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Berliner Zeitung 07.05.2019

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16 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 104 · D ienstag, 7. Mai 2019<br />

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Das Jahr 1989<br />

Die<br />

bohrenden<br />

Fragen des<br />

Volkes<br />

WieStasi und BND<br />

im Revolutionsjahr 1989<br />

auf die DDR schauen und<br />

bemerken, dass sich eine Art<br />

Endzeitstimmung ausbreitet<br />

VonAndreas Förster<br />

GETTY IMAGES/THOMAS COLLINS<br />

Das letzte Jahr des SED-<br />

Staates beginnt unspektakulär.<br />

Trotz der Unruhe,<br />

die die sowjetische<br />

Perestroika auch in die Bevölkerung<br />

hinein ausstrahlt, scheint 1989 kaum<br />

weniger ereignislos zu werden alsdie<br />

Jahre zuvor. Sosieht man es auch in<br />

der Pullacher Zentrale des Bundesnachrichtendienstes,<br />

der in seinen<br />

Einschätzungen noch zur Jahreswende<br />

1988/89 von einem zumindest<br />

relativ stabilen SED-Regime<br />

spricht, dessen Fortbestehen trotz<br />

der Wirrnisse auf unabsehbare Zeit<br />

nicht zur Disposition stehe.<br />

Auch der DDR-Staatssicherheitsdienst<br />

wiegt sich im Januar 1989<br />

noch in Sicherheit. EinJahrnachder<br />

Aktion einiger Oppositioneller, die<br />

am Rande der jährlichen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration<br />

