16 JOURNAL BERLINER KURIER, Sonntag, 27.Oktober 2019 Liebe Grüße aus einem Land, das sich auflöst Während der friedlichen Revolution in der DDR hielt sich die Studentin Cornelia Geißler in der Sowjetunionauf. Wasinihrer Heimat geschah, erfuhr die heutige Journalistin aus Briefen ihrer Eltern
17 Cornelia Geißler als Journalistik- Studentin in Moskau Als ich im Juli 1989 mit einigen Kommilitonen nach Moskau reiste, schien dies eine Fahrt ins Glück zu sein. Wir studierten Journalistik in Leipzig und fürchteten uns vor der Praxis. Zeitungen und Rundfunk in der DDRwurden von der Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED angeleitet und gegängelt. Die Dozenten lehrten zwar manches nützliche Handwerkszeug, sie waren aber vor allem angehalten, uns Parteilichkeit mit der Sache des Sozialismus zu vermitteln. In der Sowjetunion hatte Michail Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika eine Demokratisierung der Gesellschaft beschlossen, was die DDR-Führung zu ignorieren versuchte. Ich hatte mir ein Diplomarbeitsthema in diesem Sinne gesucht: „Die Rolle von Schriftstellern bei der Diskussion gesellschaftlicher Fragen.“ In der Fakultät für Journalistik war ich dann kaum, dafür oft in der Redaktion der Literaturnaja Gaseta und viel in der Stadt und im Land unterwegs. Nachts schrieb ich Briefe nach Hause. Meine Eltern, mein Bruder und viele Freunde antworteten rege. Noch heute bin ich dankbar, wie viel Zeit sie sich alle zum Schreiben nahmen. Ihre Briefe sind wie ein Tagebuch der Wende. Hier dokumentiere ich – mit ihrem Einverständnis – Auszüge aus Briefen meiner Eltern. Sie waren damals schon getrennt und lebten mit neuen Partnern zusammen. Meine Mutter Ingrid Becker war Redakteurin bei Radio DDR und musste bei Live-Sendungen drauf achten, in Ungnade gefallene Personen oder Tabu-Themen nicht zu erwähnen. Mein Vater Erhard Geißler arbeitete als Genetikprofessor am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften. Als ich die DDR verließ, standen vor der Nikolaikirche in Leipzig schon Mannschaftswagen der Polizei. Im Sommer verließen Tausende Menschen über Ungarn und die Botschaften Prags und Warschaus die DDR. Cornelia Geißler 28. 9. 1989, Ingrid Becker Die wirklich vielen Ungarn- Flüchtlinge treibt es nicht aus einem großen „Deutschgefühl“ in die BRD, sondern weil sie dort gleich mit Pass als Staatsbürger begrüßt werden und woanders ein langwieriges Einbürgerungsverfahren durchstehen müssen (...) Aber dass in der Charité ganze Stationen geschlossen werden müssen, dass die Situation im Kraftverkehr auf kleinen Dörfern und Orten katastrophal ist, weil Busfahrer fehlen und der Berufsverkehr nicht mehr abgesichert ist, dass in einem Kreiskrankenhaus ein Arzt Mädchen für alles spielt, dass aus einem Ort sämtliche Bäcker weg sind, das alles finde ich schlimm für die Menschen, die hier damit leben müssen. Und Weglaufen war noch nie eine Lösung, das meine ich. Obwohl ich einzelne Fälle bestimmt verstehe, das ist was Anderes. Nur wenn der einzige Tischler der AWG (Arbeiter-Wohnungsbaugenossenschaft, C.G.)auch noch weg ist, dann kotzt mich das an, weil mein Fenster undicht ist. Außerdem freuen sich die BRD- Bürger über die vielen Jungen, die für ihre Rente das Arbeitsvolumen bewältigen, in 20 oder 25 Jahren. Und was wird mit unserer Rente? Wer arbeitet bei uns? 27. 10. 1989, Erhard Geißler Vor drei Wochen habe ich Dich etwas beneidet, dass Du in dieser aufregenden Zeit vor Ort, nämlich in Moskau sein kannst. Jetzt sind wir hier zu beneiden (und zu bedauern, dass man abends nicht mehr zum Arbeiten kommt, weil man fernsehen muss und Zeitung lesen). Vorgestern zum Beispiel strahlte Elf99 (das Jugendprogramm des DDR-Fernsehens –C.G.)einen Ausschnitt aus der Podiumsdiskussion aus, die im Haus der jungen Talente stattfand, und an der Stefan Heym, Christoph Hein, zwei Philosophie-Professoren der Humboldt-Uni, ein Sekretär des FDJ-Zentralrats, stellvertretender Kulturminister Hartmut König, Gisela Steineckert sowie Bärbel Bohley und Prof. Jens Reich vom „Neuen Forum“ 30 JAHRE 1989 MAUERFALL2019 teilnahmen –und gar nicht so kontrovers diskutierten. Ach so: Markus Wolf war auch auf dem Podium und saß, wenn ich’s recht erinnere, direkt neben Bärbel Bohley. Noch vor zwei, drei Wochen in den kühnsten Träumen nicht vorstellbar! Am gleichen Abend gab es in den ARD-Tagesthemen eine Live-Schaltung nach Adlershof, wo Günter Schabowski interviewt wurde (…) Gestern rief Helmut Kohl Egon Krenz an. In der BRD berichtete der Regierungssprecher darüber. Bei uns trat Egon Krenz selbst vor die Fernsehkamera und informierte ausführlich. 