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Berliner Zeitung 22.11.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 272 · F reitag, 22. November 2019 11 *<br />

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Berlin<br />

Unerkannter Wahnsinn<br />

Der 57-jährige Gregor S. war völlig unauffällig. Bis er am Dienstagabend Fritz von Weizsäcker erstach. Warum Taten wie diese kaum zu verhindern sind<br />

VonAndreas Kopietz<br />

und Philippe Debionne<br />

Die Tatwar lange geplant,<br />

das Motiv nach derzeitigen<br />

Ermittlungsstand<br />

Hass. Der Hass eines<br />

Mannes, der Fritz von Weizsäcker<br />

mit einem Messer erstochen hat,<br />

weil er dessen Familie für schuldig<br />

hielt. Der57-jährigeTäter gilt als psychisch<br />

gestört, was die Diskussion<br />

über die Tat komplex macht. Wie<br />

geht man mit solchen Taten um? Wie<br />

mit den Tätern? Und was muss passieren,<br />

dass Menschen durchdrehen<br />

und anderen das Leben nehmen?<br />

Nachdem der Chefarzt am Dienstagabend<br />

seinen Vortragüber Leberleiden<br />

beendet hat, stürmt Gregor S.<br />

los, zieht ein Messer und sticht Fritz<br />

vonWeizsäcker in den Hals.Ein Polizist,<br />

der privat dem Vortragzugehört<br />

hat, wirft sich dazwischen und wird<br />

schwer verletzt. Für den Mediziner<br />

kommt jede Hilfe zu spät. Diese unvermittelte<br />

Tatschockiert, denn der<br />

57-jährige Gregor S. war der Polizei<br />

bislang unbekannt und wohl psychisch<br />

unauffällig – bis zu diesem<br />

Abend.<br />

Jeder kann eine Straftat begehen<br />

Der Polizeibeamte musste zweimal<br />

operiert werden. Es gehe ihm „den<br />

Umständen entsprechend“, sagte<br />

ein Polizeisprecher am Donnerstag.<br />

Der 57-jährige Gregor S. aus Rheinland-Pfalz<br />

sitzt inzwischen in einer<br />

geschlossenen Psychiatrie.Das Motiv<br />

des Angreifers liegt nach Angaben<br />

der Staatsanwaltschaft in einer<br />

„wohl wahnbedingten allgemeinen<br />

Abneigung des Beschuldigten gegen<br />

die Familie des Getöteten“. Gregor<br />

S. soll in der Vernehmung gesagt<br />

haben, dass er die Familie vonWeizsäcker<br />

hasse.Grund sei die Tätigkeit<br />

des früheren Bundespräsidenten<br />

Richard von Weizsäcker als Geschäftsführer<br />

des Chemieunternehmens<br />

Boehringer Ingelheim. Diese<br />

Firmaarbeitete mit dem den amerikanischen<br />

Konzern Dow Chemical<br />

bei der Herstellung des Entlaubungsmittels<br />

„Agent Orange“ zusammen.<br />

Dasreichte für Gregor S. offenbar<br />

aus, umeinen Mordplan zu entwickeln.<br />

Wie der Spiegel berichtete,<br />

sagte er in der Vernehmung, dass er<br />

eigentlich Richard von Weizsäcker<br />

WasimKopf eines Menschen vorgeht, ist in den seltensten Fällen zu erkennen. Und manchmal ist es dann zu spät.<br />

