung<br />

(19/4467) vorgelegt (vgl. BT-Drucks<br />

19/4467). Hintergrund der Neuregelung ist die<br />

EU-Richtlinie (EU) <strong>20</strong>16/343 vom 9.3.<strong>20</strong>16 über<br />

die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung<br />

und des Rechts auf Anwesenheit<br />

in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl<br />

L 65 v. 11.3.<strong>20</strong>16, S. 1). Deren Vorgaben sieht die<br />

Regierung zwar schon im Wesentlichen als<br />

umgesetzt an, jedoch hält sie noch drei ergänzende<br />

punktuelle Änderungen im deutschen<br />

Strafverfahrensrecht für erforderlich.<br />

Diese betreffen eine Hinweispflicht in den Fällen<br />

einer zulässigen Abwesenheitsverhandlung, die<br />

Pflicht der Belehrung des Angeklagten über seine<br />

Rechte in Fällen der Abwesenheitsentscheidung<br />

und das Recht des inhaftierten Angeklagten auf<br />

Anwesenheit in der Revisionshauptverhandlung.<br />

Wie es in Ausführungen der Bundesregierung<br />

heißt, hat der Bundesrat keine Einwendungen<br />

gegen das Vorhaben. Mit einem Inkrafttreten der<br />

Novelle ist daher in Kürze zu rechnen.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Bundesregierung will Planungen im<br />

Verkehrsbereich beschleunigen<br />

Die Bundesregierung will die Planungs- und<br />

Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich beschleunigen.<br />

Dazu hat sie kürzlich einen Gesetzentwurf<br />

vorgelegt (BT-Drucks 19/4459).<br />

Dieser orientiere sich entsprechend dem Koalitionsvertrag<br />

an den zwölf Punkten der Strategie<br />

Planungsbeschleunigung des Bundesministeriums<br />

für Verkehr und digitale Infrastruktur<br />

aus dem Jahr <strong>20</strong>17, heißt es in der Vorlage. Die<br />

Strategie sei auf der Basis der Handlungsempfehlungen<br />

des Innovationsforums Planungsbeschleunigung<br />

erstellt worden, das mit hochrangigen<br />

Vertretern von Vorhabenträgern, Planern, Genehmigungsbehörden,<br />

Bauausführenden sowie<br />

Fachexperten im Planungsrecht besetzt gewesen<br />

sei, schreibt die Regierung. Mit dem Planungsbeschleunigungsgesetz<br />

würden das Bundesfernstraßengesetz,<br />

das Allgemeine Eisenbahngesetz,<br />

das Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetz<br />

und das Bundeswasserstraßengesetz geändert.<br />

Vorgesehen ist in dem Gesetzentwurf die im<br />

Bereich der Wasserstraßen schon vorhandene<br />

Möglichkeit der „vorläufigen Anordnung“. Dazu<br />

schreibt die Bundesregierung: Bau oder Änderung<br />

von Straßen und Schienenwegen bedürften im<br />

Regelfall eines Planfeststellungsbeschlusses, dem<br />

ein Planfeststellungsverfahren vorausgehe, das<br />

oftmals sehr zeitaufwändig sei. Vor dem Planfeststellungsbeschluss<br />

könne nicht mit Maßnahmen<br />

begonnen werden. Mit dem vorliegenden<br />

Vorschlag sollen nach den Vorstellungen der<br />

Bundesregierung die Planungs- und Bauzeiten<br />

von Straßen- und Schienenbaubaumaßnahmen<br />

dadurch beschleunigt werden, dass vorbereitende<br />

Maßnahmen oder Teilmaßnahmen schon<br />

vor dem Planfeststellungsbeschluss begonnen<br />

oder durchgeführt werden können. Die vorläufige<br />

Anordnung gebe jedoch kein Recht zur Enteignung.<br />

Ein weiterer Punkt in dem Gesetzentwurf ist der<br />

Verzicht auf Erörterung. Laut der Vorlage kann<br />

die Anhörungsbehörde auf Erörterungstermine<br />

bei Vorhaben verzichten, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung<br />

durchzuführen ist. „Insbesondere<br />

schreibt das europäische Recht keine mündliche<br />

Erörterung vor“, schreibt die Regierung.<br />

1028 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Möglichkeit,<br />

einen Projektmanager im Planfeststellungsverfahren<br />

einzusetzen, übernimmt die<br />

Bundesregierung Regelungen aus dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz.<br />

Erfahrungen aus<br />

dem Energiebereich zeigten, dass die Einbeziehung<br />

von privaten Dritten zu einer Straffung und<br />

Bündelung der Abläufe in Genehmigungsverfahren<br />

führen kann, wird zur Begründung angeführt.<br />

Der Projektmanager soll behördliche Verfahrensschritte<br />

vorbereiten und durchführen,<br />

nicht aber an den eigentlichen Entscheidungen<br />

mitwirken.<br />

Mit dem Gesetzentwurf soll auch eine einheitliche<br />

Klagebegründungsfrist für Klagen gegen<br />

Planfeststellungs- und Plangenehmigungsentscheidungen<br />

im Straßen-, Schienenwege- und<br />

Wasserstraßenbau eingeführt werden. Vorgesehen<br />

ist eine Sechs-Wochen-Frist ab Klageerhebung,<br />

in der Erklärungen und Beweismittel<br />

vorgebracht werden müssen. Darüber hinaus ist<br />

eine Regelung im Bereich der Bundesschienenwege<br />

zur Bündelung von Anhörungs- und Planfeststellungsverfahren<br />

beim Eisenbahn-Bundesamt<br />

vorgesehen. [Quelle: Bundesregierung]<br />

Besteuerung juristischer Dienstleistungen<br />

im Zusammenhang<br />

mit Grundstücken<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer und die Bundessteuerberaterkammer<br />

haben sich im August mit<br />

einem gemeinsamen Schreiben an die Abteilungsleiter<br />

der zuständigen Steuerbehörden von<br />

Bund und Ländern gewandt und darin um eine<br />

Änderung des Umsatzsteueranwendungserlasses<br />

zur Thematik „Ort der Leistung bei der<br />

Erbringung juristischer Dienstleistungen im Zusammenhang<br />

mit einem Grundstück“ gebeten.<br />

Wenn dies nicht geschehe, so führen beide<br />

Kammern aus, drohe in den betroffenen Rechtsanwalts-<br />

und Steuerberaterpraxen ein „erheblicher<br />

Korrekturaufwand“.<br />

Hintergrund der Initiative ist eine umsatzsteuerrechtliche<br />

Änderung auf europäischer Ebene aus<br />

dem Jahr <strong>20</strong>13, wonach juristische Dienstleistungen<br />

im Zusammenhang mit Grundstücksübertragungen<br />

sowie mit der Begründung oder Übertragung<br />

von bestimmten Rechten an Grundstücken<br />

oder dinglichen Rechten an Grundstücken als<br />

grundstücksbezogene Leistung anzusehen sind.<br />

Als Beispiele werden die Tätigkeit von Notaren<br />

sowie das Aufsetzen eines Vertrags über den<br />

Kauf/Verkauf eines Grundstücks genannt.<br />

Hingegen sollen keine grundstücksbezogenen<br />

Leistungen vorliegen, wenn juristische Dienstleistungen<br />

erbracht werden, sofern diese nicht<br />

speziell mit der Übertragung von Rechten an<br />

Grundstücken zusammenhängen. In Kraft traten<br />

diese Änderungen im Januar <strong>20</strong>17 und stellen<br />

seitdem in den EU-Mitgliedstaaten unmittelbar<br />

geltendes Recht dar.<br />

Die deutsche Finanzverwaltung, so beklagen<br />

beide Kammern, habe sich also vier Jahre Zeit<br />

gelassen, um sich zu diesen Neuregelungen zu<br />

äußern und dann Ende <strong>20</strong>17 unerwartet ihre<br />

Rechtsauffassung geändert. In Abweichung zur<br />

bisherigen Verwaltungsauffassung stelle nunmehr<br />

beispielsweise eine Beratung hinsichtlich<br />

einer Steuerklausel in einem Grundstückskaufvertrag<br />

eine grundstücksbezogene Leistung dar.<br />

Viele Rechtsanwälte und Steuerberater seien<br />

davon ausgegangen, dass die jahrelange Nichtanpassung<br />

des bisherigen Umsatzsteueranwendungserlasses<br />

eine bewusste Entscheidung der<br />

deutschen Finanzverwaltung gewesen sei und<br />

keine Änderung der Rechtsauffassung vorgelegen<br />

habe. Sie hätten also ihre juristischen Dienstleistungen,<br />

die bis Dezember <strong>20</strong>17 erbracht<br />

worden seien, vielfach nach den Grundsätzen<br />

des alten Anwendungserlasses abgerechnet.<br />

Nun drohe ihnen ein erheblicher nachträglicher<br />

Korrekturaufwand.<br />

Die beiden Kammern sind der Auffassung, dass<br />

die rückwirkende Anwendung der Grundsätze<br />

des neuen Anwendungserlasses die Berufsstände<br />

der Steuerberater und der Rechtsanwälte<br />

vor praktische Probleme stellt und zudem gegen<br />

Vertrauensschutzgrundsätze und gegen den<br />

Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer auf<br />

Unternehmerebene verstößt. Sie fordern deshalb<br />

eine sog. Nichtbeanstandungsregelung, wonach<br />

auf bis zum 31.12.<strong>20</strong>17 erbrachte juristische<br />

Dienstleistungen von Angehörigen der rechtsund<br />

steuerberatenden Berufe noch die bisherige<br />

Regelung aus dem früheren Umsatzsteueranwendungserlass<br />

angewendet wird.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1029


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Mehrbelastung für den richterlichen<br />

Bereitschaftsdienst<br />

Die jüngste Entscheidung des BVerfG zur Fixierung<br />

von Psychiatriepatienten (2 BvR 309/15 und<br />

502/16, s. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 442/18) zwingt die Gerichte<br />

dazu, über die Ausweitung ihrer Bereitschaftsdienste<br />

nachzudenken. Die Karlsruher Richter<br />

hatten im Juli festgelegt, dass die 5-Punkt- und<br />

7-Punkt-Fixierung von Psychiatriepatienten, die<br />

länger als eine halbe Stunde andauert, von einem<br />

Richter genehmigt werden muss.<br />

Wie der Deutsche Richterbund (DRB) jetzt mitteilte,<br />

hat die Entscheidung dazu geführt, dass<br />

Amtsgerichte in allen Bundesländern mit Anträgen<br />

auf Erlass einstweiliger Anordnungen von<br />

Fixierungsmaßnahmen befasst worden sind. Mit<br />

den Auswirkungen hätten sich auch die Landgerichte<br />

befassen müssen. Es sei darüber diskutiert<br />

worden, ob die BVerfG-Entscheidung über<br />

den Bereich der Psychiatrie hinausgehe und auch<br />

den Bereich der Strafvollstreckung oder den<br />

Maßregelvollzug betreffe. Damit wären für die<br />

Anträge die Strafvollstreckungskammern der<br />

Landgerichte zuständig – es bedürfte dann auch<br />

dort eines Bereitschaftsdienstes.<br />

Nach erster Einschätzung des für Betreuungsund<br />

Unterbringungssachen zuständigen Präsidiumsmitglieds<br />

im DRB, PETER FÖLSCH, wird die<br />

Entscheidung eine nicht zu unterschätzende<br />

Mehrbelastung für die gerichtliche, vor allem für<br />

die amtsgerichtliche Praxis, mit sich bringen.<br />

Dabei betreffe die Mehrbelastung nicht nur den<br />

Bereitschaftsdienst, sondern auch die für Unterbringungssachen<br />

originär zuständigen Richter.<br />

Um den Umfang der Mehrbelastung bewerten zu<br />

können, hat sich der DRB an seine Landesverbände<br />

gewandt und um Informationen zum<br />

Bereitschaftsdienst sowie zu ersten praktischen<br />

Erfahrungen im Umgang mit der Entscheidung<br />

des BVerfG gebeten.<br />

[Quelle: DRB]<br />

DAV für Verkürzung der Gewährleistung<br />

bei gebrauchten Sachen<br />

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

erwägt derzeit eine Änderung<br />

bei den Haftungs- bzw. Gewährleistungsfristen<br />

beim Verkauf gebrauchter Sachen. Hintergrund<br />

ist die Rechtsprechung des EuGH, die möglicherweise<br />

eine Anpassung der deutschen Verjährungs-<br />

und Haftungsregeln erfordern könnte. So<br />

wird etwa die Ergänzung des § 476 Abs. 2 BGB<br />

um den Satz „Bei gebrauchten Sachen können die<br />

Parteien vereinbaren, dass der Verkäufer nur für einen<br />

Mangel haftet, der sich innerhalb eines bestimmten<br />

Zeitraums seit der Ablieferung der Sache gezeigt hat.<br />

Dieser Zeitraum darf ein Jahr nicht unterschreiten“<br />

vorgeschlagen.<br />

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) begrüßt diese<br />

Pläne. Aus Gründen der Rechtssicherheit und<br />

Rechtsklarheit sei es geboten, kurzfristig eine<br />

Gesetzesänderung vorzunehmen und nicht auf<br />

weitere Gesetzesänderungen, insbesondere im<br />

Zuge einer derzeit noch nicht absehbaren Neufassung<br />

der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (RiL<br />

1999/44/EG), zu warten.<br />

Da die Verjährungsfrist beim Kauf gebrauchter<br />

Sachen zudem Massengeschäfte betreffe und die<br />

Verkürzung der Verjährungsfrist auf ein Jahr in<br />

Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) absolut<br />

üblich sei, besteht nach Ansicht des DAV<br />

gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Ohne eine<br />

gesetzliche Regelung sei es derzeit kaum möglich,<br />

rechtssichere AGB zu formulieren, da die Unterscheidung<br />

zwischen Verjährungs- und Haftungsfrist<br />

dem deutschen Recht fremd sei und eine<br />

entsprechend differenzierende Formulierung in<br />

AGB u.U. schon deshalb unwirksam sein könne,<br />

weil sie mit dem Leitbild des BGB eventuell in<br />

Konflikt gerate.<br />

Eine zweijährige Mängelhaftung nach § 438 BGB<br />

erscheine bei gebrauchten Sachen durchaus lang,<br />

so dass ein praktisches Bedürfnis für eine wirksame<br />

vertragliche und AGB-feste Verkürzungsmöglichkeit<br />

bestehe. Allerdings werde sich, so der<br />

DAV, auch unter dem neuen Recht die Frage<br />

stellen, wie mit Verjährungsverkürzungen umzugehen<br />

ist, die noch nach altem Recht vereinbart<br />

wurden. Nach Meinung des DAV dürfen solche<br />

Klauseln nicht einfach für unwirksam erklärt<br />

werden. Um dies zu vermeiden, könne man<br />

vorsehen, dass eine nach bisherigem Recht vereinbarte<br />

Verjährungsverkürzung im Zweifel als<br />

eine entsprechende Vereinbarung zur Haftungsdauer<br />

gelte.<br />

[Quelle: DAV]<br />

1030 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 155<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

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Allgemeines Zivilrecht<br />

Arzthaftung: Verweigerung medizinisch gebotener Maßnahmen durch den Patienten<br />

(BGH, Beschl. v. 15.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VI ZR 287/17) • Ein Behandlungsfehler kann zu verneinen sein, wenn der Patient<br />

die medizinisch gebotenen Maßnahmen abgelehnt hat. Eine solche Würdigung setzt allerdings voraus, dass<br />

der Patient über die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Maßnahme vollständig und widerspruchsfrei<br />

informiert worden ist und er diese Informationen auch verstanden hat. Machen der Chefarzt einerseits und<br />

der Assistenzarzt andererseits dem Patienten gegenüber widersprechende Angaben über die medizinisch<br />

gebotenen Maßnahmen, so kann ein in der Wahl der vom Chefarzt vorgeschlagenen Behandlungsweise<br />

liegender Behandlungsfehler nicht unter Hinweis darauf verneint werden, der Patient habe die vom<br />

Assistenzarzt zutreffend angeratene Maßnahme abgelehnt. Hinweis: Zudem führ der BGH aus, dass der<br />

Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann verletzt ist, wenn das Gericht eine den Beteiligten selbst<br />

gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet, sondern auch dann, wenn das Gericht<br />

sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte<br />

Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann. Gleiches gilt, wenn diese vom Gericht gesetzte<br />

Frist objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und<br />

zur Rechtslage zu erbringen (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.6.1983 – 1 BvR 545/82). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 567/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Vebrauchsgüterkauf: Versteigerung eines zweieinhalb Jahre alten Hengstes<br />

(OLG Schleswig, Urt. v. 4.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 12 U 87/17) • Bei einem zum Zeitpunkt der Versteigerung zweieinhalb<br />

Jahre alten Hengst handelt es sich um eine gebrauchte Sache i.S.d. § 474 Abs. 2 S. 2 BGB. Auch beim Tierkauf<br />

ist zwischen „neu“ und „alt“ zu unterscheiden. Zur Abgrenzung ist – unabhängig davon, welchem Zweck ein<br />

Pferd dienen soll und ob es schon verwendet worden ist – allein auf den Ablauf einer gewissen Zeitspanne<br />

nach der Geburt des Tieres abzustellen. Hinweis: Der Senat hat die Revision gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO<br />

zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Pferd<br />

nicht mehr als neu im Sinne des Gesetzes anzusehen ist, hat in einer Vielzahl von Versteigerungsfällen<br />

Relevanz. Das Verfahren ist beim BGH anhängig (Az. VIII ZR 240/18). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 568/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Kleingartenpachtvertrag: Kündigung durch den Zwischenpächter<br />

(BGH, Beschl. v. 5.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – III ZR 355/17) • § 10 Abs. 3 BKleingG findet auf den Fall, dass der<br />

Zwischenpachtvertrag vom Zwischenpächter gekündigt wird, weder direkt noch analog Anwendung.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1031


Fach 1, Seite 156 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Dies gilt auch dann, wenn die Kündigung gem. § 109 Abs. 1 S. 1 InsO durch den Insolvenzverwalter<br />

über das Vermögen des Zwischenpächters erfolgt. Hinweis: Wenn der Haupt-(= Zwischen-)<br />

Pachtvertrag durch eine Kündigung von Seiten des Zwischenpächters beendet wird und diese<br />

Kündigung durch den Zwischenpächter das Schutzbedürfnis der Endpächter in treuwidriger Weise<br />

außer Acht lässt, könnte den Endpächtern (Kleingärtner) bzw. dem weiteren Zwischenpächter<br />

(hier: Kleingartenverein) gegenüber dem Herausgabeanspruch des Hauptverpächters der Einwand<br />

der unzulässigen Rechtsausübung zustehen. Ein solcher Fall liegt aber nicht vor, wenn die Kündigung<br />

des Haupt-(= Zwischen-)Pachtvertrags durch den Zwischenpächter auf seine Insolvenz zurückgeht,<br />

die ihre Ursache wiederum darin findet, dass er nicht mehr in der Lage gewesen ist, den<br />

erhöhten Pachtzins für eine Kleingartenanlage aufzubringen, in der infolge des örtlichen Überangebots<br />

an Kleingärten ein großer Teil der Parzellen ungenutzt ist und leer steht.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 569/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Geschäftsraummietvertrag: Zusammentreffen von Verlängerungsklausel und -option<br />

(OLG Dresden, Urt. v. 15.8.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 5 U 539/18) • Treffen in einem Gewerberaummietvertrag eine<br />

Verlängerungsklausel und eine Verlängerungsoption für den Mieter aufeinander und hat der<br />

Vermieter der Verlängerung widersprochen, kann der Mieter regelmäßig durch Erklären der Option<br />

das Auslaufen des Mietvertrags verhindern. Hinweis: Bei der Auslegung eines Mietvertrags – wie in<br />

der hier vorliegenden Konstellation einer festen Vertragslaufzeit mit einer zeitlich befristeten<br />

Verlängerungsoption – muss hinsichtlich des Zeitpunktes der Optionsausübung durch den Mieter<br />

auch das schützenswerte Interesse des Vermieters berücksichtigt werden, rechtzeitig vor dem Ablauf<br />

des Mietvertrags zu wissen, ob er sich auf eine Fortsetzung des Vertrags mit dem Mieter einstellen<br />

muss. Die Option muss deshalb regelmäßig bis zum Ende der Kündigungsfrist erklärt werden, weil<br />

beide Vertragspartner mit dem Ablauf der Kündigungsfrist Gewissheit darüber haben sollen, ob<br />

das Mietverhältnis mit Ablauf der Festmietzeit endet oder fortgesetzt wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 570/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Werkvertrag: Kein Ausschluss des Widerrufsrechts<br />

(BGH, Urt. v. 30.8.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VII ZR 243/17) • Der Ausschlusstatbestand des § 312g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB a.F.<br />

(= § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB) gilt jedenfalls regelmäßig nicht für Werkverträge nach § 631 BGB. Hinweis:<br />

Nach § 312g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB besteht kein Widerrufsrecht für Verträge, die zur Lieferung von Waren,<br />

die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung<br />

durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des<br />

Verbrauchers zugeschnitten sind. Dem Wortlaut nach sind damit solche Verträge umfasst, die auf die<br />

Lieferung von Waren gerichtet sind, also nach dem allgemeinen Sprachgebrach Kaufverträge und<br />

Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (Werklieferungsverträge).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 571/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Reiserecht: Entschädigungsanspruch wegen Vereitelung der Reise<br />

(BGH, Urt. v. 29.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – X ZR 94/17) • Kann oder will der Reiseveranstalter den Reisevertrag nicht<br />

ordnungsgemäß erfüllen, z.B. infolge einer Überbuchung, und führt dies dazu, dass der Kunde die Reise<br />

nicht antritt, so wird die Reise vereitelt. Auch bei Vereitelung der Reise sind das Ausmaß der<br />

Beeinträchtigung und der Reisepreis für die Bemessung der Höhe der Entschädigung von maßgeblicher<br />

Bedeutung. Die vollständige Vereitelung einer Reise begründet i.d.R. keine Beeinträchtigung des<br />

Reisenden, die der Beeinträchtigung durch grob mangelhafte, den Erholungs-, Erlebnis- oder<br />

Bildungswert der Reise nahezu vollständig entwertende Mängel der geschuldeten Reiseleistungen<br />

gleichkäme. Macht der Reisende einen Entschädigungsanspruch wegen Vereitelung der Reise geltend,<br />

1032 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 157<br />

stehen ihm daneben weder unter dem Gesichtspunkt des Aufwendungsersatzes nach § 651c Abs. 3 BGB<br />

noch unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes die Mehrkosten einer Ersatzreise zu.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 572/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Veräußerung von Wohnungseigentum: Umfang des Zustimmungserfordernisses<br />

(KG, Beschl. v. 3.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 W 370/17) • Die dem Grundbuchamt nachzuweisende Auflassung bedarf für<br />

ihre Wirksamkeit gem. § 12 Abs. 1, 3 S. 1 WEG grds. der Zustimmung des Verwalters. Die Ausnahme vom<br />

Zustimmungserfordernis nach § 12 WEG „der ersten Veräußerung nach Teilung“ erfasst nicht eine<br />

(erneute) Veräußerung durch eine Person, in deren Hand sich nach den Erstveräußerungen sämtliche<br />

Wohnungseigentumsrechte vereinigt haben. Soll die Verwalterzustimmung durch die Zustimmungserklärung<br />

der übrigen Eigentümer ersetzt werden, haben auch die sog. werdenden Wohnungseigentümer<br />

zuzustimmen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 573/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Darlehensvertrag: Umwandlung in ein Rückabwicklungsverhältnis<br />

(KG, Urt. v. 17.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 8 U 225/16) • Grundsätzlich gilt, dass ein Verbraucher, der die Umwandlung eines<br />

Verbraucherdarlehensvertrags in ein Rückgewährschuldverhältnis geltend macht, vorrangig Leistungsklage<br />

auf der Grundlage der § 357 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. i.V.m. §§ 346 ff. BGB a.F. gegen die beklagte Bank<br />

erheben muss. Der Antrag auf Feststellung, dass sich der Darlehensvertrag durch den Widerruf in ein<br />

Rückabwicklungsverhältnis umgewandelt hat, ist allerdings zulässig, weil der Vorrang der Leistungsklage<br />

nicht anzunehmen ist, nachdem die gegenseitigen Rückabwicklungsansprüche zur Aufrechnung<br />

gestellt worden sind. Jedenfalls dann, wenn die beklagte Bank mit der Hilfswiderklage eine Abrechnung<br />

der gegenseitigen Rückabwicklungsansprüche vorlegt, ist gesichert, dass die Stattgabe der Feststellungsklage<br />

zu einer endgültigen Klärung sämtlicher Streitpunkte führt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 574/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Kfz-Sachverständiger: Wirksamkeit von AGB<br />

(BGH, Urt. v. 17.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VI ZR 274/17 u. 277/17) • Eine in einem Vertrag über die Erstellung eines Kfz-<br />

Schadensgutachtens enthaltene formularmäßige Klausel über die Abtretung von Honoraransprüchen<br />

kann wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot gem. § 307 Abs. 1 S. 2, 1 BGB unwirksam sein. Unklar<br />

ist die Klausel, wenn aus ihr für den als durchschnittlichen Kunden angesprochenen (durchschnittlichen)<br />

Unfallgeschädigten nicht hinreichend deutlich wird, welche Rechte ihm gegenüber dem Sachverständigen<br />

zustehen sollen, wenn der Sachverständige nach „zur Sicherung“ und „erfüllungshalber“<br />

erfolgter (Erst-)Abtretung des Schadensersatzanspruchs den ihm nach der Klausel verbleibenden<br />

vertraglichen Honoraranspruch geltend macht. Die Intransparenz führt nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB zur<br />

Unwirksamkeit der gesamten Klausel über die „Abtretung und Zahlungsanweisung“.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 575/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Haftpflichtversicherung: Strafbarkeit bei Gebrauch eines Fahrzeugs ohne Versicherung<br />

(OLG Köln, Beschl. v. 11.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 RVs 61/18) • Nach § 6 PflVG macht sich strafbar, wer vorsätzlich (Abs. 1)<br />

oder fahrlässig (Abs. 2) auf öffentlichen Wegen ein Fahrzeug gebraucht, obwohl für dieses der<br />

erforderlichen Haftpflichtversicherungsvertrag nicht mehr besteht. Vorausgesetzt ist danach, dass der<br />

Versicherungsvertrag durch Kündigung, Rücktritt, Anfechtung oder in anderer Weise aufgelöst worden<br />

ist. Hinweis: § 6 PflVG hat in der Praxis eine nicht zu unterschätzende Bedeutung; nicht zuletzt<br />

deswegen, da Personen, die hier geschädigt werden, einen extrem schweren Stand haben. Gleichwohl<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1033


Fach 1, Seite 158 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

bedingt die Nichtzahlung von zwei Prämien nicht unbedingt die Beendigung des Versicherungsvertrags,<br />

sie berechtigt allenfalls hierzu. Ob tatsächlich eine Beendigung stattgefunden hat, ist durch Feststellungen<br />

im Urteil zu belegen. Auch eine Stilllegungsanordnung ändert hieran nichts.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 576/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Gebäudeversicherung: Anspruch auf Zahlung des Neuwertanteils<br />

(OLG Dresden, Urt. v. 29.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 4 U 1779/17) • Die Neuwertversicherung soll grds. nicht auch solche<br />

Aufwendungen abdecken, die durch wesentliche Verbesserungen des Gebäudes bei seiner Wiedererrichtung<br />

verursacht wurden. Die Voraussetzungen für die Auszahlung der Neuwertspitze in der<br />

Gebäudeversicherung liegen bei Vereinbarung einer strengen Wiederherstellungsklausel auch dann vor,<br />

wenn anstelle eines zweigeschossigen Wohnhauses ein Bungalow mit Flachdach erstellt wird. Hinweis:<br />

Nach Auffassung des Gerichts kann bei der Berechnung der Größe des Gebäudes in einem<br />

Versicherungsverhältnis nicht auf die Wohnflächenberechnung der Wohnflächenverordnung zurückgegriffen<br />

werden, da diese einem völlig anderen Zweck diene. Im Verhältnis zwischen Versicherungsnehmer<br />

und Versicherer würde ihre Anwendung nicht zu sachgerechten Lösungen führen. Das OLG<br />

weist zudem darauf hin, dass der BGH eine Vergrößerung der Wohnfläche von 116 qm bei dem alten auf<br />

171,29 qm bei dem neuen Gebäude – mithin um 47 % – nicht zum Anlass genommen hat, die<br />

Neuwertentschädigung schon aus diesem Grund zu versagen (BGH, Urt. v. <strong>20</strong>.4.<strong>20</strong>16 – IV ZR 415/14).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 577/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Familienrecht<br />

Verfahrenskostenhilfe: Anrechnung fiktiven Vermögens bei der Bedürftigkeitsprüfung<br />

(BGH, Beschl. v. <strong>20</strong>.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – XII ZB 636/17) • Eine für nicht unbedingt notwendige Anschaffungen<br />

ausgegebene Unterhaltsnachzahlung kann als fiktives Vermögen bei der Bedürftigkeitsprüfung im<br />

Rahmen der Verfahrenskostenhilfe anzurechnen sein. Sind nämlich Rechtsverfolgungskosten absehbar,<br />

darf vorhandenes Vermögen nicht mehr leichtfertig für nicht unbedingt notwendige Zwecke<br />

ausgegeben werden. Geschieht dies gleichwohl, muss sich der Antragsteller die ausgegebene Summe<br />

als fiktives Vermögen anrechnen lassen und kann sich insoweit auch nicht mehr auf den Schonbetrag<br />

nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII berufen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 578/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Volljährigenunterhalt: Finanzierung einer zweiten Ausbildung<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 15.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 7 UF 18/18) • Gemäß § 1610 Abs. 2 BGB umfasst der Unterhalt den<br />

gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf.<br />

Geschuldet wird nach dieser Vorschrift eine Berufsausbildung, die der Begabung und den Fähigkeiten,<br />

dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen des Kindes am besten entspricht und sich in<br />

den Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern hält. Eltern, die ihrem Kind eine solche<br />

Berufsausbildung gewährt haben, sind grds. nicht mehr verpflichtet, Kosten einer weiteren Ausbildung<br />

zu tragen. Ausnahmen hiervon sind nur unter besonderen Umständen gegeben, etwa wenn der Beruf<br />

– aus gesundheitlichen oder sonstigen, bei Ausbildungsbeginn nicht vorhersehbaren Gründen – nicht<br />

ausgeübt werden kann. Hinweis: Das OLG macht deutlich, dass die unterhaltsverpflichteten Eltern das<br />

Risiko der Nichtbeschäftigung des Kindes nach Abschluss der geschuldeten Ausbildung grds. nicht zu<br />

tragen haben. Ungünstige Anstellungsaussichten stehen der Wahl einer bestimmten Ausbildung nicht<br />

ohne Weiteres entgegen. Verwirklicht sich eine solche Prognose im späteren Berufsleben, fällt den<br />

Eltern das allgemeine Arbeitsplatzrisiko nicht zur Last. Vielmehr muss ein Volljähriger, der nach<br />

