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Für Ello<br />

Pädagogische Arbeitsblätter zu diesem Titel downloadbar auf<br />

www.obelisk-verlag.at


Heinz Janisch<br />

Der Sonntagsriese<br />

Mit Illustrationen<br />

von Susanne Wechdorn<br />

Tasch en b u c h<br />

OBELISK VERLAG


Redaktion der Club-Taschenbuchreihe:<br />

Inge Auböck<br />

Umschlaggestaltung: Carola Holland<br />

Neue Rechtschreibung<br />

©2012 gekürzte Taschenbuchausgabe Obelisk Verlag, Innsbruck – Wien<br />

Buchausgabe im Verlag Jungbrunnen, Wien 1998<br />

Alle Rechte vorbehalten


Inhalt<br />

Jonathan, der Rastlose 6<br />

Im Land der Zwerge 10<br />

Das Vogelnest 22<br />

Die Wüste im Wohnzimmer 33<br />

Ein Klavier aus Kreide 43<br />

Der Tiefseetaucher 56<br />

Der Aufstand der Dinge 65<br />

Der Sonntagsriese 77<br />

Auf hoher See 86<br />

Der Sonntagskuss 91<br />

Ein Clown in der Küche 94<br />

Der fliegende Akrobat 103<br />

Der Sonntagsmaler 118


Jonathan, der Rastlose<br />

„Das ist er! Jonathan, der Rastlose!“<br />

Mein Vater zeigte mir ein zerknittertes<br />

Schwarzweißfoto. Er hielt es<br />

nur an den Rändern, ganz vorsichtig,<br />

so, als wäre es mit Juckpulver bestreut.<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

„Mein Bruder ist mir ein Rätsel“, sagte er.<br />

„Immer unterwegs. Alle paar Jahre übersiedelt<br />

er woandershin. Afrika, Indien, Brasilien.<br />

Jetzt lebt er seit einigen Jahren in Amerika.“<br />

Ich betrachtete Jonathan, den Rastlosen. Ein wenig<br />

schief stand er im Bild, und schmal sah er aus.<br />

„Wahrscheinlich kann man jede Rippe einzeln<br />

sehen, wenn er kein Hemd anhat“, dachte ich.<br />

Seine Haare waren kurz und so zerzaust, als wäre<br />

er gerade erst aufgestanden, extra fürs Foto. Oder als<br />

wäre er in einen Wirbelsturm geraten.<br />

„Er ist ein Wirbelsturm“, murmelte mein Vater.<br />

Ich sah ihn erstaunt an.<br />

6


„Er bringt alles durcheinander“, sagte er. „Egal, wo<br />

er hinkommt – kaum ist er da, geht‘s auch schon drunter<br />

und drüber. Jonathan ist das Gegenteil von mir.“<br />

Mein Vater kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Aber<br />

ich mag ihn. Ich kann ihm einfach nicht böse sein.“<br />

Ich hatte schon viel von Jonathan gehört, aber er<br />

war noch nie bei uns gewesen.<br />

„Warum kommt er uns nie besuchen?“, fragte ich.<br />

Mein Vater seufzte. „Er war in den letzten zehn<br />

Jahren genau zweimal da. Bei unserer Hochzeit und<br />

beim Begräbnis meiner Mutter. Da warst du drei<br />

Jahre alt. Du wirst dich wahrscheinlich nicht mehr<br />

daran erinnern.“<br />

Ich nahm das Foto und schaute es noch einmal<br />

genauer an. Mein Onkel Jonathan stand da und sah<br />

mich verschmitzt an.<br />

„Und weshalb kommt er jetzt? Ist irgendetwas<br />

passiert?“<br />

„Er hat Heimweh, hat er am Telefon gesagt. Großes<br />

Heimweh. Er will zwei, drei Monate bleiben.<br />

Dann fährt er wieder.“<br />

Mein Vater schien nicht besonders glücklich zu<br />

sein über das Heimweh seines Bruders.<br />

„Wird er bei uns wohnen?“, fragte ich vorsichtig.<br />

7


„Nein, bei einem Freund. Aber er will uns oft<br />

besuchen. Hat er zumindest gesagt. Wir werden ja<br />

sehen.“<br />

„Und wann kommt er, dieser geheimnisvolle<br />

Jonathan?“<br />

Ich drehte das Foto. Jetzt stand mein schiefer<br />

Onkel auf dem Kopf.<br />

„Er kommt morgen zum Essen“, sagte mein Vater.<br />

„Ein Sonntagsbesuch. Ich glaube, er ist schon seit ein<br />

paar Tagen in der Stadt.“<br />

Ich hielt noch immer das Foto in der Hand,<br />

drehte es nach allen Seiten. Noch zwei Tage bis zum<br />

Sonntag …<br />

Mein Vater setzte sich vor den Fernseher und sah<br />

sich die Nachrichten an. Ich zählte die Tauben, die<br />

auf dem Fensterbrett der Nachbarn kleine dunkle<br />

Haufen machten.<br />

„Wann kommt Mama nach Hause?“, fragte ich,<br />

in Gedanken noch immer bei meinem sonderbaren<br />

Onkel aus Amerika.<br />

„Gegen acht. Wenn‘s stimmt“, sagte mein Vater.<br />

Für ihn waren alle unpünktlich. Bis auf ihn selbst.<br />

Er kam meist schon fünf Minuten zu früh.<br />

Ich holte Orangensaft und Kekse aus der Küche,<br />

8


und dann machten wir es uns auf dem Sofa gemütlich.<br />

Im Fernsehen wurde ein Fußballmatch<br />

gezeigt.<br />

Als Mama die Haustür aufsperrte, sahen wir<br />

gerade zu, wie ein Fußballer ausgeschlossen wurde,<br />

weil er dem Schiedsrichter die Zunge gezeigt hatte.<br />

Irgendwie sah er meinem Onkel Jonathan ähnlich.<br />

9


Im Land der Zwerge<br />

Er hatte kaum die Klingel berührt, da war ich auch<br />

schon an der Tür.<br />

Er sah genauso aus wie auf dem Foto.<br />

Seine Haare waren zerzaust, als würde draußen<br />

auf der Straße ein Sturm mit Windstärke acht toben.<br />

Er stand im Stiegenhaus – schief wie auf dem Foto –<br />

und grinste mich an.<br />

Wir hatten längst gegessen. Er war mindestens<br />

zwei Stunden zu spät.<br />

Er war so dünn, dass man Angst haben musste,<br />

er könnte bei einer falschen Bewegung in der Mitte<br />

auseinanderbrechen wie ein Lineal.<br />

„Ich bin Jonathan“, sagte er. Neben ihm stand<br />

eine riesige Schachtel.<br />

„Kann man deine Rippen sehen, wenn du kein<br />

Hemd anhast?“, fragte ich.<br />

„Und wie man das kann“, sagte er. Er knöpfte<br />

sein kariertes Hemd auf und hielt die Luft an. Man<br />

konnte jede Rippe einzeln sehen.<br />

10


„Aber Max!“, rief mein Vater. „Jetzt lass ihn doch<br />

erst mal in die Wohnung kommen. Soll er sich da<br />

draußen eine Lungenentzündung holen? Und überhaupt<br />

– was soll das Ganze?“<br />

„Er wollte meine Rippen sehen“, sagte Onkel<br />

Jonathan ruhig. Und dann sagte er noch ganz leise:<br />

„Hallo, Bruderherz. Ich weiß, ich bin zu spät. Entschuldige.<br />

Ich musste noch etwas besorgen.“<br />

„Am Sonntag?“, fragte mein Vater ungläubig.