habe treffen wollen. Dieser ist aber<br />

seit fast fünf Jahren tot. Also habe er<br />

den Sohn ausgewählt. Um seinen<br />

Plan zu verwirklichen, fuhr er nach<br />

Berlin, wo Fritz von Weizsäcker einen<br />

Vortrag inder Schlosspark-Klinik<br />

hielt. Dort liegt inzwischen ein<br />

Kondolenzbuch bereit – ein einer<br />

Klinik, die ihre Sicherheitsvorkehrungen<br />

nach der Tatverstärkt hat.<br />

Hätte man die Auffälligkeit von<br />

Gregor S. im Vorfeld erkennen können?<br />

Nein, sagt die Psychotherapeutin<br />

und forensische Gutachterin Karoline<br />

Klemke. „Die Vorhersage, ob<br />

jemand straffällig wird, wendet man<br />

nur bei Menschen an, die straffällig<br />

geworden sind. Wenn wir diese Methoden<br />

auf Menschen anwenden,<br />

die noch gar nichts gemacht haben,<br />

bewegen wir uns im kritischen Bereich.“<br />

Eine große Zahl vonPersonen<br />

habe Überzeugungen, in denen<br />

Mord- und Rachefantasien eine<br />

Rolle spielen, so die Psychiaterin. Wo<br />

fängt man also an?<br />

„Wenn wir uns Russlands Psychiatrien<br />

in der Vergangenheit anschauen,<br />

wo Regimegegner für psychisch<br />

krank und deshalb gefährlich<br />

erklärt wurden, wissen wir, wodas<br />

hinführen kann.“ Die Psychologin –<br />

die oft mit U- und S-Bahn unterwegs<br />

ist –teilt den Eindruck, dass gerade<br />

Vier Jahre lang nutzten die<br />

Amerikaner die chemische<br />

Waffe Agent Orange, die von<br />

den Behörden offiziell als<br />

Pflanzenvernichtungsmittel<br />

bezeichnet wurde. Agent<br />

Orangewurde in Vietnam<br />

großflächig eingesetzt, um<br />

den Dschungel zu entlauben<br />

und Reisfelder zu zerstören.<br />

Damit sollten den gegendie<br />

USA kämpfenden Vietcong<br />

Rückzugsmöglichkeiten zerstörtund<br />

Hinterhalte auf die<br />

US-Truppen erschwertwerden.<br />

Zudem wollten die USA<br />

die Möglichkeit haben, Panzer<br />

und anderes schweres<br />

Gerät im Dschungel einzusetzen.<br />

AGENT ORANGE<br />

45 Millionen Liter dieses<br />

hochgiftigen Mittels wurden<br />

während des Vietnamkriegs<br />

versprüht, von1967 bis<br />

1971 flogen amerikanische<br />

Flugzeugeund Helikopter<br />

über 6000 Einsätze.<br />

Schwere Krankheiten, Todesfälle<br />

und eine ungewöhnliche<br />

hohe Zahl vonFehlgeburten<br />

in den betroffenen<br />

Gebieten waren die Folge.<br />

150 000 vietnamesische<br />

Kinder sind seit dem dortigenKrieg<br />

zudem mit schweren<br />

Behinderungen zur Welt<br />

gekommen. US-Veteranen<br />

sprachen öffentlich vom<br />

„größten chemischen Kriegsangriff<br />

der Weltgeschichte“.<br />

Das deutsche Chemie- und<br />

Pharmaunternehmen Boehringer<br />

Ingelheim, bei dem Richard<br />

vonWeizsäcker von<br />

1962 bis 1966 in der Geschäftsführung<br />

tätig war,unterstützte<br />

den amerikanischen<br />

KonzernDow Chemical<br />

bei der Herstellung des<br />

Gifts. Weizsäcker hatte später<br />

angegeben, erst nach seiner<br />

Tätigkeit davonerfahren<br />

zu haben. Immer wieder<br />

hatte er zudem großes Bedauernausgedrückt.<br />

Ob<br />

Weizsäcker tatsächlich erst<br />

nach seinem Weggang aus<br />

der Firmavon den Vorgängen<br />

erfuhr,konnte bis heute<br />

nicht geklärtwerden.<br />

in Berlin die Zahl psychosozial und<br />

psychiatrisch beeinträchtigter Menschen<br />

steigt. Das liege wahrscheinlich<br />

an der tiefer werdenden sozialen<br />

Spaltung der Gesellschaft, an psychosozialen<br />

Belastungen und daran,<br />

dass diese Stadt solche Menschen<br />

auch anziehe,sagt sie.Viele Obdachlose<br />

zum Beispiel hätten psychische<br />

Probleme.<br />

GETTY IMAGES<br />

Wie viele gefährliche psychisch<br />

Kranke in der Stadt unterwegs sind,<br />

kann nur gemutmaßt werden. Der<br />

Senat hat nicht einmal eine Zahl, wie<br />

viele Eingewiesene aus psychiatrischen<br />

Anstalten entwichen sind.<br />

Beim Maßregelvollzug gebe es zwar<br />

ein geregeltes Informationsverfahren,<br />

erklärte SPD-Gesundheitssenatorin<br />

Dilek Kalayci erst kürzlich vor<br />

dem Abgeordnetenhaus. „Was die<br />

anderen Einrichtungen angeht, und<br />

das ist tatsächlich eine andere Kategorie,<br />

gibt es so ein Berichtswesen<br />

aber nicht“. Zumindest liege ihr darüber<br />

nichts vor, räumte die Senatorinsein.<br />

DasLandeskriminalamt ist da offenbar<br />

weiter.Seine Zahlen, die auch<br />

der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> vorliegen, zeigen,<br />