Abschluss seiner Ausbildung arbeitslos ist, primär selbst für seinen Unterhalt sorgen und jede<br />

Arbeitsstelle annehmen, auch außerhalb des erlernten Berufs. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 579/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

1034 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 159<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Nacherbenvermerk: Eintragung<br />

(BGH, Beschl. v. 12.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – V ZB 228/17) • Ist nur für einen Miterben eine Nacherbfolge angeordnet,<br />

unterliegt dieser, wenn er die übrigen Erbanteile hinzuerwirbt, hinsichtlich eines zum Nachlass<br />

gehörenden Grundstücks insgesamt den Beschränkungen des § 2113 BGB; bei seiner Eintragung als<br />

Grundstückseigentümer ist daher ein Nacherbenvermerk anzubringen. Anders liegt es hingegen, wenn<br />

eine aus zwei Personen bestehende Erbengemeinschaft dadurch endet, dass einer der Gesamthänder<br />

stirbt und der andere Gesamthänder dessen alleiniger Vorerbe („zweite Stufe“) und damit alleiniger<br />

Eigentümer eines von der Gesamthand gehaltenen Grundstücks wird. Dann findet § 2113 BGB weder<br />

direkte noch entsprechende Anwendung, weil der Schutz des Anteils, der dem Überlebenden schon<br />

vorher zu eigenem Recht zustand, hier Vorrang vor den Interessen des Nacherben hat.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 580/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Zweistufiges Schiedsverfahren: Wirksamkeit des Schiedsspruch erster Instanz<br />

(BGH, Beschl. v. 9.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – I ZB 77/17) • Die Wirksamkeit eines Schiedsspruchs erster Instanz steht unter<br />

der aufschiebenden Bedingung seiner Bestätigung durch das Oberschiedsgericht. Die aufschiebende<br />

Bedingung tritt ein, wenn die Berufung nicht fristgemäß eingelegt, als unzulässig verworfen oder als<br />

unbegründet zurückgewiesen wird. Wird das Schiedsverfahren dadurch abgeschlossen, dass das<br />

Oberschiedsgericht die Berufung gegen den Schiedsspruch als unzulässig verwirft, ist Gegenstand der<br />

Vollstreckbarerklärung gem. § 1060 ZPO der Schiedsspruch erster Instanz, der mit der Verwerfung der<br />

Berufung als unzulässig die Wirkungen eines rechtskräftigen gerichtlichen Urteils erlangt hat. Im<br />

Verfahren der Vollstreckbarerklärung kann der Antragsgegner gegen diesen Schiedsspruch Aufhebungsgründe<br />

i.S.v. § 1059 Abs. 2 ZPO geltend machen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 581/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sachverständigengutachten: Erstattungsfähigkeit der Auslagen<br />

(LG Chemnitz, Beschl. v. 3.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 2 Qs 241/18) • Die Erstattungsfähigkeit der Kosten eines<br />

Privatgutachtens richtet sich nicht nach den Vergütungssätzen des JVEG. Auch eine entsprechende<br />

Anwendung des JVEG kommt nicht in Betracht, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass es<br />

einem Betroffenen möglich ist, einen geeigneten Sachverständigen zu den im JVEG vorgesehenen<br />

Vergütungssätzen zu gewinnen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 582/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Insolvenzanfechtung: Anforderungen an ein Sanierungskonzept<br />

(BGH, Urt. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – IX ZR 22/15) • Ein Sanierungsplan kann zu einer Verneinung des<br />

Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Insolvenzschuldners führen. Um die Vermutung des § 133<br />

Abs. 1 S. 2 InsO zu widerlegen, ist jedoch Voraussetzung auf Schuldnerseite, dass zu der Zeit der<br />

angefochtenen Handlung ein schlüssiges, von den tatsächlichen Gegebenheiten ausgehendes<br />

Sanierungskonzept vorlag, das mindestens in den Anfängen schon in die Tat umgesetzt war und<br />

die ernsthafte und begründete Aussicht auf Erfolg rechtfertigte. Die bloße Hoffnung des Schuldners<br />

auf eine Sanierung räumt seinen Benachteiligungsvorsatz nicht aus. Hinweis: Nicht notwendig ist,<br />

dass ein Sanierungsplan, um zu einer Verneinung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes zu führen,<br />

bestimmten formalen Erfordernissen entsprechen muss, wie sie das Institut für Wirtschaftsprüfer in<br />

Deutschland e.V. in dem IDW Standard S6 (IDW S6) oder das Institut für die Standardisierung von<br />

Unternehmenssanierungen (ISU) als Mindestanforderungen an Sanierungskonzepte aufgestellt<br />

haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 583/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1035


Fach 1, Seite 160 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

GbR: Umfang der Notgeschäftsführungsbefugnis<br />

(BGH, Urt. v. 26.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – II ZR <strong>20</strong>5/16) • Das Notgeschäftsführungsrecht analog § 744 Abs. 2 BGB erfasst über<br />

dessen Wortlaut hinaus nicht nur Maßnahmen zur Erhaltung eines bestimmten Gegenstands des Gesamthandvermögens,<br />

sondern greift auch dann ein, wenn der Gesellschaft selbst eine akute Gefahr droht<br />

und zu ihrer Abwendung rasches Handeln erforderlich ist. Die Notwendigkeit raschen Handelns ist nicht<br />

gegeben, wenn es dem Gesellschafter möglich ist, durch Inanspruchnahme seiner Mitgesellschafter eine<br />

Mitwirkung an der Abwendung der Gefahren für die Gesellschaft zu erreichen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 584/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

GmbH-Geschäftsführerhaftung: D&O-Versicherung<br />

(OLG Düsseldorf, Urt. v. <strong>20</strong>.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 4 U 93/16) • Der Versicherungsschutz einer D&O-Versicherung<br />

umfasst nicht den Anspruch einer insolvent gewordenen Gesellschaft gegen ihren versicherten<br />

Geschäftsführer auf Ersatz insolvenzrechtswidrig geleisteter Zahlungen der Gesellschaft gem. § 64<br />

GmbHG. Hinweis: Dieses Urteil hat große praktische Bedeutung für Führungskräfte von Unternehmen,<br />

Insolvenzverwalter, Versicherungsmakler und Industrieversicherer, da es häufig vorkommt, dass<br />

Insolvenzverwalter wegen der Regelung in § 64 GmbHG die Geschäftsführer von Unternehmen in<br />

Anspruch nehmen. Das OLG Düsseldorf hat hier die Revision zum BGH nicht zugelassen; die Beschwerde<br />

gegen die Nichtzulassung ist beim BGH anhängig (Az. IV ZR 186/18). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 585/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Störerhaftung: Urheberrechtsverletzungen über ungesichertes WLAN<br />

(BGH, Urt. v. 26.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – I ZR 64/17) • Der an die Stelle der bisherigen Störerhaftung des<br />

Zugangsvermittlers für von Dritten begangene Rechtsverletzungen getretene Sperranspruch nach § 7<br />

Abs. 4 TMG n.F. ist unionsrechtskonform dahingehend fortzubilden, dass er in analoger Anwendung<br />

gegen Betreiber drahtgebundener Internetzugänge geltend gemacht werden kann. Kann der Sperranspruch<br />

nach § 7 Abs. 4 TMG n.F. nicht nur gegen WLAN-Betreiber, sondern auch gegen Anbieter<br />

drahtgebundener Internetzugänge geltend gemacht werden, bestehen gegen die Anwendung des<br />

Ausschlusses von Unterlassungsansprüchen gem. § 8 Abs. 1 S. 2 TMG n.F. keine durchgreifenden<br />

unionsrechtlichen Bedenken. Hinweis: Mit vorliegender Entscheidung hat der BGH der Störerhaftung<br />

eine Absage erteilt, gleichzeitig aber die Möglichkeit eines Anspruchs auf Sperrung des Zugangs<br />

aufgezeigt. Zur ausführlichen Entscheidungsbesprechung s. VIERKÖTTER <strong>ZAP</strong> F. 16, S. 467 (in diesem Heft).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 586/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Wettbewerbsrecht: Anforderungen bei Sicherheitsmängeln an die Produktsicherheit<br />

(OLG Frankfurt, Urt. v. 5.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 6 U 28/18) • Nach § 3 Abs. 2 ProdSG darf ein Produkt, soweit es nicht<br />

Absatz 1 unterliegt, nur auf dem Markt bereitgestellt werden, wenn es bei bestimmungsgemäßer oder<br />

vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährdet. Ein für<br />

den privaten Gebrauch bestimmter Kinderschreibtisch kann nicht allein deshalb als sicherheits- und<br />

gesundheitsgefährdend i.S.v. § 3 Abs. 2 ProdSG angesehen werden, weil der die für Tische in Bildungseinrichtungen<br />

bestehende technische Norm nicht vollständig erfüllt. Entscheidend ist allein, ob er<br />

Tisch über Mängel verfügt, die tatsächlich eine solche Gefahr begründen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 587/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Freizügigkeit: Bindungswirkung der A1-Bescheinigung<br />

(EuGH, Urt. v. 6.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – C-527/16) • Ein entsandter Arbeitnehmer fällt, wenn er einen anderen<br />

entsandten Arbeitnehmer ablöst, unter das System der sozialen Sicherheit am Arbeitsort, auch wenn die<br />

beiden Arbeitnehmer nicht von demselben Arbeitgeber entsandt wurden. Die A1-Bescheinigung über<br />

1036 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 161<br />

die Eingliederung des Arbeitnehmers in das System der sozialen Sicherheit des Herkunftsmitgliedstaats<br />

bindet jedoch, solange sie von diesem Staat weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist<br />

– außer im Fall von Betrug oder Rechtsmissbrauch – sowohl die Träger der sozialen Sicherheit als auch<br />

die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Arbeiten ausgeführt werden. Hinweis: Vorliegend waren für<br />

ca. 250 entsandte Arbeitnehmer aus Ungarn durch den ungarischen Sozialversicherungsträger A1-<br />

Bescheinigungen über die Anwendung ungarischer Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit ausgestellt<br />

worden. Der österreichische VGH hatte den EuGH um Erläuterungen zu den Unionsvorschriften<br />

über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und insb. zur Bindungswirkung der A1-<br />

Bescheinigung ersucht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 588/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Arbeitnehmerdatenschutz: Keine Pflicht zur Herausgabe der privaten Handynummer<br />

(LAG Thüringen, Urt. v. 16.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 6 Sa 442/17) • Die Erhebung/Erfassung der privaten Mobiltelefonnummer<br />

eines Arbeitnehmers gegen seinen Willen ist wegen des darin liegenden äußerst schwerwiegenden<br />

Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers nur dann ausnahmsweise<br />

zulässig, wenn der Arbeitgeber ohne Kenntnis der Mobiltelefonnummer im Einzelfall eine legitime<br />

Aufgabe, für die der Arbeitnehmer eingestellt ist, nicht, nicht vollständig oder nicht in rechtmäßiger Weise<br />

erfüllen kann und ihm eine andere Organisation der Aufgabenerfüllung nicht möglich oder nicht zumutbar<br />

ist. Schafft ein kommunaler Arbeitgeber die Rufbereitschaft für Notfälle im Gesundheitsamt für die Dauer<br />

der Nachtzeit von 19:01 bis 5:59 Uhr aus Kostengründen ab, um im Notfall einen der Beschäftigten nach<br />

dem Zufallsprinzip ggf. auch über das Mobiltelefon aus seiner Freizeit heraus zur Arbeitsleistung<br />

heranzuziehen, wählt er damit eine risikobehaftete Arbeitsorganisation. Diese rechtfertigt nicht den in der<br />

Herausgabe der Mobiltelefonnummer liegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten,<br />

denn grundsätzlich entscheidet jeder Arbeitnehmer selbst, für wen, wann und wo er durch Bekanntgabe<br />

der Mobiltelefonnummer erreichbar sein will. Verweigert ein Arbeitnehmer die datenschutzrechtlich<br />

unzulässige Erfassung der Mobiltelefonnummer hat er einen Anspruch auf Rücknahme und Entfernung<br />

einer deshalb erteilten Abmahnung aus der Personalakte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 589/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

Verfassungsmäßigkeit: Beitragspflicht für Versorgungsbezüge<br />

(BVerfG, Beschl. v. 9.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 BvL 2/18) • Die Beitragszahlung durch die Bezieher von Versorgungsbezügen<br />

in die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung ist mit der<br />

Verfassung vereinbar. Sie stellt weder einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar noch greift sie<br />

unverhältnismäßig in die Rechte der Betroffenen ein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 590/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Arbeitslosengeldanspruch: Nichtberücksichtigung des Arbeitsentgelts bei Freistellung<br />

(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – L 8 AL 27/18) • Im Bemessungszeitraum nach § 150 Abs. 1 S. 1<br />

SGB III werden lediglich die Entgelte berücksichtigt, die aufgrund einer Beschäftigung im leistungsrechtlichen<br />

Sinne gezahlt wurden, wozu Entgelte, die für Zeiträume nach einer erfolgten Freistellung von der<br />

Arbeit gezahlt wurden, nicht zählen. Hinweis: Leistungsrechtlich steht ein Arbeitnehmer nicht in einem<br />

Beschäftigungsverhältnis, wenn dieses tatsächlich beendet und eine neue Beschäftigung nicht wieder<br />

aufgenommen wird. Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber seine Verfügungsgewalt über den Arbeitnehmer<br />

nicht mehr beansprucht. Hiervon ist immer auszugehen, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis<br />

kündigt und weitere Dienste nicht annimmt. Eine Freistellung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber<br />

von der Arbeit bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis kommt dem gleich. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 591/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Volkszählung: Verfassungsmäßigkeit des Zensus <strong>20</strong>11<br />

(BVerfG, Urt. v. 19.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 2 BvF 1/15 u. 2 BvF 2/15) • Die Vorschriften, die die Vorbereitung und<br />

Durchführung der zum Stand vom 9.5.<strong>20</strong>11 erhobenen Bevölkerungs-, Gebäude- und Wohnungszählung<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1037


Fach 1, Seite 162 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

(Zensus <strong>20</strong>11) zum Gegenstand hatten, sind mit der Verfassung vereinbar. Sie verstoßen nicht gegen die<br />

Pflicht zur realitätsnahen Ermittlung der Einwohnerzahlen der Länder und widersprechen insb. nicht<br />

dem Wesentlichkeitsgebot, dem Bestimmtheitsgebot oder dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung.<br />

Auch ein Verstoß gegen das Gebot föderativer Gleichbehandlung liegt nicht vor, da die<br />

Ungleichbehandlung von Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern gerechtfertigt ist, weil sie aus<br />

sachlichen Gründen erfolgte und zu hinreichend vergleichbaren Ergebnissen zu kommen versprach.<br />

Hinweis: Erfolglos blieben damit die Anträge der Senate von Berlin und Hamburg in einem Verfahren der<br />

abstrakten Normenkontrolle. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 592/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Grundrechtsschutz: Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen<br />

(BVerfG, Beschl. v. 24.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 2 BvR 1961/09) • Gesetze, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche<br />

Einrichtungen übertragen (Art. 24 Abs. 1 GG) unterliegen als Akte deutscher Staatsgewalt der Bindung<br />

an die Grundrechte, deren Wesensgehalt auch in Ansehung der supranationalen Hoheitsgewalt<br />

sicherzustellen ist. Bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen trifft<br />

den Gesetzgeber die Pflicht, das vom Grundgesetz geforderten Minimum an Grundrechtsschutz<br />

sicherzustellen. Dazu gehört auch die Gewährleistung eines wirkungsvollen und lückenlosen Rechtsschutzes.<br />

Hinweis: Weil ein Verstoß gegen diese Anforderungen von den Beschwerdeführern nicht<br />

dargelegt worden war, hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde verworfen, die sich gegen Urteile<br />

des OLG Frankfurt und des BGH richtete. Diese hatten entschieden, dass es gegen eine Entscheidung<br />

des Obersten Rates der zwischenstaatlich organisierten Europäischen Schulen über die Erhöhung des<br />

Schulgelds keinen innerstaatlichen Rechtsschutz gibt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 593/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Steuerrecht<br />

Sonderausgabenabzug: Minderung durch Prämienzahlungen gesetzlicher Krankenkassen<br />

(BFH, Urt. v. 6.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – X R 41/17) • Prämienzahlungen, die eine gesetzliche Krankenkasse ihren Mitgliedern<br />

gewährt, stellen Beitragsrückerstattungen dar, die die wirtschaftliche Belastung der Mitglieder und damit<br />

auch ihre Sonderausgaben reduzieren. Hinweis: Der BGH weist zur Begründung auch auf die Vergleichbarkeit<br />

der streitgegenständlichen Prämie mit den klassischen Beitragsrückerstattungen der privaten<br />

Krankenversicherung hin, die nach höchstrichterlicher Rspr. die abzugsfähigen Sonderausgaben mindern<br />

(vgl. BFH, Urt. v. 6.7.<strong>20</strong>16 – X R 6/14). In beiden Fällen erhält der Versicherte bzw. das Mitglied nach Worten<br />

des BFH eine Zahlung von seiner Krankenversicherung bzw. Krankenkasse, weil diese von ihm nicht oder<br />

in einem geringeren Umfang in Anspruch genommen wurde als sie es worden wäre, wenn es keine<br />

vereinbarte Beitragserstattung oder Prämienzahlung gegeben hätte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 594/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Kindergeld: Zählkindervorteil in einer „Patchwork-Familie“<br />

(BFH, Urt. v. 25.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – III R 24/17) • Leben die Eltern eines gemeinsamen Kindes in nichtehelicher<br />

Lebensgemeinschaft zusammen und sind in deren Haushalt auch zwei ältere, aus einer anderen Beziehung<br />

stammende Kinder eines Elternteils aufgenommen, erhält der andere Elternteil für das gemeinsame Kind<br />

nicht den nach § 66 Abs. 1 EStG erhöhten Kindergeldbetrag für ein drittes Kind. Es begegnet keinen<br />

verfassungsrechtlichen Bedenken, dass einem in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebenden<br />

Elternteil im Hinblick auf die in seinem Haushalt lebenden, bei ihm kindergeldrechtlich nicht zu berücksichtigenden<br />

Kinder des anderen Elternteils der Zählkindervorteil versagt wird, während einem Stiefelternteil<br />

dieser Zählkindervorteil für die Kinder seines Ehegatten gewährt wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 595/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Mittäterschaft: Maßgebliche Kriterien<br />

(BGH, Beschl. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 3 StR 569/17) • Bei Beteiligung mehrerer Personen, von denen nicht jede<br />

sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht, ist Mittäter, wer einen eigenen Tatbeitrag leistet und<br />

1038 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong> Fach 1, Seite 163<br />

diesen so in die Tat einfügt, dass er als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten und umgekehrt<br />

dessen Handeln als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint. Mittäterschaft erfordert dabei zwar<br />

nicht zwingend eine Mitwirkung am Kerngeschehen selbst und auch keine Anwesenheit am Tatort;<br />

ausreichen kann vielmehr auch ein die Tatbestandsverwirklichung fördernder Beitrag, der sich auf eine<br />

Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung beschränkt. Stets muss sich die objektiv aus einem<br />

wesentlichen Tatbeitrag bestehende Mitwirkung aber nach der Willensrichtung des sich Beteiligenden<br />

als Teil der Tätigkeit aller darstellen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 596/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Bußgeldbescheid: Form des Einspruchs<br />

(LG Mosbach, Beschl. v. 30.8.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 Qs 22/18) • Die Einlegung des Einspruchs gegen den<br />

Bußgeldbescheid per E-Mail ist zulässig (§ 67 OWiG). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 597/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Europäischer Haftbefehl: Auswirkungen der Brexit-Ankündigung<br />

(EuGH, Urt. v. 19.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – C-327/18 PPU) • Die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht,<br />

aus der Union auszutreten, ist kein „außergewöhnlicher“ Umstand, der es rechtfertigen könnte, die<br />

Vollstreckung eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu verweigern.<br />

Die Mitteilung des Vereinigten Königreichs über seine Absicht, aus der EU auszutreten, hat daher nicht<br />

zur Folge, dass die Vollstreckung eines von ihm ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigert oder<br />

vertagt werden darf. Liegen keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme<br />

vor, dass die Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats<br />

aus der Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die von der Charta und dem<br />

Rahmenbeschluss <strong>20</strong>02/584/JI des Rates v. 13.6.<strong>20</strong>02 (ABl <strong>20</strong>02, L 190, S. 1) zuerkannten Rechte genommen<br />

werden, ist der Haftbefehl zu vollstrecken. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 598/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Untersuchungshaft: Dauer des Haftprüfungsverfahrens<br />

(EGMR, Urt. v. 8.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – Individualbeschwerde-Nr. 22692/15) • Auch in umfangreichen und komplexen<br />

Strafverfahren verstößt es gegen das Beschleunigungsgebot aus Art. 5 Abs. 4 EMRK, wenn ein<br />

Haftprüfungsverfahren erst nach sechseinhalb Monaten und sogar neuneinhalb Monate nach Erlass der<br />

vorangegangenen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft durch das zuständige<br />

OLG abgeschlossen wird. Hinweis: Verurteilt wurde in diesem Verfahren die Bundesrepublik Deutschland.<br />

In einem ergänzenden Votum vertritt der EGMR-Richter RANZONI die Auffassung, dass der tiefere<br />

Grund für die lange und oft konventionswidrige Dauer der Untersuchungshaft in Deutschland im<br />

Verfahrensrecht der StPO liegt. Würden die Akten dem OLG nämlich vor Ablauf der dreimonatigen Frist<br />

des § 121 Abs. 3 StPO vorgelegt, gebe es keine weitere Frist für die Haftprüfungsentscheidung des OLG.<br />

Dies sei aus Sicht der Menschenrechtskonvention eine Lücke im deutschen Strafverfahrensrecht, die<br />

geschlossen werden müsse. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 599/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Anwaltswerbung: Persönliches Anschreiben an potenzielle Mandanten<br />

(BGH, Urt. v. 2.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – AnwZ (Brfg) 24/17) • Gemäß § 43b BRAO ist Werbung einem Rechtsanwalt nur<br />

erlaubt, soweit sie über die berufliche Tätigkeit in Form und Inhalt sachlich unterrichtet und nicht auf die<br />

Erteilung eines Auftrags im Einzelfall gerichtet ist. Eine Einschränkung der Werbemöglichkeit eines<br />

Rechtsanwalts kommt bei verfassungskonformer Auslegung des § 43b BRAO in Betracht, wenn sie im<br />

Einzelfall durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist sowie dem Grundsatz der<br />

Verhältnismäßigkeit entspricht (BGH, Urt. v. 13.11.<strong>20</strong>13 – I ZR 15/12). Hierbei ist in den Blick zu nehmen,<br />

dass die werberechtlichen Vorschriften des anwaltlichen Berufsrechts dem Zweck dienen, einerseits die<br />

Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege zu sichern, andererseits auch die<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1039


Fach 1, Seite 164 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Interessen der Rechtsuchenden zu gewährleisten, sich an Hand sachlicher Informationen entscheiden<br />

zu können, ob und ggf. welcher Rechtsanwalt mit einer Rechtssache betraut wird. Hinweis:<br />

Ein Werbeverbot zum Schutz potenzieller Mandanten kommt nur dann in Betracht, wenn eine<br />

Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit durch Belästigung, Nötigung und Überrumpelung zu<br />

besorgen ist, sich der Verbotsgrund mithin aus dem Inhalt oder aus dem verwendeten Mittel der<br />

Werbung ergibt. Bietet ein Rechtsanwalt einem potenziellen Mandanten in einem persönlichen<br />

Anschreiben seine Dienste an und stellt einen konkreten Beratungsbedarf dar, verstößt dies nicht gegen<br />

das Werbeverbot nach § 43b BRAO. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 600/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Einzelanwalt: Zumutbare Vorkehrungen für den Verhinderungsfall<br />

(BGH, Beschl. v. 10.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – VI ZB 44/16) • Ein Rechtsanwalt muss allgemeine Vorkehrungen dafür<br />

treffen, dass das zur Wahrung von Fristen Erforderliche auch dann unternommen wird, wenn er<br />

unvorhergesehen ausfällt. Ist er als Einzelanwalt ohne eigenes Personal tätig, muss er ihm zumutbare<br />

Vorkehrungen für einen Verhinderungsfall, z.B. durch Absprache mit einem vertretungsbereiten<br />

Kollegen, treffen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 601/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Kostenentscheidung: Übereinstimmende Erledigungserklärung<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 17.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 5 W 629/18) • Maßgeblich für die Kostenentscheidung bei<br />

übereinstimmend erklärter Hauptsacheerledigung ist billiges Ermessen unter Berücksichtigung des<br />

bisherigen Sach- und Streitstandes. Es ist ein im Rahmen der Billigkeitsentscheidung zu würdigender<br />

Gesichtspunkt, der zur Auferlegung der Kosten auf den Beklagten führen kann, wenn der Beklagte<br />

vorprozessual zur Zahlung der bereits verjährten Forderung aufgefordert wurde und die Verjährungseinrede<br />

erst im laufenden Prozess erhebt, obwohl er dazu bereits vorprozessual Gelegenheit gehabt<br />

hätte. Eine Kostenentscheidung zu Lasten des Beklagten ist unter diesen Umständen insb. dann<br />

angezeigt, wenn er den Kläger durch die unterbliebene Verjährungseinrede in den Prozess „hineinlaufen<br />

lässt“. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 602/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Aktenversendungspauschale: Kostentragungspflicht für Rechtsanwalt<br />

(LG Düsseldorf, Beschl. v. 3.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 1 AR 12/18) • Beantragt ein Rechtsanwalt für die Haftpflichtversicherung<br />

eines Geschädigten gem. § 475 Abs. 2 StPO Akteneinsicht, schuldet die Aktenversendungspauschale<br />

Nr. 9003 KV GKG gem. § 28 Abs. 2 GKG nur der Rechtsanwalt. Das gilt auch,<br />

wenn die Aktenversendung mit entsprechender Duldungsvollmacht des Rechtsanwalts zwar von der<br />

Versicherung beantragt wird, aber diese an den Rechtsanwalt erfolgen soll. Die Haftpflichtversicherung<br />

des Geschädigten ist kein Verfahrensbeteiligter, so dass sich ein etwaiges Akteneinsichtsrecht<br />

nach § 475 Abs. 2 StPO richtet. Demnach kann Akteneinsicht unter bestimmten<br />

Voraussetzungen nur gewährt werden, wenn gemäß Absatz 1 für die Privatperson oder sonstige Stelle<br />

ein Rechtsanwalt tätig wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 603/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

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1040 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1757<br />

Untervermietung<br />

Wohnraummiete<br />

Das Recht zur Untervermietung: Voraussetzungen und Grenzen<br />

Von Richter am Amtsgericht Dr. SVEN CASPERS, München<br />

Inhalt<br />

I. Begriff der Untermiete<br />

II. Gebrauchsüberlassung an Dritte (Grundtatbestand<br />

des § 540 BGB)<br />

1. Grundsatz: Eine Untervermietung ist<br />

genehmigungspflichtig<br />

2. Ausnahme: Eine Genehmigung kann<br />

entbehrlich sein<br />

3. Voraussetzungen für die Erteilung einer<br />

Genehmigung<br />

4. Abstrakte und konkrete Untervermietungserlaubnis<br />

5. Die nicht genehmigte Untervermietung<br />

6. Auswirkungen der Beendigung des<br />

Hauptmietverhältnisses<br />

III. Gestattung der Gebrauchsüberlassung an<br />

Dritte (§ 553 BGB)<br />

1. Berechtigtes Interesse des Mieters an<br />

einer Untervermietung<br />

2. Anspruch des Mieters auf Genehmigung<br />

der Untervermietung durch den Vermieter<br />

3. Versagung der Genehmigung bei Vorliegen<br />

eines wichtigen Grundes<br />

4. Abweichende Vereinbarungen der Mietparteien<br />

5. Muster einer Genehmigung des Vermieters<br />

zur Untervermietung<br />

IV. Prozessuale Geltendmachung<br />

I. Begriff der Untermiete<br />

Von Untermiete spricht man, wenn aufgrund eines schuldrechtlichen Vertrags Grundstücke, Gebäude<br />

oder Räume gegen Entgelt unbefristet oder auf Zeit einem Dritten zum Gebrauch vom Mieter überlassen<br />

werden (BGH, Urt. v. 9.10.1985 – VIII ZR 198/84). Die Untermiete ist rechtsbegrifflich Miete. Bei der<br />

Wohnraummiete ist wesentlich, dass dem Dritten zumindest ein Teil der Wohnräume zur ausschließlichen<br />

Benutzung zur Verfügung gestellt wird (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, Mietrecht, 13. Aufl. <strong>20</strong>17, § 540 BGB Rn 3).<br />

Hinweis:<br />

Nach der hier vertretenen Ansicht handelt es sich bei der Aufnahme eines Dritten mit der Absicht, dass<br />

dieser die gesamte Wohnung mitbenutzt, um keine Untermiete im Rechtssinne, auch wenn der Dritte<br />

dafür ein Entgelt zahlt; in einem solchen Fall wird in aller Regel eine BGB-Gesellschaft vorliegen, deren<br />

gemeinsamer Zweck die Benutzung der Mieträume ist. Um einen Fall von Untermiete handelt es sich<br />

jedoch dann, wenn dem Dritten zumindest ein Wohnraum zur alleinigen Benutzung und der Rest der<br />

Wohnung zur gemeinsamen Mitbenutzung überlassen wird (LG Berlin, Urt. v. 5.12.1991 – 67 S 354/91).<br />

Der Untermietvertrag selbst ist ein eigenständiger Mietvertrag, der hinsichtlich der Nutzung<br />

(Wohnraum oder Gewerberaum) nach den allgemeinen Kriterien zu bewerten ist. Für die Wirksamkeit<br />

des Untermietvertrags ist eine Genehmigung des Hauptvermieters irrelevant, nur der tatsächliche Akt<br />

der Gebrauchsüberlassung ist erlaubnispflichtig. Dementsprechend ist es möglich, dass der Untermietvertrag<br />

unter der aufschiebenden oder auflösenden Bedingung geschlossen wird, dass der Haupt-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1041


Fach 4, Seite 1758<br />

Untervermietung<br />

Miete/Nutzungen<br />

vermieter seine Erlaubnis erteilt. Dem Untermieter kann ein Schadensersatzanspruch dem Grunde nach<br />

zustehen, sofern der Untervermieter seiner untermietvertraglichen Pflicht zur Gebrauchsüberlassung<br />

nicht nachkommt, weil der Hauptvermieter seine Erlaubnis verweigert.<br />

II.<br />

Gebrauchsüberlassung an Dritte (Grundtatbestand des § 540 BGB)<br />

1. Grundsatz: Eine Untervermietung ist genehmigungspflichtig<br />

Auszugehen ist von dem Grundsatz des § 540 Abs. 1 S. 1 BGB, dass der Mieter ohne Erlaubnis des Vermieters<br />

nicht berechtigt ist, den Gebrauch der gemieteten Sache einem Dritten zu überlassen, insbesondere sie<br />

unterzuvermieten. Dabei umfasst § 540 Abs. 1 S. 1 BGB jedwede Gebrauchsüberlassung, gleichgültig auf<br />

welcher Vertragsgrundlage sie beruht (Miete, Leihe, Abtretung der Mieterrechte) oder ob sie aufgrund eines<br />

rein tatsächlichen Tuns oder Duldens erfolgt (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 BGB Rn 2). Da die Dauer<br />

der Gebrauchsüberlassung i.d.R. keine Rolle spielt, ist auch die kurzfristige Überlassung der Mietwohnung an<br />