„Am Sonntag“, sagte Jonathan. „Komm, du kannst<br />

mir helfen.“<br />

Mein Vater und er trugen die Schachtel ins Vorzimmer.<br />

„Im Land der Zwerge“ stand in großen Buchstaben<br />

auf der Schachtel.<br />

„Ist das ein Spiel?“, fragte ich neugierig.<br />

„So was Ähnliches“, sagte Jonathan.<br />

Er umarmte meine Mutter, die ihn herzlich begrüßte<br />

und ihn auf beide Wangen küsste.<br />

„Das Essen ist schon kalt“, brummte mein Vater.<br />

Er gab Jonathan einen freundschaftlichen Schlag auf<br />

die Schulter.<br />

„Schön, dich zu sehen“, sagte er verlegen.<br />

Dann saßen wir drei in der Küche und sahen zu,<br />

wie Jonathan alles aufaß, was meine Mutter ihm<br />

hinstellte.<br />

„Ich hab heut so richtig Hunger“, sagte Jonathan<br />

mit vollem Mund. „Wisst ihr, das fehlt mir in Amerika.<br />

Das Essen von zu Hause. Und tausend andere<br />

Sachen.“ Er trank sein Glas Rotwein in einem Zug<br />

leer. „Ihr wohnt in einem schönen Haus.“<br />

„Das ist ein altes Haus“, sagte ich. „Noch aus dem<br />

vorigen Jahrhundert.“<br />

12


„Hmm.“ Mein Onkel nickte. „Hab ich gesehen.<br />

Schon im Stiegenhaus. Und erst die großen Räume.<br />

Das fehlt mir auch in Amerika. Die Zimmer in meiner<br />

Wohnung sind sehr niedrig. Dafür habe ich eine<br />

tolle Aussicht über die ganze Stadt.“<br />

„Wo wohnst du denn?“, fragte ich.<br />

„In einem Hochhaus, in New York“, sagte mein<br />

dünner Onkel, der so unglaublich viel essen konnte,<br />

„im 73. Stock!“<br />

„Im 73. Stock?“ Ich versuchte, mir das vorzustellen.<br />

„Wird einem da nicht schwindlig?“<br />

„Ach was. Man gewöhnt sich dran. Ihr müsst<br />

mich einmal besuchen kommen!“<br />

„Ja, das machen wir!“, rief ich begeistert.<br />

Mein Vater sah mich kurz an. „Wir werden sehen“,<br />

sagte er leise. „Nur schön langsam.“<br />

Endlich war Onkel Jonathan mit dem Essen<br />

fertig.<br />

Ich zeigte ihm die Wohnung. Er schaute ins<br />

Schlafzimmer, ins Wohnzimmer, in mein Zimmer.<br />

Dann gingen wir ins Vorzimmer zurück. Er fiel fast<br />

über die Schachtel, die er mitgebracht hatte.<br />

„Die hätte ich jetzt beinahe vergessen! Mein Geschenk<br />

für dich! Deshalb bin ich später gekommen.<br />

13


Ich musste sie erst holen. Sie war bei einem Freund<br />

auf dem Dachboden.“<br />

Er öffnete die Schachtel gleich im Vorzimmer. Sie<br />

war bis obenhin mit kleinen bunten Plastikzwergen<br />

gefüllt. Sie hatten rote, blaue, gelbe und grüne Mützen<br />

auf. Jeder Zwerg sah anders aus: Einer hielt ein<br />

Buch in der Hand, einer eine Kerze, einer machte gerade<br />

einen Handstand, ein anderer spielte Fußball …<br />

„Was ist das?“, fragte mein Vater. Er sah nicht<br />

recht glücklich aus.<br />

Im Vorzimmer sah man überall nur Zwerge.<br />

„Das ist das Land der Zwerge!“, sagte Jonathan<br />

feierlich. „Es sind genau 77!“<br />

Meine Mutter und mein Vater sahen ihn ratlos an.<br />

Ich war beeindruckt. „Gehören die jetzt alle<br />

mir?“, fragte ich.<br />

„Wenn du sie haben willst!“, sagte Jonathan. Wir<br />

grinsten einander freundschaftlich an.<br />

„Und ob ich die haben will! Ich weiß gar nicht,<br />

wo ich die alle hinstellen soll.“<br />

„Das machen wir schon“, sagte Jonathan.<br />

„Moment! Augenblick!“, rief mein Vater gereizt.<br />

„Was – was soll Max mit 77 kleinen Plastikgartenzwergen<br />

in der Wohnung? Kannst du mir das<br />

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erklären? Das hier ist kein Garten, und er braucht – …“<br />