in Ost-Berlin Protestplakate entrollt<br />

haben, fürchtet man zwar neue Zwischenfälle.<br />

Aber bis auf einen<br />

Schweigemarsch mit 200 Teilnehmern<br />

inLeipzig, der am 15. Januar<br />

von den Sicherheitskräften schnell<br />

aufgelöst wird, passiert nichts im<br />

Land. Auch das „Friedensseminar“,<br />

das unter dem Dach der evangelischen<br />

Kirche agierende oppositionelle<br />

Basisgruppen Ende Februar in<br />

Greifswald veranstalten, scheint aus<br />

Sicht des MfS die politische Stabilität<br />

im Land nicht zu gefährden.<br />

„Fortsetzung bewährter Praxis“<br />

chivs und vieler (wenngleich längst<br />

nicht aller) Berichte des BND, die in<br />

den zurückliegenden Jahren freigegeben<br />

worden sind, lässt sich der<br />

Blick beider deutscher Geheimdienste<br />

auf die DDR im Revolutionsjahr<br />

1989 verfolgen. Undeslässt<br />

sich nachvollziehen, welche Entwicklungen<br />

dabei erkannt und welche<br />

übersehen wurden.<br />

Erst im Frühjahr 1989 beginnen<br />

Stasi und BND einen spürbaren<br />

Stimmungsumschwung in der bis<br />

dahin eher lethargisch wirkenden<br />

Bevölkerung zu registrieren. Anlass<br />

sind die für den 7. Mai angesetzten<br />

Kommunalwahlen in der DDR, in<br />

deren Vorfeld es in den Betrieben<br />

und Institutionen zu ungewöhnlich<br />

offen geführten Diskussionen<br />

kommt. Auch die Zahl der kritischen<br />

Eingaben an die Staats- und<br />

Parteiführung, in der die Verfasser<br />

eine Verweigerung der Wahlteilnahme<br />

androhen für den Fall, dass<br />

Probleme im Wohn- und Arbeitsumfeld<br />

nicht gelöst werden, steigt<br />

rapide an.<br />

Ein Analysebericht des MfS vom<br />

26. April 1989 nennt die Protestwelle<br />

euphemistisch „ein gewachsenes<br />

Interesse und eine zunehmend<br />

kritische Aufmerksamkeit an<br />

einer bürgernahen Um-und Durchsetzung<br />

zentraler Orientierungen“.<br />

In dem mehrseitigen Dokument<br />

werden die von der Bevölkerung als<br />

besonders drängend empfundenen<br />

Probleme zusammengefasst: fehlende<br />

Wohnungen, der Verfall der<br />

Innenstädte, die mangelhafte Versorgung<br />

mit Lebensmitteln und<br />

Dienstleistungen, Probleme bei der<br />

Trinkwasserversorgung, die zum<br />

Teil katastrophalen Zustände in den<br />

Krankenhäusern sowie Umweltbelastungen<br />

und Reisebeschränkungen.<br />

Vielfach würden dabei von den<br />

Bürgern „auch direkte Bezüge hergestellt<br />

zu den Fragen der Wirtschaftspolitik<br />

insgesamt“ und die<br />

„Unzulänglichkeiten im Territorium<br />

der Arbeitsweise von…Staatsorganen<br />

angelastet“, heißt es in<br />

dem Stasi-Papier weiter. Zudem<br />

werden insbesondere durch „Angehörige<br />

der Intelligenz sowie studentische<br />

Personenkreise“ häufig<br />

„grundsätzliche Fragen der Entwicklung<br />

dersozialistischen Demokratie“<br />

diskutiert. Schließlich hätten<br />

„Bürger aus den verschiedens-<br />

Zwar registriert die Stasi-Zentrale in<br />

der Lichtenberger Normannenstraße<br />

aufmerksam die zunehmende<br />

Vernetzung der Gruppen und ihre<br />

Bestrebungen, „Basisbewegungen“<br />

in den sozialistischen Staaten zu einer<br />

„Ständigen Europäischen Versammlung“<br />

zu vereinen. Aber das<br />

MfS ist sich zu diesem Zeitpunkt<br />

noch sicher, dank seiner seit Jahren<br />

in der Szene und der Kirche agierenden<br />

Spitzel die Aktivitäten steuern<br />

und beeinflussen zu können.<br />

„InFortsetzung bewährter Praxis“<br />

werdeman weiter auf die Kirche„zur<br />

Verhinderung des politischen Missbrauchs“<br />

einwirken und zur Zurückdrängung<br />

der Opposition „alle Möglichkeiten<br />

der gesamtgesellschaftlichen<br />

Einflussnahme“ –was auch Repressionsmaßnahmen<br />

einschloss –<br />

nutzen, heißt es in einem MfS-Bericht<br />

vom10. März1989.<br />

Dank des von der Stasi-Unterlagenbehörde<br />

verwalteten MfS-Arten<br />

Bevölkerungskreisen in beachtlichem<br />

Umfang auch kritisch bis<br />

ablehnend“ auf den Volkskammerbeschluss<br />

reagiert, in der DDR lebenden<br />

ausländischen Arbeitskräften<br />

–die häufig aus Vietnam, Kuba<br />

und afrikanischen Staaten stammen<br />

–das aktive und passiveWahlrecht<br />

für die Kommunalwahlen einzuräumen.<br />

Auch der BND registriertdie Diskussionen<br />

und spricht in diesem<br />