(Medizin-)Touristen oder Geschäftsleute vertragswidrig (BGH, Urt. v. 8.1.<strong>20</strong>14 – VIII ZR 210/13).<br />

Nach heute h.M. gilt dieser Grundsatz für jede auf eine gewisse Dauer angelegte Gebrauchsüberlassung,<br />

auch wenn diese nur den unselbstständigen Mitgebrauch der Mietsache (z.B. Aufnahme eines<br />

Lebensgefährten) betrifft (OLG Hamm, Urt. v. 17.8.1982 – 4 REMiet 1/82). Der Mieter darf daher Dritte<br />

grundsätzlich nur mit Erlaubnis des Vermieters auf Dauer in die gemieteten Räume aufnehmen,<br />

unabhängig davon, ob er ihnen das gesamte Mietobjekt oder einen Teil zum selbstständigen Gebrauch<br />

überlässt oder den unselbstständigen Mitgebrauch gestattet.<br />

2. Ausnahme: Eine Genehmigung kann entbehrlich sein<br />

Ausnahmsweise benötigt der Mieter keine Erlaubnis, wenn er nächste Familienangehörige, zum<br />

Haushalt gehörende Bedienstete oder Personen, die er zu seiner Pflege benötigt, in die Wohnung<br />

aufnehmen will; diese Personen sollen nicht Dritte im Sinne dieser Vorschrift sein (für den Ehegatten<br />

des Mieters explizit BGH, Urt. v. 12.6.<strong>20</strong>13 – XII ZR 143/11.) Gleiches gilt für die Aufnahme solcher<br />

Personen, die kein eigenständiges Besitzrecht haben, wie beispielsweise die Besucher eines Wohnungsmieters.<br />

Die Aufnahme dieses Personenkreises gehört nach allgemeiner Auffassung zum vertragsgemäßen<br />

Mietgebrauch, so dass eine Genehmigung des Vermieters entbehrlich ist.<br />

Praxishinweis:<br />

Die Entbehrlichkeit einer Erlaubnis ist anerkannt bei: Ehepartnern (BGH, Urt. v. 12.6.<strong>20</strong>13 – II ZR 143/11),<br />

gemeinsamen Kindern (BGH, Urt. v. 5.11.<strong>20</strong>03 – XIII 371/02), Stiefkindern des Ehepartners (OLG Hamm,<br />

Beschl. v. 11.4.1997 – 30 REMiet 1/97; a.A. AG Berlin-Neukölln, Urt. v. 5.7.1990 – 14 C 174/90: nur, wenn auch<br />

die Ehefrau des Mieters in der Wohnung lebt); u.U. Enkeln (AG Wiesbaden, Urt. v. 4.7.<strong>20</strong>11 – 93 C 4774/10).<br />

Streitig ist dagegen, ob die Schwester des Mieters, sein Bruder, seine Eltern, seine Schwiegermutter, sein<br />

Schwiegersohn oder seine Schwiegertochter, seine Schwägerin oder sein Schwager, sein Stiefsohn, der<br />

Verlobte seiner Tochter oder der Freund der Tochter als Dritte angesehen werden können (vgl. CASPERS,<br />

in: HARZ/ORMANSCHICK, Vertragsstörungen im Wohnraummietrecht, 2. Aufl. <strong><strong>20</strong>18</strong>, § 14 Rn 33 m.w.N.).<br />

Als Dritter kann nicht der Lebenspartner i.S.v. § 1 LPartG angesehen werden. Wird eine Lebenspartnerschaft<br />

nach § 1 Abs. 1 LPartG begründet, gilt der Lebenspartner als Familienangehöriger des anderen<br />

Lebenspartners (§ 11 LPartG). Der Lebenspartner ist damit dem Ehegatten insoweit gleichgestellt, so dass<br />

keine Erlaubnis erforderlich ist. Da die Verwandten des Lebenspartners als mit dem anderen Lebenspartner<br />

verschwägert i.S.d. § 1590 BGB gelten (§ 11 LPartG), sind die für die bisherigen verschwägerten Personen<br />

aufgestellten Kriterien hier entsprechend anwendbar, so dass grundsätzlich von einer Genehmigungsbedürftigkeit<br />

auszugehen ist, wobei die Einzelheiten hierzu streitig sind (s. oben).<br />

Bei dem Lebensgefährten des Mieters handelt es sich allerdings nach der wohl nach wie vor<br />

herrschenden Auffassung um einen Dritten i.S.d. §§ 540, 553 BGB (BGH, Urt. v. 5.11.<strong>20</strong>03 – XIII 371/02).<br />

Denn gerade wegen der weitreichenden Konsequenzen der Bildung einer Lebensgemeinschaft in der<br />

1042 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1759<br />

Untervermietung<br />

Wohnung (z.B. § 563 Abs. 2 S. 4 BGB) muss der Vermieter über die Personen, die mit dem Mieter einen<br />

auf Dauer angelegten Haushalt begründen wollen, informiert werden. Allerdings werden an das<br />

berechtigte Interesse nach § 553 BGB keine hohen Anforderungen gestellt.<br />

3. Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung<br />

a) Auskunftspflicht des Mieters<br />

Zur Prüfung, ob der Vermieter die begehrte Einwilligung des Mieters zu erteilen hat, kann er verlangen, dass<br />

der Mieter ihm den Untermietinteressenten konkret benennt und – auf Nachfrage – nähere Angaben zu<br />

dessen Person macht. Der Vermieter muss ermitteln können, ob der potenzielle Untermieter z.B. als<br />

streitsüchtig bekannt ist, also ein wichtiger Grund in seiner Person (sog. personenbezogene Gründe, s. dazu<br />

später unter 5.) vorliegt, welcher es dem Vermieter ermöglichen würde, seine Einwilligung zur<br />

Untervermietung rechtmäßig zu versagen. Um sich ein Bild vom potenziellen Untermieter zu machen, ist<br />

der Vermieter auch zu weiteren Nachfragen berechtigt. Der Mieter ist daher weiter verpflichtet, z.B. über<br />

die berufliche oder sonstige Tätigkeit des Dritten – auf Nachfrage – Auskunft zu geben (BGH, Urt. v.<br />

3.10.1984 – VIII ZR 2/84).<br />

Außerdem muss der Mieter die Gründe für die Untervermietung mitteilen und darlegen, dass diese erst<br />

nach dem Abschluss des Mietvertrags entstanden sind. Eine Pflicht zur Vorlage des Untermietvertrags<br />

besteht nach h.M. ebenso wenig wie eine Pflicht zur Auskunftserteilung über die Höhe des Untermietzinses<br />

(LG Berlin, Urt. v. 19.4.<strong>20</strong>13 – 65 S 377/12; a.A. SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, § 553 BGB Rn 16/<strong>20</strong>, der darauf abstellt,<br />

dass die Höhe des Untermietzinses im Rahmen des § 553 Abs. 2 BGB durchaus Bedeutung erlangen kann,<br />

s. bei SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O.). Hat der Mieter hingegen persönliche Gründe für die Aufnahme des<br />

Dritten angeführt, so muss er u.U. auch Einzelheiten aus seiner Privatsphäre offenbaren, die seine<br />

Motivation belegen.<br />

Auf Verlangen des Vermieters hat der Mieter dem Vermieter auch weitere Daten mitzuteilen, die der<br />

Vermieter benötigt, um das Vorliegen eines wichtigen Grundes in der Person des potenziellen<br />

Untermieters festzustellen. Wenn nach sorgfältiger Würdigung aller mitgeteilten Daten durch den<br />

Mieter nach verständiger Meinung des Vermieters ein wichtiger Grund in der Person des konkret<br />

benannten Untermieters vorliegt, kann der Vermieter die Erlaubnis zur Untermietung sanktionslos<br />

versagen. Allgemein (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 15.11.<strong>20</strong>06 – XII ZR 92/04) müssen in einem solchen Fall<br />

sowohl personenbezogene als auch vertragsbezogene Daten durch den Mieter vollständig mitgeteilt<br />

werden (AG Hamburg-St. Georg, Urt. v. 10.10.<strong>20</strong>13 – 915 C 170/13).<br />

Zu den personenbezogenen Daten gehören:<br />

• Name/Anschrift/Geburtsdatum/Beruf.<br />

Zu den vertragsbezogenen Daten gehören:<br />

• die vom Untermieter beabsichtigte Art der Nutzung der Wohnräume (vgl. KG, Urt. v. 11.10.<strong>20</strong>07 –<br />

8 U 34/07),<br />

• Höhe des Untermietzinses,<br />

• Laufzeit des Untermietvertrags,<br />

• Kündigungsmöglichkeiten des Untermietvertrags,<br />

• Übernahme einer Betreiberpflicht, sofern dem Hauptmieter eine solche obliegt.<br />

Hinweis:<br />

Die Informationspflichten des Mieters können – je nach den konkreten Einzelfallumständen –<br />

eingeschränkt oder noch erweitert werden.<br />

Der Verstoß gegen diese Informationspflicht führt zum Ausschluss des Kündigungsrechts des Mieters<br />

aus § 540 Abs. 1 S. 2 BGB. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Vermieter auch bei einer unterstellten<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1043


Fach 4, Seite 1760<br />

Untervermietung<br />

Miete/Nutzungen<br />

erfüllten Informationspflicht die Untervermietung verweigert hätte (OLG Nürnberg, Urt. v. 3.11.<strong>20</strong>06 –<br />

5 U 754/06). In diesem Fall trägt allerdings der Mieter die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der<br />

Vermieter auch für den fiktiven Fall einer ordnungsgemäß erfüllten Informationspflicht eine Untervermietung<br />

nicht genehmigt hätte. Dieser Darlegungs- und Beweislast wird der Mieter in der Praxis nur<br />

selten nachkommen können.<br />

b) Prüfungs- und Ablehnungsrecht des Vermieters<br />

Seine Einwilligung zur beantragten Untervermietung kann der Vermieter ohne nachteilige Folgen<br />

grundsätzlich nur verweigern, wenn in der Person des Dritten ein wichtiger Grund vorliegt (s. oben<br />

sowie SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 553 Rn 12–14 m.w.N.).<br />

Wird die Erlaubnis ohne wichtigen Grund verweigert, kann der Mieter den Mietvertrag mit der<br />

gesetzlichen Frist kündigen, § 540 Abs. 1 S. 2 BGB. In der Praxis hat dieses Kündigungsrecht in der<br />

Vergangenheit an Relevanz in den Fällen gewonnen, in denen der Mieter die vorzeitige Entlassung aus<br />

einem befristeten Mietvertrag oder die Abkürzung einer langen Kündigungsfrist begehrte.<br />

Praxishinweis:<br />

Für den Anwalt kann die Nichtbeachtung dieser Kündigungsmöglichkeit in den genannten Fällen zur<br />

Anwaltshaftung führen!<br />

c) Schweigen des Vermieters als konkludente Genehmigung?<br />

Bei der Herbeiführung der Voraussetzungen des Kündigungsrechts sollte die Möglichkeit bedacht<br />

werden, dass dem Schweigen des Vermieters auf eine Anfrage des Mieters ein Erklärungswert im Sinne<br />

einer Verweigerung der Genehmigung beigemessen werden kann, wenn sich daraus eine generelle<br />

Haltung des Vermieters zur Untervermietung ableiten lässt. Reagiert der Vermieter im Einzelfall nicht<br />

auf eine solche Anfrage, muss geprüft werden, ob dem Schweigen der Erklärungswert einer<br />

Verweigerung zukommt (CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 37 m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

Zu beachten ist jedoch, dass Schweigen im Rechtsverkehr grundsätzlich keine Rechtsbedeutung hat. Dies ist<br />

bei der Zurechnung eines etwaigen Erklärungswertes für das Schweigen des Vermieters zu berücksichtigen.<br />

Hinzu kommt, dass die Verweigerung der Erlaubnis durch den Vermieter eindeutig und unmissverständlich<br />

erfolgen muss (OLG Koblenz, Beschl. v. 27.12.<strong>20</strong>11 – 5 U 839/11), was durch reines Schweigen<br />

nicht ohne Weiteres zu bejahen sein wird. Ergibt sich also aus der Anfrage des Mieters nicht, dass er das<br />

Schweigen des Vermieters als Verweigerung der Erlaubnis ansehen wird, kann dem Schweigen<br />

grundsätzlich kein Erklärungswert beigemessen werden (LG Gießen, Urt. v. 28.4.1999 – 1 S 53/99).<br />

Hierdurch wird der Mieter auch nicht unangemessen benachteiligt, weil er dem Vermieter problemlos<br />

eine angemessene Frist zur Entscheidung über die Erlaubniserteilung setzen kann, nach deren<br />

fruchtlosem Ablauf die Erlaubnis dann als verweigert gilt (siehe sogleich dazu unten).<br />

Das Schweigen auf einen Antrag auf Erteilung einer generellen Untervermietungserlaubnis durch den<br />

Mieter, bei der kein konkreter Untermieter namentlich benannt wird, kann nicht als Verweigerung der<br />

Erlaubnis ausgelegt werden (KG, Urt. v. 11.10.<strong>20</strong>07 – 8 U 34/07). Deshalb ist es aus Mietersicht ratsam, in<br />

der Anfrage deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass nach Ablauf der Frist unterstellt wird, dass der<br />

Vermieter generell mit einer Untervermietung nicht einverstanden ist (OLG Köln, Urt. v. 1.9.<strong>20</strong>00 – 19 U<br />

53/00). Ob in einem solchen Fall, wenn der Vermieter auf eine Anfrage des Mieters nicht innerhalb der<br />

vom Mieter gesetzten Frist oder innerhalb einer angemessenen Frist antwortet, eine Verweigerung des<br />

Vermieters angenommen werden kann, ist jedoch höchst umstritten (vgl. zum Streitstand SCHMIDT-<br />

FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 BGB Rn 70 m.w.N. in Fn 170).<br />

1044 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1761<br />

Untervermietung<br />

Praxishinweis:<br />

Nach der hier vertretenen Auffassung kann der Mieter dem Vermieter in seinem Antrag auf Erlaubnis der<br />

Untervermietung eine angemessene Frist von zwei Wochen zur Entscheidung über die Erlaubniserteilung<br />

setzen. Sofern der Mieter den Zugang des Antrags beim Vermieter sicherstellt, reicht diese Frist für den<br />

Vermieter aus, um nötige Erkundigungen über die Person des vom Mieter vorgeschlagenen Untermieters<br />

einzuholen. Lässt der Vermieter diese Frist fruchtlos verstreichen, stellt dies eine Verweigerung i.S.v. § 540<br />

Abs. 1 S. 2 BGB dar (CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 37 m.w.N.).<br />

Im Übrigen kommt es nicht darauf an, ob die Anfrage des Mieters in einer Situation erfolgt, in der sein<br />

Beendigungswille für den Vermieter erkennbar ist oder sich das zugrunde liegende Mietverhältnis<br />

wegen einer langen Kündigungsfrist bereits im Beendigungsstadium befindet. Denn bis zur Beendigung<br />

des Mietvertrags kann sich der Mieter auf seine gesetzlichen und vertraglichen Rechte berufen.<br />

4. Abstrakte und konkrete Untervermietungserlaubnis<br />

Grundsätzlich ist der Mieter bereits bei seiner ersten Anfrage wegen einer generellen Untervermietungserlaubnis<br />

verpflichtet, dem Vermieter einen konkreten Untermieter namentlich zu benennen (OLG Koblenz,<br />

Urt. v. 30.4.<strong>20</strong>01 – 4 W RE-525/00; a.A. LG Köln, Urt. v. 3.12.1997 – 10 S 367/97). Der Mieter muss auch das<br />

Vorliegen dieser Voraussetzung darlegen und beweisen (OLG Koblenz, Beschl. v. 27.12.<strong>20</strong>11 – 5 U 839/11).<br />

Hinweis:<br />

Solange der Mieter keinen konkreten Untermieter genannt hat, führt eine Verweigerung der Erlaubnis<br />

durch den Vermieter daher nicht zum Kündigungsrecht nach § 540 Abs. 1 S. 2 BGB (OLG Celle, Beschl. v.<br />

5.3.<strong>20</strong>03 – 2 W 16/03; LG Köln, Urt. v. 17.12.1998 – 6 S 122/98).<br />

Lehnt der Vermieter auf eine allgemeine Anfrage des Mieters zur Möglichkeit einer Untervermietung die<br />

Erteilung einer Erlaubnis generell und ausnahmslos ab, verweigert der Vermieter die Erlaubnis i.S.v. § 540<br />

Abs. 1 S. 2 BGB selbst dann, wenn der Mieter dem Vermieter keinen Untermieter namentlich benannt hatte<br />

(BGH, Urt. v. 15.11.<strong>20</strong>06 – XII ZR 92/04; LG Berlin, Urt. v. 12.6.<strong>20</strong>01 – 64 S 13/01). Da sich aus dieser Auffassung<br />

die Gefahr eines vom Mieter provozierten Sonderkündigungsrechts ergeben kann (z.B. Befreiung von einem<br />

„lästigen“ Zeitmietvertrag), wird zu Recht einschränkend gefordert, dass das Sonderkündigungsrecht des<br />

Mieters in einem solchen Fall nur ausgelöst wird, wenn sich aus der Anfrage des Mieters wenigstens<br />

Anhaltspunkte für eine beabsichtigte Untervermietung ergeben, die so konkret sind, dass der Vermieter<br />

sich ein Urteil über die Erlaubniserteilung bilden kann (OLG Celle, Beschl. v. 5.3.<strong>20</strong>03 – 2 W 16/03).<br />

Erteilt der Vermieter die Zustimmung unter Auflagen, kann dies ebenfalls als Verweigerung der<br />

Untervermietungserlaubnis angesehen werden (AG Albstadt, Urt. v. 24.10.1997 – 6 C 660/97). Allgemein<br />

gilt, dass der vollständigen Verweigerung der Erlaubniserteilung durch den Vermieter gleichsteht, wenn<br />

dieser die Erlaubnis von zusätzlichen, durch § 540 BGB oder durch den Mietvertrag nicht gedeckten<br />

Bedingungen abhängig macht (LG Berlin, Urt. v. 2.5.<strong>20</strong>06 – 64 S 19/06). Allein die Tatsache, dass die<br />

Wohnung öffentlich gefördert ist, stellt keinen hinreichenden Grund für eine Versagung dar (LG Berlin,<br />

Urt. v. 22.9.1998 – 64 C 53/98).<br />

5. Die nicht genehmigte Untervermietung<br />

Erfolgt eine unerlaubte, sprich nicht genehmigte Untervermietung, bleibt der abgeschlossene Untermietvertrag<br />

gleichwohl wirksam. Der Vermieter kann vom Mieter auch nicht die Herausgabe des die<br />

Hauptmiete übersteigenden Mehrbetrages der Untermiete verlangen. Denn der Untermieter leistet an<br />

den Hauptmieter ebenso mit Rechtsgrund wie der Hauptmieter an den Vermieter (das entspricht der ganz<br />

h.M. in Schrifttum und Rechtsprechung: BGH, Urt. v. 13.12.1995 – XII ZR 194, 93; SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O.,<br />

§ 540 Rn 15). Ein Anspruch aus §§ 987, 990, 99 Abs. 3 BGB scheidet ebenfalls aus, weil es an einer<br />

Vindikationslage fehlt (BGH, Urt. v. 12.8.<strong>20</strong>09 – XII ZR76/08). Der Vermieter ist auch nicht schutzbedürftig,<br />

weil er gegen den Mieter eine Unterlassungsklage nach § 541 BGB erheben kann und das Mietverhältnis<br />

nach §§ 543 Abs. 2 Nr. 2, 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB fristlos und auch ordentlich kündigen kann.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1045


Fach 4, Seite 1762<br />

Untervermietung<br />

Miete/Nutzungen<br />

6. Auswirkungen der Beendigung des Hauptmietverhältnisses<br />

a) Anspruch des Vermieters gegen den Untermieter auf Zahlung einer Nutzungsentschädigung?<br />

Sobald der Hauptmietvertrag beendet ist, wobei es auf den Grund der Beendigung des Mietverhältnisses<br />

(z.B. durch ordentliche Kündigung wegen Eigenbedarfs, aufgrund fristloser Kündigung wegen Ruhestörungen,<br />

durch den Abschluss eines Mietaufhebungsvertrags oder durch Ablauf eines Zeitmietvertrags)<br />

nicht ankommt, ist umstritten, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Vermieter<br />

einen unmittelbaren Anspruch gegen den Untermieter auf Leistung einer Nutzungsentschädigung<br />

geltend machen kann. Diese Frage ist vor allem bei einer Insolvenz des Mieters relevant.<br />

Nach Beendigung des Hauptmietverhältnisses kann der Vermieter/Eigentümer vom Untermieter nach<br />

§§ 987, 990 BGB (nach Eintritt von Bösgläubigkeit hinsichtlich des fehlenden Besitzrechts) die<br />

gezogenen Nutzungen herausverlangen, wobei unter Nutzungen im Sinne dieser Vorschriften nicht der<br />

vereinbarte Untermietzins, sondern der objektive Mietwert der untervermieteten Wohnräume zu<br />

subsumieren ist (BGH, Urt. v. 14.3.<strong>20</strong>14 – V ZR 218/13).<br />

Die Haftung des Untermieters beginnt, sobald er positive Kenntnis hat, dass das Hauptmietverhältnis<br />

beendet ist, und er vom Eigentümer/Vermieter zur Herausgabe aufgefordert wurde. Bei konsequenter<br />

Anwendung dieser Konstruktion könnte der Vermieter/Eigentümer jedoch sowohl vom Hauptmieter<br />

eine Nutzungsentschädigung als auch vom Untermieter zusätzlich den objektiven Nutzungswert der<br />

vermieteten Wohnräume verlangen, so dass er im Fall der Vorenthaltung besser stehen würde, als es<br />

ihm nach dem Hauptmietvertrag zusteht. Da ein solches Ergebnis unbillig wäre, hat der Vermieter/<br />

Eigentümer nach der h.M. des BGH ein Wahlrecht:<br />

• Der Vermieter/Eigentümer kann lediglich einen Nutzer verklagen und auf eine Inanspruchnahme des<br />

anderen Nutzers verzichten (BGH, Urt. v. 6.11.1968 – V ZR 85/65).<br />

• Der Vermieter/Eigentümer kann stattdessen beide Nutzer verklagen, wobei in diesem Fall § 421 BGB<br />

analog anzuwenden ist, soweit sich die Verpflichtungen decken, so dass der Vermieter die Leistung<br />

nach seinem Belieben von jedem der Nutzer ganz oder nur zum Teil einfordern kann (BGH, Urt. v.<br />

14.3.<strong>20</strong>14 – V ZR 218/13).<br />

b) Ausübung des Wahlrechts durch den Vermieter<br />

Von einer rechtsgültigen Ausübung des Wahlrechts ist noch nicht durch Klageerhebung gegen den<br />

Hauptmieter auszugehen, solange der Vermieter/Eigentümer nicht vollständig befriedigt wurde, da es<br />

nicht zu rechtfertigen ist, die weitere Inanspruchnahme des Untermieters zu verwehren, solange der<br />

Vermieter/Eigentümer ggf. erfolglos die Zwangsvollstreckung eines Urteils gegen den Hauptmieter<br />

versucht hat (OLG Hamburg, Urt. v. 29.5.1996 – 4 U 190/95). Nach a.A. hat der Vermieter/Eigentümer<br />

keine Direktansprüche gegen den Untermieter. Der Ausgleich soll vielmehr entlang der schuldrechtlichen<br />

Vertragsverhältnisse erfolgen (GREINER ZMR 1998, 403 ff.).<br />

c) Wirkung eines Räumungstitels im Hauptmietverhältnis gegenüber dem Untermieter?<br />

Es wird die Auffassung vertreten, dass die Rechtskraft eines Räumungstitels gegen den Hauptmieter sich<br />

insoweit auf den Untermieter erstreckt, dass dieser die Herausgabepflicht des Mieters nicht mehr leugnen<br />

können soll, wenn er seinerseits vom Vermieter auf Rückgabe nach § 546 Abs. 2 BGB in Anspruch<br />

genommen wird (ZÖLLER/VOLLKOMMER, ZPO, § 325 Rn 38, der wegen § 546 Abs. 2 BGB/§ 604 Abs. 4 BGB eine<br />

materiell-rechtliche Abhängigkeit des Untermieters vom Mieter postuliert und im Ergebnis zu einer<br />

Rechtskrafterstreckung kommt; ebenso AG Hamburg, Urt. v. 24.4.1992 – 43b C 1967/91).<br />

Die ganz h.M. lehnt eine derartige Rechtskrafterstreckung auf den Untermieter jedoch ab, jedenfalls<br />

unter der Voraussetzung, dass der Untermieter den unmittelbaren Besitz vor Rechtshängigkeit des<br />

Verfahrens zwischen Vermieter und Hauptmieter erlangt hat (BGH, Urt. v. 21.4.<strong>20</strong>10 – VIII ZR 6/09;<br />

SCHMIDT-FUTTERER/STRYL, a.a.O., § 546 Rn 99). Bei einer Überlassung der Mietsache durch den Hauptmieter<br />

an einen Untermieter nach Rechtshängigkeit der gegen den Hauptmieter gerichteten Räumungsklage –<br />

was auch einen Besitzwechsel erst nach Rechtskraft des betreffenden Räumungsurteils einschließt<br />

1046 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1763<br />

Untervermietung<br />

(BGH, Urt. v. 13.3.1981 – V ZR 150/80) – wirkt ein stattgebendes Urteil gem. § 325 ZPO auch gegen den<br />

besitzenden Untermieter, auf welchen der Vermieter/Eigentümer das Räumungsurteil gem. § 727 ZPO<br />

umschreiben lassen kann bzw. eine Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO erheben kann, so dass der<br />

Untermieter im Erfolgsfall vom Räumungstitel mitumfasst wird.<br />

Soweit eine Rechtskrafterstreckung wegen materiell-rechtlicher Abhängigkeit befürwortet wird, soll dies<br />

der Vermeidung nachfolgender Prozesse zwischen anderen Parteien dienen, in denen der Streitgegenstand<br />

des ersten Verfahrens Vorfrage ist. Eine solche Durchbrechung des Grundsatzes, dass die Rechtskraft<br />

einer Entscheidung sich auf die Parteien beschränkt, zwischen denen sie ergeht, ist aber generell<br />

abzulehnen, da dies für den Dritten, der auf diese Entscheidung mangels Parteistellung keinen Einfluss<br />

nehmen konnte, zu prozessual unzumutbaren Ergebnissen führen würde (CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 42 m.w.<br />

N.). Die Unbilligkeit einer solchen Rechtskrafterstreckung wird insbesondere bei dem Beispiel deutlich, dass<br />

im Räumungsprozess zwischen Vermieter und Hauptmieter ein klagestattgebendes Versäumnisurteil<br />

ergangen ist, das mangels rechtzeitiger Einspruchseinlegung rechtskräftig geworden ist. Der Untermieter<br />

könnte dann in seinem Räumungsverfahren nicht mehr erfolgversprechend einwenden, dass er aufgrund<br />

seines Untermietvertrags ein durch den Hauptmieter abgeleitetes Recht zum Besitz hat, obgleich er auf<br />

den Ausgang des Rechtsstreits zwischen Vermieter und Hauptmieter keinerlei Einfluss nehmen konnte.<br />

Weiteres Beispiel:<br />

Der Untermieter, der vom (Haupt-)Vermieter nach Kündigung des Hauptmietvertrags bedrängt wird,<br />

entweder einen Mietvertrag unmittelbar mit ihm zu schließen oder aber zu räumen, stellt die Mietzahlung<br />

an den Hauptmieter ein und beruft sich auf einen Rechtsmangel des Untermietvertrags.<br />

Der Einwand des Untermieters, sein (Unter-)Mietbesitz sei durch das Recht eines Dritten (hier: des Hauptvermieters)<br />

beeinträchtigt, darf ihm nicht dadurch abgeschnitten werden, dass – ggf. Jahre später – in einem<br />

Verfahren zwischen den Parteien des Hauptmietvertrags rechtskräftig festgestellt wird, dass dieses Recht des<br />

Hauptvermieters auf Räumung und Herausgabe mangels wirksamer Beendigung des Hauptmietvertrags<br />

nicht bestanden hat (vgl. zum ganzen Problemkreis SCHMIDT-FUTTERER/STRYL, a.a.O., § 546 Rn 99 f. m.w.N.).<br />

III.<br />

Gestattung der Gebrauchsüberlassung an Dritte (§ 553 BGB)<br />

1. Berechtigtes Interesse des Mieters an einer Untervermietung<br />

Entsteht für den Mieter nach Abschluss des Mietvertrags ein berechtigtes Interesse, einen Teil des<br />

Wohnraums einem Dritten zum Gebrauch zu überlassen, so kann er vom Vermieter die Erlaubnis hierzu<br />

verlangen. Zur Begründung eines berechtigten Interesses reicht der bloße Wunsch des Mieters, einen<br />

Dritten in die Räume aufzunehmen, allein nicht aus (BGH, Urt. v. 3.10.1984 – VIII ARZ 2/84). Auch der<br />

bloße Wunsch, durch die Untervermietung Einnahmen zu erzielen, ist nicht ausreichend.<br />

Gleichwohl sind an die Annahme eines berechtigten Interesses keine besonders hohen Anforderungen<br />

zu stellen (BGH, a.a.O.). Vielmehr ist jedes höchstpersönliche Interesse eines Mieters von nicht ganz<br />

unerheblichem Gewicht als berechtigtes Interesse anzusehen, sofern es mit der geltenden Rechts- und<br />

Sozialordnung im Einklang steht. Es kann sich sowohl um ein wirtschaftliches als auch ein persönliches<br />

Interesse des Mieters handeln (BGH, a.a.O.; LG Frankfurt/M., Urt. v. 15.5.1979 – 2 S 32/79).<br />

Hinweis:<br />

Dabei wird in der Praxis am häufigsten das Interesse des Mieters angeführt, sein Leben nicht mehr alleine zu<br />

verbringen, sondern in einer auf Dauer angelegten (Lebens-)Gemeinschaft (BGH, Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>05 – VIII ZR<br />

4/05). Insoweit ist es unerheblich, ob der Mieter eine Person des eigenen oder des anderen Geschlechts<br />

aufnehmen will oder ob ein Ehepaar mit einem Dritten eine Wohngemeinschaft bilden will.<br />