„Das sind keine Gartenzwerge“, sagte Jonathan<br />

freundlich. Er holte tief Luft. „Ich sehe schon, ich<br />

muss euch die Herrschaften vorstellen.“<br />

Er setzte sich zu den Zwergen auf den Boden.<br />

„Also, gehen wir sie mal der Reihe nach durch.“<br />

Er hob einen Zwerg hoch. „Der hier, der mit der<br />

Kochmütze, das ist der Kochzwerg. Der kennt viele<br />

Rezepte und hilft beim Kochen. Also kommt er in<br />

die Küche. Der hier, der so müde aussieht, das ist<br />

der Schlafzwerg, der hilft beim Einschlafen, weil er<br />

15


immer so gähnt. Der mit dem Handtuch, das ist der<br />

Waschzwerg, der hilft beim …“<br />

„Aufhören!“, rief mein Vater. Er stöhnte laut auf.<br />

„Da kriegt man ja Kopfweh!“<br />

„Siehst du“, sagte Jonathan und griff zielsicher<br />

nach einem Zwerg mit einer kleinen schwarzen<br />

Tasche. „Dafür haben wir den Arztzwerg, der weiß<br />

genau, was du …“<br />

„Wo du nur immer das Zeug her hast!“, sagte<br />

mein Vater. Er ging in die Küche. Wir hörten, wie<br />

er sich ein Glas Rotwein einschenkte.<br />

„Eigentlich hätten wir dafür einen eigenen Trinkzwerg“,<br />

rief Jonathan, „das ist der hier mit dem Glas<br />

in der Hand.“<br />

„Und was gibt es noch für Zwerge?“, fragte meine<br />

Mutter freundlich.<br />

Ihr schienen die neuen Hausbewohner zu gefallen.<br />

Oder zumindest tat sie so.<br />

Jonathan rieb sich die Hände.<br />

„Also, hier haben wir den Begrüßungszwerg, der<br />

gehört zur Tür, wegen seiner freundlichen Augen.<br />

Da haben wir den Zuhörzwerg, der mit den schönen<br />

großen Ohren, der kommt aufs Sofa. Da haben wir<br />

einen Aufsichtszwerg, oho, wie streng der drein-<br />

16


schaut, den stellen wir einfach vor die Tür. Das ist der<br />

Katzenzwerg, der hält sich nämlich für eine Katze,<br />

seht nur, wie er auf allen vieren herumläuft.“<br />

Jonathan spazierte durch die Wohnung und stellte<br />

da und dort einen Zwerg auf. Ich half ihm.<br />

Meine Mutter hielt einen Zwerg mit Zöpfen in<br />

der Hand und sagte: „Ist euch schon aufgefallen, dass<br />

es auch Zwergenfrauen gibt?“<br />

„Natürlich“, rief Jonathan. „Keine Frage. Da haben<br />

wir zum Beispiel eine Bücherzwergin, die möchte<br />

den ganzen Tag nur lesen, also, die muss ins Bücherregal,<br />

und da haben wir eine Zwergenfrau mit Fußballschuhen,<br />

die braucht Platz zum Trainieren …“<br />

„Ob Männchen oder Weibchen“, sagte mein<br />

Vater laut von der Küchentür her, „ich will nicht an<br />

allen Ecken und Enden einen Zwerg sehen. Da wird<br />

man ja ganz schwindlig.“<br />

„Auf der Schachtel steht ,1m Land der Zwerge‘“,<br />

sagte ich, „jetzt ist eben unsere Wohnung das Land<br />

der Zwerge.“<br />

„Wisst ihr, wieso mir die Schachtel wieder eingefallen<br />

ist?“, fragte Jonathan. „Weil mir hier alles so klein<br />

vorkommt. In Amerika ist alles viel größer: die Häuser,<br />

die Straßen, die Flughäfen. Seit ich wieder hier<br />

17


in, hab ich das Gefühl, ich bin im Land der Zwerge.<br />

Und da erinnerte ich mich wieder an diese Schachtel.<br />

Da dachte ich: Das ist ein Geschenk für Max!“<br />

„Ein tolles Geschenk!“, sagte ich. Ich hielt gerade<br />

einen Zwerg mit einem großen Blumenstrauß aus<br />

Plastik in der Hand.<br />

„Ich muss euch etwas gestehen“, sagte Jonathan.<br />

Wir sahen ihn neugierig an.<br />

„Es fehlt ein Zwerg. Es waren eigentlich 78! Aber<br />

einen hab ich seit Jahren immer bei mir. Und den<br />

geb ich auch nicht her. Das ist mein Reisezwerg. Der<br />

ist überall mit dabei.“<br />

Er zog einen Zwerg mit blauer Mütze aus seiner<br />

Jackentasche. Der Zwerg hielt eine winzige Laterne<br />

in der Hand.<br />

Mein Vater sah Jonathan mit großen Augen an.<br />

„Du verblüffst mich immer wieder aufs Neue“, sagte<br />

er leise.<br />

„Und warum ist gerade der dein Reisezwerg?“,<br />

fragte ich.<br />

„Tja, das hat mehrere Gründe“, sagte Jonathan.<br />

Er stellte den Reisezwerg aufs Fensterbrett.<br />

„Merkt ihr etwas?“, flüsterte er nach einer Weile.<br />

„Hmm.“ Ich sah meine Mutter an. Mein Vater<br />

18


war längst wieder in der Küche verschwunden.<br />

„Also, ich merke nichts“, sagte meine Mutter.<br />

„Es ist seine Mütze“, sagte Jonathan. „Sie ist<br />

so blau wie das Meer. Und dann hat er noch eine<br />

Laterne in der Hand, ein kleines Licht. Licht kann<br />

man immer brauchen.“<br />

Ich schaute mir den Reisezwerg an, wie er so dastand<br />

und aus dem Fenster sah, und plötzlich – ich<br />

hätte es schwören können – plötzlich hörte ich für<br />

ein paar Sekunden draußen das Meer rauschen. Mein<br />

Vater hätte natürlich gesagt: „Unsinn, das ist der<br />

Straßenlärm!“, aber ich weiß: Es war das Meer. Jonathan<br />

hatte Recht: Das war ein richtiger Reisezwerg.<br />

„Der jedenfalls bleibt bei mir“, sagte Jonathan<br />

und klatschte in die Hände. Er steckte seinen Reisezwerg<br />

zurück in die Jackentasche.<br />

„So – und wo stellen wir die anderen Zwerge auf?“<br />

Das war der erste Sonntag mit Jonathan.<br />

Die Zwerge wurden in der ganzen Wohnung<br />

verteilt. Der Radiozwerg, der so gern Radio hörte,<br />

kam neben das Radio. Der Zwerg mit der Badehaube<br />

kam ins Badezimmer, ein Zwerg saß neben meinem<br />

Vater auf dem Sofa und sah sich die Nachrichten im<br />

Fernsehen an.<br />

19


„Das ist der Nachrichtenzwerg!“, flüsterte Jonathan<br />

mir zu. „Er ist politisch sehr interessiert. Sieh<br />

nur, wie klug er dreinschaut!“<br />

Als ich gerade einen Zwerg, der sich die Nase<br />

zuhielt, aufs Klo stellte, nahm mich meine Mutter<br />

zur Seite.<br />

„Einen Tag – höchstens zwei – können sie stehen<br />

bleiben, wo sie sind“, sagte sie. „Aber dann müssen<br />

sie weg. Sonst werde ich verrückt. Ich bekomme eine<br />

Zwergenallergie. Mich juckt‘ s jetzt schon überall!“<br />

„Das hier ist der Traumzwerg“, sagte Jonathan<br />

in meinem Zimmer. „Den lege ich dir unter den<br />

Kopfpolster! Der macht dir gute Träume!“<br />

„Mir brauchst du keinen Zwerg ins Bett legen!“,<br />

rief mein Vater aus dem Wohnzimmer. „Ich werde<br />

auch so ganz bestimmt von Zwergen träumen. Ich<br />

seh jetzt schon nur mehr Zwerge. Ich schaue mir<br />

die Nachrichten an und hab das Gefühl, da sitzen<br />

überall Zwerge!“<br />

Endlich waren alle 77 Zwerge verteilt.<br />

Es wurde dann noch ein langer, gemütlicher<br />

Abend.<br />

Mein Vater beruhigte sich ein wenig. Meine<br />

Mutter wollte viel über Amerika wissen, und Onkel<br />

20


Jonathan erzählte und erzählte. Beim Reden hielt<br />

er einen Zwerg mit einem Fotoapparat in den Händen.<br />

„So was bin ich auch“, sagte er zu mir. „Ich reise<br />

durch die Welt und mache Fotos und schreibe<br />

Geschichten dazu. Für drei, vier Zeitungen. Davon<br />

muss ich dir noch erzählen. Vielleicht nächsten<br />

Sonntag!“<br />

Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern,<br />

wann Jonathan gegangen ist. Ich muss irgendwann<br />

eingeschlafen sein. Ich weiß nur, dass mich mein<br />

Vater ins Bett trug. Ich weiß noch genau, wovon ich<br />

geträumt habe: von Zwergen in weißen Nachthemden,<br />

die in meinem Zimmer Fußball spielten.


