LIUDGER Ausgabe Januar 2020
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Dafür / Dagegen<br />
GRENZEN DES<br />
POLITISCHEN PROTESTS<br />
Von Julia Geppert<br />
Gibt es Grenzen des politischen Protests in Politik und Gesellschaft? Ja, die gibt es.<br />
Und zwar nicht erst dort, wo ein berechtigtes Aufbegehren gegen Missstände in die Illegalität<br />
abzurutschen droht. Grenzenloser Protest – er ist der Sache, dem inhaltlichen Kern des<br />
Anliegens, in den wenigsten Fällen zuträglich.<br />
Warum? Weil er droht, sich in Bedeutungslosigkeit zu verlieren, nervt, die breite Masse das<br />
Anliegen und die Streiter für die gute Sache belächelt. Weil sich nichts bewegt. Weil unerbittlich<br />
auf einem Standpunkt beharrt wird, der dem Gegenüber keine Möglichkeit gibt, sich zu bewegen.<br />
Heißt auch: Es gibt keine Möglichkeit des Konsens, der Lösung, des Kompromisses, mit dem beide<br />
Seite vorangehen können. Nicht um des eigenen Egos Willen, sondern um der Sache Willen.<br />
Protest ist wichtig, richtig, soll und muss an die Grenzen gehen – an Schmerzgrenzen,<br />
an gesellschaftliche Grenzen, auch an die Grenzen von Legalität. Die Kunst aber besteht darin,<br />
Grenzen zu erkennen, nicht verbissen auf einem Standpunkt zu beharren, sondern sich durch<br />
Dialogbereitschaft, Augenhöhe, Abgeklärtheit und ohne sich in blinder Hysterie zu verrennen<br />
für eine Sache einzusetzen. So entsteht ein Druck, der zu Veränderungen führen kann.<br />
Von Stephan Kronenburg<br />
Demonstranten, die in Hongkong oder Südamerika Barrikaden in Brand setzen;<br />
Klima-Aktivisten, die Kreuzfahrtschiffe am Auslaufen hindern; Hunderte Menschen, die mit<br />
einer Blockade eine Lesung des früheren Bundesinnenministers verhindern. Der politische<br />
Protest nimmt zu. Auch in der Kirche wird protestiert: Frauen gehen nicht in die Sonntagsmesse,<br />
weil sie sich Geschlechtergerechtigkeit wünschen.<br />
Oft kommt bei Protesten die Frage auf, wo die Grenzen liegen. Zunächst scheint es plausibel,<br />
dass sie da sind, wo Gesetze verletzt werden, Gewalt zur Anwendung kommt, andere Menschen<br />
massiv behindert werden.<br />
Doch so einfach ist es nicht. Wer würde jenseits von rechtsradikalen Kreisen behaupten,<br />
dass die Widerständler des 20. Juli 1944 zu weit gegangen sind? Sicher ist nur, sie standen vor<br />
einem moralischen Dilemma, das ihnen durchaus bewusst war: „Darf man Hitler umbringen?“<br />
Und sie entschieden sich, die Tötung des Tyrannen als letztmögliches Mittel in Kauf zu nehmen.<br />
Es ist leicht, Proteste, die rechtliche Grenzen überschreiten oder gar gewaltsam sind,<br />
zu verurteilen. Oft macht die Wirklichkeit aber eine Gewissensentscheidung notwendig,<br />
die viele nicht leichtfertig treffen. Sie kann dazu führen, dass grundsätzlich gebotene sittliche<br />
oder rechtliche Grenzen überschritten werden. Der Widerstandskämpfer Roland von Hößlin,<br />
der mit 29 Jahren im Oktober 1944 erhängt wurde, schrieb Minuten vor seiner Hinrichtung in<br />
einem Abschiedsbrief an seine Familie: „Mit Gott habe ich abgerechnet, er hat mir dafür seinen<br />
Frieden und seine himmlische Ruhe ins Herz geschenkt.“<br />
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