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LIUDGER Ausgabe Januar 2020

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Erfahrungsbericht<br />

„EIN KÄFIG<br />

AUS<br />

GRENZEN“<br />

Von Julia Geppert<br />

Mir geht’s gut, ehrlich. Diesen Satz konnte ich<br />

lange nicht aus vollem Herzen sagen.<br />

Warum das so war – dabei spielten Grenzen die<br />

entscheidende Rolle. Die wichtigste war wohl<br />

die zwischen Leben und Tod.<br />

Busfahren, Treppensteigen im Büro, eine Radtour<br />

machen, zu Fuß zum Bäcker gehen, durch<br />

die Stadt bummeln, im Supermarkt einkaufen,<br />

das Stadtfest besuchen, ins Kino gehen, zum<br />

Badesee fahren – alles normale Dinge, die ich<br />

gerne mache und eigentlich auch immer gerne<br />

gemacht habe. Die ich aber lange Zeit nicht<br />

machen konnte, ohne täglich über Grenzen zu<br />

gehen. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“,<br />

„Was muss, das muss“ und „Aufgeben gilt nicht“,<br />

sagt man. Stimmt. Aber es kostet wahnsinnig<br />

viel Kraft. Denn: Trotz allem haben nur sehr<br />

wenige Menschen bemerken können und sollen,<br />

was los war.<br />

Mein Alltag war bestimmt von Grenzen. Das<br />

war nicht etwa ein außergewöhnlicher Zustand,<br />

sondern die Regel. Ich hatte Angst, dass, wenn ich sie<br />

überwinde, mein Herz wieder anfängt zu rasen, zu<br />

stolpern, das Zittern wieder nicht aufhören will und<br />

ich wieder schweißgebadet, mich schämend und<br />

erschöpft, als sei ich einen Marathon gelaufen, zu<br />

Hause auf dem Sofa liege. Ich hatte Angst, dass mir<br />

auf dem Fahrrad so schwindelig wird, dass ich mit<br />

dem Krankenwagen in die Uniklinik gebracht werden<br />

muss. Ich hatte Angst, dass ich im Supermarkt an der<br />

Kasse nicht bis zum Bezahlen warten kann und den<br />

vollen Korb einmal mehr stehenlassen und hastig<br />

den Laden verlassen muss. Wie peinlich.<br />

„Die Jule ist fußfaul, Fahrrad fährt die nie, die<br />

faule Socke, und feiern geht sie auch nicht gerne –<br />

wie langweilig.“ Stimmt alles nicht. Aber ich nahm<br />

dieses Bild von mir, das sich für Einige ergab,<br />

in Kauf, um mir Verschnaufpausen innerhalb<br />

meiner Grenzen zu sichern.<br />

Jahre später habe ich gelernt, dass das Gefühl<br />

der Handlungsunfähigkeit Grundlage für diese<br />

Panikattacken war. Woher kam das?<br />

Heute weiß ich: Bedingt durch den Tod meiner<br />

Mutter hatte sich das Gefühl des Ohnmächtig-<br />

Seins so in mein Bewusstsein und ins Unterbewusstsein<br />

gefressen, dass es sich auf alltägliche<br />

Situationen übertrug. Nicht selbst Herrin der<br />

Situation sein zu können – das war es, was mich<br />

in Grenzen presste. In diese Grenzen, die keine<br />

sind für normale Menschen. Ich konnte das selbst<br />

lange nicht verstehen, habe mich medizinisch<br />

durchchecken lassen von Kopf bis Fuß – nichts.<br />

Ich sehnte mich zeitweise nach einer klaren<br />

Diagnose, die ich dann – pragmatisch, wie ich<br />

eigentlich war und heute wieder bin – anpacken<br />

konnte. Das Wischiwaschi, die Unsicherheit,<br />

wann ich wieder einer Panikattacke bekommen<br />

würde, setzten mir zu. Es gab nicht das klassische<br />

Ursache-Wirkung-Prinzip wie bei einem Schlag mit<br />

dem Hammer auf den Daumen – „draufgehauen,<br />

jetzt tut's weh“. Die Grenzen bremsten mich<br />

unvermittelt aus. Aus heiterem Himmel.<br />