Das Vogelnest<br />

Am nächsten Sonntag stand Jonathan mit zwei großen<br />

Reisetaschen vor der Tür. Sein Mantel war durch und<br />

durch nass. Draußen regnete es schon den ganzen Tag.<br />

Jonathan schüttelte sich, dass das Wasser nach<br />

allen Richtungen spritzte.<br />

„Heut machen wir es uns so richtig gemütlich zu<br />

Hause!“, sagte er.<br />

Ich half ihm, die beiden Taschen ins Vorzimmer<br />

zu tragen.<br />

„Was ist denn da drinnen?“, fragte ich. „Neue<br />

Zwerge?“<br />

Jonathan schüttelte den Kopf. „Du wirst es bald<br />

sehen. Wo sind übrigens die ganzen Zwerge? Machen<br />

die schon Urlaub? Nach nur einer Woche?“<br />

„Ja, die machen Urlaub!“, sagte meine Mutter,<br />

noch bevor ich den Mund aufbrachte. Sie begrüßte<br />

Jonathan und half ihm aus dem Mantel.<br />

„Ich hole dir ein paar Handtücher aus dem Badezimmer,<br />

damit kannst du deine Haare trockenreiben.<br />

22


Oder willst du einen Föhn?“<br />

„Ein Handtuch reicht!“, sagte Jonathan. Ein paar<br />

Sekunden später hatte er das Handtuch auch schon<br />

wie einen Turban um seinen Kopf gewickelt.<br />

Mein Vater sah ihn erstaunt an. „Gehst du heute<br />

als Scheich?“<br />

„Warum nicht?“, fragte Jonathan. „Gestatten,<br />

Jonathan, der Regenscheich!“<br />

Mein Vater drückte ihn kurz an sich. „Komm<br />

rein, du Bruder der Überraschungen! Hast du wieder<br />

Zwerge mitgebracht? Oder was versteckst du heute<br />

in deinen Taschen?“<br />

„Zuerst wird in Ruhe gegessen!“, sagte meine<br />

Mutter. „Dann ist immer noch Zeit für Überraschungen<br />

aller Art!“<br />

„Übrigens – gratuliere!“, sagte mein Vater. „Du<br />

bist heute nur eine halbe Stunde zu spät!“<br />

„Siehst du“, sagte Jonathan zufrieden. „Meine<br />

Schätzungen werden immer genauer.“<br />

„Hast du denn keine Uhr?“, fragte ich. Ich zeigte<br />

ihm meine Super-Uhr mit Digitalanzeige und<br />

Weckruf.<br />

„Ich lass meine Uhren dauernd wo liegen“, seufzte<br />

Jonathan. „Ich hab in fast jedem Land der Welt<br />

23


schon eine Uhr vergessen. Am Strand, im Hotel, im<br />

Restaurant. Aber es stört mich nicht. Die Uhrzeit ist<br />

ja sowieso überall anders, oder nicht?“<br />

„Na, das schon, aber …“ Ich wusste nicht so<br />

recht, was ich darauf antworten sollte.<br />

„Und wo sind die 77 Zwerge?“, fragte Jonathan<br />

und blickte sich um.<br />

„Ich hab nach zwei Tagen nur noch Zwerge gesehen“,<br />

sagte mein Vater. „Im Büro, im Park, auf der<br />

Straße – ich habe gedacht, es gibt nur noch Zwerge<br />

um mich herum!“<br />

„Und ich hab nur noch von Zwergen geträumt!“,<br />

seufzte meine Mutter. „Ich bin in der Nacht aufgewacht<br />

und hab plötzlich gedacht, Max sei in einen<br />

Zwerg verwandelt worden, weil ich nur einen Zwerg<br />

in seinem Bett gefunden habe. Dabei war Max in<br />

der Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, und das<br />

im Bett war nur der Einschlafzwerg!“<br />

„Deshalb haben wir die Zwerge auf Urlaub geschickt!<br />

Vorläufig!“, sagte mein Vater fast entschuldigend.<br />

„Urlaub ist immer gut“, sagte Jonathan. „Und<br />

wohin?“<br />

Ich nahm ihn an der Hand. „Komm, ich zeig‘s dir!“<br />

Ich führte ihn in mein Zimmer. Da standen sie,<br />

24


alle 77 Zwerge. Sie standen auf einem Regal, das<br />

meine Mutter extra für sie gekauft hatte, und hinter<br />

ihnen leuchtete das Meer.<br />

„Hee!“, rief Jonathan begeistert. „Du hast dir ja<br />

das Meer ins Zimmer geholt!“<br />

Ich hatte mir vor ein paar Tagen neue Tapeten<br />

aussuchen dürfen. Jetzt sah man an einer Wand das<br />

Meer mit Booten und Fischen. Die anderen Wände<br />

waren weiß.<br />

25


„Auf die darf ich zeichnen“, erzählte ich Jonathan<br />

stolz.<br />

Er nickte. „Gute Idee!“, sagte er und drehte einige<br />

Zwerge mit dem Gesicht zum Meer. „Aber stört dich das<br />

ewige Meeresrauschen nicht, wenn du schlafen willst.“<br />

Ich überlegte kurz. „Nein“, sagte ich. „Stört überhaupt<br />

nicht. Jetzt schlaf ich sogar noch besser!“<br />

„Und die Zwerge haben einen schönen Ausblick!“,<br />

sagte Jonathan.<br />

Nach dem Mittagessen holte Jonathan die zwei<br />

Reisetaschen, die er mitgebracht hatte. Er zog ein<br />

dickes Buch aus einer der Taschen.<br />

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich Fotograf bin,<br />

oder?“, fragte er mich.<br />

Ich nickte. „Weiß ich. Und was fotografierst du?“<br />

„Zum Beispiel Vogelnester!“, sagte Jonathan.<br />

Er legte das Buch auf den Küchentisch. Es war<br />

ein Bildband über Vögel.<br />

„Da gibt es winzige Inseln, auf denen ganz seltene<br />

Vögel leben. Dort mussten wir hin, um sie aus der<br />

Nähe fotografieren zu können.“<br />

„Wie machst du das?“, fragte ich. „Fliegen die<br />

nicht gleich davon, wenn jemand kommt?“<br />

„Du musst viel Geduld haben und stundenlang<br />

26


uhig im Sand sitzen oder dich hinter einem Felsen<br />

verstecken. Ist ein harter Job“, sagte Jonathan. „Aber<br />

wenn du Glück hast, siehst du die schönsten Vögel<br />

und die schönsten Nester!“<br />

Ich blätterte das Buch durch. Die Aufnahmen<br />

waren wirklich toll. Man sah Vogelnester aus Federn,<br />

aus Gras, aus Kleidungsfetzen.<br />

„Sie nehmen alles, was sie so finden auf der Suche“,<br />

sagte Jonathan. „Wisst ihr, ich liebe Nester! Wir<br />

bauen uns viel zu selten ein richtig gemütliches Nest!<br />

Warm und weich und kuschelig! Darum habe ich<br />

mir gedacht, ein Nest muss her! So eine Wohnung<br />

ist zwar auch nicht schlecht, wenn‘s draußen ungemütlich<br />

und kalt und nass wie heute ist – aber ein<br />

Nest ist noch besser!“<br />

„Und wie soll das gehen, mit dem Nestbauen?“,<br />

fragte ich. „Wir können ja nicht herumfliegen und<br />

Sachen zusammentragen …“<br />

„Ich bin schon herumgeflogen“, sagte Jonathan.<br />

Er räumte seine beiden Reisetaschen aus. Alte<br />

Decken und Felle und Jacken kamen zum Vorschein,<br />

und dann noch Äste und Zweige und büschelweise<br />

trockenes Gras.<br />

Jonathan breitete alles im Wohnzimmer aus.<br />

27


„Hilfe!“, rief mein Vater. Er lachte zwar dabei,<br />

aber es hörte sich ziemlich beunruhigt an.<br />

„Was wird das, Jonathan?“, fragte meine Mutter.<br />

Ihre Stimme klang ein wenig heiser. So redete sie<br />

immer, wenn sie sich über etwas ärgerte oder wenn<br />

sie sich gar nicht wohl fühlte.<br />

„Das wird ein Vogelnest!“, sagte Jonathan ruhig.<br />

„Aber wir müssen es nicht unbedingt hier im Wohnzimmer<br />

machen! Komm, Max, gehen wir in dein<br />

Zimmer. Hilfst du mir?“<br />

Wir nahmen die Decken und Jacken und Zweige<br />

und Äste und marschierten damit in mein Zimmer.<br />

„Ihr dürft erst kommen, wenn wir euch rufen“,<br />

sagte Jonathan noch, dann machte er die Tür zu.<br />

Wir bauten ein richtig schönes, weiches Nest.<br />

Ich legte meinen Polster und meine Bettdecke dazu,<br />

und dann noch eine alte Jacke, ein paar Hosen und<br />

Pullover von mir. Dann durften auch noch alle<br />

Stofftiere hinein.<br />

Das ganze Zimmer sah plötzlich aus wie ein<br />

gewaltiges Vogelnest. Jonathan hatte eine CD mitgebracht.<br />

Darauf hörte man Vögel aus aller Welt<br />

zwitschern und piepsen. Wir saßen in unserem Nest<br />

und versuchten, ein wenig mit zu zwitschern.<br />

28


Jonathan konnte das ganz gut, er klang fast wie<br />

ein echter Vogel.<br />

Als wir gerade mitten im schönsten Zwitschern und<br />

Piepsen waren, schauten meine Eltern zur Tür herein.<br />

Mein Vater seufzte. Meine Mutter räusperte sich.<br />

„Braucht – braucht ihr irgendetwas?“, fragte sie.<br />

„Pieps“, sagte Jonathan. „Wie wär‘s mit ein paar<br />

Keksen? Pieps?“<br />

„Die könnt ihr haben!“, sagte mein Vater. „Piepst<br />

es noch lange bei euch?“


„Es ist grade ziemlich gemütlich“, sagte ich.<br />

„Jetzt fehlt nur noch, dass ihr auch Eier legt!“,<br />

sagte meine Mutter leise.<br />

Jonathan sprang aus dem Nest. „Das hätte ich ja<br />

beinahe vergessen.“<br />

Er rannte ins Wohnzimmer und kam mit drei<br />

weißen Eiern zurück.<br />

„Die waren noch in der Tasche. Das sind zwar keine<br />

besonderen Vogeleier, sondern ganz gewöhnliche<br />

Hühnereier, aber immerhin … Wir müssen nur gut<br />

aufpassen. Sie sind nämlich nicht gekocht!“<br />

Er legte die drei Eier mitten ins Nest.<br />

Ich weiß nicht mehr genau, was dann geschah,<br />

aber gerade als mein Vater mit der Keksdose ins<br />

Zimmer kam, knackste und rauschte es gewaltig.<br />

Meine Mutter war einfach umgefallen, ohne einen<br />

Laut, mitten hinein ins schöne weiche Nest.<br />

Man hörte deutlich das feine Knirschen der Eierschalen<br />

unter ihrem Rücken …<br />

Sie war nur kurz bewusstlos. Als wir sie gemeinsam<br />

aufsetzten, war sie ganz blass. Ihr rotes Kleid<br />

hatte auffällige gelbe Flecken auf der Rückseite.<br />

Mein Vater sah sie erschrocken an und setzte sich<br />

gleich neben sie.<br />

30


„Wenn wir jetzt schon alle im Nest gelandet sind,<br />

dann sollten wir auch noch eine Weile hier bleiben!“,<br />

sagte meine Mutter schließlich müde. „Findet ihr<br />

nicht auch?“<br />

„Unbedingt!“, sagte Jonathan. Er gab meiner<br />

Mutter einen Kuss auf die Wange. Dann fuhr er<br />

meinem Vater durchs Haar.<br />

„Also, ehrlich!“, sagte er. „Ich finde, ihr seid ein<br />

schönes Paar. Und so zerzaust gefällt ihr mir am<br />

besten!“<br />

„Mir auch!“, sagte ich. „Und jetzt werden die<br />

Großen einmal von den Kleinen gefüttert!“


Ich kletterte von einem zum anderen und steckte<br />

jedem ein Keks in den Mund. Dann saßen wir alle<br />

vier in unserem gemütlichen Vogelnest und hörten<br />

zu, wie auf der CD ein großer und ein kleiner Vogel<br />

um die Wette zwitscherten.