wie weit in den geschlossenen<br />

psychiatrischen Stationen vieler<br />

Krankenhäuser die Türen tatsächlich<br />

offen stehen.<br />

Alleine zwischen Anfang August<br />

und dem 18. September wurden aus<br />

dem St.-Hedwig-Krankenhaus 27<br />

Personen bei der Polizei als vermisst<br />

gemeldet. Darunter ein Insasse, der<br />

insgesamt viermal ausgerissen ist,<br />

einer zweimal. Vonder geschlossenen<br />

Psychiatrie des Krankenhauses<br />

Neukölln gab es in dieser Zeit 19 Vermisstenanzeigen.<br />

Ein Insasse<br />

schaffte es, fünfmal hintereinander<br />

auszureißen, ein anderer zweimal.<br />

Ausder Charité in Mitte gab es neun<br />

Vermisstenanzeigen. Auch dort riss<br />

einer der Patienten fünfmal aus.Aus<br />

der Friedrich von Bodelschwingh-<br />

Klinik wurden drei Personen als vermisst<br />

gemeldet. So wurde am 30. August<br />

in Wilmersdorf ein 32-Jähriger<br />

aufgegriffen, den ein Richter in der<br />

geschlossenen Abteilung der Bodelschwingh-Klinik<br />

untergebracht<br />

hatte.<br />

„Diese planmäßige Unorganisiertheit<br />

im Senat gefährdet Menschenleben“,<br />

sagt der FDP-Abgeordnete<br />

Marcel Luthe. „Das Entweichenlassen<br />

von Insassen ist eine<br />

schwere Straftat. Der Senat muss<br />

diese absurden Zustände beenden.<br />

Die richterlichen Beschlüsse sind<br />

durchzusetzen. Geschlossene<br />

Psychiatrie heißt geschlossene Türen–und<br />

nicht offene.“<br />

Kein Schutz<br />

Doch es gibt auch außerhalb geschlossener<br />

Einrichtungen Menschen<br />

mit teils für die Öffentlichkeit<br />

gefährlichen Wahnvorstellungen.<br />

Denn auch Menschen, die im betreuten<br />

Wohnen leben, können sich<br />

frei in der Stadt bewegen. Wozu das<br />

führen kann, zeigt ein Fall aus Neukölln<br />

von vergangener Woche. Hier<br />

hatte ein unter Betreuung stehender<br />

Mann Nachbarn und die daraufhin<br />

alarmierten Polizisten mit einem<br />

Messer bedroht und sich anschließend<br />

selbst getötet. Später hieß es,<br />

dass der Mann in der Vergangenheit<br />

immer wieder aggressiv gegen sich<br />

und andere gewesen sei. Dennoch<br />

sei er nicht eingesperrtworden.<br />

Täter, wie jener, der Fritz von<br />

Weizsäcker ermordete, könne man<br />

nicht einfach so als gefährlich erkennen,<br />

sagt Gerichtspsychiater Werner<br />

Platz. „Die Menschen sind bislang<br />

nach außen unauffällig gewesen,<br />

ähnlich wie bei den Attentätern auf<br />

Wolfgang Schäuble und Oskar Lafontaine.“<br />

Schützen könne man sich<br />

nur schwer.„Wenn man sich in einer<br />

psychiatrischen Klinik bewegt, wo<br />

man weiß, da sind Aggressionstäter,<br />

kann man bestimmte Verhaltensregeln<br />

einhalten. Dass man ihnen zum<br />

Beispiel nie den Rücken zudreht.“<br />

Auf offener Straße oder bei öffentlichen<br />

Veranstaltungen ist das allerdings<br />

kaum möglich.<br />

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