„Schwindel und Herzrasen – das ist bei jungen,<br />

schlanken Frauen manchmal so. Treiben Sie Sport,<br />

essen Sie gesund. Dann wird das wieder.“<br />

Eigentlich eine schöne Aussage der Ärzte. Besser,<br />

als wenn es „Wir müssen Sie operieren“ oder<br />

„Nehmen Sie jeden Tag drei Tabletten“ gewesen<br />

wäre. Trotzdem war mir das zu schwammig.<br />

Ich wollte klare Aussagen.<br />

Auch wenn ich einige Male kurz davor war:<br />

Aufgegeben hab ich nie. Ich war über 30 Jahre alt,<br />

ich wollte mich nicht in Grenzen ergeben, die<br />

mich so einschränkten. Ich war trotzig. Zum Glück.<br />

Ich wollte das machen, was andere auch machen.<br />

Ich wollte nicht aus heiterem Himmel von Ängsten<br />

überfallen werden: Schwindelattacke am Computer,<br />

im Kino, im Supermarkt.<br />

Ich wollte das<br />

einfach nicht<br />

(mehr). Ich suchte<br />

mir Hilfe. Ging zu<br />

einer Psychotherapeutin,<br />

die mir in der<br />

ersten Zeit half. Bis ich<br />

das „Jetzt bist du irre,<br />

weil du dahin gehst“<br />

ablegen konnte,<br />

hat es eine Weile<br />

gedauert … Es wurde<br />

besser, aber nicht<br />

gut genug. Ich merkte,<br />

dass ich so nicht leben<br />

muss, ich kann das<br />

alles ändern. Ich bin<br />

handlungsfähig, ich kann<br />

die Grenzen einreißen, da<br />

geht was.<br />

Mit dem Jobwechsel zum<br />

Bistum packte ich den Käfig<br />

aus Grenzen final an. Ich nahm<br />

an einer Studie der Uniklinik in<br />

Münster teil, die sich mit dem<br />

Thema der Posttraumatischen<br />

Belastungsstörungen befasste.<br />

Als ich zum ersten Mal da war,<br />

hatten meine Grenzen noch<br />

gar nicht diesen Namen.<br />

Als ich nach vier Stunden<br />

Sitzung rausging, konnte ich<br />

sie benennen. Da war sie,<br />

die Diagnose.<br />

Der Anfang war gemacht. Mein Trotz und mein<br />

Wille, ein Umfeld, das mich unterstützte,<br />

wöchentlich eine Sitzung in der Uniklinik und ein<br />

Fragebogen mit Themen, die zu meiner Situation<br />

passten wie die Faust auf's Auge – so überwand<br />

ich die Grenzen, die mich jahrelang gegängelt<br />

hatten. Ich lernte, dass ich in jeder Situation<br />

handlungsfähig bin. Ich kann die Situation nicht<br />

ändern, aber ich kann mich im entscheidenden<br />

Moment fragen: „Was brauche ich jetzt?“.<br />

Ich merkte von Woche zu Woche, dass es besser<br />

wurde. Eines Morgens saß ich im Bus auf dem<br />

Weg ins Büro und merkte plötzlich, dass ich gar<br />

nicht darüber nachgedacht hatte, dass ich mit<br />

dem Bus fahre. Ich glaube, die anderen Passagiere<br />

hielten mich für bescheuert, weil ich so grinsen<br />

musste. Ich freute mich über die für mich neu<br />

gewonnene Freiheit. Denn genauso fühlte es<br />

sich an: Freiheit.<br />

Man kann sich ein Bein brechen oder den Arm,<br />

man kann eine Blinddarmentzündung bekommen<br />

oder eine Grippe – dann holt man sich die Hilfe,<br />

die man benötigt, und zwar so lange,<br />

bis es wieder in Ordnung ist.<br />

Auch die Seele kann brechen,<br />

eingegrenzt sein, und auch<br />

dann sollte man nicht<br />

aufgeben, so lange nach<br />

Hilfe zu suchen, bis man<br />

sie gefunden hat; bis die<br />

Grenzen gesprengt<br />

werden, und die Seele<br />

wieder heilt. Das ist<br />

keine Schwäche,<br />

das ist Stärke.<br />

Und es lohnt sich,<br />

diese Grenze zu<br />

überwinden.<br />

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