Die Wüste im Wohnzimmer<br />

Als es am nächsten Sonntag kurz nach Mittag an der<br />

Tür läutete, sagte mein Vater anerkennend: „Alle<br />

Achtung!“ Er schaute zufrieden auf das Schnitzel<br />

auf seinem Teller und murmelte: „Er ist fast schon<br />

pünktlich! Nur sieben Minuten zu spät!“<br />

Es läutete noch einmal. Ich sauste zur Tür. Draußen<br />

stand Onkel Jonathan. Neben ihm standen zwei<br />

Plastiksäcke. Feiner gelber Sand rieselte ihm aus dem<br />

Haar, sein schwarzer Mantel glänzte silbrig vom<br />

Sand. Er sah aus, als hätte er noch vor kurzem in<br />

einem Sandkasten gespielt. Ich war jetzt zwar schon<br />

einiges von ihm gewöhnt, aber damit hatte ich nicht<br />

gerechnet.<br />

„Es lebe die Wüste Gobi!“, sagte Jonathan.<br />

Ein Sandstrom ergoss sich über den Boden im<br />

Stiegenhaus.<br />

„Komm rein!“, sagte ich. „Was bist du heute – ein<br />

Wüstenscheich?“<br />

„Wir sind beide Söhne der Wüste“, sagte Jonathan.<br />

33


Es klang so, als meinte er es wirklich ernst. Ich sah<br />

ihn unsicher an.<br />

„Wie meinst du das? Und was schleppst du in den<br />

riesigen Plastiksäcken mit dir herum?“<br />

„Die Wüste!“, sagte Jonathan. „In diesen Säcken<br />

ist ein kleines Stück vom schönsten Fleck der Erde!“<br />

Ich wurde nicht recht schlau aus dem, was mir<br />

Jonathan da erzählte.<br />

Er kam herein und zog seine Schuhe aus. Er<br />

drehte sie um. Feiner Sand rieselte heraus. Auf dem<br />

Teppich bildeten sich kleine Haufen.<br />

Meine Mutter kam ins Vorzimmer. „Was ist denn<br />

dir passiert?“, fragte sie entsetzt und schob Jonathan<br />

sofort ins Badezimmer.<br />

Mein Vater saß in der Küche und aß gerade sein<br />

letztes Stück Schnitzel.<br />

„Was ist denn los mit Jonathan?“, fragte er.<br />

Ich überlegte noch, wie ich das mit der Wüste<br />

meinem Vater beibringen sollte, da kamen auch<br />

schon Jonathan und meine Mutter in die Küche.<br />

„Mahlzeit, Bruderherz!“, sagte Jonathan und<br />

setzte sich an den Tisch.<br />

Er aß mit großem Appetit. Das Essen schmeckte<br />

34


ihm. Das sah man. Seine Augen glänzten richtig<br />

vor Freude, als ihm meine Mutter den Teller noch<br />

einmal anfüllte.<br />

Nach dem dritten Schnitzel mit Reis sagte er:<br />

„Heute habe ich die Wüste Gobi mitgebracht!“<br />

Mein Vater sah ihn prüfend an, so als hätte er<br />

nicht richtig gehört. „Hast du Wüste gesagt?“, fragte<br />

er schließlich.<br />

Ich mischte mich schnell ins Gespräch ein.<br />

„Ich habe das Vogelnest in meinem Zimmer bis<br />

heute gelassen!“, sagte ich stolz. „Die ganze Woche<br />

bin ich drin gesessen, zumindest manchmal, so<br />

zwischendurch.“<br />

„Das hör ich gerne“, sagte Jonathan. „So ein<br />

Vogelnest hat ja auch wirklich was Gemütliches!“<br />

„Wir haben also gar keinen Platz mehr für die<br />

Wüste …“, murmelte meine Mutter.<br />

„Kein Problem!“, sagte Onkel Jonathan und<br />

sprang auf. „Wozu habt ihr ein so schönes großes<br />

Wohnzimmer? Es lebe die Wüste Gobi!“<br />

Bevor noch irgendjemand etwas dagegen machen<br />

konnte, hatte Jonathan auch schon die schwarzen<br />

Plastiksäcke genommen und ins Wohnzimmer<br />

getragen. Er holte eine durchsichtige Folie aus einem<br />

35


Sack und breitete sie vorsichtig aus. „Reißfest!“, sagte<br />

er stolz. „Absolut unzerreißbar!“<br />

Dann schüttete er den mitgebrachten Sand aus.<br />

Leuchtend gelb war der Sand. Unwirklich und<br />

fremd sah er aus, so mitten im Wohnzimmer auf<br />

dem Boden.<br />

„Er schüttet einfach Sand aus, im Wohnzimmer,<br />

auf dem Teppich“, flüsterte mein Vater neben mir.<br />

Ich sah die Schweißtropfen auf seiner Stirn.<br />

„Jonathan“, sagte meine Mutter. Sie sprach so<br />

leise, dass es kaum zu hören war. „Jonathan, das<br />

kannst du doch nicht machen!“<br />

Jonathan zog sich seelenruhig Hose und Hemd aus.<br />

„Keine Bange!“, sagte er. „Die Folie schützt den<br />

Teppich. Und den Wüstensand, den nehm ich wieder<br />

mit. So viel ist es ja gar nicht. Gerade so viel, dass<br />

man eine Vorstellung von der Wüste hat. Kommt,<br />

setzt euch in die Dünen!“<br />

Er machte mit der Hand kleine Sandhügel.<br />

Wir drei – mein Vater, meine Mutter und ich –<br />

standen stumm da und sahen meinen Onkel an, der<br />

in Unterhosen und Unterhemd auf dem Boden saß<br />

und mit dem Sand spielte.<br />

„Wir müssen ein paar Lampen aufstellen, als<br />

36


Scheinwerfer. Die sollen die Sonne sein, schließlich<br />

ist es in der Wüste schön heiß. Zumindest tagsüber!“<br />

Jonathan sprang auf und suchte in der ganzen<br />

Wohnung nach Lampen, die er aufstellen konnte.<br />

Mein Vater seufzte und ließ sich aufs Wohnzimmersofa<br />

fallen.<br />

37


Meine Mutter stellte sich wortlos vor den Spiegel<br />

im Vorzimmer und kämmte langsam ihr Haar. Es sah<br />

aus, als würde sie alles in Zeitlupe machen.<br />

„Du wirst dir einen Sonnenbrand holen!“, sagte<br />

ich zu Jonathan, als er mit drei Lampen und einem<br />

Verlängerungskabel ins Wohnzimmer kam. „In der<br />

Wüste ist doch die Sonne so stark, dass man sich<br />

schützen muss!“ Das hatte ich in einem Buch gelesen.<br />

„Da muss man Tücher tragen und weite Kleider.<br />

Sonst verbrennt die Sonne die ganze Haut!“<br />

Jonathan sprang mit einem Jubelschrei auf mich zu.<br />

„Max, du bist großartig! Du hast den Wüstentest<br />

eindeutig bestanden. Natürlich hast du Recht.<br />

Schutz ist wichtig. Und man muss vorsichtig sein im<br />

Sand. Die Wüste lebt! Das weiß jedes Kind. Da gibt<br />

es Schlangen und Skorpione und …“<br />

„Schluss jetzt!“, rief mein Vater. „Es reicht schon,<br />

dass du uns die Wüste ins Wohnzimmer bringst.<br />

Sag jetzt ja nicht, du hast auch noch irgendwelche<br />

giftigen Tiere mitgebracht!“<br />

„Keine Spur!“, sagte Jonathan. Ihn schien nichts<br />

aus der Ruhe zu bringen. Nicht einmal die schlechte<br />

Laune meiner Eltern störte ihn.<br />

Er schlüpfte wieder in die Hose und in sein<br />

38


Hemd, wickelte sich in einen Bademantel meines<br />

Vaters, den er aus dem Badezimmer geholt hatte,<br />

und setzte sich zufrieden in den Sand.<br />

Ich knipste die Lampen an, die rund um den<br />

Sandhaufen auf dem Boden standen, und setzte<br />

mich zu Jonathan. Als meine Mutter, ohne ein Wort<br />

zu sagen, eine Decke ausrollte und sich in den Sand<br />

legte, rutschte auch mein Vater vom Sofa.<br />

„Die Wüste Gobi!“, sagte Onkel Jonathan. Es<br />

klang wie die Überschrift zu einem langen Vortrag.<br />

Aber dann redete er nicht weiter.<br />

Wir blinzelten ins grelle Licht der Lampen, ließen<br />

ein wenig Sand durch unsere Finger rieseln und<br />

warteten. Der Sand fühlte sich schön kühl an.<br />

„Die Wüste Gobi – na und weiter?“, sagte mein<br />

Vater schließlich.<br />

„Nichts weiter“, sagte Jonathan. „Da ist sie. Das<br />

ist Sand, den ich von einer meiner Reisen mitgenommen<br />

habe! Ich wollte euch nur zeigen, wie<br />

wunderbar still es in der Wüste ist. Du sitzt da und<br />

hast das Gefühl, dass die Erde und der Himmel zusammenwachsen.<br />

Die Erde steigt, und der Himmel<br />

sinkt. Und in der Mitte treffen sie einander. Und<br />

wenn du nachts in der Wüste sitzt, hast du das<br />

39


Gefühl, als wäre der Himmel schon fast über dir, so<br />

nah kommen dir die Sterne vor. Als könntest du sie<br />

angreifen. Millionen von Sternen über deinem Kopf.<br />

Kannst du dir das vorstellen?“<br />

Ich sah den Wohnzimmerschrank und den Fernsehapparat<br />

und die Tapeten und konnte mir die<br />

Wüste Gobi nicht wirklich gut vorstellen.<br />

„Und was hast du da gemacht, in der Wüste?“,<br />

fragte ich.<br />

„Die Stille fotografiert“, sagte Jonathan. „Und<br />

die Weite. Und die Leere. Du siehst nur Sand und<br />

Himmel, und trotzdem willst du nicht aufhören zu<br />

schauen!“<br />

Jonathan erzählte von blühenden Bäumen mitten<br />

in der Wüste und von einem Mann auf einem Kamel,<br />

der siebzig Jahre kein Wort gesprochen haben<br />

soll und der plötzlich in der Wüste laut gesagt hat:<br />

„Ich habe Durst!“<br />

Bei manchen seiner Geschichten sahen ihn meine<br />

Eltern skeptisch an. Sie schienen nicht alles zu<br />

glauben. Ich war mir auch nicht so sicher, aber ich<br />

hörte Jonathan gerne zu.<br />

Irgendwann holte er eine CD aus seiner Jackentasche.<br />

40


„Vogelgezwitscher? Mitten in der Wüste?“, fragte<br />

mein Vater.<br />

„Nein, Flötenmusik!“, sagte Jonathan.<br />

Inzwischen hatten wir es uns alle recht gemütlich<br />

gemacht im Sand. Es war schön zu sehen, wie er auf<br />

der Haut glitzerte …<br />

Ich schloss die Augen und stellte mir vor, ich wäre<br />

ein Prinz auf einem Kamel und würde mit meinem<br />

41


Gefolge durch die Wüste ziehen. Mit meinem Vater,<br />

mit meiner Mutter, mit Jonathan …<br />

Die Flötenmusik machte mich angenehm ruhig.<br />

Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein.<br />

Als ich aufwachte, saßen Jonathan und meine<br />

Eltern in der Küche, das Besteck klapperte, sie waren<br />

schon wieder beim Essen.<br />

Ich streckte mich im Sand aus.<br />

Die Wüste im Wohnzimmer! Das gefiel mir. Eines<br />

Tages werde ich mir die richtige Wüste anschauen,<br />

beschloss ich in diesem Augenblick.<br />

Ich machte mit der Hand einige kleine Sanddünen.<br />

Die Plastikfolie, die Onkel Jonathan mitgebracht<br />

hatte, war längst überall eingerissen. Der Wohnzimmerteppich<br />

war voll Sand.<br />

„Die Wüste lebt!“, sagte ich leise.<br />

Dann ging ich zu den anderen in die Küche.