Zusammenhang von „besorgniserregende(n)<br />

Erscheinungen vonAusländerfeindlichkeit“<br />

in der DDR.<br />

„Die Einführung des Ausländerwahlrechts<br />

zu den Kommunalwahlen<br />

hat diese Abneigung noch gefördert.<br />

Besonders unbeliebt sind: Polen,<br />

Schwarzafrikaner und Kubaner“,<br />

heißt es in einer am 22. Mai<br />

1989 verfassten Analyse zur „psychopolitischen<br />

Lage“ in der DDR.<br />

Zutreffend und bemerkenswert deckungsgleich<br />

zur Stasi-Einschätzung<br />

wirddarin die damalige<br />

Stimmungslage<br />

der Bevölkerung<br />

beschrieben. In<br />

einer weiteren<br />

Analyse der<br />

Stimmungslage<br />

vom<br />

August 1989<br />

konstatierte<br />

der Dienst<br />

sogar die<br />

„Ausbreitung<br />

einer Art ‚Endzeitstimmung‘<br />

in<br />

weiten Bevölkerungsteilen“.<br />

Tatsächlich hat die<br />

massive Fälschung der Kommunalwahlergebnisse,<br />

die durch den engagierten<br />

Einsatz kritischer Bürger<br />

erstmals nachgewiesen werden<br />

kann, zu einerspürbaren Unruhe in<br />

der DDR geführt. In der Bevölkerung<br />

verstärkte der Wahlbetrug die<br />

vorherrschende Unzufriedenheit<br />

mit der SED-Führung. „Demonstration<br />

und Reaktion belegen zum einen<br />

die anhaltende Verärgerung in<br />

der Bevölkerung indieser Frage; sie<br />

zeigen aber auch die Dünnhäutigkeit<br />

des Regimes, das jeglichen Verdacht<br />

eines Wahlbetrugs von sich<br />

weist und nicht gewillt ist, den bohrenden<br />

Fragen nachzugehen“, meldet<br />

der BND am 13. Juni.<br />

Die Stasi schiebt die Verantwortung<br />

für die schwieriger werdende<br />

„Es zeichnet<br />

sich ein wachsender<br />

Vertrauensschwund<br />

zwischen Volk und<br />

Partei ab.“<br />

Aus einem Stasi-Papier<br />

vom 11. September 1989<br />

innenpolitische Situation vorrangig<br />

dem Westen zu, aber auch indirekt<br />

der Moskauer Perestroika-Politik des<br />

KPdSU-Chefs Michail Gorbatschow.<br />

„Es ist einzuschätzen, dass die politischen,<br />

ideologischen und subversiven<br />

gegnerischen Einwirkungen sowie<br />

die von der aktuellen Lageentwicklung<br />

in einigen sozialistischen<br />

Ländern ausgehenden Einflüsse unter<br />

Teilen der Bevölkerung der DDR<br />

gewisse Wirkung erzielen“, heißt es<br />

in einer Analyse vom1.Juni 1989.<br />

Gegenwärtig würden rund 160<br />

oppositionelle Gruppen im Land bestehen,<br />

vorrangig in Berlin sowie in<br />

den südlichen Landesteilen. Ihnen<br />

gehörten etwa 2500 Personen an.<br />

Sympathisanten und „politisch Irregeleitete“<br />

seien dabei nicht eingerechnet,<br />

obgleich sie „das Potential<br />

und die Wirksamkeit solcher Zusammenschlüsse<br />

beträchtlich vergrößern“,<br />

heißt es in dem Stasi-Bericht<br />

weiter.<br />

Auch dem BND bleibt<br />

das hohe Ansehen<br />

Gorbatschows in<br />

der DDR nicht<br />

verborgen. „Im<br />

Vergleich mit<br />

dem dynamisch<br />

wirkenden<br />

,Hoffnungsträger<br />

Gorbi‘<br />

dürfte das<br />

Ansehen der<br />

eigenen überalterten<br />

Führung<br />

noch deutlicher auf<br />

einem Tiefpunkt angelangt<br />

sein“, berichtet der<br />

BND Mitte Juli über die Reaktionen<br />

in der DDR-Bevölkerung auf Gorbatschows<br />

Besuch in Bonn im Juni.<br />

„Andererseits werden mitder positiven<br />

Wertung des Besuchs oft auch<br />

Hoffnungen auf ein Gelingen der Reformen<br />

in der Sowjetunion verbunden<br />

(Da sieht man, „wie bitter notwendig<br />

Perestroika ist“).“<br />

Noch vorder MitteAugust einsetzenden<br />

Massenflucht über die offene<br />

ungarische Grenze in denWesten<br />

hat die Stasi imJuli 1989 eine als<br />

„streng geheim“ eingestufte Bilanz<br />

der im erstenHalbjahr übersiedelten<br />

und geflüchteten DDR-Bürger erarbeitet.<br />

So haben zwischen dem 1. Januar<br />

und dem 30. Juni insgesamt<br />

knapp 39 000 Menschen mit einem<br />

Ausreiseantrag das Land verlassen<br />

dürfen, das sind fast viermal so viel<br />

wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.<br />

Meist sind es Facharbeiter<br />

und Hochschulabsolventen im Alter<br />

zwischen 18 und 40 Jahren. Weitere<br />

5200 Ostdeutsche verlassen illegal<br />

die DDR, das sind fast zwei Drittel<br />

mehr als im Vergleichszeitraum.<br />

Im BND wundert man sich, dass<br />