Es kommt auch nicht darauf an, ob der Mieter in der Wohnung seinen Lebensmittelpunkt unterhält (BGH,<br />

a.a.O.). Ebenso zählt zu den geschützten wirtschaftlichen Interessen des Mieters die Entscheidung, durch<br />

eine Untervermietung seine Wohnkosten zu reduzieren, wobei es nach richtiger Ansicht irrelevant ist, ob<br />

den Mieter an (vorübergehenden) finanziellen Schwierigkeiten ein Verschulden trifft (BGH, Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>05<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1047


Fach 4, Seite 1764<br />

Untervermietung<br />

Miete/Nutzungen<br />

– VIII ZR 4/05; v. 11.6.<strong>20</strong>17 – VIII ZR 349/13, betreffend die Untervermietung eines Teils der Wohnung bei<br />

einem längeren berufsbedingten Aufenthalt; AG München, Urt. v. 15.10.<strong>20</strong>13 – 422 C 13968/13).<br />

Wesentlich für alle Fallgruppen des berechtigten Interesses bei § 553 BGB ist, dass das jeweilige<br />

Interesse an der Gebrauchsüberlassung erst nach dem Mietvertragsschluss entsteht, wovon auch<br />

dann auszugehen ist, wenn die später eingetretene Entwicklung bereits beim Mietvertragsschluss<br />

absehbar war. Unerheblich ist also, ob der Mieter eine später eintretende Entwicklung hätte<br />

voraussehen können (AG München, a.a.O.).<br />

2. Anspruch des Mieters auf Genehmigung der Untervermietung durch den Vermieter<br />

Liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Erlaubnis nach § 553 Abs. 1 BGB vor, kann der Mieter<br />

seinen Anspruch klageweise durchsetzen. Nimmt der Mieter den Dritten ohne vorherige Erlaubnis des<br />

Vermieters in die Räume auf, stellt bereits die formell unerlaubte Gebrauchsüberlassung einen<br />

Vertragsverstoß dar. Eine außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund nach § 543 BGB<br />

kann jedoch unwirksam sein, wenn der Mieter im Zeitpunkt der Kündigung einen Anspruch auf Erteilung<br />

der Erlaubnis des Vermieters hatte (BayObLG, Beschl. v. 26.10.1990 – RE-Miet 1/90). Gleichwohl kommt<br />

eine ordentliche Kündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB in Betracht, weil der Mieter gegen seine Pflicht zur<br />

Einholung der Erlaubnis verstoßen hat; dabei ist jedoch im Rahmen der Einzelfallprüfung zu würdigen, ob<br />

ein nicht unerheblicher Pflichtenverstoß vorliegt, der noch nicht allein dadurch ausgeschlossen wird, dass<br />

ein Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis bestand (BayObLG, Urt. v. 26.4.1995 – RE-Miet 3/94).<br />

Hinweis:<br />

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es in aller Regel an einer erheblichen Verletzung der Rechte des<br />

Vermieters fehlt, wenn der Mieter einen Anspruch auf Erteilung einer Untervermietungserlaubnis hat (LG<br />

Berlin, Urt. v. 11.7.<strong>20</strong>11 – 63 S 517/10). In den übrigen Fällen ist über die Erheblichkeit der Rechtsverletzung<br />

aufgrund einer Interessenabwägung zu entscheiden (BayObLG, Beschl. v. 26.10.1990 – RE-Miet 1/90).<br />

Hat der Vermieter dem Mieter die Erlaubnis zur Untervermietung erteilt, sollte ein Grund zur fristlosen<br />

Kündigung bestehen, wenn der Mieter nach Erlaubniserteilung aus den Räumen auszieht und der Untermieter<br />

die Räume alleine nutzt (LG Berlin, Urt. v. 22.2.1993 – 66 S 126/92). Das gleiche Recht sollte bestehen,<br />

wenn sich die Erlaubnis von vornherein auf einen numerisch begrenzten Personenkreis bezieht. Diese<br />

Rechtsprechung ist nach der Entscheidung des BGH vom 23.11.<strong>20</strong>05 (Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>05 – VIII ZR 4/05) überholt.<br />

3. Versagung der Genehmigung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes<br />

Obwohl der Mieter ein berechtigtes Interesse für die Aufnahme eines Dritten reklamieren kann, ist der<br />

Vermieter ausnahmsweise zur Verweigerung der Erlaubnis berechtigt, wenn in der Person des Dritten<br />

ein wichtiger Grund vorliegt, der Wohnraum übermäßig belegt würde oder dem Vermieter die<br />

Überlassung aus sonstigen Gründen nicht zugemutet werden kann, § 553 Abs. 1 S. 2 BGB. Als wichtiger<br />

Grund kommen insbesondere in Betracht:<br />

• die Besorgnis der Belästigung der übrigen Hausbewohner,<br />

• die nachvollziehbare persönliche Feindschaft zwischen Untermieter und Vermieter oder anderen Mietern,<br />

• der Beruf des Untermieters (Klavierlehrer, Berufsposaunist, Schlagzeuger, Sänger, Nachtarbeiter),<br />

• sonstige negative Eigenschaften des Dritten (Trinker, Drogenabhängiger, entlassener Serienstraftäter,<br />

chronisch Kranker, Pflegebedürftiger) oder<br />

• die fehlende Wohnberechtigung hinsichtlich einer öffentlich geförderten oder mit Wohnungsfürsorgemitteln<br />

geförderten Wohnung.<br />

Hinweis:<br />

Eine Zahlungsunfähigkeit des Untermieters oder eine nachgewiesene mangelnde Zahlungsmoral in der Vergangenheit<br />

können hingegen keine Rolle spielen, weil der Untermieter nicht gegenüber dem Vermieter für<br />

die Verbindlichkeiten aus dem Mietvertrag haftet (vgl. für alle Beispiele CASPERS, a.a.O., § 14 Rn 46 m.w.N.).<br />

1048 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1765<br />

Untervermietung<br />

Ausnahmsweise kann der Vermieter die Zustimmung zur Gebrauchsüberlassung von der Erhebung<br />

eines Untermietzuschlags nach § 553 Abs. 2 BGB abhängig machen. Dabei handelt es sich nicht um<br />

einen neben der Miete geschuldeten „Zuschlag“, sondern um eine Vertragsanpassung wegen eines im<br />

Vergleich zum ursprünglich vereinbarten Mietvertrag erweiterten Mietgebrauchs (SCHMIDT-FUTTERER/<br />

BLANK, a.a.O., § 553 Rn 17; a.A. LG München, Urt. v. 28.7.1999 – 14 S 7728/99). Durch die Erlaubnis des<br />

Vermieters wird das Mietgebrauchsrecht erweitert, als Gegenleistung soll der Mieter in eine Erhöhung<br />

der Miete (Grundmiete oder Betriebskosten) einwilligen. Es handelt sich folglich um eine Form der<br />

Vertragsanpassung. Für den preisgebundenen Wohnraum bestimmt § 26 Abs. 3 NMV die Höhe dieses<br />

Zuschlags auf 2,50 € pro Person und Monat bei Nutzung des untervermieteten Raums durch eine<br />

Person und auf 5 € monatlich bei Nutzung durch zwei und mehr Personen. Im preisfreien Wohnraum<br />

wird ein Betrag von <strong>20</strong> % des Untermietzinses als angemessen angesehen (AG Hamburg, Urt. v.<br />

30.9.<strong>20</strong>07 – 49 C 95/07). Allerdings kommt die Erhebung eines Untermietzuschlags nur in Betracht,<br />

wenn die Untervermietung vom Vermieter (ansonsten) gestattet wird; es darf also keine unberechtigte<br />

Untervermietung vorliegen (BGH, Urt. v. 13.12.1995 – XII ZR 194/93).<br />

Schließlich bestimmt § 540 Abs. 2 BGB, dass der Mieter bei einer Gebrauchsüberlassung an einen Dritten<br />

für dessen Verschulden auch dann einzutreten hat, wenn der Vermieter die Erlaubnis zur Überlassung<br />

erteilt hat. Rechtstechnisch handelt es sich dabei um eine spezialgesetzliche Zurechnungsnorm fremden<br />

Verschuldens entsprechend dem Einstehenmüssen für Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB.<br />

Praxishinweis:<br />

Diese Vorschrift hat das KG (Rechtsentscheid v. 15.7.<strong>20</strong>00 – 16 RE-Miet 10611/99) als wesentliches Argument<br />

dafür angeführt, dass eine fristgerechte Kündigung wegen nicht unerheblicher Pflichtverletzungen voraussetzt,<br />

dass den Mieter ein eigenes Verschulden trifft. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Vorschrift des<br />

§ 549 Abs. 3 BGB a.F. (= § 540 Abs. 2 BGB n.F.) nur klarstellen soll, dass die Erlaubnis des Vermieters zur<br />

Untervermietung gerade keine Enthaftung des Mieters bzw. einen Ausschluss des Grundsatzes aus § 278<br />

BGB herbeiführen soll.<br />

4. Abweichende Vereinbarungen der Mietparteien<br />

§ 553 Abs. 3 BGB bestimmt zum Nachteil des Mieters abweichende Vereinbarungen als unwirksam.<br />

Nach der Gesetzessystematik können davon nur die Regelungen des § 553 Abs. 1, Abs. 2 BGB erfasst sein.<br />

Nach wie vor bleibt also die Regelung des § 540 BGB abdingbar. Gleichwohl ist das Recht zur Kündigung<br />

nach § 540 Abs. 1 S. 2 BGB nicht abdingbar (BGH, Urt. v. 24.5.1995 – XII ZR 172/94). Mitumfasst vom<br />

Verbot des § 553 Abs. 3 BGB sind auch solche Vereinbarungen, durch die ein nur mittelbarer Ausschluss<br />

des Anspruchs des Mieters auf Aufnahme eines Dritten bewirkt wird (z.B. „Die Benutzung der<br />

Mietwohnung ist nur durch eine Person gestattet.“).<br />

Ebenso ist eine Bestimmung unwirksam, wonach der Vermieter die Erlaubnis zur Untervermietung<br />

uneingeschränkt widerrufen kann (BGH, Urt. v. 11.2.1987 – VIII ZR 56/86).<br />

Eine formularmäßige Regelung, nach der der Mieter in jedem Fall der Untervermietung einen<br />

konkreten Zuschlag zu zahlen hat, ist schon wegen Verstoßes gegen § 553 Abs. 2 BGB unwirksam (LG<br />

Mainz, Urt. v. 17.3.1981 – 3 S 243/80). Dies gilt auch dann, wenn ein von vornherein begrenzter Zuschlag<br />

(hier: 100 DM = ca. 50 €) vereinbart wurde (AG Hamburg-Altona, Urt. v. 18.11.1997 – 317b 334/97).<br />

Hintergrund dafür ist, dass hierüber nicht generell und im Vorhinein, sondern nur entsprechend den<br />

Gegebenheiten des Einzelfalls entschieden werden kann. Eine mietvertragliche Klausel, wonach der<br />

Mieter die im Falle der Untervermietung entstehenden Forderungen auf Untermietzins an den<br />

Vermieter in Höhe von dessen Mietforderungen zur Sicherheit abtritt, ist mangels ausreichender<br />

Bestimmtheit unwirksam. Unabhängig hiervon ist bei der Wohnraummiete zu beachten, dass selbst<br />

individualvertraglich vereinbarte Sicherungsabtretungen gegen § 551 BGB verstoßen, wenn der<br />

zulässige Sicherungshöchstbetrag von drei Monatsmieten durch eine vom Mieter geleistete Barkaution<br />

bereits erbracht wurde (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 553 Rn 22 m.w.N.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1049


Fach 4, Seite 1766<br />

Untervermietung<br />

Miete/Nutzungen<br />

5. Muster einer Genehmigung des Vermieters zur Untervermietung<br />

Genehmigung des Vermieters zur Untervermietung<br />

Sehr geehrter Mieter,<br />

gemäß Ihrem Antrag vom (…) genehmige ich hiermit die Untervermietung an Herrn/Frau X unter folgenden<br />

Bedingungen:<br />

1. Die Genehmigung zur Untervermietung wird ausschließlich zu Wohnzwecken erteilt und ist beschränkt auf die<br />

Untervermietung an Herrn/Frau X. Die Untervermietung an eine andere Person bedarf einer erneuten<br />

Zustimmung.<br />

2. Der Untermieter ist verpflichtet, die Hausordnung zu beachten und einzuhalten. Dies gilt insbesondere für das von<br />

ihm angegebene Hobby „Stepptanz“. Sollten Mitbewohner des Hauses unzumutbar beeinträchtigt werden, werde<br />

ich die Erlaubnis zumindest widerrufen.<br />

3. Die Zustimmung zur Untervermietung kann im Übrigen widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für ihre<br />

Erteilung wegfallen oder ein anderer wichtiger Grund vorliegt.<br />

4. Für Schäden, die der Untermieter an den Mieträumen verursacht, haftet der Mieter gegenüber dem Vermieter.<br />

5. Die Beendigung der Untervermietung ist durch Abmeldebestätigung unverzüglich schriftlich anzuzeigen. Eine<br />

rückwirkende Erstattung des Untermietzuschlags kann der Mieter nicht verlangen.<br />

Die Geltendmachung eines angemessenen Untermietzuschlags behalte ich mir vor.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

(…)<br />

IV. Prozessuale Geltendmachung<br />

Die Erlaubnis zur Untervermietung muss – sofern der Vermieter seine Genehmigung nicht erteilt –<br />

seitens des Mieters mit der Leistungsklage geltend gemacht werden. Die Beantragung einer<br />

einstweiligen Verfügung ist wegen unzulässiger Vorwegnahme der Hauptsache nicht möglich.<br />

Bei einer Mietermehrheit ist jeder Mieter alleine zur Klageerhebung befugt, wobei der Klageantrag<br />

auf Erteilung einer Untervermietungserlaubnis an alle Mieter lauten muss (im Einzelnen strittig, vgl.<br />

SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 Rn 81/81a m.w.N.).<br />

Praxishinweis:<br />

Da nach Ablauf einer Kündigungsfrist in einem gekündigten Mietverhältnis kein Anspruch auf Erlaubniserteilung<br />

mehr besteht, sollte eine darauf gerichtete Klage bei einem etwaig zeitgleich bestehenden<br />

Räumungsrechtsstreit bis zur rechtskräftigen Erledigung des letzteren ausgesetzt werden (LG Berlin, Urt.<br />

v. 17.6.1991 – 62 S 48/91). Verliert der konkret benannte Untermieter im Laufe des Prozesses sein Interesse<br />

am Bezug der Wohnräume, so kann der Mieter den Rechtsstreit nach § 91a ZPO analog für erledigt<br />

erklären (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 540 Rn 81/81a; a.A. AG Tempelhof-Kreuzberg, Urt. v. 2.7.1986 –<br />

6 C 545/85).<br />

Ausnahmsweise kann der Mieter den Anspruch auf Zustimmung im einstweiligen Verfügungsverfahren<br />

geltend machen, wenn der Mieter im Falle der Verweigerung der Erlaubnis mit der fristlosen<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs rechnen muss und hinreichende Gründe dafür bestehen, dass<br />

dem Vermieter durch die Überlassung der Wohnräume kein ins Gewicht fallender Nachteil erwächst<br />

(LG Hamburg, Beschl. v. 13.11.<strong>20</strong>12 – 316 T 70/12).<br />

Der Streitwert der Klage ist gem. § 48 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO nach dem Jahresbetrag des Untermietzinses<br />

inklusive besonderer Zahlungspflichten des Untermieters (z.B. einmalige Zusatzzahlung) zu berücksichtigen.<br />

1050 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1457<br />

Elternunterhalt<br />

Unterhaltsrecht<br />

Elternunterhalt<br />

– Teil 1: Anspruchsvoraussetzungen und Bedürftigkeit eines Elternteils<br />

Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Aufsicht führender Richter am Amtsgericht a.D., Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Vorbemerkung<br />

II. Gesetzliche Voraussetzungen des Anspruchs<br />

auf Elternunterhalt<br />

III. Unterhaltsrechtlicher Bedarf des Elternteils<br />

1. Maßstab für den Bedarf<br />

2. Bedarfserhöhung bei Pflegebedürftigkeit<br />

(Heimkosten)<br />

3. Exkurs: Unterhaltspflicht des Ehegatten bei<br />

Pflegebedürftigkeit (Heimunterbringung)<br />

4. Bedarfserhöhung durch Abschluss einer<br />

Pflegeversicherung<br />

IV. Bedürftigkeit des unterhaltsberechtigten<br />

Elternteils<br />

1. Anrechenbare Einkünfte des unterhaltsberechtigten<br />

Elternteils<br />

2. Anrechnung von Vermögen<br />

3. Rückgewähransprüche aus Schenkungsrecht<br />

4. Anrechnung von Unterhaltsforderungen<br />

gegen den eigenen Ehegatten<br />

V. Anteilige Haftung aller Kinder<br />

I. Vorbemerkung<br />

Der Elternunterhalt nimmt in der Praxis eine immer bedeutsamere Rolle ein. Denn die demografische<br />

Entwicklung ist eindeutig: Die Bevölkerung wird älter, eine steigende Zahl von Seniorinnen und Senioren<br />

lebt in Alters- und Pflegeheimen. Da die eigene Rente in aller Regel nicht ausreicht, die Kosten zu<br />

decken, müssen die Sozialämter einspringen. Diese versuchen, das Geld von den unterhaltspflichtigen<br />

Kindern oder noch vom außerhalb des Heimes lebenden Ehegatten zurückzuholen. Zu dieser Thematik<br />

sind einige für die praktische Behandlung der Fälle bedeutsame Entscheidungen des BGH ergangen.<br />

II. Gesetzliche Voraussetzungen des Anspruchs auf Elternunterhalt<br />

Verwandte in gerader Linie – also Eltern und Kinder – sind wechselseitig verpflichtet, einander Unterhalt zu<br />

gewähren (§ 1601 BGB). Die Unterhaltsverpflichtung trifft also nicht nur die Eltern gegenüber ihren –<br />

minderjährigen und volljährigen – Kindern (s. dazu VIEFHUES <strong>ZAP</strong> F. 11, S. 1391 ff., 1411 ff.), sondern umgekehrt<br />

auch die Kinder gegenüber ihren Eltern. Der Unterhaltsanspruch richtet sich auf den angemessenen<br />

Unterhalt (§ 1610 Abs. 1 BGB).<br />

Hinweis:<br />

Vom Gesetzgeber wird jedoch unterhaltsberechtigten Eltern gegenüber Kindern eine relativ schwache Rechtsposition<br />

zugewiesen. Denn die Eltern gehen im Rang nicht nur den minderjährigen sowie volljährigen Kindern<br />

und Ehegatten der Unterhaltspflichtigen nach, sondern stehen im Rang auch hinter deren Enkeln (§ 1609 BGB).<br />

Mit der Einführung der gesetzlich geförderten privaten Altersvorsorge hat der Gesetzgeber außerdem<br />

deutlich gemacht, dass jeder Einzelne für seine Alterssicherung neben der gesetzlichen Renten-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1051


Fach 11, Seite 1458<br />

Elternunterhalt<br />

Familienrecht<br />

versicherung rechtzeitig und ausreichend vorsorgen sollte. Die Grundsicherung im Alter (§§ 41 ff.<br />

SGB XII) verdeutlicht weiterhin die Zielvorstellung des Gesetzgebers, bei der Frage, ob und inwieweit<br />

Eltern gegenüber ihren Kindern Unterhaltsansprüche geltend machen können, die Nachrangigkeit<br />

dieses Anspruchs ebenso wie die besondere Belastungssituation des Unterhaltspflichtigen zu beachten<br />

(BVerfG FamRZ <strong>20</strong>05, 1051, 1055 m. Anm. KLINKHAMMER).<br />

Maßgebliche Eckpunkte für jeden Unterhaltsanspruch – und damit auch für den Elternunterhalt – sind<br />

• der Bedarf des Unterhaltsberechtigten (s. III.),<br />

• seine aktuelle Bedürftigkeit aufgrund nicht ausreichender eigener Einkünfte und eigenen Vermögens<br />

(s. IV.),<br />

• die aktuelle Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen, § 1603 BGB.<br />

III. Unterhaltsrechtlicher Bedarf des Elternteils<br />

Der Unterhaltsbedarf von Eltern im Ruhestand umfasst den gesamten Lebensbedarf, wie z.B. die Miete<br />

für die Wohnung, Ernährung, Bekleidung, Beiträge für die Krankenkasse und Pflegeversicherung (BGH,<br />

Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860) und ist i.d.R. im Unterhaltsprozess konkret<br />

entsprechend den individuellen Verhältnissen vorzutragen.<br />

1. Maßstab für den Bedarf<br />

Das Maß des geschuldeten Unterhalts bestimmt sich gem. § 1610 BGB nach der eigenen Lebensstellung<br />

des Elternteils. Der – eigenständige – Bedarf eines unterhaltsberechtigten Elternteils beurteilt sich folglich<br />

in erster Linie nach den persönlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen des betreffenden<br />

Elternteils (BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860, 861 = NJW <strong>20</strong>03, 1660).<br />

Hinweis:<br />

Dadurch unterscheidet sich der Elternunterhalt deutlich von anderen Unterhaltsverhältnissen. Der Bedarf<br />

des minderjährigen und auch des volljährigen noch in der Berufsausbildung befindlichen Kindes leitet sich<br />

von der Lebensstellung des Unterhaltspflichtigen ab. Auch beim Ehegattenunterhalt wird der Bedarf<br />

entscheidend von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des anderen Ehegatten, also des<br />

Unterhaltspflichtigen bestimmt.<br />

Grundsätzlich führen nachteilige Einkommensveränderungen auch zu einer Änderung der Lebensstellung,<br />

die gem. § 1610 BGB den Unterhaltsbedarf prägt. Folglich scheidet ein Anspruch auf Unterhalt<br />

entsprechend einer früheren Lebensstellung aus. Durch den Eintritt in den Ruhestand werden aber<br />

regelmäßig nachteilige Veränderungen der Einkommensverhältnisse ausgelöst, die auch eine Änderung<br />

der Lebensstellung des Elternteils zur Folge haben. Dessen Lebensstellung bestimmt sich daher nicht<br />

nach dem eigenen Einkommen in „besseren Zeiten“, als er noch erwerbstätig war, sondern nach den<br />

aktuell gegebenen tatsächlichen Verhältnissen. Dies gilt auch dann, wenn die Einkommensverschlechterung<br />

durch den Tod eines Ehegatten bedingt ist (BGH FamRZ <strong>20</strong>06, 935).<br />

Daher können Eltern von ihren Kindern keinen Unterhalt mehr nach einer früheren – besseren – Lebensstellung<br />

verlangen. Ist der Elternteil im Alter sozialhilfebedürftig geworden, beschränkt sich sein angemessener<br />

Lebensbedarf i.d.R. auf das Existenzminimum (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW <strong>20</strong>13, 301 =<br />

FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm. HAUß; BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860). Dieses Existenzminimum<br />

des nicht erwerbstätigen Unterhaltsberechtigten von 880 € (Wert der Düsseldorfer Tabelle<br />

<strong><strong>20</strong>18</strong>) bildet jedoch auch beim Elternunterhalt die Untergrenze des Bedarfs (BGH FamRZ <strong>20</strong>03, 860, 861).<br />

Praxishinweis:<br />

Der Bedarf kann bei bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen ohne Auflistung einzelner Bedarfspositionen<br />

zur Vereinfachung auch nur mit dem am sozialhilferechtlichen Existenzminimum orientierten<br />

notwendigen Eigenbedarfssatz, wie er nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte (Nr. 21.4, Stand<br />

1052 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1459<br />

Elternunterhalt<br />

1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong>) dem nicht erwerbstätigen unterhaltsberechtigten Ehegatten zustehen soll, angegeben werden.<br />

Die Kosten für Unterkunft, einschließlich umlagefähiger Nebenkosten und Heizung (Warmmiete), sind<br />

i.H.v. 380 € (21.2 Leitlinien der OLG, Stand 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong>) in diesem Betrag enthalten.<br />

Es gibt jedoch auch Lebenssituationen, in denen sich bestimmte Faktoren bedarfserhöhend auf den<br />

Unterhalt auswirken, z.B. wenn der unterhaltberechtigte Elternteil in einem Pflegeheim lebt (s. hierzu 2.)<br />

oder noch Kosten für Kranken- und Pflegeversicherung anfallen (s. unten 4.). Diese Positionen finden in<br />

den Eigenbedarfssätzen nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte keine Berücksichtigung und müssen<br />

gesondert geprüft werden.<br />

2. Bedarfserhöhung bei Pflegebedürftigkeit (Heimkosten)<br />

Eine Heimunterbringung wirkt sich regelmäßig bedarfserhöhend aus, denn die damit verbundenen<br />

Heim- und Pflegekosten gehören zum Lebensbedarf i.S.d. § 1610 BGB (BGH FamRZ <strong>20</strong>04, 1370).<br />

a) Heimkosten<br />

Lebt der unterhaltsbedürftige Elternteil im Pflegeheim, ist eine konkrete Bedarfsbestimmung vorzunehmen<br />

und als deren Grundlage die Notwendigkeit der Heimunterbringung darzulegen. Die Notwendigkeit der<br />

Unterbringung in einem Heim ist immer dann gegeben, wenn dem alten Menschen die Selbstversorgung in<br />

einer eigenen Wohnung nicht mehr möglich ist (OLG Oldenburg FamRZ <strong>20</strong>10, 991). Diese Notwendigkeit<br />

wird durch Zuerkennung eines entsprechenden Pflegegrads indiziert (HAUß FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>6, <strong>20</strong>7).<br />

Der Unterhaltsbedarf des Elternteils bestimmt sich in diesem Fall ganz konkret durch seine Unterbringung<br />

im Heim und deckt sich mit den dort im Einzelfall anfallenden notwendigen Kosten. Der Bedarf wird i.d.R.<br />

mit den Heimunterbringungskosten identisch sein, so dass es zunächst reicht, die Heimkosten<br />

aufzuschlüsseln und genau zu beziffern (BGH, Urt. v. 23.10.<strong>20</strong>02 – XII ZR 266/99, NJW <strong>20</strong>03, 128).<br />

Oft besteht über die Angemessenheit der Heimkosten Streit zwischen dem auf Zahlung in Anspruch<br />

genommen Kind und dem Sozialhilfeträger, der den übergeleiteten Unterhaltsanspruch durchsetzen<br />

will. Aus der sozialhilferechtlichen Anerkennung der jeweiligen Kosten folgt noch nicht zwingend<br />

auch deren unterhaltsrechtliche Notwendigkeit. Sozialrechtlich und unterhaltsrechtlich anzuerkennende<br />

Kosten können vielmehr voneinander abweichen (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW<br />

<strong>20</strong>13, 301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm. HAUß).<br />

Ein höherer an der früher besseren Lebensstellung des Elternteils orientierter Standard ist jedoch<br />

grundsätzlich nicht mehr angemessen i.S.v. § 1610 Abs. 1 BGB, die Angemessenheit richtet sich nach der<br />

konkreten (aktuellen) Lebenssituation (s. oben unter 1.). Der Unterhaltsbedarf eines im Pflegeheim<br />

untergebrachten Elternteils richtet sich nach den notwendigen Heimkosten zzgl. eines Barbetrags für<br />

die Bedürfnisse des täglichen Lebens und beschränkt sich damit beim Elternteil, der sozialhilfebedürftig<br />

geworden ist, auf das Existenzminimum und damit auf eine – dem Unterhaltsberechtigten zumutbare<br />

– einfache und kostengünstige Heimunterbringung (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW <strong>20</strong>13,<br />

301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm. HAUß; BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860).<br />

Will der Unterhaltspflichtige die tatsächlich anfallenden Kosten nicht akzeptieren, muss er seinerseits<br />

substantiiert die Notwendigkeit der Heimkosten bestreiten (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW<br />

<strong>20</strong>13, 301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3; Urt. v. 23.10.<strong>20</strong>02 – XII ZR 266/09, NJW <strong>20</strong>03, 128 = FamRZ <strong>20</strong>02, 1698).<br />

Geschieht dies, trägt der Unterhaltsberechtigte die Beweislast, beim sozialhilferechtlichen Anspruchsübergang<br />

also der Sozialhilfeträger (BGH, Urt. v. 27.11.<strong>20</strong>02 – XII ZR 295/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 444).<br />

Hinweise:<br />

Ausnahmsweise muss der Unterhaltspflichtige auch höhere Kosten der Heimunterbringung übernehmen,<br />

wenn dem Elternteil nicht zugemutet werden kann, ein preisgünstigeres Heim zu nutzen, z.B. wenn Eltern<br />

ihre Heimunterbringung zunächst noch selbst finanzieren konnten, erst später dazu nicht mehr in der<br />

Lage sind und ihnen der Umzug in ein anderes kostengünstigeres Heim nicht zugemutet werden kann.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1053


Fach 11, Seite 1460<br />

Elternunterhalt<br />

Familienrecht<br />

Der Unterhaltsbedarf eines im Pflegeheim lebenden Elternteils mit Hörbehinderung erstreckt sich auch<br />

auf den durch die Unterbringung in einer Gehörlosenwohngruppe bedingten Mehrbedarf. Der gehörlosen<br />

Hilfeempfängerin ist eine barrierefreie, aktivierende Pflege zuzugestehen, die der Gefahr ihrer Vereinsamung<br />

entgegenwirkt und insbesondere auch ihre Bedürfnisse nach Kommunikation berücksichtigt<br />

(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.6.<strong>20</strong>17 – II-1 UF 34/17, FamRZ <strong><strong>20</strong>18</strong>, 103).<br />

Wenn das unterhaltspflichtige Kind selbst die Auswahl des Heims beeinflusst hat, kann es ebenfalls<br />

nicht auf die Möglichkeit einer kostengünstigeren Unterbringung verweisen (Verbot widersprüchlichen<br />

Verhaltens; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.6.<strong>20</strong>17 – II-1 UF 34/17, FamRZ <strong><strong>20</strong>18</strong>, 103). Hat sich das<br />

unterhaltspflichtige Kind nicht an der Suche nach einem Heimplatz beteiligt, begründet allein dieser<br />

Umstand nicht die Verpflichtung, überhöhte Kosten zu tragen.<br />

b) Zusätzlicher Bedarf<br />

Dem im Heim lebenden Elternteil steht zudem ein zusätzlicher Barbetrag für die Bedürfnisse des<br />

täglichen Lebens zu (BGH, Urt. v. 21.11.<strong>20</strong>12 – XII ZR 150/10, NJW <strong>20</strong>13, 301 = FamRZ <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>3 m. Anm.<br />

HAUß). Dazu gehört auch der nach § 35 SGB XII gezahlte Bar- und der nach § 133a SGB XII gewährte<br />

Zusatzbetrag, der Heimbewohnern, die einen Teil der Kosten des Pflegeheims aus eigenen Mitteln<br />

zahlen können, vom Sozialleistungsträger, der die nicht gedeckten Heimkosten übernimmt, gewährt<br />

wird (BGH FamRZ <strong>20</strong>10, 1535).<br />

3. Exkurs: Unterhaltspflicht des Ehegatten bei Pflegebedürftigkeit (Heimunterbringung)<br />

Die Frage der unterhaltsrechtlichen Haftung für einen pflegebedürftigen Angehörigen kann sich auch<br />

beim Ehegattenunterhalt stellen. Pflegebedürftig wird ein Ehegatte, dessen eigene Einkünfte nicht<br />

ausreichen, die Heimkosten zu decken. Auch hier stellen die Heimkosten den unterhaltsrechtlichen<br />

