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Berliner Zeitung 07.03.2019

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24 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 56 · 7 ./8. März 2019<br />

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Feuilleton<br />

Mit den Komponisten<br />

des 19. Jahrhunderts<br />

sind wir fertig –mit einer<br />

Ausnahme: Hector<br />

Berlioz. Noch immer geht von der<br />

Ankündigung seiner Großwerke<br />

„Roméo et Juliette“, „Grande Messe<br />

des Morts“, „La Damnation de<br />

Faust“ oder „L’Enfance du Christ“<br />

auf Konzertprogrammen, von seinen<br />

Opern„Benvenuto Cellini“, „Les<br />

Troyens“ oder „Béatrice et Bénedict“<br />

auf den Spielplänen der Ruch des<br />

Sensationellen aus.Von einem Komponisten,<br />

dem eine„Symphonie fantastique“<br />

gelungen ist, erwartet man<br />

viel –aber fast immer verlässt man<br />

eine solche Aufführung leicht enttäuscht.<br />

Berlioz, der am 8. März vor<br />

150 Jahren starb, war ein Visionär;<br />

auch wenn dieser Titel inflationär<br />

vergeben wird: Er war wirklich einer.<br />

Allerdings auch im problematischen<br />

Sinn. Seine Vision war zu groß, zu<br />

neu, als dass die technische Lösung<br />

mit den Mitteln der Zeit wirklich<br />

hätte gelingen können.<br />

Berlioz, 1803 in der französischen<br />

Provinz zwischen Lyon und Grenoble<br />

geboren, kam als Sohn eines<br />

Arztes erst spät mit Musik in Berührung:<br />

Als er das erste Mal ein Flötchen<br />

in die Hand bekam, war er bereits<br />

elf Jahre alt –die etwas jüngere<br />

Generation von Mendelssohn,<br />

Schumann, Chopin und Liszt, geborenzwischen<br />

1809 und 1811, wirdin<br />

diesem Alter längst ihre exorbitante<br />

Begabung unter Beweis gestellt haben.<br />

Vielleicht aber begünstigte der<br />

Umstand, dass er nie über nennenswerte<br />

instrumentale Fähigkeiten<br />

verfügte, den Flug seiner Fantasie<br />

über das Zuhandene hinaus.<br />

DerVater schickte ihn zum Medizinstudium<br />

nach Paris, dort jedoch<br />

geriet Berlioz inden Bann der Oper,<br />

in den Bann Glucks,Webers,auch in<br />

den Beethovens; daneben begeisterte<br />

er sich für die „Faust“-Übersetzung<br />

des jungen Gérard deNerval,<br />

für Shakespeares Dramen und nicht<br />

zuletzt die Shakespeare-Darstellerin<br />

Harriet Smith, die die „Symphonie<br />

fantastique“ inspirierte und später<br />

seine erste,bald dem Alkohol verfallende<br />

Frau wurde.AmConservatoire<br />

jedoch versuchte man Berlioz die<br />

Flügel zu stutzen. Mit der Kantate<br />

„La Mort de Cléopatre“, die eines seiner<br />

besten Werke bleiben sollte, bewarb<br />

er sich vergeblich um den<br />

Rompreis. Zwei Jahre später, 1830,<br />

erhielt er ihn für ein, wie er selbst<br />

wusste, belangloses Stück –aber da<br />

hatte er sein Meisterwerk längst vollendet:<br />

die „Symphonie fantastique“,<br />

ein hemmungsloses, wildes Experiment<br />

schwarzromantischer Exaltation,<br />

dessen Modernität vom Publikum<br />

spontan angenommen wurde.<br />

Bestürzend bereits die programmatische<br />

Ausgangslage der Drogenphantasmagorie<br />

eines Künstlers,die<br />

auch vom Besuch auf dem Land<br />

nicht gelindert wird, sondern im<br />

Traum von der eigenen Hinrichtung<br />

mit anschließendem Besuch eines<br />

Hexensabbats mündet, samt Dies<br />

Irae und einem Höllenlärm, den<br />

Die Möglichkeit des Höllenlärms<br />

Zum 150. Todestag von Hector Berlioz, dessen visionäre Modernität folgenlos blieb<br />