Ein Klavier aus Kreide<br />

Am nächsten Sonntag öffnete mein Vater Jonathan<br />

die Tür. „Dieses Mal nimmst du keine Wüste und<br />

keine Hühnereier und keine Äste und keine Zwerge<br />

mit in die Wohnung, ist das klar!“, sagte er.<br />

Mein Onkel Jonathan stand friedlich vor der Tür,<br />

ohne Schachtel, ohne Plastiktasche, ohne Wüste und<br />

ohne Zwerge, und schaute meinen Vater freundlich<br />

an.<br />

„Schönen Sonntag, Bruderherz!“, sagte er. „Heut<br />

bring ich nur mich mit.“<br />

„Das ist immer noch beunruhigend genug!“,<br />

seufzte mein Vater. „Na los, herein mit dir!“<br />

Ich hatte mich ein wenig gefürchtet vor diesem<br />

Sonntag. Immerhin war nach Jonathans letztem<br />

Besuch die Stimmung meiner Eltern nicht besonders<br />

gut gewesen.<br />

Die „reißfeste“ Folie, auf die Jonathan letzte Woche<br />

seine Wüste Gobi geschüttet hatte, hatte an allen<br />

Ecken und Enden Risse bekommen, durch die der<br />

43


feine Wüstensand herausgerieselt war. Meine Eltern<br />

waren die ganze Woche über damit beschäftigt gewesen,<br />

den Teppich abzusaugen, im Hof abzuklopfen,<br />

ihn wieder abzusaugen, ihn wieder abzuklopfen …<br />

Meine Mutter entdeckte Sand in den Blumentöpfen.<br />

Mein Vater behauptete, dass überall in der Küche<br />

Sand sei, er höre es dauernd knirschen beim Essen.<br />

Bei uns hatte die Wüste Gobi ganze Arbeit geleistet.<br />

Erst kurz bevor Jonathan an der Tür geläutet<br />

hatte, war mein Vater auf allen vieren durchs Wohnzimmer<br />

gekrochen, um noch da und dort ein paar<br />

Sandkörner zu entfernen, die in der Sonne auf dem<br />

Teppich glitzerten.<br />

„Keine Wüste, keine Zwerge, keine Hühnereier!<br />

Ich verspreche es!“, sagte Jonathan zu meiner Mutter,<br />

die erleichtert aufatmete.<br />

„Schade“, sagte ich.<br />

Nach dem Essen saßen wir im Wohnzimmer auf<br />

dem Sofa.<br />

„Jö, da glitzert ja noch ein wenig Sand!“, rief<br />

Jonathan vergnügt und zeigte auf den Teppich.<br />

Mein Vater bekam ganz schmale Augen.<br />

„Lieber Bruder“, sagte er. „Du hast letztes Mal<br />

44


selbst gesehen, dass deine reißfeste Folie alles andere<br />

als reißfest war. Und als wir versuchten, den Sand<br />

in deine Plastiksäcke zurückzuschaufeln, da war<br />

das kaum möglich, weil er einfach überall war. Die<br />

Wüste Gobi! Du erinnerst dich doch?“<br />

Seine Stimme hatte zwar einen gefährlichen Unterton,<br />

aber ich war mir nicht sicher, ob er ernsthaft<br />

böse war, oder ob er nur so tat.<br />

„Ja, ja!“, sagte Jonathan richtig fröhlich. „Das war<br />

was. Überall Sand. Wie in der Wüste eben. Und<br />

meine Säcke waren nur mehr halb so schwer beim<br />

Nachhausetragen.“<br />

„Kein Wunder“, sagte meine Mutter. „Ein paar<br />

Kilo Sand hab ich weggesaugt. Und den Rest haben<br />

wir so nach und nach gefunden.“<br />

„Stell dir vor, wo überall Sand war!“<br />

Ich erzählte begeistert vom Sand im Blumentopf,<br />

45


von den Hausschuhen meines Vaters, die voller Sand<br />

waren, von den Kochtöpfen.<br />

Mein Vater begann sich überall zu kratzen und<br />

im Sessel hin und her zu rutschen.<br />

„Ich spür den Sand jetzt noch überall“, sagte er.<br />

„In den Haaren, unterm Hemd, unter den Fingernägeln,<br />

überall!“<br />

„Ja, die Wüste. Das ist schon eine faszinierende<br />

Sache. Die bleibt einem im Gedächtnis“, sagte Jonathan<br />

nachdenklich. Er war mit seinen Gedanken<br />

weit weg. Sicher in der Wüste Gobi und nicht bei<br />

uns im Wohnzimmer.<br />

„Ich bin ja nur froh, dass du heute nichts mitgebracht<br />

hast“, sagte mein Vater.<br />

„Ach, das hätte ich beinahe vergessen!“ Jonathan<br />

klopfte seine Hosentaschen ab. „Ich hab ein kleines,<br />

ein winzig kleines Geschenk für Max! Etwas ganz<br />

Harmloses!“<br />

Er ging ins Vorzimmer zu seiner Jacke. Als er wieder<br />

zurückkam, hatte er etwas Weißes in der Hand.<br />

„Was ist das?“, fragte ich neugierig.<br />

Jonathan hielt mir seine geöffnete Hand hin. Auf<br />

seiner Handfläche lag ein Stück Kreide.<br />

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.<br />

46


„Hmm“, machte ich.<br />

„Das ist ja Kreide“, sagte meine Mutter.<br />

Es klang fast wie eine Frage. Sie überlegte wohl,<br />

was Jonathan nur mit einem Stück Kreide vorhaben<br />

könnte.<br />

„Völlig richtig, das ist ein Stück Kreide!“, sagte<br />

Jonathan zufrieden. Er saß da und hielt das kleine<br />

weiße Kreidestück hoch.<br />

Wir starrten es an wie etwas Magisches, so, als<br />

würde Jonathan jetzt und jetzt dieses kleine weiße<br />

Etwas in etwas anderes verwandeln.<br />

Nichts geschah.<br />

Jonathan hielt stolz seine Kreide in der Hand,<br />

und wir sahen einander an und zuckten ratlos mit<br />

den Schultern.<br />

„Hmm“, machte ich noch einmal. „Und wofür<br />

ist die gut?“<br />

„Das ist eine gute und berechtigte Frage“, sagte<br />

Jonathan. „Dass man mit Kreide auf einer Schultafel<br />

schreiben kann, das ist klar, oder?“<br />

Ich nickte. Natürlich wusste ich das. Schließlich<br />

sah ich das jeden Tag in der Schule.<br />

„Aber –“, Jonathan machte eine lange Pause, „aber mit<br />

diesem Stück Kreide kann man auch Musik machen!“<br />

47


Wahrscheinlich erging es meinen Eltern so wie<br />

mir. Ich dachte, ich hätte nicht richtig gehört.<br />

„Musik machen? Mit Kreide?“<br />

Ich schaute Jonathan ungläubig an.<br />

Er sprang auf.<br />

„Ich werde es euch zeigen! Ihr müsst mir nur<br />

helfen!“<br />

Es dauerte eine Weile, bis Jonathan meine Eltern<br />

überreden konnte, den Teppich einzurollen, die Möbel<br />

im Wohnzimmer zur Seite zu rücken und auch<br />

sonst alles wegzustellen, was im Weg war.<br />

„Eine gute Band braucht Platz!“, sagte er.<br />

Endlich war alles zur Seite geschoben oder aus<br />

dem Zimmer getragen und in der Mitte des Wohnzimmers<br />

war genug Platz.<br />

„Auf diesem dunklen Holzboden lässt sich gut<br />

musizieren“, sagte Jonathan.<br />

Ich wusste noch immer nicht, was er eigentlich<br />

vorhatte.<br />

„Also, mein Instrument weiß ich“, brummte er<br />

vor sich hin, und dann begann er auf dem Fußboden<br />

zu zeichnen. Er machte mit der Kreide ein paar<br />

rasche Striche. Es war nur angedeutet, aber bald<br />

erkannte ich, was er da auf den Boden malte.<br />

48


„Das soll ein Klavier sein!“, rief ich. „Da sind die<br />

Tasten!“<br />

Jonathan nickte. „So ist es! Und jetzt zu dir.<br />

Welches Instrument kannst du besonders gut nachmachen?“<br />

„Wie meinst du das – nachmachen?“, fragte ich.<br />

„Na, mit dem Mund und mit den Händen. Ich<br />

zeichne unsere Instrumente auf – und dann spielen<br />

wir drauflos. Oder wir tun zumindest so, als wären<br />

wir die beste Band in der Stadt! Also – welches Instrument<br />

willst du spielen?“<br />

„Trompete“, sagte ich. „Vor ein paar Tagen habe<br />

ich einen Trompetenspieler im Fernsehen gesehen.<br />

Der konnte auch ohne Trompete Trompete spielen,<br />

nur so, mit dem Mund!“<br />

Ich presste die Lippen fest zusammen und tat so,<br />

als würde ich in eine Trompete blasen. Es klang gar<br />

nicht schlecht.<br />

„Aufnahmeprüfung bestanden!“, sagte Jonathan.<br />

Er zeichnete etwas auf den Boden, das eher wie<br />

eine Hupe aussah als wie eine Trompete.<br />