Bedarf dar (BGH, Beschl. v. 27.4.<strong>20</strong>16 – XII ZB 485/14, NJW <strong>20</strong>16, 2122 m. Anm. REINKEN = FamRZ <strong>20</strong>16, 12<strong>20</strong><br />

m. Anm. MAURER).<br />

Hinweis:<br />

Zum unterhaltsrechtlichen Bedarf eines getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten können auch die<br />

Kosten des betreuten Wohnens gehören (OLG Hamm, Beschl. v. 30.6. <strong>20</strong>17 – 6 WF 105/17, FUR <strong><strong>20</strong>18</strong>, 98;<br />

REINKEN jurisPR-FamR 25/<strong>20</strong>17 Anm. 5).<br />

Es stellt sich die Frage, ob der Ehegatte, der Rente bezieht und noch in der Ehewohnung verblieben ist,<br />

auf Zahlung von Unterhalt in Anspruch genommen werden kann (BGH, Beschl. v. 27.4.<strong>20</strong>16 – XII ZB<br />

485/14, NJW <strong>20</strong>16, 2122 m. Anm. REINKEN = FamRZ <strong>20</strong>16, 12<strong>20</strong> m. Anm. MAURER). Auch hier richtet sich –<br />

wie beim Elternunterhalt (s. oben 2. a) – der Bedarf nach den Heimkosten.<br />

Problematisch ist allerdings die Anspruchsgrundlage. Ein Anspruch auf Trennungsunterhalt nach § 1361<br />

Abs. 1 S. 1 BGB scheidet aus, da die Ehegatten trotz der getrennten Wohnung nicht im Rechtssinne<br />

getrennt leben. Denn die häusliche Gemeinschaft bezeichnet damit nur einen äußeren, freilich nicht<br />

notwendigen Teilaspekt dieser Gemeinschaft (BGHZ 149, 140). Eine eheliche Lebensgemeinschaft kann<br />

daher auch dann bestehen, wenn die Ehegatten einvernehmlich eigenständige Haushalte unterhalten.<br />

Der Anspruch auf Familienunterhalt aus § 1360 BGB richtet sich aber regelmäßig nicht auf Zahlung<br />

einer für den Empfänger frei verfügbaren Geldrente, sondern ist als Anspruch auf Teilhabe an dieser<br />

Lebensgemeinschaft ausgestaltet und gerichtet. Hieraus ergibt sich daher regelmäßig keine<br />

Leistungsfähigkeit zur Zahlung von Unterhalt (BGH, Urt. v. 12.12.<strong>20</strong>12 – XII ZR 43/11, NJW <strong>20</strong>13, 686<br />

= FamRZ <strong>20</strong>13, 363).<br />

Wird ein Ehegatte allerdings stationär pflegebedürftig, so entsteht ihm ein besonderer persönlicher<br />

Bedarf, der vor allem durch die anfallenden Heim- und Pflegekosten bestimmt wird. In diesem Fall<br />

1054 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1461<br />

Elternunterhalt<br />

richtet sich der Familienunterhaltsanspruch ausnahmsweise auf Zahlung einer Geldrente (BGH,<br />

Beschl. v. 27.4.<strong>20</strong>16 – XII ZB 485/14, NJW <strong>20</strong>16, 2122). Im Regelfall übersteigen allerdings die Pflegekosten<br />

das gesamte Familieneinkommen und würden bei unbeschränkter Unterhaltspflicht des anderen<br />

Ehegatten der übrigen Familie die Mittel entziehen, die diese für den eigenen Lebensbedarf benötigt.<br />

Würde man hier – wie sonst beim Familienunterhalt – auf eine Begrenzung durch die Leistungsfähigkeit<br />

des pflichtigen Ehegatten verzichten, blieben diesem keine Finanzmittel mehr für seinen eigenen Bedarf<br />

übrig. Der BGH stellt daher klar, dass in diesem Fall dem Unterhaltspflichtigen im Unterschied zum Fall<br />

des häuslichen Zusammenlebens auch beim Familienunterhalt der angemessene eigene Unterhalt als<br />

Selbstbehalt belassen werden muss.<br />

Hinweis:<br />

Der BGH betont hier zusätzlich den Halbteilungsgrundsatz zum Schutz des Unterhaltspflichtigen. Die<br />

Begrenzung des Anspruchs durch den Halbteilungsgrundsatz wirkt sich bei höheren Einkünften aus.<br />

Berechnungsbeispiele:<br />

Einkommen Ehegatte 3.000,00 €<br />

abzgl. angemessener Selbstbehalt – 1.<strong>20</strong>0,00 €<br />

Leistungsfähigkeit für Heimkosten 1.800,00 €<br />

Grenze Halbteilung 1.500,00 €<br />

reduzierter Anspruch 1.500,00 €<br />

Einkommen Ehegatte 4.000,00 €<br />

abzgl. angemessener Selbstbehalt – 1.<strong>20</strong>0,00 €<br />

Leistungsfähigkeit für Heimkosten 2.800,00 €<br />

Grenze Halbteilung 2.000,00 €<br />

reduzierter Anspruch 2.000,00 €<br />

Wird dem Unterhaltspflichtigen lediglich sein Selbstbehalt belassen, muss er deutlich mehr als die Hälfte<br />

seines Einkommens als Unterhalt abführen. Der Halbteilungsgrundsatz schützt ihn vor zu hoher<br />

Belastung. Er muss lediglich die Hälfte seines anrechenbaren Einkommens als Elternunterhalt zahlen.<br />

4. Bedarfserhöhung durch Abschluss einer Pflegeversicherung<br />

Auch Beiträge, die in die Pflegeversicherung gezahlt werden, gehören zum unterhaltsrechtlichen Bedarf.<br />

Dies ist die logische Konsequenz aus der BGH-Rechtsprechung, die eine Obliegenheit zum Abschluss<br />

einer Pflegeversicherung bejaht (BGH, Beschl. v. 17.6.<strong>20</strong>15 – XII ZB 458/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1594; BORTH<br />

FamRZ <strong>20</strong>15, 1599). Der zu zahlende Beitrag zur Pflegeversicherung gehört damit zum Bedarf des<br />

unterhaltsberechtigten Elternteils, den das unterhaltspflichtige Kind ebenfalls decken muss.<br />

Praxishinweis:<br />

Zu prüfen ist, ob ggf. eine Beitragspflicht zur Pflegeversicherung besteht. Dies ist nach § <strong>20</strong> Abs. 1 S. 2 Nr. 11<br />

SGB XI nur der Fall, wenn der Unterhaltsberechtigte aufgrund des Rentenbezugs auch Beiträge zur Krankenversicherung<br />

der Rentner abführt (BORTH FamRZ <strong>20</strong>15, 1600).<br />

IV. Bedürftigkeit des unterhaltsberechtigten Elternteils<br />

Nachdem im konkreten Fall festgestellt ist, was zum Unterhaltsbedarf gehört, ist anschließend zu prüfen,<br />

ob der Anspruch stellende Elternteil konkret unterhaltsbedürftig ist. Die Bedürftigkeit des Elternteils ist<br />

gegeben, wenn er seinen Bedarf nicht durch eigene Einkünfte aus Rente oder auch aus Vermögensanlagen<br />

(Zinsen, Dividenden, Mieteinkünfte usw.) decken kann. Im Ergebnis darf weder einsetzbares Vermögen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1055


Fach 11, Seite 1462<br />

Elternunterhalt<br />

Familienrecht<br />

vorhanden sein, noch dürfen Einkünfte aus Vermögen oder Erwerbstätigkeit in ausreichender Höhe zur<br />

Verfügung stehen, um den festgestellten Bedarf selbst aus eigenen Mitteln zu decken.<br />

Hinweis:<br />

Auch beim unterhaltsberechtigten Elternteil können fiktive Einkünfte in Betracht kommen, wenn die<br />

Verletzung einer unterhaltsrechtlichen Obliegenheit vorliegt.<br />

1. Anrechenbare Einkünfte des unterhaltsberechtigten Elternteils<br />

Bedarfsdeckend sind sämtliche Einkünfte, also die eigene Rente, sonstige Versorgungsbezüge,<br />

Unterhaltsansprüche gegenüber dem vorrangig unterhaltspflichtigen – auch geschiedenen – Ehegatten,<br />

Vermögenserträge, Erträge aus Verwertung des Vermögens, Wohnvorteil beim Wohnen im<br />

Eigenheim oder bei einem Wohnrecht, Sozialleistungen – soweit sie nicht subsidiär gewährt werden,<br />

Wohngeld (BGH, Urt. v. 19.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860) – soweit es nicht erhöhte<br />

Wohnkosten abdeckt, Leistungen der Pflegeversicherung, Pflegegeld nach dem Landespflegegeldgesetz<br />

(BRUDERMÜLLER NJW <strong>20</strong>04, 633, 634).<br />

a) Pflegeversicherung<br />

Bezogenes Pflegegeld ist ebenfalls unterhaltsrechtlich relevantes Einkommen des Elternteils. Die<br />

monatlichen Leistungen der Pflegeversicherung betragen zzt. gem. §§ 36, 43 SGB XI bei stationärer<br />

Pflege:<br />

• Pflegegrad 1: 125 €<br />

• Pflegegrad 2: 770 €<br />

• Pflegegrad 3: 1.262 €<br />

• Pflegegrad 4: 1.775 €<br />

• Pflegegrad 5: 2.005 €<br />

Hinweis:<br />

Die aktuelle Übersicht über die Leistungen der Pflegeversicherung bietet das Bundesgesundheitsministerium<br />

im Internet unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-pflege/<br />

leistungen-der-pflegeversicherung/leistungen-im-ueberblick.html.<br />

Der BGH hat bestätigt, dass grundsätzlich auch ein fiktiver Ansatz des Pflegegelds vom Unterhaltsbedarf<br />

des pflegebedürftigen berechtigten Elternteils abgezogen werden kann, wenn dieser es versäumt<br />

hat, sich hinreichend für den Eintritt seines Pflegefalls zu versichern (BGH, Beschl. v. 17.6.<strong>20</strong>15 – XII ZB<br />

458/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1594 m. Anm. BORTH; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 31.7.<strong>20</strong>14 – 16 UF 129/13, FamRZ <strong>20</strong>15,<br />

515; OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.10.<strong>20</strong>12 – 14 UF 82/12, FamRZ <strong>20</strong>13, 1143). Es muss aber eine<br />

tatsächliche Obliegenheitsverletzung der Berechtigten festgestellt werden, um hier ein fiktives<br />

Einkommen in Form der Leistungen der Pflegeversicherung ansetzen zu können.<br />

b) Verhältnis Grundsicherungs- zu Unterhaltsleistungen<br />

Leistungen der Grundsicherung im Alter sind ebenfalls unterhaltsrechtlich relevante Einkünfte, die den<br />

Bedarf des unterhaltsberechtigten Elternteils decken. Sie sind gegenüber dem Anspruch auf Elternunterhalt<br />

vorrangig, gelten als Einkommen und reduzieren dadurch den unterhaltsrechtlichen Bedarf,<br />

ohne dass es darauf ankommt, ob sie zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden sind (BGH, Urt. v.<br />

<strong>20</strong>.12.<strong>20</strong>06 – XII ZR 84/04, FamRZ <strong>20</strong>07, 1158 Rn 14).<br />

Daraus ergibt sich für den Unterhaltsberechtigten grundsätzlich die Obliegenheit zur Inanspruchnahme<br />

von Grundsicherungsleistungen; eine Verletzung dieser Obliegenheit kann daher zur Anrechnung<br />

fiktiver Einkünfte in der Höhe der entgangenen Grundsicherung führen (BGH, Beschl. v.<br />

8.7.<strong>20</strong>15 – XII ZB 56/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1467 m.w.N.).<br />

1056 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1463<br />

Elternunterhalt<br />

Grundsicherungsleistungen werden unabhängig von etwaigen Unterhaltsansprüchen gegen Eltern und<br />

Kinder gewährt, wenn die Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach<br />

den §§ 41 ff. SGB XII vorliegen (BGH, Urt. v. 8.7.<strong>20</strong>15 – XII ZB 56/14 a.a.O. unter Hinweis auf BSG FamRZ<br />

<strong>20</strong>09, 44 Rn 16). Eltern haben ab Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. bei dauerhaft eingetretener<br />

Erwerbsminderung Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, wenn sie ihren Unterhalt nicht aus<br />

ihren Einkünften und Vermögen bestreiten können (§§ 41 ff. SGB XII).<br />

Hinweis:<br />

Aktuelle Informationen bietet die Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unter<br />

http://www.bmas.de/DE/Themen/Soziale-Sicherung/Sozialhilfe/grundsicherung-im-alter-und-bei-erwerbsminderung.html.<br />

c) Besonderheiten bei der Anrechnung von Wohngeld<br />

Falls der bedürftige Elternteil noch in einer eigenen Wohnung lebt und Wohngeld bezieht, kann eine<br />

Anrechnung des Wohngelds in Betracht kommen. Allerdings ist der Anteil des Wohngelds, der dazu<br />

dient, erhöhte Wohnkosten auszugleichen, unterhaltsrechtlich nicht bedarfsmindernd zu berücksichtigen.<br />

Wohnkosten sind dann erhöht, wenn sie die den im notwendigen Eigenbedarfssatz der<br />

Leitlinien enthaltenen Wohnkostenanteil (von derzeit 380 €, vgl. 21.2 Leitlinien der OLG, Stand 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong>)<br />

übersteigen (BGH, Urt. v. <strong>20</strong>.2.<strong>20</strong>03 – XII ZR 67/00, FamRZ <strong>20</strong>03, 860).<br />

2. Anrechnung von Vermögen<br />

Der Unterhaltsberechtigte muss vor einer Inanspruchnahme des Verpflichteten zunächst seinen Bedarf<br />

auch mit der Verwertung seines Vermögens bestreiten. Soweit Vermögen vorhanden ist, müssen daher<br />

nicht nur die Erträge für den Unterhalt, sondern es muss der Vermögensstamm verwertet werden<br />

(BVerfG, Urt. v. 3.7.1956 – III C 130/56, NJW 1957, 154; BGH FamRZ <strong>20</strong>04, 370, 371 m. Anm. STROHAL FamRZ<br />

<strong>20</strong>04, 441).<br />

Den Eltern ist jedoch ein Schonbetrag – ein sog. Notgroschen – für eventuell auftretenden Sonderbedarf<br />

als Vermögensreserve zu belassen. Dessen Bemessung richtet sich nach den Umständen des<br />

Einzelfalls. Die untere Grenze bildet jedoch das Vermögen, das nach den Vorschriften des Sozialhilferechts<br />

als unverwertbares Vermögen gilt. Bezogen auf Barmittel liegt der Freibetrag seit <strong>20</strong>17 bei<br />

5.000 € (§ 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 der DVO).Unter besonderen Umständen – die im Streitfall<br />

darzulegen sind – kann ein höherer Betrag anerkannt werden.<br />

Beispiele:<br />

Wenn der Elternteil eine zweckgebundene Rücklage zur Abdeckung der angemessenen Kosten seiner<br />

eigenen Beerdigung gebildet hat, ist ein höherer Betrag gerechtfertigt. Verfügt der Elternteil über eine<br />

Immobilie, die Mieteinkünfte erzielt, die bedarfsdeckend herangezogen werden, ist auch eine angemessene<br />

Rücklage für Instandhaltungsmaßnahmen geschützt.<br />

Bei der notwendigen Abwägung sind aber auch immer die schutzwürdigen Interessen des unterhaltspflichtigen<br />

Kindes, nicht mit Unterhaltszahlungen belastet zu werden, mitzuberücksichtigen (BGH, Urt.<br />

v. 5.11.1997 – XI ZR <strong>20</strong>/96, FamRZ 1998, 367).<br />

3. Rückgewähransprüche aus Schenkungsrecht<br />

Auch Rückgewähransprüche aus Schenkungsrecht, die Eltern dann geltend machen müssen, wenn sie<br />

ihr Vermögen vor Eintritt der Bedürftigkeit an Dritte oder an die Kinder selbst übertragen haben,<br />

gehören zum Vermögen. Dann steht ihnen ein Rückforderungsanspruch wegen Notbedarfs gegen den<br />

Beschenkten unter den Voraussetzungen des § 528 BGB zu (vgl. BGH, Urt. v. <strong>20</strong>.5.<strong>20</strong>03 – X ZR 246/02,<br />

NJW <strong>20</strong>03, 2449; zu den möglichen Einschränkungen gem. § 529 Abs. 2 BGB s. OLG Köln, Beschl. v.<br />

2.12.<strong>20</strong>16 – 1 U 21/16, FamRZ <strong>20</strong>17, 1313).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1057


Fach 11, Seite 1464<br />

Elternunterhalt<br />

Familienrecht<br />

Praxishinweise:<br />

Bei der Revokationsfrist von zehn Jahren kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Beantragung von Sozialhilfe,<br />

sondern auf den Zeitpunkt der Bedürftigkeit an. Den Zeitpunkt durch Tricks herauszuschieben (Finanzierung<br />

aus Mitteln des Kindes) nützt nichts, weil diese als Unterhaltsleistungen die Bedürftigkeit des Schenkers<br />

(Elternteils) beseitigen würden, also diesen Zeitpunkt ebenfalls verschieben (HAUß FamRB <strong>20</strong>17, <strong>20</strong>8).<br />

Der Revokationsanspruch verjährt in drei Jahren (§ 195 BGB). Da der Sozialhilfeträger nur aus übergeleitetem<br />

Recht für den Revokationsberechtigten vorgeht, kommt es für die Berechnung der Frist auf die Kenntnis des<br />

Berechtigten, nicht des Sozialhilfeträgers an (HAUß FamRB <strong>20</strong>17, <strong>20</strong>8).<br />

4. Anrechnung von Unterhaltsforderungen gegen den eigenen Ehegatten<br />

Auch an den bedürftigen Elternteil gezahlter Barunterhalt ist Einkommen, denn er tritt an die Stelle<br />

sonstiger Erwerbseinkünfte und ist daher in gleicher Weise zu berücksichtigen. Auf den Bedarf sind auch<br />

Unterhaltsforderungen des Anspruch stellenden Elternteils gegen seinen getrennt lebenden (§ 1361<br />

BGB) oder geschiedenen Ehegatten (§§ 1569 ff. BGB) anzurechnen (zur Berechnung des Ehegattenunterhaltsanspruchs<br />

s. VIEFHUES <strong>ZAP</strong> F. 11, S. 1431 ff. und 1439 ff.).<br />

Da die Kinder nur ersatzweise nach dem Ehegatten des Anspruch stellenden Elternteils haften (§ 1608 S. 1<br />

BGB) muss der bedürftige Elternteil zunächst seinen Ehegatten auf Zahlung in Anspruch nehmen. Lässt<br />

sich der Anspruch gegen den Ehegatten jedoch nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchsetzen,<br />

können die Kinder zuvor in Anspruch genommen werden. Allerdings geht dann der Anspruch gegen den<br />

Ehegatten kraft Gesetzes auf das leistende Kind über (§ 1607 Abs. 2 S. 2 BGB in entsprechender<br />

Anwendung). Die Kinder können dann im eigenen Namen Rückgriff beim Ehegatten nehmen und gegen<br />

diesen gerichtlich Zahlung des von ihnen verauslagten Unterhalts durchsetzen.<br />

V. Anteilige Haftung aller Kinder<br />

Mehrere Kinder haften gem. § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB als Teilschuldner nach Maßgabe ihrer Erwerbs- und<br />

Vermögensverhältnisse auf Elternunterhalt (vgl. BGH FamRZ <strong>20</strong>04, 186). Wird ein Kind in Anspruch<br />

genommen, gehört daher zur schlüssigen Darlegung des Anspruchs gegen dieses Kind auch die<br />

Begründung seiner Haftungsquote. Dazu sind im Verfahren gegen ein Kind auch Angaben zu den<br />

finanziellen Verhältnissen der übrigen Geschwister zwingend erforderlich.<br />

Praxishinweis:<br />

Werden diese Angaben trotz vorheriger Aufforderung erst innerhalb des gerichtlichen Verfahrens gemacht,<br />

können die Kosten des Verfahrens nach § 243 S. 2 Nr. 2 FamFG dem unterhaltsberechtigten Antragsteller<br />

auferlegt werden.<br />

Geschwister sind deshalb auch untereinander zur Auskunft verpflichtet (BGH FamRZ <strong>20</strong>03, 1836),<br />

wobei auch ein Auskunftsanspruch hinsichtlich der Einkommensverhältnisse des jeweiligen Ehegatten<br />

besteht (s. BGH, Urt. v. 2.6.<strong>20</strong>10 – XII ZR 124/08, NJW <strong>20</strong>11, 226 und OLG Hamm, Beschl. v. 15.12.<strong>20</strong>10 –<br />

II-5 WF 157/10, FamRZ <strong>20</strong>11, 1302), da auch dessen Einkünfte über den Familienunterhalt von Bedeutung<br />

sein können.<br />

Praxishinweis:<br />

Die anteilige Haftung aller Kinder kann auch als Grund für die Einschränkung des Anspruchsübergangs<br />

auf den Sozialhilfeträger (§ 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII) von Bedeutung sein (BGH, Beschl. v. 8.7.<strong>20</strong>15 – XII<br />

ZB 56/14, FamRZ <strong>20</strong>15, 1467).<br />

1058 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Urheberrecht Fach 16, Seite 467<br />

Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />

Rechtsprechung<br />

Urheberrechtsverletzung: Zur Haftung des Anschlussinhabers eines<br />

öffentlich zugänglichen WLANs<br />

Der BGH bestätigt die Abschaffung der Anwendung der Grundsätze der Störerhaftung auf die<br />

Betreiber öffentlichen WLANs und hebt gleichzeitig einen evtl. vorhandenen Anspruch auf Sperrung<br />

des Zugangs zu Informationen hervor. (Leitsatz des Verfassers)<br />

BGH, Urt. v. 26.7.<strong><strong>20</strong>18</strong> – I ZR 64/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 586/<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Bearbeiter: Rechtsanwalt GUIDO VIERKÖTTER, LL.M., Neunkirchen-Seelscheid<br />

I. Sachverhalt<br />

Die Klägerin war Inhaberin der ausschließlichen Nutzungsrechte an einem Computerspiel. Der Beklagte<br />

unterhielt einen Internetanschluss, über den in einer Internet-Tauschbörse Teile des Computerspiels<br />

zum Herunterladen angeboten wurden. Die Klägerin mahnte den Beklagten diesbezüglich ab und<br />

forderte ihn u.a. zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf. Der Beklagte wies dies<br />

zurück. Er war der Ansicht, dass er keine Rechtsverletzung begangen habe. Unter seiner IP-Adresse<br />

stelle er lediglich fünf öffentlich zugänglichen WLAN-Hotspots sowie drahtgebunden zwei eingehende<br />

Kanäle aus dem sog. TOR-Netzwerk zur Verfügung.<br />

Nachdem das Landgericht den Beklagten antragsgemäß zur Unterlassung und zur Zahlung von<br />

vorgerichtlichen Abmahnkosten verurteilt hatte, ging der Beklagte in Berufung. Das Berufungsgericht<br />

hat die Verurteilung zur Zahlung bestätigt. Im Hinblick auf den Unterlassungsanspruch hat das<br />

Berufungsgericht die Berufung des Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass diesem unter<br />

Androhung von Ordnungsmitteln aufgegeben wird, Dritte daran zu hindern, das Computerspiel oder<br />

Teile davon der Öffentlichkeit mittels seines Internetanschlusses über eine Internettauschbörse zur<br />

Verfügung zu stellen. Gegen diese Verurteilung wendete sich der Beklagte mit der Revision.<br />

II. Wesentlicher Inhalt<br />

Der BGH hob die Verurteilung des Beklagten zur Unterlassung auf. Aus prozessualen Gründen hat er<br />

das Verfahren ferner an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Klägerin sollte vor dem Hintergrund<br />

des Grundsatzes des Vertrauensschutzes sowie des Anspruchs der Parteien auf ein faires Gerichtsverfahren<br />

durch die Wiedereröffnung des Berufungsverfahrens Gelegenheit gegeben werden, eine –<br />

infolge der Änderung der Rechtslage – angepasste Antragsfassung einzureichen.<br />

Das Berufungsgericht (OLG Düsseldorf) hatte zuvor am 16.3.<strong>20</strong>17 (I-<strong>20</strong> U 17/16) über den Sachverhalt<br />

entschieden. Hiernach ist mit Wirkung zum 13.10.<strong>20</strong>17 eine Neufassung u.a. des § 8 Abs. 1 S. 2<br />

Telemediengesetz (TMG) in Kraft getreten.<br />

Nach § 8 Abs. 1 S. 1 TMG, der die Haftung von Zugangsprovidern (Access-Providern) regelt, sind<br />

Diensteanbieter für fremde Informationen, die sie in einem Kommunikationswerk übermitteln oder zu<br />

denen sie den Zugang zur Nutzung vermitteln, nicht verantwortlich, sofern sie die Übermittlung nicht<br />

veranlasst, den Adressaten der übermittelten Informationen nicht ausgewählt und die übermittelten<br />

Informationen nicht ausgewertet oder verändert haben. Fehlt eine Verantwortlichkeit des Dienste-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1059


Fach 16, Seite 468<br />

Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />

Urheberrecht<br />

anbieters nach dieser Norm, kann er nach der Neufassung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG insbesondere nicht<br />

wegen einer rechtswidrigen Handlung eines Nutzers auf u.a. Unterlassung einer Rechtsverletzung in<br />

Anspruch genommen werden. Diese Gesetzesfassung gab es weder zum Zeitpunkt der beanstandeten<br />

Handlung, noch zum Zeitpunkt der Abmahnung, noch zu dem des Berufungsurteils.<br />

Da die Klägerin ihren Unterlassungsanspruch jedoch auf eine Wiederholungsgefahr gestützt hatte, war<br />

die Klage nur begründet, wenn das beanstandete Verhalten des Beklagten sowohl zum Zeitpunkt der<br />

Vornahme als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Revisionsinstanz rechtswidrig ist.<br />

Hinweis:<br />

Der BGH konnte daher die nach Verkündung des Berufungsurteils (16.3.<strong>20</strong>17) eingetretene Neufassung des<br />

§ 8 Abs. 1 S. 2 TMG (13.10.<strong>20</strong>17) bei seiner Entscheidung nicht unberücksichtigt lassen.<br />

Der BGH stellte eingangs fest, dass sowohl im Zeitpunkt der Abmahnung als auch im Zeitpunkt der<br />

beanstandeten Handlung die Voraussetzungen der Störerhaftung des Beklagten vorgelegen hätten. Infolge<br />

der Änderung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG habe sich die Rechtslage jedoch dahingehend geändert, dass der von<br />

der Klägerin geltend gemachte Unterlassungsanspruch seit dem 13.10.<strong>20</strong>17 dem Ausschlusstatbestand des<br />

§ 8 Abs. 1 S. 2 TMG unterfalle. Hierbei sei unbeachtlich, ob der Anspruch auf die Begehung der Rechtsverletzung<br />

über das bereitgestellte WLAN oder über das Unterhalten von sog. Tor-Netzwerken gestützt<br />

werde.<br />

Die Bedenken der Klägerin, dass die Anwendung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG gegen Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie<br />

<strong>20</strong>01/29/EG (sog. Urheberrechtsrichtlinie) und Art. 11 S. 3 der Richtlinie <strong>20</strong>04/48/EG (sog. Rechtsdurchsetzungsrichtlinie)<br />

verstoße, teilte der Senat nicht. Die Klägerin hatte insofern die Ansicht<br />

vertreten, dass § 8 Abs. 1 S. 2 TMG vor dem Hintergrund dieser europarechtlichen Vorgaben nicht<br />

angewendet werden dürfe; dies hätte die Fortgeltung der Grundsätze der Störerhaftung bedeutet. Nach<br />

Art. 8 Abs. 3 der Urheberrechtsrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Rechtsinhaber<br />

gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur<br />

Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden (ebenso Art. 11 S. 3 der<br />

Rechtsdurchsetzungsrichtlinie im Hinblick auf die Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums).<br />

Der Senat führte aus, dass bei Anwendung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG die – ebenfalls mit Wirkung zum 13.10.<strong>20</strong>17<br />

eingefügte – Regelung des § 7 Abs. 4 TMG dem Rechtsinhaber ausreichende Schutzmöglichkeiten biete.<br />

Diese Norm sieht einen Anspruch auf Sperrung der Nutzung von Informationen vor. Hiernach kann der<br />

Inhaber eines Rechts von dem betroffenen Diensteanbieter i.S.d. § 8 Abs. 3 TMG die Sperrung der Nutzung<br />

von Informationen verlangen, um die Wiederholung der Rechtsverletzung zu verhindern, sofern (1) ein<br />

Telemediendienst von einem Nutzer in Anspruch genommen wurde, um das Recht am geistigen Eigentum<br />

eines anderen zu verletzen, und (2) für den Inhaber dieses Rechts keine andere Möglichkeit besteht, der<br />

Verletzung seines Rechts abzuhelfen. Der BGH verwies mit Blick auf die Gesetzesmaterialien darauf, dass die<br />

Regelung des § 7 Abs. 4 TMG geschaffen worden sei, um die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 8<br />

Abs. 3 der Urheberrechtsrichtlinie und Art. 11 S. 3 der Rechtsdurchsetzungsrichtlinie umzusetzen.<br />

Der aus § 7 Abs. 4 TMG resultierende Anspruch auf Sperrung ist nach Ansicht des Senats kein<br />

Unterlassungsanspruch, sondern ein Anspruch auf aktives Tun, der auf die Sperre bestimmter Ports am<br />

Router oder einer bestimmten Website oder auf Datenmengenbegrenzung gerichtet sein könne.<br />

Diensteanbieter i.S.d. § 8 Abs. 3 TMG sind im Übrigen solche, die Nutzern einen Internetzugang über ein<br />

drahtloses lokales Netzwerk zur Verfügung stellen (also Betreiber eines öffentlich zugänglichen WLANs).<br />

Vor dem Hintergrund, dass der aus § 7 Abs. 4 S. 1 TMG resultierende Anspruch auf Sperrung gegen Diensteanbieter<br />

i.S.d. § 8 Abs. 3 TMG (wie vorstehend erläutert) gerichtet sei, führte der BGH auf entsprechende<br />

Bedenken der Klägerin aus, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des § 7 Abs. 4 S. 1 TMG geboten sei.<br />

Hiernach müsse diese Regelung nicht nur gegenüber Anbietern von Internetzugängen über WLAN, sondern<br />

in entsprechender Anwendung auch gegenüber übrigen Internetzugangsvermittlern zur Anwendung<br />

gelangen. Die für eine analoge Anwendung erforderliche planwidrige Regelungslücke sei gegeben.<br />

1060 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Urheberrecht Fach 16, Seite 469<br />

Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />

Der BGH verwies ferner darauf, dass der Anspruch auf Sperrung nach § 7 Abs. 4 S. 1 TMG nicht auf<br />

bestimmte Sperrmaßnahmen beschränkt sei, insbesondere nicht auf die in der Begründung des<br />

Regierungsentwurfs ausdrücklich genannten Sperrmaßnahmen. Unter Berücksichtigung der Vorgaben<br />

des EuGH (vgl. Urt. v. 15.9.<strong>20</strong>16 – C-484/14 – McFadden/Sony Music) handele es sich auch bei der<br />

Verschlüsselung des Zugangs mit einem Passwort oder – im äußersten Fall – der vollständigen Sperrung<br />

des Zugangs um Maßnahmen i.S.d. § 7 Abs. 4 S. 1 TMG.<br />

Hinweis:<br />

Infolge der Zurückverweisung an die Berufungsinstanz muss nunmehr die Klägerin die begehrten<br />

Sperrmaßnahmen im – auf positive Leistungen gerichteten – Klageantrag benennen.<br />

III. Anmerkung<br />

Die mit Wirkung zum 13.10.<strong>20</strong>17 neu eingefügten Regelungen des § 7 Abs. 4 TMG sowie des § 8 Abs. 1 S. 2<br />

TMG haben ihre Grundlage im Gesetzentwurf der Bundesregierung betreffend den „Entwurf eines<br />

Dritten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes“ vom 28.4.<strong>20</strong>17 (BT-Drucks 18/12<strong>20</strong>2). Dieser<br />

zielte u.a. darauf ab, den Betreibern öffentlich zugänglichen WLANs so weit wie möglich Rechtssicherheit<br />

zu verschaffen, um dem gestiegenen Bedürfnis nach einem öffentlichen Zugang zum Internet<br />

auch unter Nutzung von WLAN zu entsprechen (BT-Drucks, a.a.O., S. 1). Die neu eingefügten Regelungen<br />

betreffen die Betreiber öffentlich zugänglichen WLANs, z.B. Kommunen, Einzelhändler, die<br />

Betreiber von Bahnhöfen, Flughäfen, Verkehrsgesellschaften, Hotels, Krankenhäusern, und sollten nicht<br />

an die „als unübersichtlich und unvorhersehbar empfundene Rechtsprechung zur Störerhaftung“ (BT-<br />

Drucks, a.a.O., S. 10) anknüpfen, sondern vielmehr Rechtsklarheit und Rechtssicherheit herbeiführen.<br />

Diese gesetzgeberischen Vorgaben setzt der BGH mit seiner vorstehend dargestellten Entscheidung<br />

teilweise um, insbesondere indem er der Anwendung der Grundsätze der Störerhaftung auf die<br />

Betreiber öffentlich zugänglichen WLANs eine Absage erteilt, andererseits betont er aber anstelle dieser<br />

Störerhaftung einen neuen Anspruch, nämlich den aus § 7 Abs. 4 S. 1 TMG resultierenden Anspruch auf<br />

Sperrung von Informationen. Dieser Anspruch solle eine europarechtskonforme Anwendung der neuen<br />

Regelung des § 8 Abs. 1 S. 2 TMG sicherstellen. Diesen Anspruch auf Sperrung erweitert der BGH in<br />

analoger Anwendung des § 7 Abs. 4 S. 1 TMG sogar auf Zugangsvermittler, die nicht öffentliche WLAN-<br />

Betreiber sind.<br />

Der urheberrechtliche Unterlassungsanspruch auf Grundlage der Störerhaftung mag damit zwar<br />

„überholt“ sein, gleichzeitig wird jedoch ein neuer Anspruch erschaffen. Die Rechtslage mag damit für<br />

öffentliche WLAN-Betreiber und andere Zugangsvermittler nicht unbedingt einfacher, sondern lediglich<br />

„anders“ werden.<br />

Bei dieser „Andersartigkeit“ sind vor allem die Voraussetzungen des Anspruchs auf Sperrung nach § 7<br />

Abs. 4 S. 1 und S. 2 TMG zu berücksichtigen, nämlich:<br />

• Inanspruchnahme eines Telemediendienstes durch einen Nutzer zwecks Verletzung eines Rechts am<br />

geistigen Eigentum eines Anderen,<br />

• Sperrung der Nutzung von Informationen als einzige Möglichkeit („keine andere Möglichkeit“) des<br />

Rechtsinhabers, um der Verletzung seines Rechts abzuhelfen,<br />

• Zumutbarkeit der Sperrung sowie<br />

• Verhältnismäßigkeit der Sperrung.<br />

Von diesen Voraussetzungen dürfte das erstgenannte Merkmal (Inanspruchnahme eines Telemediendienstes<br />

durch einen Nutzer) in rechtlicher Hinsicht wohl noch einfach zu beurteilen sein.<br />

Die weitere Anforderung betreffend die Sperrung als einzige Möglichkeit zur Verhinderung weiterer<br />

Rechtsverletzungen stellt ein Subsidiaritätsmerkmal dar, so dass im Einzelfall beurteilt werden muss, ob<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1061


Fach 16, Seite 470<br />

Urheberrechtsverletzung: Öffentlich zugängliches WLAN<br />

Urheberrecht<br />

es nicht mildere Mittel als das der Sperrung gibt. Die Sperrung wird als „ultima ratio“ angesehen. Im<br />

Gesetzentwurf (BT-Drucks, a.a.O., S. 12) wird als milderes Mittel der Versuch des Vorgehens gegen den<br />

eigentlichen Rechtsverletzer oder den Hostanbieter genannt. Der Rechteinhaber müsse vorrangig<br />

zumutbare Anstrengungen unternommen haben, gegen diejenigen Beteiligten vorzugehen, die die<br />

Rechtsverletzung selbst begangen oder zur Rechtsverletzung durch die Erbringung von Dienstleistungen<br />

beigetragen haben. Nur dann, wenn die Inanspruchnahme dieser Beteiligten scheitere oder<br />

ihr jede Erfolgsaussicht fehle und daher eine Rechtsschutzlücke entstehen könne, sei die Inanspruchnahme<br />

des Zugangsvermittlers zumutbar. Diese Subsidiaritätsprüfung kann damit im Einzelfall<br />

schwierige Fragen tatsächlicher und/oder rechtlicher Art aufwerfen.<br />

Auch die weiteren Merkmale wie die Zumutbarkeit (der Sperrung) und die Verhältnismäßigkeit (der<br />

Sperrung) stellen bekanntlich Anforderungen dar, die der Auslegung und Anwendung durch die<br />

Rechtsprechung im Einzelfall bedürfen. Pauschale Aussagen, unter welchen Umständen eine Sperrung<br />

zumutbar sowie verhältnismäßig sein dürfte, sind nicht möglich. Die Gesetzesbegründung fordert die<br />

technische Möglichkeit der Sperrung und begrenzt die Frage der Zumutbarkeit auf die wirtschaftliche<br />

Zumutbarkeit (BT-Drucks, a.a.O., S. 12). Ferner sei stets eine Interessenabwägung im Einzelfall<br />

erforderlich, bei der z.B. ein Gericht die grundrechtlich geschützten Interessen aller Betroffenen sowie<br />

das Telekommunikationsgeheimnis angemessen berücksichtigen müsse.<br />

Sollte sich hiernach im Einzelfall herausstellen, dass eine Sperrung als „ultima ratio“ erforderlich sei, muss<br />

ferner entschieden werden, welche Sperrmaßnahmen im Einzelfall geeignet sind. Der BGH hat<br />

diesbezüglich ausgeführt, dass die im Gesetzentwurf ausdrücklich genannten Sperrmaßnahmen nicht<br />

abschließend seien, sondern dass als solche auch eine Verschlüsselung des Zugangs mit einem Passwort<br />

und die vollständige Sperrung des Zuganges denkbar seien. Der Gesetzgeber betont hingegen, dass eine<br />

Sperrmaßnahme nicht zum „Overblocking“ führen und „über ihr Ziel hinausschießen“ dürfe (BT-Drucks,<br />

a.a.O., S. 12). Trotzdem wurde nun höchstrichterlich ausgeführt, dass die Gesetzgebungsmaterialien<br />

nicht abschließend sind, sondern dass vielmehr die Gerichte im Einzelfall – darüber hinausgehend –<br />

weitere geeignete Sperrmaßnahmen definieren können.<br />

Man mag damit darüber streiten können, ob die – durch die TMG-Neuregelungen – von dem Gesetzgeber<br />

beabsichtigte Rechtssicherheit und Rechtsklarheit tatsächlich eingetreten sind oder ob die im<br />

Einzelfall zu klärenden Rechtsfragen nicht lediglich „verschoben“ worden sind, und zwar weg von den<br />

Grundsätzen der Störerhaftung bei den Betreibern öffentlichen WLANs hin zu den im Einzelfall durchaus<br />

komplexen Fragestellungen des Anspruchs auf Sperrung von Zugang zu Informationen. Dass der BGH in<br />

seiner ersten Entscheidung zu den neuen Regelungen die Regelung des § 7 Abs. 4 S. 1 TMG sogleich auf<br />

Zugangsvermittler, die keine Betreiber öffentlichen WLANs sind, analog angewendet hat, macht die<br />

Gesamtsituation ferner nicht übersichtlicher.<br />

Für Anspruchsteller wird sich damit in Zukunft die Situation insbesondere dahingehend ändern, dass sie<br />

im – neuen – Antrag i.S.d. § 7 Abs. 4 S. 1 TMG die begehrten Sperrmaßnahmen ausdrücklich benennen<br />

müssen (Anspruch auf ein aktives Tun). Auch die Antragsgegner werden darauf hoffen müssen, dass die<br />

Rechtsprechung die Vorgaben der neuen Regelungen präzisiert, um dadurch (weitere) Rechtsklarheit<br />

zu schaffen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der BGH aufgrund der neuen Gesetzeslage das Verfahren<br />

zum Berufungsgericht zurückverwiesen hat, damit die Klägerin im wiedereröffneten Berufungsverfahren<br />

ihre Klageanträge zum Anspruch auf Sperrung anpassen kann. Gegebenenfalls haben damit<br />

das OLG Düsseldorf und vielleicht erneut der BGH die Möglichkeit, in diesem Verfahren für Präzisierung<br />

zu sorgen.<br />

1062 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1605<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Sozialrecht<br />

– 1. Halbjahr <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht DR. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />

Inhalt<br />

I. Existenzsicherungsrecht<br />

1. Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung<br />

2. Keine Abweichung vom Kopfteilprinzip bei<br />

Leistungsversagung wegen fehlender<br />

Mitwirkung nach § 66 SGB I<br />

3. Höhe des Arbeitslosengelds II nach Umzug<br />

von einem Unter-25-Jährigen<br />

4. Angemessenheit der Aufwendungen für<br />

Unterkunft und Heizung<br />

II. Arbeitsförderungsrecht<br />

1. Sperrzeit: Mehrfache Arbeitsablehnung in<br />

engem zeitlichen Abstand<br />

2. Berufliche Weiterbildung: Arbeitslosengeld/Verfügbarkeit<br />

3. Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs bei<br />

Entlassungsentschädigung<br />

4. Rückzahlung von SGB II-Leistungen:<br />

Verzugsschaden?<br />

III. Unfallversicherungsrecht<br />

1. Projektarbeit von Schülern im privaten<br />

Bereich<br />

2. Prüfung der Fahrbahn auf Glätte vor<br />

Fahrtantritt<br />

IV. Schwerbehindertenrecht<br />

1. GdB: Feststellung/Rechtsschutzbedürfnis<br />

2. Blindheit bei cerebralen Schäden ohne<br />

spezifische Störung des Sehvermögens<br />

V. Status- und Beitragsrecht<br />

VI. Verfahrensrecht<br />

1. Wiedereinsetzung bei Versäumen der<br />

Klagefrist wegen Störung des Telefaxeingangs<br />

bei Gericht<br />

2. Wiedereinsetzung bei Verletzung gerichtlicher<br />

Hinweispflichten<br />

3. Einverständnis zur Entscheidung ohne<br />

mündliche Verhandlung und Verlegungsantrag<br />

I. Existenzsicherungsrecht<br />

1. Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung<br />

Der alleinstehende Kläger bewohnt eine Zweizimmerwohnung, die mit Kohle beheizt wird. Die<br />

Warmwassererzeugung erfolgt mittels eines elektrischen Durchlauferhitzers, dessen Verbrauch nicht<br />

gesondert erfasst wird. Das beklagte Jobcenter bewilligte dem Kläger für den streitbefangenen Zeitraum<br />

Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung u.a. des Regelbedarfs und des pauschalierten Mehrbedarfs für<br />

dezentrale Warmwassererzeugung, nicht aber eines abweichenden Bedarfs nach der 1. Alternative des<br />

§ 21 Abs. 7 S. 2 Hs. 2 SGB II. Die Klage blieb in den ersten beiden Rechtszügen ohne Erfolg. Das LSG vertrat<br />

die Auffassung, ein abweichender Bedarf sei nur anzuerkennen, wenn eine technische Einrichtung die<br />

konkrete Ermittlung erlaube, was hier nicht möglich sei. Mit seiner vom BSG zugelassenen Revision rügt<br />

der Kläger eine Verletzung von § 21 Abs. 7 S. 2 Hs. 2 SGB II. Zu Unrecht habe das LSG das Bestehen eines<br />

abweichenden Bedarfs von dem Vorhandensein einer technischen Einrichtung abhängig gemacht. Das<br />

begründe eine unberechtigte Übertragung der Beweisführungslast auf ihn und eine Ungleichbehandlung<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1063


Fach 18, Seite 1606<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

gegenüber Personen mit zentraler Warmwassererzeugung. Die Revision hatte im Rahmen der Aufhebung<br />

des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits Erfolg (BSG, Urt. v. 7.12.<strong>20</strong>17 – B 14 AS 6/17 R,<br />

SGb <strong><strong>20</strong>18</strong>, 564 m. Anm. STRAßFELD).<br />

Hinweis:<br />

Mit der zum 1.1.<strong>20</strong>11 eingetretenen Gesetzesänderung hat der Gesetzgeber den Bedarf für die Warmwassererzeugung<br />

vollständig aus dem Regelbedarf herausgelöst. Letzterer umfasst nunmehr die Haushaltsenergie<br />

ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile, § <strong>20</strong> Abs. 1 S. 1<br />

SGB II. Es sind deshalb von den Hilfebedürftigen weder bei zentraler noch bei dezentraler Versorgung<br />

Anteile des Regelbedarfs für die Warmwassererzeugung einzusetzen. Bei Bezug über eine zentrale Heizungsanlage<br />

sind die Aufwendungen als Teil des Bedarfs für Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II nunmehr<br />

– anders als nach früherer Rechtslage – im Rahmen der Angemessenheit ohne Kürzung um einen<br />

Regelbedarfsanteil in tatsächlicher Höhe anzuerkennen.<br />

Bei dezentraler Warmwassererzeugung ist nach § 21 Abs. 7 S. 1 SGB II ein Mehrbedarf für jede im<br />

Haushalt lebende leistungsberechtigte Person anzuerkennen. Dessen Betrag richtet sich gem. § 21 Abs. 7<br />

S. 2 SGB II nach der Höhe des Regelbedarfs und beträgt nach § 21 Abs. 7 S. 2 Nr. 1 SGB II u.a. für<br />

Alleinstehende 2,3 % des für sie geltenden Regelbedarfs nach § <strong>20</strong> Abs. 2 S. 1 SGB II, soweit nicht im<br />

Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht oder ein Teil des angemessenen Warmwasserbedarfs nach<br />

§ 22 Abs. 1 SGB II anerkannt wird (sog. gemischte Wasserversorgung).<br />

Anspruch auf Berücksichtigung eines Mehrbedarfs über die Warmwasserpauschale hinaus besteht<br />

hiernach, soweit die Aufwendungen für die Warmwassererzeugung durch die Warmwasserpauschale<br />

nicht vollständig gedeckt werden und sie nicht unangemessen sind. Maßgebend dafür, ob ein<br />

abweichender Bedarf besteht, sind die für die dezentrale Warmwassererzeugung tatsächlich anfallenden<br />

Aufwendungen. Keine Bedeutung haben hingegen besondere Lebensumstände, wie krankheitsbedingt<br />

höherer Hygienebedarf, oder etwa das Alter der Anlage.<br />

Die Anerkennung eines abweichenden Mehrbedarfs setzt – entgegen der Auffassung des LSG – keine<br />

separate Verbrauchserfassung durch technische Einrichtungen wie z.B. einen Verbrauchszähler voraus.<br />

Den Feststellungen des LSG war zudem nicht zu entnehmen, dass eine einzelfallbezogene Ermittlung hier<br />

trotzdem entbehrlich war, weil die Warmwasserpauschale zur Deckung der Aufwendungen für die<br />

dezentrale Warmwassererzeugung im Allgemeinen ausreichend bemessen ist. Entsprechende empirische<br />

Erhebungen hat das LSG nicht festgestellt. Ungeachtet der fehlenden statistischen Erhebungen im<br />

Allgemeinen kann auch im Fall des Klägers nicht ausreichend sicher von einer ausreichenden Bemessung<br />

der Warmwasserpauschale ausgegangen werden. Zwar war der Energieverbrauch des Klägers im<br />

streitbefangenen Zeitraum nach Einschätzung des LSG für einen Haushalt mit dezentraler Warmwassererzeugung<br />

als durchschnittlich anzusehen, die Ausgaben für Haushaltsstrom mit den darauf entfallenden<br />

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts waren jedoch nicht vollständig zu bestreiten.<br />

2. Keine Abweichung vom Kopfteilprinzip bei Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung<br />

nach § 66 SGB I<br />

Leben mehrere Leistungsberechtigte gemeinsam in einer Wohnung, so entfallen nach ständiger BSG-<br />

Rechtsprechung (seit Urt. v. 23.11.<strong>20</strong>06 – B 11b AS 1/06 R, ebenso bereits die frühere Rechtsprechung des<br />

BVerwG zur Sozialhilfe) die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung grundsätzlich zu gleichen Anteilen<br />

auf jede Person – unabhängig von Alter, konkretem Wohnflächenbedarf oder Nutzungsintensität (sog.<br />

Kopfteilprinzip). Allerdings handelt es sich insoweit nicht um eine normative Anspruchsbegrenzung,<br />

sondern lediglich um eine aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität getroffene generalisierende und<br />

typisierende Annahme. So hat das BSG in der Vergangenheit mehrfach Abweichungen vom Kopfteilprinzip<br />

zugelassen, wenn bedarfsbezogene Gründe eine Ausweitung der Leistungsansprüche von einzelnen<br />

Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zur Sicherung ihres Grundbedürfnisses „Wohnen“ erforderten (s. etwa<br />

PATTAR/SARTORIUS <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1330 m.w.N.; BSG v. 22.8.<strong>20</strong>13 – B 14 AS 85/12, hierzu BERLIT juris PR-SozR 7/<strong>20</strong>14<br />

Anm. 1; BSG v. 2.12.<strong>20</strong>14 – B 14 AS 50/13 R).<br />

1064 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1607<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

In dem nunmehr vom BSG entschiedenen Fall (Urt. v. 14.2.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 14 AS 17/17 R; REICHEL juris PR-SozR<br />

13/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 2) lebten die miteinander verheirateten Kläger gemeinsam mit ihrem unverheirateten<br />

21-jährigen Sohn in einer nur von ihnen gemieteten Wohnung. Sie bezogen zunächst alle drei als<br />

Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Nachdem der<br />

Sohn ein Gewerbe angemeldet hatte, war er vom beklagten Jobcenter vergeblich zur Abgabe einer<br />

Erklärung zum Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit aufgefordert worden. Wegen fehlender<br />

Mitwirkung des Sohnes berücksichtigte der Beklagte gem. § 66 Abs. 1 SGB I bei den Leistungen für<br />

Unterkunft und Heizung nur den jeweiligen Kopfteil der beiden Kläger an den Aufwendungen für<br />

Unterkunft und Heizung, nicht den „fehlenden“ Kopfteil ihres Sohnes. Die auf Übernahme der<br />

tatsächlichen Unterkunftsaufwendungen gerichtete Klage hatte in der Berufungsinstanz Erfolg. Das<br />

LSG verwies zur Begründung seines Urteils auf die Entscheidung des BSG (Urt. v. 23.5.<strong>20</strong>13 – B 4 AS 67/12<br />

R), die zur Vermeidung einer Bedarfsunterdeckung im Rahmen von Sanktionen gegen ein Mitglied der<br />

Bedarfsgemeinschaft eine Abweichung vom Kopfteilprinzip für erforderlich gehalten hatte und meinte,<br />

entsprechend sei auch hier eine Abweichung notwendig. Dem folgte das BSG nicht. Die vom Beklagten<br />

eingelegte, vom LSG zugelassene Revision führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückweisung<br />

der Berufung der Kläger gegen das klageabweisende Urteil des SG.<br />

Das BSG verweist zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach eine Abweichung vom<br />

Kopfteilprinzip und die aus ihr folgende Erhöhung der Einzelansprüche auf Leistungen für Unterkunft und<br />

Heizung voraussetzt, dass dies aus bedarfsbezogenen Gründen geboten ist. Verfügt das weitere<br />

Bedarfsgemeinschaftsmitglied, für das Leistungen für Unterkunftsaufwendungen nicht erbracht werden,<br />

über Einkommen oder Vermögen, aus dem es seinen Kopfteil ganz oder teilweise bestreiten kann, ist<br />

insoweit eine Abweichung von dem Prinzip nicht geboten, denn es ist nicht Aufgabe der Grundsicherung<br />

für Arbeitssuchende, wirtschaftlich leistungsfähigen Dritten ein kostenfreies Wohnen zu ermöglichen.<br />

Anders etwa, als wenn infolge von durch das Jobcenter verfügten Sanktionen nach § 31 ff. SGB II ein<br />

Anspruch auf Leistungen für Unterkunftsaufwendungen wegfällt, ist im vorliegenden Fall die Hilfebedürftigkeit<br />

des dritten Haushaltsmitglieds, bei deren Vorliegen dessen Kopfteil als Bedarf anerkannt und<br />

übernommen würde, ungeklärt. Dies lässt den Bedarf der anderen Mitglieder unberührt. Der Hintergrund<br />

für die nach der BSG-Rechtsprechung vom Kopfteil als Maßstab für die Aufteilung der Unterkunftsaufwendungen<br />

bestehenden Ausnahmen ist die Sicherung des Grundbedürfnisses Wohnen, die in<br />

diesen Fällen nur über Ansprüche der jeweiligen leistungsberechtigten Person sichergestellt werden kann.<br />

Hier jedoch lebte in den streitigen Monaten der Sohn der Kläger weiterhin mit diesen in einem Haushalt<br />

und nutzte gemeinsam mit ihnen die Wohnung, die seinen aktuellen Unterkunftsbedarf deckte, und bei<br />

nachgewiesener Hilfebedürftigkeit in diesen Monaten konnte sein aktueller anteiliger Unterkunftsbedarf<br />

durch Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II sichergestellt werden. Die nachträgliche<br />

Erbringung der vollständigen Aufwendungen durch das Jobcenter war zudem trotz Versagung nach § 66<br />

Abs. 1 SGB I noch durch Nachholung der Mitwirkung nach § 67 SGB I erreichbar.<br />

Hinweis:<br />

§ 67 SGB I sieht vor, dass Leistungsträger Sozialleistungen, die sie nach § 66 SGB I versagt haben, nachträglich<br />

ganz oder teilweise erbringen können, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird und die Leistungsvoraussetzungen<br />

vorliegen. Die Entscheidung ist von Amts wegen zu treffen, hierbei besteht aber hinsichtlich des<br />

„Ob“ und „Wie“ Ermessen. Abzustellen ist insoweit u.a. auf § 2 Abs. 2 SGB I, wonach sicherzustellen ist, dass<br />

die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Regelmäßig wird man bei Geldleistungen<br />

eine vollständige Nachzahlung als erforderlich ansehen müssen, was insbesondere für existenzsichernde<br />

Leistungen nach dem SGB II zutreffen dürfte.<br />

3. Höhe des Arbeitslosengelds II nach Umzug von einem Unter-25-Jährigen<br />

Der unter-25-jährige Kläger bezog zunächst mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Leistungen zur<br />

Sicherung des Lebensunterhalts. Wegen Teilnahme an einer Maßnahme sollte er in ein Internat ziehen.<br />

Später zog er zu seiner Freundin, die in der Wohnung der Eheleute K wohnte und ebenso wie die<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1065


Fach 18, Seite 1608<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

Eheleute Arbeitslosengeld II vom beklagten Jobcenter erhielt. Auf Antrag des Klägers bewilligte der<br />

Beklagte Leistungen nur i.H.v. 306 € monatlich als Regelbedarf für erwerbsfähige, volljährige Angehörige<br />

einer Bedarfsgemeinschaft (Regelbedarfsstufe 3, § <strong>20</strong> Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB II) und keine Leistungen für<br />

Unterkunft und Heizung, weil er als Unter-25-Jähriger ohne Zusicherung des Leistungsträgers nach<br />

§ 22 Abs. 5 SGB II umgezogen sei. Der Kläger war vor dem SG und dem LSG erfolglos, mit seiner vom<br />

BSG zugelassenen Revision beanstandete er, bei der verfassungsrechtlich gebotenen restriktiven<br />

Anwendung des § 22 Abs. 5 SGB II sei eine Zusicherung nicht erforderlich, wenn vor dem Umzug kein<br />

Vertrag über die Unterkunft abgeschlossen worden sei und nur in einen Haushalt eingezogen werde,<br />

dessen Unterkunftsaufwendungen das Jocenter zuvor auch schon getragen habe. Die Revision war im<br />

Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich (BSG, Urt. v. 25.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 14 AS 21/17 R).<br />

Grundsätzlich haben alleinstehende Personen, wie der Kläger (mit seiner Freundin bzw. den Eheleuten<br />

K bestand keine Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 SGB II), Anspruch auf einen Regelbedarf (§ <strong>20</strong> Abs. 1<br />

SGB II) nach Regelbedarfsstufe 1 (§ <strong>20</strong> Abs. 2 S. 1 SGB II). Abweichend hiervon besteht als sonstiger<br />

erwerbsfähiger, volljähriger Angehöriger einer Bedarfsgemeinschaft nur ein Anspruch nach Regelbedarfsstufe<br />

3 (§ <strong>20</strong> Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB II) für Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet<br />

haben und ohne Zusicherung des zuständigen Trägers nach § 22 Abs. 5 SGB II umziehen. Bedarfe für<br />

Unterkunft und Heizung werden, soweit sie angemessen sind, bei leistungsberechtigten Personen<br />

grundsätzlich in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt (§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB II). Leben<br />

mehrere Personen in einer Wohnung, erfolgt ohne Rücksicht auf die mietvertraglichen Verpflichtungen<br />

eine Aufteilung der Aufwendungen nach Kopfteilen (s. oben 2.). Bei Personen, die das 25. Lebensjahr<br />

noch nicht vollendet haben und umziehen, werden diese Bedarfe nach § 22 Abs. 5 SGB II aber nur<br />

anerkannt, wenn der Leistungsträger dies vor Abschluss des Vertrags über die Unterkunft zugesichert<br />

hat. Den Feststellungen des LSG war nicht klar zu entnehmen, ob der Kläger vorliegend überhaupt einen<br />

Vertrag über die Unterkunft – den § 22 Abs. 5 SGB II ausdrücklich vorsieht – eingegangen ist. Nur wenn<br />

dies der Fall ist, gibt es einen Ansatz für das Erfordernis der Zusicherung und damit für das Eingreifen der<br />

leistungsbegrenzenden Ausnahmeregelungen für den Kläger als Unter-25-Jährigen nach einem Umzug.<br />

4. Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung<br />

Die Entscheidung des BSG (Urt. v. 25.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 14 AS 14/17 R) betraf die Höhe der Leistungen für<br />

Unterkunft und Heizung gem. § 22 Abs. 1 SGB II im Kalenderjahr <strong>20</strong>12. Die Klägerin und ihre 1996<br />

geborene Tochter – die ihren Bedarf mit eigenem Einkommen decken kann, also mit der Klägerin nach<br />

§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II keine Bedarfsgemeinschaft bildet – lebten in einer Dreizimmerwohnung, für die<br />

eine Bruttokaltmiete von 430 € sowie Heizkosten von 75 € (insgesamt 505 €) monatlich zu zahlen<br />

waren. Der Klägerin wurde für die Unterkunft 193,60 €, zzgl. Heizung insgesamt 231,10 €, bewilligt.<br />

Hierbei leitete das Jobcenter den Betrag aus dem Tabellenwert für einen Zweipersonenhaushalt im<br />

Wohnort der Klägerin nach dem Wohngeldgesetz zzgl. 10 % ab und teilte diesen durch 2. Die vertraglich<br />

vereinbarte Kaltmiete für einen Zweipersonenhaushalt – auf diesen wurde abgestellt, obwohl die<br />

Klägerin und ihre Tochter keine Bedarfsgemeinschaft bildeten – von 430 € hielt das Jobcenter für<br />

unangemessen. Die Klage auf Zahlung der Differenz zwischen den übernommenen Kosten für<br />

Unterkunft und Heizung und den insoweit bestehenden tatsächlichen Aufwendungen (½ von 505 €:<br />

monatlich 252,50 €) war in den Tatsacheninstanzen erfolglos. Auf die vom LSG zugelassene Revision hin<br />

hob das BSG die Urteile der Vorinstanzen auf und verurteilte zur Zahlung.<br />

Nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II sind als Leistungen für die Unterkunft und Heizung die entsprechenden<br />

tatsächlichen Aufwendungen zu erbringen, soweit diese angemessen sind. Bei mehreren Personen, die<br />

eine Wohnung gemeinsam bewohnen, hat grundsätzlich eine Aufteilung der gesamten Aufwendungen<br />

nach Kopfteilen zu erfolgen (s. oben 1.). Dieser beträgt vorliegend pro Person 215 € für die Unterkunft<br />

und 37,50 € für die Heizung (Summe: 252,50 €). Bei der Prüfung der Angemessenheit der Aufwendungen<br />

ist im Rahmen der sog. Produkttheorie (maßgeblich ist das Produkt aus angemessener Wohnfläche und<br />

angemessenem Quadratmeterzins) hinsichtlich der abstrakt angemessenen Wohnungsgröße von den<br />

Werten des sozialen Wohnungsbaus auszugehen, und zwar hierbei allein von der Anzahl der Mitglieder<br />

einer Bedarfsgemeinschaft, nicht von den Bewohnern – auch wenn diese alle einer Familie angehören<br />

1066 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1609<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

(so bereits BSG, Urt. v. 18.2.<strong>20</strong>10 – B 14 AS 73/08 R). Demnach ist lediglich auf die Klägerin abzustellen.<br />

Nach den Durchführungsregelungen im sozialen Wohnungsbau sind hiernach 45–50 m² Wohnfläche<br />

angemessen. Die Zahl der Bewohner hat in diesem Fall nur bei der Aufteilung der Wohnkosten nach<br />

Kopfzahl Bedeutung, so dass der Klägerin die Hälfte der Kosten zustand, wobei sowohl die vertraglich<br />

geschuldete Bruttokaltmiete als auch die Heizkosten mit insgesamt monatlich 252,50 € für einen<br />