die DDR im ersten Halbjahr eine<br />

solch große Zahl vonAusreiseanträgen<br />

genehmigt hat. „Die DDR nahm<br />

und nimmt im Zuge dieser Entwicklung<br />

(‚Übersiedlungswelle‘) in Kauf,<br />

dass sich die ohnehin angespannte<br />

Wirtschaftssituation durch den Abfluss<br />

oft qualifizierter Arbeitskräfte<br />

weiter verschärft …Eswird deutlich,<br />

dass die SED ökonomische Interessen<br />

(gesellschafts)politischen<br />

und ideologischen unterordnet“,<br />

schätzte der Dienst im August ein.<br />

Einen Monat später,Anfang September,<br />

spricht der BND davon,<br />

dass die Flüchtlingswelle über die<br />

ungarisch-österreichische Grenze<br />

die DDR-Führung in ein Dilemma<br />

gestürzt habe. „Der Gesichtsverlust<br />

durch die Geschehnisse (ist) groß,<br />

ohne dass reale Möglichkeiten bestehen,<br />

die Entwicklung zu steuern.“<br />

Die Entwicklung lasse augenfällig<br />

werden, wie wenig realistisch<br />

eine DDR-Politik sei, die darauf<br />

setze, die eigene Entwicklung von<br />

der in anderen sozialistischen Staaten<br />

abkoppeln zu wollen. Dies sei<br />

gerade vor dem 40. Jahrestag der<br />

DDR, „der zu einem glanzvollen<br />

Höhepunkt ihrer Geschichte werden<br />

soll, besonders peinlich. …So<br />

verwundertesnicht, dass Sprachlosigkeit<br />

das Erscheinungsbild der<br />

Führung kennzeichnet. Diese<br />

Sprachlosigkeit ist Ausdruck von<br />

Hilflosigkeit, fieberhafter Suche<br />

nach Lösungen und anhaltender gesundheitlicher<br />

Beeinträchtigung<br />

Honeckers“, schätzt der BND unter<br />

Verweisauf die im August 89 akut gewordene<br />

Krebserkrankung des SED-<br />

Chefs ein.<br />

Auch aus den Stasi-Berichten<br />

des Spätsommers lässt sich nun<br />

eine zunehmende Ernüchterung<br />

und Ratlosigkeit herauslesen. Am<br />

11. September wird Stasi-Chef<br />

Mielke ein Papier über „beachtenswerte<br />

Reaktionen“ von SED-<br />

Funktionären und -Mitgliedern<br />

auf „einige aktuelle Aspekte der<br />

Lage in der DDR“ vorgelegt.<br />

Darin heißt es, zahlreiche, vor allem<br />

langjährige Parteimitglieder<br />

seien „von tiefer Sorge erfüllt über<br />

die gegenwärtige allgemeine Stimmungslage,<br />

…teilweise verbunden<br />

mit ernsten Befürchtungen hinsichtlich<br />

der weiteren Erhaltung der Stabilität<br />

der DDR“. So würden Diskussionen<br />

in immer aggressiverem Ton<br />

geführt, gleichzeitig nähmen Passivität<br />

und Gleichgültigkeit gegenüber<br />

dem politischen Leben zu. Auch sänken<br />

Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft,<br />

während Spekulantentum<br />

und Korruption zunähmen.<br />

Den DDR-Medien werde von den<br />

Bürgern vorgeworfen, eine „heile<br />

Welt“ des Sozialismus zu vermitteln,<br />

was „teilweise in krassem Widerspruch<br />

zur Wirklichkeit stehe“. Auch<br />

werde die SED-Führung in Diskussionen<br />

„in wachsendem Maße für<br />

die entstandene Lage verantwortlich“<br />

gemacht und ihr die Fähigkeit<br />

abgesprochen, die Probleme des<br />

Landes zu lösen.<br />

Die Ironie der Geschichte<br />

„Die Praxis zeigt, dass auch zahlreiche<br />

Parteimitglieder mit derartigen<br />

Auffassungen und Verhaltensweisen<br />

in Erscheinung treten und sich damit<br />

kaum noch von Parteilosen unterscheiden“,<br />

heißt es. „Es zeichnet<br />

sich ein wachsender Vertrauensschwund<br />

zwischen Volk und Partei<br />

ab.“<br />

Es gehört zur Ironie der Geschichte,dass<br />

der BND in seiner Einschätzung<br />

der Überlebensfähigkeit<br />

des SED-Systems wenige Wochen<br />

vordem Mauerfall deutlich optimistischer<br />

ist als sein Pendant in der<br />

Normannenstraße. Soheißt es in einem<br />

für das Kanzleramt verfassten<br />

Analysebericht vonEnde September<br />

1989, dass dem „vorliegenden Meinungsbild“<br />

zufolge ein „breite(r)<br />

Konsens der Masse der Bevölkerung<br />

zu Protestveranstaltungen“ fehle.<br />

„Viele der hier vorliegenden Hinweise<br />

enthalten im Gegenteil Äußerungen,<br />

wonach man weder den<br />

Staat noch die Gesellschaftsformder<br />

DDR im Augenblick für generell liquidierbar<br />

hält.“<br />

Anderthalb Monate später fällt<br />

die Mauer.<br />

Andreas Förster findet, der<br />

BND sollte dieAkten über die<br />

DDR-Aufklärung freigeben.

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