„Der Nächste, bitte!“, sagte Jonathan. Er sah<br />

meine Mutter an. Er kam nur bis „Wel…“, da sagte<br />

49


meine Mutter auch schon laut und deutlich:<br />

„Schlagzeug!“<br />

Mein Vater sah sie erstaunt an. „Schlagzeug? Du?<br />

Das gefällt dir?“<br />

„Das hat mir schon als kleines Mädchen gefallen“,<br />

sagte meine Mutter. „Aber ich hab immer nur<br />

gehört: Das ist ein Instrument für Buben. Dabei<br />

hätte ich oft Lust gehabt, mir den ganzen Ärger<br />

ordentlich von der Seele zu klopfen. Ich hab früher<br />

überhaupt gern laute Musik gehört. Das ist gut zum<br />

Abreagieren!“<br />

Jonathan zeichnete ein paar Kreise und eine<br />

Trommel und einige Schlagstöcke.<br />

„Das ist ja nur, damit man es sich besser vorstellen<br />

kann“, erklärte er. „Spielen müsst ihr natürlich<br />

selber!“<br />

„Tsch-tsch-tsch-bong-dong-dong-tsch-tsch-tschbong-dong-dong<br />

…“<br />

Meine Mutter begann einen Rhythmus zu singen,<br />

der wirklich wie ein Schlagzeug klang, allerdings eher<br />

wie ein friedliches, rhythmisches Schlagzeug. Aber<br />

vielleicht war das auch nur zum Aufwärmen.<br />

Mein Vater hatte sich die Ärmel seines Hemdes<br />

hochgekrempelt. „Ich hätte gern ein Cello!“, sagte er.<br />

50


„Das hat so einen herrlichen, vollen, satten Klang.<br />

Die reinste Bauchmassage. Ein Cello hat den schönsten<br />

Klang der Welt!“<br />

„Sie wünschen – wir spielen!“, sagte Jonathan<br />

und zeichnete etwas auf, das wie eine riesige Birne<br />

mit Saiten aussah. Dann malte er noch einen Bogen<br />

dazu, der aussah wie ein Bogen beim Indianerspielen.<br />

Dann machte er ein kleines Dreieck. „Das ist ein<br />

Triangel!“, sagte er. „Ihr wisst schon, dieses silberne<br />

Dreieck mit dem hohen Klang! Wenn einer keine<br />

Lust mehr hat und die Band aufhören soll, dann<br />

schlägt er es kurz an. Aber natürlich so, dass es jeder<br />

hören kann.“<br />

Er klopfte auf das Dreieck aus Kreide und rief mit<br />

hoher Stimme „Ping!“<br />

Wir mussten lachen.<br />

„So ähnlich … oder ganz anders. Jeder, wie er<br />

glaubt!“, sagte Jonathan verlegen. „Im Klavierspielen<br />

bin ich besser!“<br />

Wir stellten oder setzten uns alle zu unseren Instrumenten,<br />

jeder, wie er wollte.<br />

Jonathan sagte: „Eins, zwei, eins, zwei, drei,<br />

vier –“, dann gab er ein Zeichen, und wir bliesen<br />

51


und summten und brummten und schrummten<br />

und quietschten und jaulten und quiekten um die<br />

Wette.<br />

Jonathan bearbeitete die Tasten seines Klaviers und<br />

machte dazu Geräusche, als würde etwas rasch über die<br />

Saiten laufen. Mein Vater brummte tiefe Cello-Töne,<br />

und meine Mutter „tschte“ und „dongte“ vor sich hin.<br />

Ich blies meine Trompete, bis mir die Luft ausging.<br />

Ich klopfte auf das Triangel aus Kreide und rief<br />

mit piepsender Stimme „Piiiing!“<br />

Alle hörten zu spielen auf.<br />

„Gar nicht so schlecht für den Anfang!“, sagte<br />

Jonathan.<br />

„Aber vielleicht sollten wir jetzt etwas spielen, was<br />

wir alle kennen. Wie wär‘s mit ,Fuchs, du hast die<br />

Gans gestohlen.“<br />

„Warum nicht“, sagte meine Mutter.<br />

Vater und ich nickten. Die Spiellust hatte uns<br />

gepackt.<br />

Jonathan zählte wieder sein „eins, zwei, eins, zwei,<br />

drei, vier“, und dann legten wir los. Es klang tatsächlich<br />

wie „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“.<br />

Wir hörten auf, ohne dass jemand das Triangel<br />

geschlagen hatte. Meine Eltern applaudierten.<br />

52


„Das hat richtig gut geklungen!“, sagte mein Vater.<br />

Er hatte einen roten Kopf. Das kam wahrscheinlich<br />

von der Aufregung. Aber vielleicht war Cello<br />

spielen genauso anstrengend wie Trompete blasen.<br />

Wir spielten noch alle Kinderlieder, die uns einfielen.<br />

Dann versuchten wir ein paar Weihnachtslieder,<br />

und zuletzt spielten wir noch ein paar amerikanische<br />

Schlager, die ich aus dem Radio kannte.<br />

Während ich auf dem Boden saß, vor meiner<br />

Trompete aus Kreide, und vor mich hin spielte, sah<br />

ich meinen Eltern und Jonathan zu.<br />

Jonathan hatte die Augen geschlossen und spielte –<br />

auch auf dem Boden sitzend – auf Tasten, die in der Luft<br />

schweben mussten. Er sah dabei richtig glücklich aus.<br />

Meine Mutter saß auf dem Sessel. Sie starrte auf<br />

einen Punkt am Boden und konzentrierte sich ganz<br />

auf ihren Rhythmus, den sie mit lauter Stimme vor<br />

sich her sagte wie einen Sprechgesang.<br />

Mein Vater stand einen halben Meter vor seinem<br />

Birnencello aus Kreide und hatte auch die Augen<br />

geschlossen.<br />

In diesem Moment sah ich zum ersten Mal die<br />

Ähnlichkeit zwischen Jonathan und meinem Vater.<br />

54


Ich war richtig froh darüber. Vor lauter Freude vergaß<br />

ich ganz aufs Trompetenspielen.<br />

Als Jonathan spät am Abend ging, war die Wohnung<br />

wieder aufgeräumt. Die Kreidestriche waren<br />

weggewischt, die Möbel standen auf ihrem Platz, der<br />

Teppich war wieder ausgerollt.<br />

„Ich sitze jetzt eigentlich auf Jonathans Klavier“,<br />

sagte mein Vater.<br />

„Und ich auf deinem Schlagzeug“, sagte ich zu<br />

meiner Mutter.<br />

Sie schaute zu Boden und überlegte kurz.<br />

Dann grinste sie uns beide an. Mit hoher Stimme<br />

sagte sie „Piiiiiiiiing!“


Der Tiefseetaucher<br />

Jonathan schaffte es auch am nächsten Sonntag,<br />

mich zu verblüffen. Als ich die Tür öffnete, sah<br />

ich zuerst nur eine riesige Taucherbrille und einen<br />

Schnorchel.<br />

„Wo kommst du denn her?“, fragte ich.<br />

Jonathan sagte irgendetwas, aber ich verstand kein<br />

Wort. Er nahm den Schnorchel aus dem Mund.<br />

„Willkommen an Bord!“, sagte er.<br />

„O je!“, rief mein Vater hinter mir. „Jonathan will<br />

die Wohnung unter Wasser setzen.“<br />

Er war zum Glück gut aufgelegt und bestaunte<br />

Jonathan mit seiner Taucherbrille und dem Schnorchel.<br />

Meine Mutter kam auch zur Tür.<br />

„Nein“, sagte sie. „Nein, nein, nein. Wir werden<br />

kein Zimmer mit Wasser anfüllen. Wir werden im<br />

Wohnzimmer keinen Tauchkurs machen. Und auch<br />

im Badezimmer nicht und nicht in der Küche und<br />

nicht im Kinderzimmer und –“<br />

Jonathan strahlte uns an.<br />

56


„Na, ihr seid aber leicht aus der Fassung zu<br />

bringen“, sagte er. „Habt ihr Angst vor einer ganz<br />

normalen Taucherbrille?“<br />

„Das nicht“, sagte mein Vater. „Wir haben nur<br />

ein ganz klein wenig Angst vor dir und deinen Einfällen.<br />

Aber komm trotzdem herein. Mit und ohne<br />

Taucherbrille. Wasser wirst du ja hoffentlich keines<br />

mitgebracht haben.“<br />

Er sah sich im Stiegenhaus um. „Okay, kein Meer<br />

zu sehen. Alles in Ordnung.“<br />

Jonathan stand kichernd im Vorzimmer.<br />

„Also, ihr macht mir Spaß. So viel Aufregung<br />

wegen einer kleinen Taucherbrille.“<br />

„Was hast du damit vor?“, fragte ich. Ich sah mich<br />

schon mit Jonathan in der Badewanne um die Wette<br />

tauchen.<br />

„Ich fahre in zwei Monaten mit einer Gruppe von<br />

Tauchern mit. Für einen Artikel über seltene Fische.<br />

Irgendwo in der Karibik. Ich freu mich schon darauf.<br />

Ich dachte, wir könnten heute ein wenig üben.“<br />

„Was üben?“, fragte meine Mutter. Sie war aufs<br />