31. 10. 1989, Ingrid Becker Am Wochenende ist im Kulturbund der jahrzehntelang verbotene Film „Spur der Steine“ von Frank Beyer aufgeführt worden. Mise (ein Kollege von ihr, C.G.) war dort und schilderte seine große Bewegung, weil der Film so war, als hätte man ihn gestern gedreht. Stefan Heym kam kurz vorbei, weil er einen anderen Termin hatte und sagte, er wolle Frank Beyer nur sagen, wie sehr er sich freue, dass nun endlich mit dem Schweigen um diesen Film Schlusssei. Unser VdJ (Verband der Journalisten, C.G.) hat – vielleicht nicht so extrem deutlich wie der Verband der Film- und Fernsehschaffenden und lange nicht so exponiert wie das Pen-Zentrum –aber immerhin deutlich öffentlich seine Meinung zur Bevormundung und Zensur gesagt und einen demokratischen Medienrat verlangt. Das wirst Du gelesen haben (...) Außerdem gehe ich am Sonntag zu dem zweiten Rathausgespräch, und wenn ich rankomme, werde ich auch etwas sagen. Es soll nicht einfach sein, denn dort stehen 3oder 4Mikros und davor lange Schlangen von Menschen, die sich artikulieren wollen. Natürlich finde ich das bloße Gemecker und Ablassen persönlichen Frustes auch schlimm, die Leute reden auch dauernd im Kreise. Aber es ist wohl so, wenn man jahrzehntelang schweigen musste, dass sich viel angestaut hat. Und wer das Gefühl hat: Jetzt habe ich meine Meinung und meine Erfahrungen an die richtige Adresse gebracht, der fühlt sich erleichtert. 5. 11. 1989, Erhard Geißler Eben kamen wir aus Magdeburg und fanden Deine Post vom 25.10. vor: besten Dank (…) Heute Vormittag waren wir u.a. im Magdeburger Dom. Dort waren mehrere Tafeln mit Aufrufen, Kommentaren etc. aufgestellt, u.a. einem langen Text von der SDP sowie von der Böhlener Gruppe. Viele Autos in M. haben grüne Bänder an den Antennen, oder Leute haben grüne Bänder angesteckt: Wir bleiben hier und sind hoffnungsvoll (...) Aber trotzdem verlassen die Menschen, leider vorwiegend junge, immer noch in Scharen das Land: Offenbar haben sie das Vertrauen ganz verloren. Du fragtest in Deinem vorangegangenen Brief vom 18. „warum gerade jetzt“ die Änderungen im Politbüro? Und warum gerade Krenz? Dass die Änderungen jetzt erfolgten (und hoffentlich nicht zu spät) ist ganz sicher vor allem auf die Ausreisewelle zurückzuführen und auf die vielen Demonstrationen. Und ich habe gute Informationen, dass sich gerade Krenz sowohl dafür eingesetzt haben soll, dass vor drei Wochen in Leipzig etc. nicht sehr viel schärfer gegen die Demonstranten vorgegangen worden ist, und dass er es wohl war, der es schaffte, seinen verkrusteten, psychisch wohl geradezu gelähmten Vorgänger aus dem Amt zu drängen. Dabei war er wohl auf die anderen alten Herren angewiesen (sodass zunächst nur die wichtigsten Korrekturen dadurch eingeleitet werden konnten, dass Hermann und Mittag gehen mussten), aber die sind ja mittlerweile auch weg vom Fenster. Es sind wirklich aufregende Zeiten, und ich teile die Sorge vieler Menschen hier nicht, dass es vielleicht noch einmal eine Rück-Wende geben könnte: Dazu ist viel zu viel in Gang gekommen, und hier in Mitteleuropa, an der Nahtstelle zweier Militärblöcke, kann man die Probleme nicht so lösen wie vor einigen Monaten in Beijing. 7. 11. 1989, Ingrid Becker Eigentlich bin ich doll erkältet und will schnell ins Bett. Nun habe ich mir aber doch die Fernsehdiskussion bei uns im I. angesehen: „Warum wollt Ihr gehen?“. Das hat mich etwas belebt, denn die Vertreter der DBD, der NDPD, der LDPD und der CDU haben sehr konstruktiv und deutlich gesprochen, warum die Leute gehen und Bitte umblättern
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