und gerade deswegen heute noch so einzigartig frisch ist<br />

VonPeter Uehling<br />

Als musikalisches Genie ein Spätentwickler:Hector Berlioz<br />

DDP IMAGES/UNITED ARCHIVES<br />

man als orchestrale Möglichkeit bis<br />

dahin kaum geahnt hätte –wie gepflegt<br />

tönt dagegen die Unterwelt-<br />

Musik in Glucks „Orphée“! Und wer<br />

beschreibt die bedrohliche Stimmung,<br />

mit der die langsame „Scène<br />

aux champs“ ausklingt, das einsame<br />

Rufen des Englischhorns, nachdem<br />

der Satz friedlich zu Ende gegangen<br />

ist, dem nur der ferne Donner mehrerer<br />

Pauken antwortet: eine Katastrophe<br />

am Rand der Hörbarkeit.<br />

Berliozkonnte diesen Erfolg nicht<br />

wiederholen. Er blieb ein Komponist<br />

des hochinteressanten Konzepts:<br />

Der„Symphonie fantastique“ ließ er<br />

das Multimedia-Werk„Lélio“ folgen,<br />

der die Rückkehr des Künstlers in die<br />

Welt beschreibt: Sprecher, verschiedene<br />

Besetzungen bis zu oratorischer<br />

Größe werden aufgeboten.<br />

Shakespeares „Romeo und Julia“ gestaltete<br />

er zu einer „Symphonie dramatique“,<br />

in der nur so viel Text vorkommt<br />

wie nötig –die Liebesszene<br />

ist ein Orchesterstück. Er schuf eine<br />

eigene „Faust“-Version, die oratorisch<br />

gedacht war und oft als Oper<br />

gespielt wird. All diese Werkeenthalten<br />

großartige, berührende Musik –<br />

aber meist doch in einer konventionellen<br />

Weise großartig und berührend,<br />

die man durch Berlioz überwunden<br />

glaubte.Kaum mehr gelingt<br />

ihm die Integration von Klang und<br />

Komposition, die die „Symphonie<br />

fantastique“ auszeichnete. Berlioz<br />

instrumentierte einen vergleichsweise<br />

akademischen Conservatoire-<br />

Tonsatz –und Richard Wagner zog<br />

rechts an ihm vorbei.<br />

Oder hören wir das heute falsch?<br />

Der Wagner’sche Begriff des Klangs,<br />

aus mehreren Instrumenten gemischt,<br />

in der Mischung sein Gemacht-Sein<br />

verbergend, die Harmonik<br />

mehr und mehr zu einer Funktion<br />

des Klangs einschmelzend,<br />

wurde auch in Frankreich kompositionsgeschichtlich<br />

prägend bis zu<br />

seiner Vollendung bei Richard<br />

Strauss. Berlioz liebte direktere, körperliche<br />

bis materielle Klänge, es<br />

ging ihm um die klare, charakteristische<br />

Präsentation der instrumentalen<br />

Stimme, nicht um ihre Aufhebung<br />

und Brechung im Mischklang.<br />

Obwohl Berlioz als erster überhaupt<br />

eine Instrumentationslehre<br />

verfasste, blieb seine Idee von Klang<br />

folgenlos. Aber gerade das hat der<br />

Musik Berlioz’ ihre Frische bewahrt,<br />

wir begegnen seinen Funden nicht<br />

wie denen Mendelssohns oder Wagners<br />

in der Musik späterer Komponisten<br />

wieder, essind ganz die seinen.<br />

Haben Mendelssohn und<br />

Schumann die Tradition immer mitgedacht,<br />

hat sich Wagner organisch<br />

von der romantischen Oper zum<br />

Musikdrama entwickelt, so bedeutet<br />

Berliozeine Artmusikgeschichtliche<br />

Disruption, eine irritierend unabgenutzte<br />

Modernität, die nie in den Hafen<br />

des„Klassischen“ einlaufen wird.<br />

Sie bleibt auch, wenn sie nicht den<br />

gleichen Grad an Vollendung aufweist<br />

wie die Musik seiner Zeitgenossen,<br />

erstaunlich und immer wieder<br />

zu entdecken.<br />

Diesmal extrem viel zu fühlen<br />

Auf ihrem neuen Album „When IGet Home“ entdeckt und erobert Solange Knowles nicht weniger als ihre künstlerische Heimat<br />