Einpersonenhaushalt als angemessen anzusehen war.<br />

II.<br />

Arbeitsförderungsrecht<br />

1. Sperrzeit: Mehrfache Arbeitsablehnung in engem zeitlichen Abstand<br />

Arbeitssuchende oder Arbeitslose, die trotz Belehrung eine von der Agentur für Arbeit angebotene<br />

Beschäftigung nicht annehmen oder nicht antreten oder die Anbahnung eines solchen Beschäftigungsverhältnisses<br />

verhindern, müssen nach näherer Maßgabe von § 159 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III mit einer<br />

Sperrzeit bei Arbeitsablehnung rechnen. Deren Dauer beträgt im Fall des erstmaligen versicherungswidrigen<br />

Verhaltens dieser Art drei Wochen, im Fall des zweiten versicherungswidrigen Verhaltens<br />

sechs Wochen, in den übrigen Fällen 12 Wochen, § 159 Abs. 4 SGB III. Um die Anzahl von Tagen solcher<br />

Sperrzeiten mindert sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, § 148 Abs. 1 Nr. 3 SGB III.<br />

Das BSG (Urt. v. 3.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 11 AL 2/17 R) hatte über den Fall eines in Sachsen wohnenden Klägers zu<br />

entscheiden, dem die Agentur für Arbeit am 29.11.<strong>20</strong>11 im Rahmen einer persönlichen Vorsprache zwei<br />

Vermittlungsvorschläge (für Arbeitsstellen in Baden-Württemberg bzw. in Bayern) unterbreitete und<br />

am 30.11.<strong>20</strong>11 ein weiteres Stellenangebot auf dem Postweg übersandte. Der Kläger bewarb sich auf<br />

keine dieser Stellen. Daraufhin stellte die Beklagte mit drei Bescheiden den Eintritt einer dreiwöchigen<br />

Sperrzeit vom 1.12.<strong>20</strong>11 bis 21.12.<strong>20</strong>11 (dieser Bescheid wurde bindend), einer sechswöchigen Sperrzeit<br />

vom 1.12.<strong>20</strong>11 bis 11.1.<strong>20</strong>12 und einer 12-wöchigen Sperrzeit für die Zeit vom 12.1.<strong>20</strong>12 bis 4.4.<strong>20</strong>12 fest.<br />

Widerspruch und Klage gegen die beiden Bescheide hinsichtlich der sechs- und 12-wöchigen Sperrzeit<br />

blieben erfolglos, im Berufungsverfahren wurden die Urteile des SG und die beiden Bescheide<br />

aufgehoben. Die Revision der Beklagten war nur teilweise begründet, und zwar insoweit, als das LSG<br />

zu Unrecht das Verfahren, das eine Sperrzeit von sechs Wochen betraf, aufgehoben hatte. Die Berufung<br />

gegen dieses Urteil war bereits unzulässig, weil der Gegenstandswert von 750 €, § 141 Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />

SGG, nicht erreicht war.<br />

Im Übrigen bestätigte das BSG die Auffassung des LSG, wonach bei mehreren Beschäftigungsangeboten,<br />

die in einem so engen zeitlichen Zusammenhang durch die Agentur für Arbeit ergehen,<br />

dass sie der arbeitslosen Person gleichzeitig vorliegen und diese hierauf zu reagieren hat, von einem<br />

einheitlich zu betrachtenden Lebenssachverhalt auszugehen ist. Bewerben sich Arbeitslose in einer<br />

solchen Situation gar nicht, muss dies nach allgemeiner Lebensanschauung auch als eine einheitliche<br />

Verhaltensweise gewertet werden. Ist diese als versicherungswidrig zu beurteilen, kann infolgedessen<br />

nur eine Sperrzeit bei Arbeitsablehnung eintreten und darf nicht mehrfach sanktioniert werden. Im<br />

konkreten Fall sieht es das BSG hinsichtlich des von ihm angenommenen einheitlichen Lebenssachverhalts<br />

als unerheblich an, dass dem Kläger das am 30.11.<strong>20</strong>11 per Post übersandte Angebot erst einige<br />

Tage nach den am 29.11.<strong>20</strong>11 persönlich überreichten Angeboten zugegangen war. Eine etwas längere<br />

Prüf- und Bedenkzeit war dem Kläger im vorliegenden Fall einzuräumen, weil die angebotenen<br />

Arbeitsstellen außerhalb seines zumutbaren Pendelbereichs lagen und einen Umzug erfordert hätten.<br />

2. Berufliche Weiterbildung: Arbeitslosengeld/Verfügbarkeit<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können nach näherer Maßgabe von § 81 SGB III bei beruflicher<br />

Weiterbildung durch Übernahme von Weiterbildungskosten gefördert werden. Während der Anspruch<br />

auf Arbeitslosengeld u.a. Verfügbarkeit voraussetzt (die Betreffenden müssen den Vermittlungsbemühungen<br />

der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen, § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III), besteht abweichend<br />

hiervon ein Anspruch auf Arbeitslosengeld auch dann, wenn die Voraussetzungen hierfür allein<br />

wegen einer nach § 81 SGB III geförderten beruflichen Weiterbildung nicht erfüllt werden, § 144 Abs. 1<br />

SGB III.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1067


Fach 18, Seite 1610<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

Durch Urteil vom 3.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> hat das BSG entschieden, auch in dem Zeitraum vom Unterrichtsende bis<br />

zum Abschluss der Prüfung könne ein Anspruch auf Arbeitslosengeld bestehen, und gab insoweit der<br />

Revision der Klägerin statt (Az. B 11 AL 6/16 R). Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte der Klägerin<br />

Leistungen für die Weiterbildungsmaßnahme mit der Bezeichnung „zertifizierte Projektmanagerin“<br />

bewilligt, die ausdrücklich mit einer Abschlussprüfung verbunden war. Die Fiktion des § 81 Abs. 1 S. 2<br />

SGB III, nach der als Weiterbildung die Zeit vom ersten bis zum letzten Tag der Maßnahme mit<br />

Unterrichtsveranstaltungen gilt, enthält keine Regelung zur Einschränkung der Dauer des Anspruchs<br />

auf Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung. Die Vorschrift ist vielmehr dahingehend zu<br />

verstehen, dass jedenfalls der Zeitraum vom ersten bis zum letzten Tag der Unterrichtsveranstaltungen<br />

einheitlich als Weiterbildung anzusehen ist, soweit die Maßnahme nicht vorzeitig beendet wurde. Bei<br />

generalisierender Betrachtungsweise ist vorauszusetzen, dass der Lehrgang und die abschließende<br />

Prüfung im Sinne einer einheitlichen geförderten Bildungsmaßnahme anzusehen sind und die Prüfung in<br />

zeitlichem und organisatorischem Zusammenhang mit dem Lehrgang steht, wie dies auch vorliegend<br />

der Fall war.<br />

3. Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs bei Entlassungsentschädigung<br />

Haben Arbeitslose wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Entlassungsentschädigung<br />

erhalten oder zu beanspruchen und ist das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer der ordentlichen<br />

Kündigungsfrist des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden, so ruht der Anspruch auf<br />

Arbeitslosengeld von dem Ende des Arbeitsverhältnisses an bis zu dem Tag, an dem das Arbeitsverhältnis<br />

bei Einhaltung dieser Frist geendet hätte, § 158 Abs. 1 S. 1 SGB III.<br />

Hinweis:<br />

Das Ruhen des Anspruchs führt (nur) zu einer vorübergehenden Zahlungssperre, der Arbeitslosengeldanspruch<br />

als Stammrecht wird durch das Ruhen – anders als bei Sperrzeiten nach § 159 SGB III – nicht<br />

gemindert, die hierfür bestehenden gesetzlichen Voraussetzungen in § 148 Abs. 1 SGB III sind nicht erfüllt.<br />

Allerdings kann der Anspruch als Folge des Ruhens nach § 161 Abs. 2 SGB III verfallen.<br />

Bei einem zeitlich unbegrenzten Ausschluss der ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses<br />

durch den Arbeitgeber gilt nach § 158 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB III eine Kündigungsfrist von 18 Monaten. In<br />

einem Rechtsstreit, in dem noch die inhaltsgleiche Vorgängervorschrift in § 143a Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB III a.F.<br />

anzuwenden war, hatte das Berufungsgericht angenommen, ein Ausschluss der ordentlichen<br />

Kündigung im Sinne dieser Vorschrift mit der Rechtsfolge eines Ruhenzeitraums unter Berücksichtigung<br />

einer (fiktiven) Kündigungsfrist von 18 Monaten sei auch anzunehmen, wenn eine ordentliche<br />

Kündigung zwar nicht generell aufgrund der Regelungen der Arbeitsvertragsparteien ausgeschlossen<br />

sei, aber im konkreten Fall wegen Fehlens der dafür notwendigen Voraussetzungen nicht in Betracht<br />

komme.<br />

Dem folgte das BSG nicht und hob auf die (vom LSG zugelassene) Revision der Klägerin das<br />

Berufungsurteil auf, da keine der Fallgestaltungen des § 143a SGB III a.F. für ein Ruhen vorlag (BSG, Urt.<br />

v. 21.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 11 AL 13/17 R). Die Klägerin hatte am 5.11.<strong>20</strong>09 wegen Wegfalls ihres Arbeitsplatzes mit<br />

ihrem Arbeitgeber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.3.<strong>20</strong>10 gegen Zahlung einer<br />

Sozialabfindung vereinbart. Nach den hier einschlägigen Bestimmungen des BAT war das Arbeitsverhältnis<br />

von der Klägerin mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten zum Quartalsende ordentlich<br />

kündbar. Diese Frist wurde bei Abschluss des Aufhebungsvertrags eingehalten. Aus dem weiter<br />

(eventuell) anwendbaren Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz für Angestellte ergab sich keine<br />

Modifikation der Kündigungsfristen des BAT. Die vom LSG zugrunde gelegte Einzelfallprüfung zu<br />

konkret vorhandenen Kündigungsmöglichkeiten ist weder mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte<br />

noch mit dem Sinn und Zweck der Ruhensregelungen vereinbar. Dort wird grundsätzlich an<br />

das Vorhandensein der Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung und die Einhaltung bzw. Nichteinhaltung<br />

der Kündigungsfristen angeknüpft. Auch wenn vorliegend eine ordentliche Kündigung im<br />

Falle der Klägerin durch objektiv erforderliche und vorrangige Maßnahmen der Arbeitsplatzsicherung<br />

1068 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1611<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

nach dem Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz möglicherweise erschwert gewesen wäre,<br />

hätte dies nicht dazu geführt, einen zeitlich unbegrenzten Ausschluss der ordentlichen Kündigung i.S.v.<br />

§ 143a Abs. 1 S. 3 SGB III a.F. annehmen zu können.<br />

4. Rückzahlung von SGB II-Leistungen: Verzugsschaden?<br />

Die Parteien dieses Rechtsstreits stritten über die Pflicht des Beklagten, den Kläger wegen verspäteter<br />

Lohnzahlung von der Erstattung von Leistungen nach dem SGB II freizustellen (BAG v. 17.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> – 5 AZR<br />

<strong>20</strong>5/17, NZA <strong><strong>20</strong>18</strong>,784). Der bei dem Beklagten beschäftigte Kläger erhielt von diesem den Lohn<br />

verspätet. Auf seinen Antrag hin bewilligte ihm das zuständige Jobcenter am 10.7.<strong>20</strong>14 Leistungen zur<br />

Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum Juli bis November <strong>20</strong>14. Nachdem<br />

der Kläger im Juli den Lohn für Mai <strong>20</strong>14 nachgezahlt erhielt, hob das Jobcenter wegen fehlender<br />

Hilfebedürftigkeit für diesen Monat die Bewilligung von Leistungen auf und verlangte vom Kläger<br />

Erstattung von rund 535 €. Über die vom Kläger dagegen nach erfolglosem Widerspruch erhobene<br />

Klage zum SG ist noch nicht entschieden. Der Kläger hat Klage erhoben und von dem Beklagten<br />

Freistellung von der Erstattungsforderung des Jobcenters verlangt. Er vertrat die Auffassung, durch die<br />

Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II erleide er einen Vermögensschaden, den ihm der<br />

Beklagte wegen der verspäteten Lohnzahlung für Mai <strong>20</strong>14 ersetzen müsse.<br />

Entscheidungserheblich ist, ob dem Kläger ein Vermögensschaden entstanden ist. Dies bemisst sich<br />

zunächst nach der Differenzhypothese durch Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses<br />

eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die ohne dieses Ereignis bestünde. Die Differenzhypothese ist<br />

aber nur Ausgangspunkt für die Beurteilung, ob ein Schaden eingetreten ist. Sie muss stets einer<br />

normativen Kontrolle unterzogen werden. Erforderlich ist eine wertende Überprüfung des zunächst<br />

gewonnenen Ergebnisses gemessen am Schutzzweck der Haftung und an der Ausgleichsfunktion des<br />

Schadensersatzes. Im Falle des Verzugs des Arbeitgebers mit der Entgeltzahlung hat der Arbeitnehmer<br />

jedoch keinen Anspruch auf Arbeitsentgelt und zugleich auf die auf dem Verzug beruhenden zusätzlichen<br />

Leistungen nach dem SGB II. Bei zeitlicher Kongruenz von Arbeitsentgelt und Sozialleistung geht der<br />

Anspruch auf Arbeitsentgelt in Höhe der bezogenen Sozialleistung auf den Leistungsträger über, § 115<br />

Abs. 1 SGB X. Bei zeitlicher Inkongruenz entfällt der Anspruch auf die Leistung nach dem SGB II rückwirkend,<br />

sofern der Arbeitnehmer wegen des infolge der Nachbewilligung der Sozialleistung zugeflossenen<br />

Arbeitsentgelts im Bezugszeitraum oder Teilen davon objektiv nicht hilfebedürftig i.S.v. § 9 SGB II war.<br />

Das BAG hält es demnach für ausgeschlossen, eineberechtigte Rückforderung von Leistungen nach dem<br />

SGB II wegen verspätet gezahlten Arbeitsentgelts als Schaden des Arbeitnehmers zu werten.<br />

III.<br />

Unfallversicherungsrecht<br />

1. Projektarbeit von Schülern im privaten Bereich<br />

Schülerinnen und Schüler stehen nach § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII während des Besuchs allgemeinbildender<br />

Schulen unter gesetzlichem Unfallversicherungsschutz, der nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch den Weg zur<br />

Schule und von der Schule zurück nach Hause einschließt. Nach ständiger BSG-Rechtsprechung ist der<br />

Versicherungsschutz auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule begrenzt. Dieser<br />

erfordert regelmäßig einen unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zum Schulbesuch,<br />

der dann nicht mehr vorliegt, wenn schulische Aufsichtsmaßnahmen nicht mehr gewährleistet sind.<br />

Versicherungsschutz kann aber auch bestehen, wenn der räumlich-zeitliche Zusammenhang (etwa bei<br />

Klassenfahrten, Museums- und Theaterbesuchen ggf. außerhalb der Unterrichtszeit) oder wirksame<br />

schulische Aufsichtsmaßnahmen (z.B. bei Schülerbetriebspraktika im In- und Ausland) weitgehend<br />

gelockert sind. Demnach kann auch ein außerschulischer Lernort „Ort der Tätigkeit“ und damit zugleich<br />

Start- und Zielpunkt eines nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Weges sein. Der Schutzbereich endet<br />

– jedenfalls bei Minderjährigen – dort, wo der elterliche Verantwortungsbereich beginnt, also dann,<br />

wenn Schüler ihre Hausaufgaben zu Hause erledigen.<br />

In dem vom BSG zu entscheidenden Fall, der im Grenzbereich von schulischem und elterlichem<br />

Verantwortungsbereich angesiedelt ist, hatte der Kläger als Schüler einer Realschule im Rahmen des<br />

Musikunterrichts (nach dem erteilten Unterricht über die hierzu benötigten theoretischen Grundlagen)<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1069


Fach 18, Seite 1612<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

die Aufgabe, in Kleingruppen Werbeclips herzustellen. Die Schüler erhielten von der Lehrerin die<br />

Möglichkeit, den Werbeclip auch außerhalb des Schulunterrichts im privaten Bereich zu drehen.<br />

Vorgegeben war der Abgabetermin, nicht aber Drehzeit und Drehort. Von dieser Möglichkeit machte<br />

ein Teil der Schüler Gebrauch. Am Unfalltag traf sich der Kläger mit drei Mitschülern zu Hause bei einem<br />

Mitschüler, um den Werbeclip zu drehen, in dem er mehrere Szenen spielen sollte. Bei den Dreharbeiten<br />

kam es zu einer Rangelei zwischen dem Kläger und einem Mitschüler. Hierbei stolperte der Kläger, fiel<br />

auf den Rücken und wurde schwer verletzt. Er ist mittlerweile rollstuhlpflichtig und wird in einer<br />

Internatsschule für körperbehinderte Menschen beschult.<br />

Das BSG hat (Urt. v. 23.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 2 U 8/16 R; WESTERMANN jurisPR-SozR 14/<strong><strong>20</strong>18</strong>, Anm. 5; PFRIENDER JM<br />

<strong><strong>20</strong>18</strong>, 1327) das Berufungsurteil, das Versicherungsschutz bejahte, bestätigt und die Revision der<br />

Beklagten zurückgewiesen. Es handele sich, so das BSG, nicht um eine unversicherte „Hausaufgabe“,<br />

wenn Lehrpersonen aus organisatorischen oder pädagogischen Gründen eine Gruppe von Schülern für<br />

ein gemeinsames Tun zusammenstellen, das sich außerhalb der Schule selbstorganisiert fortsetzt.<br />

Dies gilt auch, wenn diese Gruppenarbeit, wie hier, gemeinsam im häuslichen Bereich eines Mitschülers<br />

verrichtet wird. Realisiert sich bei der schulisch initiierten (Projekt-)Arbeit in einer durch die Schule<br />

gebildeten Gruppe eine gruppentypische Gefahr, so besteht für alle Gruppenmitglieder Unfallversicherungsschutz<br />

mit gleichzeitiger Haftungsbeschränkung nach § 106 Abs. 1 SGB VII. Der erforderliche<br />

zeitlich-räumliche Schulbezug besteht hier darin, dass die Schule aus der Menge aller Schüler<br />

(einer Klasse) eine Gruppe bildet und ihr bestimmte Aufgaben zuweist, die die Schüler als Teil dieser<br />

Gruppe gemeinsam lösen sollen. Während dieser Tätigkeit findet für jedes Mitglied „Schule“ (und damit<br />

ein „Schulbesuch“) ausnahmsweise an dem Ort und zu dem Zeitpunkt statt, an dem sich die Gruppe<br />

innerhalb oder außerhalb des Schulgebäudes zur Durchführung der Projektarbeit trifft.<br />

2. Prüfung der Fahrbahn auf Glätte vor Fahrtantritt<br />

Vom Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch<br />

Arbeitsunfälle beim Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren<br />

Weges nach und von dem Ort der versicherten Tätigkeit umfasst. Dabei ist nicht der Weg als<br />

solcher versichert, sondern dessen Zurücklegen, also der Vorgang des Sichfortbewegens auf einer<br />

Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist. Grundsätzlich nicht versichert sind<br />

Unterbrechungen des unmittelbaren Wegs zur Erledigung von in eigenwirtschaftlichem Interesse<br />

stehenden Verrichtungen (s. hierzu bereits SARTORIUS <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1591, 1602 ff. m.w.N.).<br />

Der Kläger verließ in dem vom BSG zu entscheidenden Fall am Unfalltag, dem 11.3.<strong>20</strong>13, sein Wohnhaus<br />

und ging zu seinem auf dem Grundstück abgestellten Pkw, um mit dem Fahrzeug zu seiner Arbeitsstätte<br />

zu fahren (BSG, Urt. v. 23.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 2 U 23/16 R, NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, 2149; hierzu SCHLAEGER jurisPR-SozR<br />

11/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 6 und krit. SCHNEIDER WzS <strong><strong>20</strong>18</strong>, 191). Er legte seine Arbeitstasche in den Wagen, verließ<br />

anschließend das Grundstück zu Fuß und ging wenige Meter auf der öffentlichen Straße, um zu<br />

überprüfen, ob diese glatt sei. Der Deutsche Wetterdienst hatte am Vortag für den Bereich des<br />

Wohnorts des Klägers die Warnung herausgegeben, dass in der kommenden Nacht mit Glätte durch<br />

überfrierende Nässe zu rechnen sei. Während des Rückwegs zu seinem Pkw knickte der Kläger am<br />

Bordstein um, fiel auf seinen rechten Arm und erlitt dadurch Unterarmfrakturen. Das BSG bestätigte das<br />

Urteil des LSG (s. hierzu ULMER jurisPR-SozR 11/<strong>20</strong>16 Anm. 5), das auf die Berufung der Beklagten das der<br />

Klage stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen hatte.<br />

Zu den in der gesetzlichen Unfallversicherung gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Tätigkeiten zählt<br />

das Zurücklegen des mit der Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem<br />

Ort der Tätigkeit – mithin als Vorbereitungshandlung der eigentlichen Tätigkeit. Der Kläger hatte den<br />

an sich versicherten Weg zur Arbeitsstätte unterbrochen, als er zur Straße ging, um die Fahrbahn auf<br />

Glätte zu überprüfen. Wie sich aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII und dem dort verwendeten<br />

Begriff „unmittelbar“ ergibt, steht grundsätzlich nur das Zurücklegen des direkten Weges unter dem<br />

Schutz der Unfallversicherung. Wird dieser aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen, entfällt<br />

der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz.<br />

1070 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1613<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Hinweis:<br />

Unterbrechungen sind für den Versicherungsschutz unschädlich, wenn sie geringfügig sind, was der Fall ist,<br />

wenn sie nicht zu einer erheblichen Zäsur in der Fortbewegung in Richtung auf das ursprünglich geplante Ziel<br />

führen, weil sie ohne nennenswerte Verzögerung „im Vorbeigehen“ oder „ganz nebenher“ erledigt werden<br />

können. Das Gericht sieht das Zurücklegen des Weges vom Grundstück des Klägers auf die Fahrbahn, die<br />

Prüfung der Fahrbahnverhältnisse und den Weg zurück nicht als solche geringfügige Handlungen an.<br />

Die Prüfung der Fahrbahn auf Glätte ist zudem keine Vorbereitungshandlung, die in § 8 Abs. 2 SGB VII<br />

unter Versicherungsschutz gestellt ist. Eine Ausweitung des Versicherungsschutzes auf weitere<br />

Vorbereitungshandlungen kommt nach der Rechtsprechung des BSG nur dann in Betracht, wenn diese<br />

mit der eigentlich versicherten Tätigkeit oder der kraft Gesetzes versicherten Vorbereitungshandlung so<br />

eng verbunden sind, dass sie bei natürlicher Betrachtungsweise eine Einheit bilden. Hierfür ist ein<br />

besonders enger sachlicher, örtlicher und zeitlicher Zusammenhang erforderlich, der die Vorbereitungshandlungen<br />

nach den gesamten Umständen bereits selbst als Bestandteil der versicherten Tätigkeit<br />

erscheinen lässt. Andere vorbereitende Maßnahmen gehören ausnahmsweise dann zur versicherten<br />

Tätigkeit, wenn solche Verrichtungen unvorhergesehen während des Zurücklegens des Weges von oder<br />

zur Arbeitsstätte erforderlich werden. So hat das Gericht Versicherungsschutz etwa angenommen bei<br />

Maßnahmen zur Behebung einer während eines versicherten Weges auftretenden Störung am<br />

benutzten Fahrzeug, beim Auftanken eines Fahrzeugs bei unvorhergesehenem Benzinmangel oder<br />

beim Beschaffen von Medikamenten, wenn dies dazu diente, trotz einer während der Dienstzeit oder auf<br />

einer Geschäftsreise plötzlich aufgetretenen Gesundheitsstörung die betriebliche Tätigkeit fortsetzen zu<br />

können. Im vorliegenden Fall verneint das BSG solche Umstände, die zu einer weiteren Ausweitung des<br />

Versicherungsschutzes führen können. Die Prüfung des Fahrbahnbelags auf Glätte wird schon deshalb<br />

nicht als unerwartet notwendig gewordene Verrichtung angesehen, weil eine mögliche Straßenglätte<br />

nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht unvorhersehbar war, u.a. wegen der entsprechenden<br />

Warnung des Wetterdienstes. Ferner erfolgt der Hinweis, objektiv sei die Prüfung der Straße auf<br />

Glätte in der vorgenommenen Weise nicht erforderlich gewesen, es hätte ausgereicht, vorsichtig mit dem<br />

Fahrzeug auf die Fahrbahn einzubiegen, ggf. Bremsproben durchzuführen.<br />

Das BSG hebt ferner darauf ab, der Kläger sei mit der Fahrbahnprüfung keiner rechtlichen Verpflichtung,<br />

insbesondere keiner straßenverkehrsrechtlichen Pflicht nachgekommen. Zwar darf ein Fahrzeug nur so<br />

schnell gefahren werden, dass es ständig beherrscht werden kann; seine Geschwindigkeit ist insbesondere<br />

den Wetterverhältnissen anzupassen. Daraus ergibt sich zwar eine Verpflichtung, bei möglicher<br />

Fahrbahnglätte so langsam zu fahren, dass das Fahrzeug jederzeit gefahrlos angehalten werden kann.<br />

Grundsätzlich ist der Fahrer eines Pkws aber nicht gehalten, bei Glätte sein Fahrzeug stehen zu lassen.<br />

Schließlich führt das Gericht aus, die – nicht versicherte – Unterbrechung des Weges sei zum Zeitpunkt<br />

des Unfalls noch nicht beendet gewesen. Der Versicherungsschutz habe deshalb auch nicht neu<br />

entstehen können. Mit dem bloßen Rückweg von der Fahrbahn in Richtung des Pkw hatte der Kläger<br />

den direkten Weg zu seiner Arbeitsstätte zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht wieder erreicht und<br />

den ursprünglichen Weg – Beginn der Fahrt mit dem Pkw – noch nicht wieder aufgenommen. Allein<br />

eine auf das Zurücklegen des versicherten Weges ggf. gerichtete Handlungstendenz vermag den<br />

Versicherungsschutz jedenfalls im Regelfall nicht zu begründen, wenn sich der Verletzte – wie hier der<br />

Kläger – noch nicht wieder auf dem ursprünglichen, versicherten direkten Weg befindet.<br />

Hinweis:<br />

Die Entscheidung wird z.T. kritisch kommentiert (vgl. SCHLAEGER jurisPR-SozR 11/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 6; SCHNEIDER WzS<br />

<strong><strong>20</strong>18</strong>, 191; zum Berufungsurteil ULMER jurisPR-SozR 11/<strong>20</strong>16 Anm. 5). So wird etwa zu Recht eingewandt, die<br />

Prüfung auf Glätte sei nicht deshalb keine unerwartet notwendig gewordene Verrichtung, weil es am Tag<br />

zuvor eine entsprechende Warnung des Deutschen Wetterdienstes gegeben habe. Solche Hinweise sind<br />

mehr oder weniger allgemein gehalten und schließen örtliche Besonderheiten bzw. Abweichungen nicht<br />

aus. Auch wenn die vom Kläger vorgenommene Prüfung nicht rechtlich verpflichtend ist, erscheint sein Ver-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1071


Fach 18, Seite 1614<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

halten objektiv verantwortungsbewusst und trägt dem Umstand Rechnung, dass mit dem Betrieb eines<br />

Kraftfahrzeugs immer, insbesondere bei Glätte, Gefahren für ihn und andere Verkehrsteilnehmer verbunden<br />

sind. Seine Prüfung hätte ggf. das Ergebnis haben können, nach Rücksprache mit dem Arbeitgeber die Fahrt<br />

auf einen späteren Zeitpunkt bzw. auf den Folgetag zu verschieben oder aber den Weg mit öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln anzutreten.<br />

IV.<br />

Schwerbehindertenrecht<br />

1. GdB: Feststellung/Rechtsschutzbedürfnis<br />

Die Klägerin beantragte im Klageverfahren, die Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB) mit<br />

„mindestens <strong>20</strong>“ festzustellen und führte hierzu aus, die bei ihr bestehenden und im Einzelnen von ihr<br />

angegebenen Behinderungen einschließlich der hiermit einhergehenden erheblichen Schmerzen<br />

rechtfertigten einen GdB von 30. Im Verfahren gab der Beklagte ein Teilanerkenntnis über einen<br />

GdB von <strong>20</strong> ab, welches die Klägerin nicht annahm. Das SG wies die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses<br />

ab. Die Berufung war erfolgreich im Sinne einer Aufhebung und Zurückverweisung an das<br />

SG. Dieses habe, so das LSG, zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen. Die Klägerin habe ersichtlich<br />

von Anfang an mit ihrer auf Feststellung eines GdB von „mindestens <strong>20</strong>“ gerichteten Klage einen GdB<br />

von 30 erreichen wollen. Die Revision des Beklagten blieb erfolglos (BSG, Urt. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 9 SB 2/16<br />

R). Der konkrete Antrag der Klägerin umfasst, so das Gericht, auch die Feststellung eines GdB von 30.<br />

Unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Klagebegründung war das Begehren auf eine<br />

Feststellung eines GdB von 30 gerichtet. Diese tatsächliche Zielrichtung ist nach dem Teilanerkenntnis<br />

des Beklagten unverändert geblieben, da die Klägerin die Klage aufrechterhalten hat.<br />

Die Revision hatte zur Stützung ihrer Ansicht auf eine frühere Entscheidung (BSG, Urt. v. 9.8.1995 –<br />

9 RVs 7/94) abgehoben, die bei einem auf einen Mindest-GdB gerichteten Antrag das Fehlen eines<br />

weiteren Begehrens annimmt. Diese Entscheidung hat jedoch, wie das BSG nunmehr klarstellend<br />

ausführt, für die Auslegung von Anträgen im Schwerbehindertenverfahren nur insofern Bedeutung, als<br />

es ausschließlich um die Beurteilung eines Klageantrags mit einem Mindest-GdB-Wert geht, bei dem<br />

sich aber aus den weiteren Umständen des Falls, insbesondere der Klagebegründung, kein höheres<br />

Klagebegehren erkennen lässt.<br />

Hinweis:<br />

Die Entscheidung belegt, dass allein durch einen bloßen auf einen Mindest-GdB gerichteten Klageantrag kein<br />

Klagebegehren hinsichtlich eines höheren GdB erfolgt, wenn sich nicht insofern deutliche Hinweise ergeben.<br />

Einzelheiten zur Feststellung der Behinderung, die nur auf Antrag erfolgt, finden sich seit 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> in § 152<br />

SGB IX. Der GdB stellt die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fest,<br />

er erfolgt abgestuft nach Zehnergraden ab einem GdB von wenigstens <strong>20</strong>, § 152 Abs. 1 S. 5, 6 SGB IX. Ab einem<br />

GdB von 30 – und einem GdB von weniger als 50 – kommt ein Anspruch auf Gleichstellung nach § 2 Abs. 3<br />

