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DEINMÜNCHEN_NO LIMITS!-Magazin_02

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so sieht‘s aus<br />

so sieht‘s aus<br />

Ausgegrenzt,<br />

verzweifelt, wütend<br />

Wer keine Perspektive sieht, glaubt auch nicht<br />

an seine Chancen.<br />

Lassen Sie sich dazu einladen, das Foto etwas<br />

genauer zu betrachten. Es ist entstanden bei einem<br />

Anti-Gewalt-Training, das an vielen bayrischen<br />

Mittelschulen regelmäßig angeboten wird. Die<br />

Übung, die hier gezeigt wird, soll Sechstklässlern<br />

spürbar machen, was passiert, wenn jemand<br />

ausgeschlossen wird.<br />

Die Übung geht so: Ein Mitschüler, auf dem Foto ist<br />

das Paul, muss den Klassenraum verlassen, damit<br />

er nicht mitbekommt, was drinnen passiert. Denn da<br />

setzen sich jetzt seine Klassenkameraden in einen<br />

engen Stuhlkreis, stecken die Köpfe zusammen und<br />

tuscheln. Jetzt wird Paul hereingebeten und soll<br />

versuchen, Kontakt zu seinen Mitschülern aufzunehmen.<br />

Aber die nehmen überhaupt keine Notiz<br />

von ihm, tuscheln weiter, heben noch nicht einmal<br />

den Kopf. Paul ist ratlos. Er geht zwei-, dreimal um<br />

den Stuhlkreis herum, versucht behutsam, Aufmerksamkeit<br />

auf sich zu ziehen – ohne Erfolg.<br />

Es ist nur eine spielerische Übung, die gerade mal<br />

zwei Minuten dauert. Aber für Paul ist es bitterer<br />

Ernst. Die zwei Minuten fühlen sich für ihn an wie<br />

eine Ewigkeit, in der aus seiner Ratlosigkeit langsam<br />

Verzweiflung wird. Ehe Paul die Tränen kommen,<br />

brechen die beiden Lehrkräfte die Übung ab. Paul<br />

ist ein eher in sich gekehrtes Kind. Andere Schüler<br />

reagieren aggressiv, rufen, provozieren die Runde,<br />

werden schließlich wütend. Abbruch!<br />

Für die Sechstklässler war das ein Crashkurs in<br />

Sachen Teilhabe: Wie fühlt es sich an, wenn<br />

jemand ausgeschlossen ist, nicht dabei sein<br />

darf und hoffnungslos am Rand steht?<br />

Wer sich in dieses Foto vertieft, bekommt eine<br />

Ahnung davon, wie gefährlich es für unsere<br />

Gesellschaft werden kann, wenn Menschen<br />

dauerhaft ausgegrenzt werden. Die einen<br />

resignieren, andere kämpfen, wieder andere radikalisieren<br />

sich. Wer keine Perspektive sieht, glaubt<br />

auch nicht an seine Chancen.<br />

Für diese Perspektiven legt die Schule den<br />

Grundstein. „Bildung“, sagt die Bundestagsabgeordnete<br />

Beate Walter-Rosenheimer, Sprecherin für<br />

Jugendpolitik und Ausbildung der Grünen-Bundestagsfraktion,<br />

„entscheidet über Teilhabe oder<br />

Ausschluss.<br />

So gesehen hängt unsere Zukunft entscheidend<br />

von mehr Bildungsgerechtigkeit ab.“<br />

Aber Bildungsgerechtigkeit bedeutet nicht nur,<br />

dass alle Schüler die Chance bekommen, dasselbe<br />

Lernpensum zu bewältigen. Der Humanist und Arzt<br />

François Rabelais erkannte schon vor 500 Jahren,<br />

dass „Kinder nicht wie Fässer gefüllt werden sollen,<br />

sondern wie Leuchten entzündet werden“. Deshalb<br />

bedeutet Bildungsgerechtigkeit vor allem, jedem<br />

einzelnen Kind gerecht zu werden, seine ureigenen<br />

Talente zu entdecken und zu fördern.<br />

Ranga Yogeshwar, Physiker und TV-Moderator,<br />

beschäftigt sich seit Jahren mit neuen Wegen der<br />

Wissensvermittlung. Er kritisiert, dass an unseren<br />

Schulen immer noch „ein Stück preußischer<br />

Beamtendisziplin“ mitschwinge und es nicht darum<br />

gehe, die „Kreativität des Einzelnen zu beflügeln und<br />

ihn auf seinen ganz eigenen Weg zu befördern“,<br />

sondern Schule eher eine Institution sei, die alle in<br />

ein Raster presse.<br />

Genau das ist der Punkt: Wenn Kinder und<br />

Jugendliche ihren Wert nicht mehr darüber definieren<br />

müssen, ob sie nun in Mathe oder Deutsch<br />

besser oder schlechter sind als ihre Klassenkameraden,<br />

sondern wenn sie wahrgenommen und vor<br />

allem wertgeschätzt werden mit ihren ureigenen<br />

Talenten, die möglicherweise im Stundenplan gar<br />

nicht vorkommen, dann stellt sich die Frage von<br />

Teilhabe und Perspektive ganz anders. Dann ist<br />

Teilhabe nicht mehr eine Frage des Wettbewerbs;<br />

vielmehr: Wie kann ich meine ganz individuellen<br />

Fähigkeiten einbringen?<br />

Denn in jedem Kind steckt etwas, das die<br />

Schule wecken kann – wozu sie heute nur<br />

bedingt in der Lage ist. Auf solche Talente<br />

setzt auch die Wirtschaft.<br />

Der VW-Konzernbetriebsratsvorsitzende Bernd<br />

Osterloh zum Beispiel glaubt, dass es heute<br />

nicht mehr reiche, bei Mitarbeitern bloß auf die<br />

schulische Qualifikation zu schauen. Dann könne<br />

es passieren, dass jemand in der Montagehalle<br />

arbeite, daheim aber geniale Apps fürs Handy<br />

entwickle – eine Fähigkeit, die für seinen Arbeitgeber<br />

sehr nützlich sein könnte.<br />

Ein so reiches Land wie Deutschland kann es sich<br />

nicht leisten, Talente einfach untergehen zu lassen,<br />

Perspektiven zu verrammeln und die an den Rand<br />

der Gesellschaft zu schieben, die durchs Raster<br />

unseres Schulsystems fallen.<br />

Albert Herchenbach,<br />

Freier Journalist<br />

32 DEIN MÜNCHEN<br />

<strong>NO</strong> <strong>LIMITS</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>02</strong><br />

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