VonMarkus Schneider<br />

Alben über Nacht fallen zu lassen,<br />

gehört mittlerweile zum guten<br />

Ton. Wer etwas auf sich hält, spart<br />

sich Werbekampagnen und überrumpelt<br />

die Öffentlichkeit einfach<br />

mit dem Produkt. Beiläufigkeit ist<br />

der neue Hype.<br />

Der Termin für Solanges Album<br />

„When Iget Home“ war jedoch nicht<br />

zufällig gewählt. In den USA ging<br />

nämlich zum 1. März der Black<br />

HistoryMonth zu Ende,während der<br />

National Women’s History Month<br />

begann. Genauer betrachtet erinnert<br />

„When IGet Home“ an Frank Oceans<br />

Nachfolger zum Durchbruchshit<br />

„Channel Orange“ von2012. Aufdiesen<br />

reagierte er vier Jahre später mit<br />

„Blonde“ und „Endless“, zwei Alben<br />

voll oft nicht ganz ausgeführtem<br />

Soul und Ideen im Sprung. „When I<br />

Get Home“, das vierte Album von<br />

Solange Knowles, gehörte zu den<br />

heiß erwarteten Veröffentlichungen<br />

in diesem Jahr. Mit dem wunderbaren„ASeat<br />

at the Table“ war sie 2016<br />

so überzeugend wie entschlossen<br />

aus dem Schatten ihrer älteren<br />

Schwester Beyoncé getreten.<br />

Als hätte sie mit den beiden Alben<br />

zuvor Anlauf genommen, verlieh sie<br />

ihrem modernen Urban Sound die<br />

Aura eines runderneuerten Autoren-<br />

Soul, der zwischen Funk-Psychedelik<br />

und Future-R&B mit Gästen wie<br />

Kelela ebenso stark daherkam wie<br />

der Gesamtentwurf, in dem sie<br />

Frauen und insbesondere deren<br />

Blackness feierte. Exemplarisch die<br />

Wehrhaftigkeit des Hits„Don’t Touch<br />

My Hair“, worin sie Bewusstsein und<br />

Körper in zärtlichem Soul zusammenführt.<br />

Der Eindruck einer gewissen<br />

Flüchtigkeit bleibt auch, nachdem<br />

man sich länger auf „When I Get<br />

Home“ eingelassen hat. Nurerkennt<br />

man sie nun deutlich als künstlerische<br />

Entscheidung. Auch wenn Solange<br />

stets unangestrengter und weniger<br />

diszipliniert unterwegs war als<br />

ihre fünf Jahre ältere<br />

Schwester. durchlief sie<br />

die gleiche väterliche<br />

Entertainment-Schulung<br />

wie Beyoncé, deren<br />

Band Destiny’s Child sie<br />

schon mit 15 im Hintergrund<br />

begleitete. Sie<br />

verfolgte jedoch andere<br />

Ziele als Beyoncé. Statt<br />

sich im Hochleistungspop<br />

zu verausgaben<br />

modelte sie, ließ sie den<br />

Afro wuchern, und trat<br />

zuletzt in Großgalerien wie der Londoner<br />

Tate, dem New Yorker Metropolitan<br />

Museum und der Hammer<br />

GalleryinL.A. auf. Doch bei aller bohemienhaften<br />

Anmutung ist der<br />

Nicht nur die Schwester:Solange<br />

Knowles<br />

Produktionsehrgeiz dieses Albums<br />

enorm. Thematisch bewegt sich die<br />

32-Jährige durch ihre Südstaatenheimstadt<br />

Houston, Texas, lässt die<br />

Gedanken in Sonne oder Nachtlicht<br />

in einem der schillernden<br />

Autos streunen, derenBonbonfarbe<br />

sie besingt.<br />

Zwischen den<br />

Tracks erzählen verschiedene<br />

Frauen vom<br />

Leben, einige Titel heißen<br />

nach Straßen und<br />

Vierteln, sie beschwört<br />

den lokalen HipHop-<br />

GETTY IMAGES<br />

Sound und zeigt im begleitenden<br />

Video<br />

schwarze Cowboys und<br />

Rodeoszenen. Die Texte<br />

beschränken sich derweil auf wenige<br />

Worte. Kreiselnd, assoziativ, aber<br />

nicht kryptisch: „Black skin, black<br />

braids/ black waves, black days/<br />

black baes/ these are black owned<br />

things“ listet sie in „Almeda“. Auch<br />

musikalisch, sagt sie, habe sie sich<br />

von Repetition leiten lassen, inspiriertvom<br />

ambient-nahen Endsiebziger<br />

Stevie Wonder und dem Jazz von<br />

SunRaund Alice Coltrane.<br />

Aber man höre nur, wie sie von<br />

den winzigen digitalen Blubber-und<br />

Blibbersounds des Openers bis zum<br />

somnambulen Ende diese nicht-linearen<br />

Lieder ausschmückt! Wie sie<br />

die Stimme wandeln lässt, sich mit<br />

Gaststimmen verschlingt oder körperlos<br />

verträumte Strecken inszeniert,<br />

mit zischenden Becken und<br />

jazzig verschwimmenden Keyboards.<br />

Oder auch wie sie raffinierte<br />

Bassmotive einbaut oder den Neo-<br />

Soul der Neunziger atmosphärisch<br />

noch mehr zerfließen lässt als die<br />

frühe Erykah Badu. „Ich hatte auf<br />

‚Seat at the Table‘ ja ganz offenbar<br />

irre viel zu sagen“, wird sie von der<br />

Seite pitchfork.com zitiert. „Diesmal<br />

hatte ich dagegen extrem viel zu fühlen.<br />

Worte hätten meine Ausdrucksmöglichkeit<br />

reduziert: Mir ging es<br />

um die klangliche Form.“<br />

Natürlich tummeln sich auf diesem<br />

Album Gaststars wie Rapper<br />

und Produzent Earl Sweatshirt oder<br />

die Sänger Blood Orange und Sampha,<br />

gestandene Größen wie Animal<br />

Collectives Panda Bear und Pharrell,<br />

dazu Houstoner Urgestein wie Scarface.<br />

Aber: Es gibt kein einziges<br />

Stück, das sie nicht mindestens mitproduziert<br />

hat –ihre öfter gestellte<br />

Forderung nach Präsenz und Jobs<br />

für Produzentinnen hat nichts mit<br />

Eitelkeit zu tun. Solange Knowles inszeniert<br />

ihre Erfahrung und Welt bis<br />

in die schimmernsten Tiefen selbst.<br />

Aber das schöne Terrain, das sie dabei<br />

entdeckt und erobert, ist auch<br />

ihrekünstlerische Heimat.<br />

Solange:When IGet Home (Sony)

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