SGB IX in Betracht, über den auf Antrag die Bundesagentur für Arbeit entscheidet, § 151 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Die<br />

Gleichstellung führt dazu, dass den Betroffenen mit Ausnahme des Rechts auf Zusatzurlaub (§ <strong>20</strong>8 SGB IX)<br />

und dem Anspruch auf unentgeltliche Beförderung (§§ 228 ff. SGB IX) die gleichen Rechte und Ansprüche<br />

wie schwerbehinderten Menschen zukommen (zur neueren Rechtsprechung des BSG zur Gleichstellung s.<br />

SARTORIUS/PATTAR <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1409 ff., 1421 ff. m.w.N.). Ab einem GdB von 30 besteht auch – nach weiterer<br />

Maßgabe von § 33b Abs. 2 EStG – ein Vorteil bei der Einkommensteuer in Form eines Pauschbetrags, § 33b<br />

Abs. 3 S. 2 EStG.<br />

2. Blindheit bei cerebralen Schäden ohne spezifische Störung des Sehvermögens<br />

Das BSG setzt seine Rechtsprechung (BSG v. 11.8.<strong>20</strong>15 – B 9 BL 1/14 R; DAU jurisPR-SozR 10/<strong>20</strong>16 Anm. 5)<br />

zum Bestehen von Blindheit bei cerebralen Schäden, ohne dass eine spezifische Störung des<br />

Sehvermögens vorliegt, fort (BSG, Urt. v. 14.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 9 BL 1/17 R). Im vorliegenden Fall hatte das<br />

1072 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1615<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Berufungsgericht der Klage auf Blindengeld bei einer an einer schweren Alzheimer-Demenz leidenden<br />

Klägerin stattgegeben, obwohl keinerlei Anhaltspunkte dafür bestanden, dass für die fehlende<br />

Wahrnehmung von optischen Reizen eine spezielle Schädigung der Sehstrukturen ursächlich war. Es<br />

hat sich hierbei auf das BSG-Urteil aus <strong>20</strong>15 (a.a.O.) gestützt.<br />

Die Revision des beklagten Landes war im Sinne der Zurückverweisung begründet. Zwar hält das Gericht an<br />

seiner Rechtsprechung fest, wonach auch bei cerebralen Störungen Blindheit anzunehmen ist, wenn die<br />

Betroffenen nicht sehen. Es kommt dabei nicht (mehr) darauf an, ob die konkrete Ursache der Blindheit im<br />

Einzelfall nachvollzogen werden kann oder eine spezifische Sehstörung nachweisbar ist. Bei Blindheit wird<br />

Blindengeld zum Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen als Pauschalleistung erbracht. Kann ein<br />

blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes aber gar nicht erst entstehen,<br />

wird der Zweck des Blindengelds verfehlt. In diesen besonderen Fällen darf der zuständigen Behörde der<br />

anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung nicht verwehrt werden, wenn bestimmte Krankheitsbilder<br />

blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen<br />

krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgleichbar ist. Solches kann<br />

etwa bei generalisierten cerebralen Leiden zutreffen, die z.B. mit dauernder Bewusstlosigkeit oder Koma<br />

einhergehen. Ob ein solches Krankheitsbild im konkreten Einzelfall tatsächlich vorliegt, ist von der Behörde<br />

darzulegen, die insofern die Darlegungs- und Beweislast trägt. Die entsprechenden Feststellungen, die<br />

bisher nicht getroffen wurden, sind im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen.<br />

V. Status- und Beitragsrecht<br />

Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen in der gesetzlichen Kranken-, Pflegeund<br />

Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung der Versicherungspflicht (und<br />

Beitragspflicht), § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § <strong>20</strong> Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB XI, § 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI und § 25 Abs. 1 S. 1<br />

SGB III. Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 SGB IV.<br />

Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.<br />

Nach ständiger BSG-Rechtsprechung setzt eine Beschäftigung voraus, dass Arbeitnehmer vom Arbeitgeber<br />

persönlich abhängig sind. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall,<br />

wenn Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert sind und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der<br />

Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegen. Diese Weisungsgebundenheit<br />

kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden<br />

Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein.<br />

Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das<br />

Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft<br />

und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand<br />

beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild prägen.<br />

Das kann bei manchen Tätigkeiten dazu führen, dass sie in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen<br />

sowohl als Beschäftigung als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses ausgeübt werden<br />

können. Die Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung<br />

bzw. der selbstständigen Tätigkeit setzt dabei voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in<br />

Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in<br />

die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, d.h. den Gesetzen der Logik<br />

entsprechend und widerspruchsfrei gegeneinander abgewogen werden (s. zum Ganzen etwa BSG, Urt.<br />

v. 31.3.<strong>20</strong>17 – B 12 R 7/15 R, Rn 21 m.w.N. und nunmehr BSG, Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 12 R 3/17 R, Rn 12).<br />

Eine Statusklärung kann im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV erfolgen oder durch ein<br />

Anfrageverfahren nach § 7a SGB IV. Letzteres hat u.a. den Vorteil, dass der Beginn der Versicherungspflicht<br />

auf Grundlage des § 7a Abs. 6 SGB IV mit der Bekanntgabe der ersten Entscheidung der<br />

Rentenversicherung hinausgeschoben werden kann.<br />

In der Entscheidung vom 31.3.<strong>20</strong>17 – bei der es um die Tätigkeit eines Erziehungsbeistands nach § 30<br />

SGB VIII ging – hat das BSG u.a. ausgeführt, die Vereinbarung eines festen Stundenhonorars spreche<br />

nicht zwingend für eine abhängige Beschäftigung. Jedenfalls bei reinen Dienstleistungen sei ein<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1073


Fach 18, Seite 1616<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

erfolgsabhängiges Entgelt aufgrund der Eigenheiten der zu erbringenden Leistungen nicht zu erwarten.<br />

Dies gelte auch dann, wenn die Honorare nicht frei ausgehandelt, sondern in Form gebräuchlicher Sätze<br />

festgelegt werden (BSG, a.a.O., Rn 48). Erstmals misst das BSG der Honorarhöhe maßgebliche<br />

Bedeutung zu, wenn es in Rn 50 der Entscheidung heißt, es sei ein gewichtiges – wenn auch nur eines<br />

von u.U. vielen in der Gesamtwürdigung zu berücksichtigende – Indiz für eine selbstständige Tätigkeit,<br />

wenn das vereinbarte Honorar deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten<br />

sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt und dadurch Eigenfürsorge zulässt.<br />

Hinweis:<br />

Lesenswert ist ferner die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg zur selbstständigen Tätigkeit einer<br />

Bilanzbuchhalterin/Lohnbuchhalterin (Urt. v. 23.9.<strong><strong>20</strong>18</strong> – L 4 R 21<strong>20</strong>/15 ZVW, ASR <strong>20</strong>17, 24).<br />

Der 12. Senat des BSG hat am 14. März <strong><strong>20</strong>18</strong> über insgesamt sechs Revisionen aus dem Versicherungsund<br />

Beitragsrecht entschieden. Über drei dieser Urteile wird nachfolgend berichtet:<br />

1. Status eines Opernchorsängers<br />

Der Kläger war als Opernchorsänger in verschiedenen Theatern und Opernhäusern mehrwöchig oder tageweise<br />

tätig. An zwei Tagen wurde er als Aushilfe im Opernchor der Beigeladenen Ziff. 1 gegen ein Bruttoentgelt<br />

von jeweils 344 € eingesetzt. Der Kläger war weder zu allgemeinem Dienst noch zur Chorprobe<br />

verpflichtet. Unmittelbar vor seinen Auftritten erhielt er eine kurze szenarische (Sicherheits-)Einweisung und<br />

Kenntnis von der musikalischen Strichfassung. Die Beigeladene zu 1 vertrat die Auffassung, es handele sich um<br />

eine versicherungspflichtige Beschäftigung. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung stellt im Rahmen<br />

eines Anfrageverfahrens nach § 7a SGB IV Versicherungspflicht in allen Zweigen der Sozialversicherung fest.<br />

Das BSG (Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 12 KR 3/17 R) billigt die Auffassung der Vorinstanz, dass eine abhängige<br />

Beschäftigung nicht vorlag. Nach den tatsächlichen Gegebenheiten war der Kläger gegenüber der<br />

Beigeladenen zu 1 nicht weisungsgebunden und nicht in deren Arbeitsorganisation eingegliedert. Die mit<br />

dem Auftritt zwingend einhergehende zeitliche und örtliche Abhängigkeit sowie eine gewisse Vorgabe der<br />

künstlerischen Darbietung ergeben sich aus der „Natur der Tätigkeit“. Ein von der Notwendigkeit des<br />

Zusammenwirkens im Ensemble und der damit verbundenen Festlegung gewisser Eckpunkte der<br />

Aufführungen unabhängiges Weisungsrecht lag nicht vor. Auch bestand keine Eingliederung in die<br />

Arbeitsorganisation des Theaters. Im Vordergrund stand nicht der Einsatz der Arbeitskraft als Opernchorsänger,<br />

sondern vor allem die mit der Kurzfristigkeit seines Einsatzes einhergehende besondere<br />

gesangliche, künstlerisch-gestaltende Fähigkeit. Dieser Beurteilung steht auch nicht der Aspekt eines<br />

fehlenden Unternehmerrisikos entgegen, da aufgrund der Eigenheiten der erbrachten künstlerischen<br />

Leistung weder ein erfolgsabhängiges Entgelt noch der Einsatz eigenen Kapitals zu erwarten war.<br />

2. Tätigkeit eines Einzelunternehmers als Datenbank-Administrator<br />

Die Klägerin betreibt ein IT-Service-Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen. Der Beigeladene zu 1, ein<br />

Datenbank-Administrator, bietet entsprechende Leistungen als Einzelunternehmer an und war im streitigen<br />

Zeitraum ausschließlich für die Klägerin tätig. Seine Tätigkeit erfolgte im Rahmen von mehreren zeitlich<br />

begrenzten Einsätzen bei Drittunternehmen, den sog. Endkunden der Klägerin. Den Einsätzen lagen jeweils<br />

schriftliche, als „Beauftragung“ bezeichnete Einzelvereinbarungen zwischen der Klägerin und dem dort als<br />

„freier Mitarbeiter“ bezeichneten Beigeladenen zugrunde, in denen u.a. der Einsatzort und der geplante<br />

zeitliche Umfang festgehalten wurden. Die Projektleitung oblag bei allen Aufträgen einem IT-Unternehmen,<br />

mit dessen Betriebssystem die Endkunden ausgestattet waren. Der Beigeladene beantragte bei der<br />

Deutschen Rentenversicherung (DRV) die Feststellung, hinsichtlich seiner bei der Klägerin ausgeübten<br />

Tätigkeit liege ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht vor. Die Beklagte stellte hingegen<br />

gegenüber Beigeladenem und Klägerin fest, die Tätigkeit werde in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis<br />

ausgeübt. Das LSG hat die dagegen gerichtete Klage in vollem Umfang abgewiesen.<br />

Die Revision führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung. Das BSG beanstandet<br />

zunächst, das LSG habe nicht ausreichend ausgeführt, welche Tatsachen es seiner Entscheidung zugrunde<br />

1074 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1617<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

lege (BSG, Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 12 KR 12/17 R). Es habe i.Ü. nach der Zurückverweisung zwar nur zu prüfen,<br />

ob ein Beschäftigungsverhältnis gerade zwischen dem Beigeladenen und der Klägerin vorlag. Diese<br />

Prüfung schließe es aber nicht aus, auch die Rechtsbeziehungen zwischen der Klägerin und den<br />

Endkunden sowie einem beim Endkunden tätig gewordenen Dienstleister zu betrachten, mit dessen<br />

Beschäftigten der Beigeladene zusammengearbeitet hat. Zu klären sei dabei insbesondere, ob und ggf.<br />

welche Weisungen der Beigeladene von der Klägerin bzw. in deren Absprache mit dem Dienstleister von<br />

letzterem erhalten oder ob die Klägerin ggf. ihr Weisungsrecht an diesen Dienstleister abgetreten hat.<br />

3. Beauftragung eines Musikschullehrers auf Honorarvertragsbasis<br />

Die klagende Stadt betreibt eine kommunale Musikschule, in der sie neben 18 Angestellten zehn<br />

Musikschullehrer auf honorarvertraglicher Grundlage beauftragte, darunter den Beigeladenen zu 1. Die<br />

beklagte Rentenversicherung stellte im Rahmen eines von dem Beigeladenen zu 1 eingeleiteten Status-<br />

Feststellungsverfahrens gegenüber ihm und der Klägerin fest, er unterliege in seinen Tätigkeiten bei der<br />

Musikschule aufgrund abhängiger Beschäftigung der Versicherungspflicht in allen Zweigen der<br />

Sozialversicherung. Auf die Revision der Stadt hin hob das BSG die Entscheidungen der Vorinstanzen<br />

sowie die Bescheide der Beklagten auf (BSG, Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – BSG 12 R 3/17 R).<br />

Das Gericht hebt zunächst darauf ab, dass vorliegend keine zwingenden gesetzlichen Rahmenvorgaben<br />

bestehen und die zu prüfende Tätigkeit als Lehrer sowohl in der Form einer Beschäftigung als auch in der<br />

einer selbstständigen Tätigkeit erbracht werden kann. Letzteres folgt aus der Vorschrift des § 2 Abs. 1 S. 1<br />

SGB VI, die in der Rentenversicherung eine Versicherungspflicht für selbstständig tätige Lehrer und<br />

Erzieher statuiert. Bei diesen Gegebenheiten kommt, so das BSG, den vertraglichen Vereinbarungen<br />

zwischen Arbeitnehmer/Auftragnehmer und Arbeitgeber/Auftraggeber, wenn auch keine allein ausschlaggebende,<br />

so doch eine gewichtige Rolle zu. Zwar haben es die Vertragsparteien nicht in der Hand, die kraft<br />

öffentlichen Rechts angeordnete Sozialversicherungspflicht durch bloße übereinstimmende Willenserklärung<br />

auszuschließen. Dem Willen der Vertragsparteien, keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung<br />

begründen zu wollen, kommt aber indizielle Bedeutung zu, wenn dieser Wille den festgestellten sonstigen<br />

tatsächlichen Verhältnissen nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird<br />

bzw. die übrigen Umstände gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung<br />

sprechen (s. Rn 13 der Entscheidungsgründe).<br />

Da die Beteiligten in den jeweiligen Honorarverträgen schriftlich festgehalten hatten, kein Arbeitsverhältnis<br />

auch in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht begründen zu wollen, und Anhaltspunkte<br />

dafür, dass der Vertragsschluss und die darin übereinstimmend getroffenen Regelungen allein aufgrund<br />

eines erheblichen Ungleichgewichts der Verhandlungspositionen oder unter Ausnutzung besonderer<br />

Umstände des Beigeladenen zu 1 (z.B. geschäftliche Unerfahrenheit, Ausnutzen einer aktuellen<br />

Notsituation) zustande gekommen sind, nicht vorliegen, das „gelebte“ Vertragsverhältnis dem formell<br />

vereinbarten Vertrag über ein selbstständiges Dienstverhältnis entspricht und tatsächliche Umstände,<br />

die bei einer Gesamtschau zwingend zu einer Beurteilung des Vertragsverhältnisses als abhängige<br />

Beschäftigung führen müssten, nicht bestehen, geht das BSG von freiberuflicher Tätigkeit aus.<br />

Hinweise:<br />

Das BSG stützt seine Entscheidung im Übrigen ergänzend auf aktuelle Rechtsprechung des BAG (Urt. v.<br />

21.11.<strong>20</strong>17 – 9 AZR 117/17, NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>,1194), das ebenfalls einen Musikschullehrer als selbstständig Tätigen<br />

angesehen hat. Ob das Urteil des BSG zum Status des Musikschullehrers einen Schritt dahin darstellt, dem<br />

Aspekt der Vertragsgestaltung – wenn diese „gelebt“ wird – größere Bedeutung beizumessen, und damit<br />

eine leichtere Anerkennung von selbstständigen Dienstverhältnissen ermöglicht, bleibt abzuwarten. Der<br />

Präsident des BSG und Vorsitzende des 12. Senats hat zu diesem rechtlichen Aspekt kürzlich ausgeführt:<br />

„Zwingen die objektiv festgestellten Umstände nicht dazu, eine bestimmte Arbeitsleistung abhängiger Beschäftigung<br />

oder selbstständiger Tätigkeit zuzuweisen, sollte dem Willen der Vertragsparteien diejenige Bedeutung beigemessen<br />

werden, die ihm in einer von der verfassungsrechtlich garantierten Vertragsfreiheit geprägten Rechtsordnung gebührt“<br />

(neue Caritas 11/<strong><strong>20</strong>18</strong>, 13 ff., 15).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1075


Fach 18, Seite 1618<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

Zur Versicherungspflicht bzw. -freiheit bei einer Tätigkeit als Bereitschaftsarzt in einer geriatrischen<br />

Rehabilitationsklinik s. auch LSG Mainz v. 12.12.<strong>20</strong>17 – L 6 R 255/15 (die zugelassene Revision wurde<br />

eingelegt, BSG B 12 R 2/18 R; hierzu FREUDENBERG jurisPR-SozR 13/<strong><strong>20</strong>18</strong> Anm. 4). Zum Status von Honorarärzten<br />

sind derzeit weitere Verfahren beim BSG anhängig (B 12 R 10/18 R und B 12 R 13/18 R; zum<br />

Status von Pflegekräften, die auf Honorarbasis tätig werden, B 12 R 6/18 R sowie B 12 R 7/18).<br />

VI.<br />

Verfahrensrecht<br />

1. Wiedereinsetzung bei Versäumen der Klagefrist wegen Störung des Telefaxeingangs<br />

bei Gericht<br />

Die Parteien stritten um höhere Leistungen der Grundsicherung vom Zeitpunkt des Wirksamwerdens<br />

einer Mieterhöhung an. Der beklagte Landkreis lehnte dies durch Widerspruchsbescheid vom 13.5.<strong>20</strong>15<br />

ab. Der bevollmächtigte Rechtsanwalt der Klägerin übersandte am Tag des Ablaufs der Klagefrist<br />

vormittags die gegen den Bescheid gerichtete Klageschrift mittels Telefax an das knapp 30 km vom<br />

Kanzleisitz entfernte SG. Die Übermittlung schlug fehl, weil der Telefax-Eingang des SG an diesem Tag<br />

durchgehend gestört war. Als der Bevollmächtigte dies bemerkte, schickte er eine E-Mail an das SG,<br />

an die die eingescannte, unterschriebene Klageschrift als PDF-Datei angehängt war. Die Geschäftsstelle<br />

druckte den Anhang am selben Tag aus und versah ihn mit einem Eingangsstempel. Das<br />

Original der Klageschrift ging erst am nächsten Tag mit der Briefpost ein. Die Vorinstanzen haben die<br />

Klage als unzulässig abgewiesen, sie sei nicht rechtzeitig erhoben.<br />

Das BSG hat im Revisionsverfahren das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LSG<br />

zurückverwiesen, weil die Vorinstanzen die Klage zu Unrecht als unzulässig angesehen haben (Urt. v.<br />

24.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 8 SO 23/16 R). Das Gericht lässt es offen, ob die als Anhang einer E-Mail an das SG<br />

gesandte, eingescannte und unterschriebene Klageschrift, die am Tag des Fristablaufs vollständig<br />

ausgedruckt beim SG vorlag, verfristet war. Der Klägerin wäre bei Versäumen der Klagefrist jedenfalls<br />

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) zu gewähren.<br />

Hinweise:<br />

• Grundsätzlich wird Wiedereinsetzung nur auf Antrag gewährt, der binnen eines Monats nach Wegfall<br />

des Hindernisses zu stellen ist, § 67 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 SGG. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte<br />

Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag<br />

gewährt werden, § 67 Abs. 2 S. 3, 4 SGG.<br />

§ 67 SGG findet nach § 84 Abs. 2 S. 3 SGG auch im Widerspruchsverfahren Anwendung. Für<br />

Verfahrensfristen im Verwaltungsverfahren gilt § 27 SGB X. Neben den unterschiedlichen Anwendungsbereichen<br />

gibt es zwischen den beiden Vorschriften auch inhaltliche Abweichungen:<br />

• Die Frist, innerhalb derer Wiedereinsetzung zu beantragen ist, beträgt bei § 27 SGB X zwei Wochen,<br />

bei § 67 SGG einen Monat.<br />

• Nach § 27 Abs. 2 SGB X „sind“ die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft zu machen, § 67<br />

Abs. 2 S. 2 SGG sieht vor, dass dies geschehen „soll“.<br />

• Eine Regelung wie in § 27 Abs. 5 SGB X – Ausschluss der Wiedereinsetzung durch Rechtsvorschrift<br />

– fehlt in § 67 SGG.<br />

• Eine erleichterte Wiedereinsetzung bei Verfahrens- und Formfehlern findet sich in § 41 Abs. 3 SGB X.<br />

Kausal für die Fristversäumung um einen Tag war allein die Störung des Faxeingangs bei Gericht. Mit<br />

der Aufgabe der Klageschrift zur Post noch am Tag der gescheiterten Übersendung mittels Telefax hat<br />

der Prozessbevollmächtigte der Klägerin alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um<br />

weitere Verzögerungen zu verhindern.<br />

1076 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1619<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

2. Wiedereinsetzung bei Verletzung gerichtlicher Hinweispflichten<br />

Hinweis:<br />

Der Beschluss des BSG vom 9.5.<strong><strong>20</strong>18</strong> (B 12 KR 26/18 B, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 411/<strong><strong>20</strong>18</strong> = NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, 2222 m. Anm. PLUM)<br />

hat über das sozialgerichtliche Verfahren hinaus Bedeutung.<br />

Vorbereitende Schriftsätze etc. können gem. § 65a Abs. 1 SGG in der ab 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> geltenden Fassung nach<br />

Maßgabe der Abs. 2–6 als elektronisches Dokument – durch Übermittlung an das elektronische<br />

Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) – bei Gericht eingereicht werden.<br />

Hinweis:<br />

Der Regelung in § 65a SGG entsprechende Vorschriften finden sich in den übrigen gerichtlichen Verfahrensordnungen:<br />

§ 46c ArbGG, § 130a ZPO, § 14a FamFG, § 32a StPO, § 55a VwGO und § 52a FGG.<br />

Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein, wobei die<br />

Bundesregierung durch Rechtsverordnung die für die Übermittlung und Bearbeitung geeigneten<br />

technischen Rahmenbedingungen bestimmt, § 65a Abs. 2 SGG. Diese sind in der zum 1.1.<strong><strong>20</strong>18</strong> in Kraft<br />

getretenen Elektronischen-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV vom 27.11.<strong>20</strong>17 (BGBl I <strong>20</strong>17, S. 3803) in<br />

der Fassung vom 9.2.<strong><strong>20</strong>18</strong> (BGBl I <strong><strong>20</strong>18</strong>, S. <strong>20</strong>0) geregelt. Die technischen Anforderungen, die hierbei zu<br />

beachten sind, ergeben sich aus der Bekanntmachung des Bundesministeriums der Justiz und für<br />

Verbraucherschutz zu § 5 ERVV vom 19.12.<strong>20</strong>17.<br />

Das elektronische Dokument muss mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) der<br />

verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Personen (einfach) signiert<br />

und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden, § 65a Abs. 3, 4 SGG. Ein elektronisches<br />

Dokument, das mit einer qeS der verantwortenden Person versehen ist, darf lediglich auf einem<br />

sicheren Übermittlungsweg oder an das EGVP übermittelt werden, § 4 Abs. 1 ERVV. Mehrere elektronische<br />

Dokumente dürfen hingegen nicht mit einer gemeinsamen qeS (sog. Container-Signatur)<br />

versandt werden, § 4 Abs. 2 ERVV. Diese Einschränkung will verhindern, dass nach der Trennung eines<br />

elektronischen Dokuments vom Nachrichtencontainer die Containersignatur nicht mehr überprüft<br />

werden kann (zu weiteren Details s. MARDORF JM <strong><strong>20</strong>18</strong>, 140).<br />

Der Kläger hat gegen eine seine Berufung zurückweisende Entscheidung des LSG, die ihm am 23.2.<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

zugestellt wurde, am 6.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> durch ein an das EGVP übermitteltes elektronisches Dokument vom<br />

selben Tag Beschwerde eingelegt. Die dabei verwendete qeS bezog sich nicht auf das PDF-Dokument<br />

selbst, sondern auf den Nachrichtencontainer mit verschiedenen Inhaltsdaten. Auf den Hinweis des<br />

Berichterstatters vom 28.3.<strong><strong>20</strong>18</strong>, die Beschwerdeschrift sei nicht zulässig signiert worden, hat der Kläger<br />

am 6.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> mittels eines ordnungsgemäß signierten elektronischen Dokuments erneut Beschwerde<br />

eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Antrag hatte Erfolg.<br />

Wegen Formmangels der fehlerhaften Signatur hat der Kläger die Beschwerde am 6.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> nicht<br />

formwirksam eingelegt. Dieser Formmangel wurde nicht dadurch geheilt, dass der Kläger am 6.4.<strong><strong>20</strong>18</strong><br />

eine ordnungsgemäß signierte Beschwerde nachgereicht hat. Die Eingangsfiktion des § 65a Abs. 6 S. 2<br />

SGG greift nicht bei fehlerhaft signierten Dokumenten ein, sondern lediglich bei einem nicht zur<br />

Bearbeitung geeigneten Dokument.<br />

Wiedereinsetzung ist dem Kläger nach § 67 Abs. 1 SGG zu gewähren, weil er ohne Verschulden<br />

verhindert war, die gesetzliche Verfahrensfrist zur Einlegung einzuhalten. Ohne Verschulden im Sinne<br />

dieser Vorschrift ist nach ständiger Rechtsprechung eine Frist nur versäumt, wenn die Beteiligten<br />

diejenige Sorgfalt aufgewendet haben, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten<br />

Umständen zuzumuten ist. Ob eine solche Fallgestaltung hier vorliegt, lässt das BSG offen, da Wiedereinsetzung<br />

auch unabhängig vom Verschulden der Beteiligten zu gewähren ist, wenn dies wegen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 24.10.<strong><strong>20</strong>18</strong> 1077


Fach 18, Seite 16<strong>20</strong><br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>18</strong><br />

Sozialrecht<br />

einer Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts geboten ist. In solchen Fällen tritt ein in<br />

der eigenen Sphäre der Beteiligten liegendes Verschulden hinter das staatliche Verschulden zurück.<br />

Ohne Verschulden „verhindert“, eine gesetzliche Frist einzuhalten, sind Beteiligte nach der BSG-<br />

Rechtsprechung auch dann, wenn ein Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für die Fristversäumnis<br />

nicht ursächlich gewesen ist oder ihnen nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im<br />

Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre. Das Gericht hat vorliegend<br />

die prozessuale Fürsorgepflicht dadurch verletzt, dass der gebotene Hinweis auf die Signatur zunächst<br />

unterblieben ist und verspätet erfolgte. Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts besteht immer<br />

dann, wenn es darum geht, eine Partei oder ihren Bevollmächtigten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen<br />

Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein hier demnach erforderlicher<br />

Hinweis erfordert keine außerordentlichen Maßnahmen, da sich die Art der verwendeten Signatur<br />

regelmäßig ohne Schwierigkeiten dem Transfervermerk über die Übermittlung des elektronischen<br />

Dokuments an das EGVP entnehmen lässt. Das fehlerhaft signierte elektronische Dokument war auch<br />

bereits am 6.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> und damit so rechtzeitig vor Ablauf der Beschwerdefrist am 23.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> eingegangen,<br />

dass die Frist bei einem Hinweis des Gerichts innerhalb des üblichen Geschäftsvorgangs hätte<br />

eingehalten werden können.<br />

Hinweis:<br />

PLUM (NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, 2224) weist zu Recht darauf hin, dass der Beschluss nicht als genereller Freibrief für eine<br />

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verstehen ist. Ob Wiedereinsetzung zu gewähren ist, hängt<br />

vielmehr wesentlich davon ab, wann das erste, fehlerhafte Dokument bei Gericht eingegangen ist. Je<br />

näher dies an den Fristablauf „heranrückt“, umso geringer werden die Chancen der Wiedereinsetzung<br />

(zu anwaltlichen Sorgfaltspflichten bei Führung eines elektronischen Fristenkalenders s. BSG, Urt. v.<br />

28.6.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 1 KR 59/17 B, Wiedereinsetzung abgelehnt; ausführlich zur Wiedereinsetzung ROHWETTER<br />

NJW <strong><strong>20</strong>18</strong>, <strong>20</strong>19).<br />

3. Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und Verlegungsantrag<br />

In der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden die Gerichte grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung,<br />

§ 124 Abs. 1 SGG. Mit Einverständnis der Beteiligten kann jedoch ohne mündliche Verhandlung durch<br />

Urteil entschieden werden, § 124 Abs. 2 SGG. Macht das Gericht von den ihm insoweit eingeräumten<br />

Ermessen keinen Gebrauch und bestimmt es Termin zur mündlichen Verhandlung, muss den Beteiligten<br />

unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben,<br />

grundsätzlich Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen. Ein vorab<br />

gegebenes Einverständnis nach § 124 Abs. 2 SGG entbindet das Gericht nicht davon, in dieser Weise<br />

rechtliches Gehör ausreichend zu gewähren. Es wäre verfahrensfehlerhaft (Verstoß gegen Art. 103 GG,<br />

§ 124 Abs. 1 SGG), in diesem Fall eine beantragte Terminsverlegung, für die ein erheblicher Grund besteht<br />

(§ <strong>20</strong>1 S. 1 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 S. 1 ZPO), abzulehnen. Eine Nichtzulassungsbeschwerde wäre in diesem<br />

Fall nach § 160a Abs. 2 Nr. 3 SGG zulässig, nähere Darlegungen, inwiefern das Urteil auf einer Verletzung<br />

des rechtlichen Gehörs beruhen könne, sind entbehrlich (BSG, Beschl. v. 21.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 13 R 4 101/15 B,<br />

Rn 12). Bei einem kurzfristig gestellten Verlegungsantrag – etwa erst einen Tag vor der anberaumten<br />

mündlichen Verhandlung –, der mit einer Erkrankung begründet wird, muss allerdings dieser Verhinderungsgrund<br />

so dargelegt und untermauert werden, dass das Gericht ohne weitere Nachprüfung<br />

selbst beurteilen kann, ob Verhandlungs- und/oder Reiseunfähigkeit besteht. Diese erfordert grundsätzlich<br />

die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, aus der das Gericht Schwere und voraussichtliche<br />

Dauer der Erkrankung entnehmen und die Frage der Verhandlungs- und/oder Reiseunfähigkeit der<br />

Betroffenen selbst beurteilen kann. Es bestehen demnach bei kurzfristig gestellten Anträgen auf<br />

Terminsverlegung hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Umstände, die der Verhinderung<br />

zugrunde liegen (BSG, Beschl. v. 16.4.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 9 V 66/17 B, Rn 5; v. 21.3.<strong><strong>20</strong>18</strong> – B 13 R 4 101/15 B, Rn 189).<br />

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