Schlimmste gefasst.<br />

„Na – schauen!“, sagte Jonathan. „Unter Wasser<br />

muss man vor allem eines: Gut schauen. Die Augen<br />

57


offen halten! Sich nichts entgehen lassen. Dann sieht<br />

man eine phantastische, großartige, faszinierende<br />

bunte Wunderwelt!“<br />

„Das glaub ich dir gern“, sagte mein Vater. „Aber<br />

wir haben ziemlich wenig Wasser in der Wohnung.<br />

Ich meine, es gibt Wasser im Badezimmer, in der<br />

Küche, im Klo, und so, aber …“<br />

„Ich weiß, Bruderherz“, sagte Jonathan. „Ich<br />

will ja auch nur das Schauen üben – und nicht das<br />

Schwimmen.“<br />

„Na dann“, sagte mein Vater ratlos. Er wusste genausowenig<br />

wie wir, was Jonathan mit uns vorhatte.<br />

„Lufttauchen“, sagte Jonathan feierlich.<br />

„Lufttauchen“, wiederholte meine Mutter. Sie<br />

schien angestrengt nachzudenken, was genau das<br />

heißen sollte. Und vor allem: Was das für die Wohnung<br />

bedeuten könnte.<br />

„Ich will mit euch auf dem Sofa sitzen und so<br />

tun, als wären wir Tiefseetaucher. Wir sitzen und<br />

schauen – und jeder erzählt, was er entdeckt. Das<br />

ist doch nicht zu schwierig, oder?“<br />

„Das ist überhaupt nicht schwierig“, sagte ich.<br />

„Aber was soll man in unserem Wohnzimmer schon<br />

sehen? Bestimmt keine Fische. Ich hab ja nicht ein-<br />

58


mal ein Aquarium.“<br />

„Du wirst dich wundern, was es da alles zu sehen<br />

gibt“, sagte Jonathan.<br />

Eine halbe Stunde später – nach dem Essen –<br />

saßen wir zu viert nebeneinander auf dem Sofa.<br />

Onkel Jonathan hatte wie ein Zauberer aus allen<br />

Taschen seiner Jacke Taucherbrillen mit Schnorcheln<br />

herausgezogen.<br />

„Müssen wir die Schnorchel auch in den Mund<br />

nehmen?“, fragte meine Mutter. „Dann können wir<br />

ja gar nicht reden!“<br />

„Na gut“, sagte Jonathan. „Der Schnorchel bleibt<br />

draußen. Aber mit Schnorchel schaut‘s nun mal<br />

besser aus.“<br />

So saßen wir da – jeder mit einer Taucherbrille<br />

und mit einem langen Schnorchel, der schief vom<br />

Kopf weg stand.<br />

„Also – ich sehe gar nichts“, sagte mein Vater<br />

nach einer Weile.<br />

Ich holte tief Luft.<br />

Einer musste ja anfangen.<br />

„Ich seh was!“, rief ich aufgeregt. Die anderen<br />

schauten mich erstaunt an.<br />

„Da – über meinem Kopf – schwimmt ein sil-<br />

59


ernschwarzer Fisch mit … mit drei Augen und<br />

fünf Flossen!“<br />

Es war eine Zeit lang still.<br />

„Jetzt seh ich ihn auch“, sagte Jonathan. Er holte<br />

einen Fotoapparat aus seiner Jackentasche und<br />

machte ein Foto.<br />

„Du kannst doch höchstens die Wohnzimmerlampe<br />

fotografiert haben“, sagte mein Vater irritiert.<br />

„Na und?“, sagte Jonathan. „Dann sieht man eben<br />

einen Fisch mit Augen wie Glühbirnen!“<br />

Dann war es wieder ein paar Minuten still.<br />

„Whow!“, sagte meine Mutter plötzlich leise. „Ein<br />

Schneefisch. Ganz weiß. So was Schönes!“<br />

„Wo?“, fragte mein Vater.<br />

„Da. Genau vor deiner Nase!“<br />

Mein Vater fuchtelte mit der Hand vor seiner<br />

Nase herum.<br />

„Jetzt ist er weg!“, sagte meine Mutter enttäuscht.<br />

„Der kommt wieder“, beruhigte sie Jonathan.<br />

„Schneefische sind treu.“<br />

Ich schaute Jonathan von der Seite an. Bei ihm<br />

wusste ich nie, was er ernst meinte und was nicht.<br />

„Darauf habe ich schon lange gewartet“, sagte<br />

Jonathan mitten in die Stille hinein. „Ein Eisbärfisch!“<br />

60


„Ein was?“, fragte mein Vater.<br />

„Ein Eisbärfisch!“, sagte Jonathan. „Die sind ganz<br />

selten. Sie haben ein weißes Fell – wie Eisbären.“<br />

Mein Vater seufzte. „Und ich – ich seh weiße<br />

Mäuse!“<br />

„Wo?“, fragte Jonathan.<br />

Meine Mutter musste lachen. Ihr Lachen war<br />

ansteckend.<br />

Bald saßen wir alle vier da mit unseren Taucherbrillen<br />

und hielten uns die Bäuche vor Lachen.<br />

Meine Taucherbrille war schon ganz angelaufen.<br />

„Da kommt ein Tintenfisch mit einem Strohhut!“,<br />

rief mein Vater.<br />

61


„Und hier sind zwei Zwillingsfische. Die haben<br />

sogar die gleiche Frisur!“, gluckste meine Mutter.<br />

„Und hier kommt ein Brillenfisch!“, sagte Jonathan.<br />

„Er hat sogar ein Buch mit!“<br />

„Dort ist ein Fisch mit Sonnenblumenmuster!“<br />

Ich deutete auf ein Bild an der Wand.<br />

Jonathan fotografierte wild drauflos.<br />

„Wir entdecken heute Fische, die so selten sind,<br />

dass sie überhaupt noch nie jemand gesehen hat!“,<br />

sagte er.<br />

„Das glaub ich gern!“ Mein Vater nahm die<br />

Taucherbrille ab. „Es gehen ja auch nicht viele im<br />

Wohnzimmer auf Tauchfahrt!“<br />

„Gute Tiefseetaucher müssen überall ihre Sinne<br />

schärfen“, sagte Jonathan. „Glaubt ihr, dass man<br />

diesen Bananenfisch dort essen kann?“<br />

Wir machten uns gemeinsam über die Obstschüssel<br />

her. Den ganzen Nachmittag fielen uns noch<br />

irgendwelche Fische ein, die vorbeischwammen.<br />

Da gab es einen viereckigen Fernsehfisch, einen<br />

Fußballfisch, einen Engelfisch mit Flügeln, einen<br />

Taucherfisch mit Taucherbrille und Schnorchel,<br />

einen Schneckenfisch mit Haus, einen grünen Kaktusfisch<br />

mit Stacheln, einen Schulfisch mit Schul-<br />

62


tasche, einen Angeberfisch mit Sonnenbrille …<br />

„Wenn wir so weitermachen, dann werden wir alle<br />

nur noch von Fischen träumen“, sagte mein Vater.<br />

„Die ganze Nacht wird der berühmte Jonathan-Fisch<br />

über meinem Bett schweben und mir verrückte<br />

Geschichten erzählen.“<br />

Ich versuchte, mir Jonathan, meine Mutter, meinen<br />

Vater und mich als Fischfamilie vorzustellen, in<br />

einem Wohnzimmer, weit unten am Meeresgrund.<br />

63


„Nächste Woche gibt‘s jedenfalls keinen Fisch zu<br />

essen“, sagte meine Mutter. „Ich hab von Fischen<br />

jetzt einmal für eine Weile genug.“<br />

„Und was machen wir nächsten Sonntag?“, fragte<br />

ich Jonathan, als er sich verabschiedete.<br />

„Da machen wir einen Aufstand!“, sagte er.<br />

Und weg war er.<br />

64


Der Aufstand der Dinge<br />

Mir schwirrten die ganze Woche über wieder ziemlich<br />

viele Fragen durch den Kopf. Aber als Jonathan<br />

am nächsten Sonntag vor der Tür stand, fragte ich<br />

nur: „Welchen Aufstand? Du hast gesagt, wir machen<br />

heute einen Aufstand!“<br />

„Genau!“, sagte Jonathan. „Der Aufstand der<br />

Dinge! Heute ist es so weit!“<br />

„Was ist so weit?“, fragte meine Mutter, die ganz<br />

überrascht war, dass Jonathan diesmal nicht zu spät, sondern<br />

eine halbe Stunde zu früh zum Mittagessen kam.<br />

„Heute machen wir den Aufstand der Dinge!“,<br />

sagte Jonathan.<br />

„Oh, nein“, rief mein Vater. „Keinen Aufstand!<br />

Keine Wüste, kein Meer, keine Zwerge, kein Garnichts!“<br />

„Kein Nichts, das ist aber etwas“, sagte Jonathan<br />

ruhig. „Ich habe ein Buch mitgebracht.“<br />

Er zog ein schmales, kleines Buch aus seiner<br />

Jackentasche.<br />

65


„Ich befürchte das Schlimmste“, rief mein Vater<br />

und versteckte sich hinter der Badezimmertür. „Geht<br />

alle in Deckung!“<br />

„Stefan, der Spaßvogel!“, sagte Jonathan kopfschüttelnd.<br />

„Ich hab hier nur ein Buch mit genau<br />

77 Seiten. Das ist alles.“<br />

„Da kommt sicher noch was!“, sagte meine Mutter<br />

skeptisch.<br />

„Na ja.“ Jonathan rieb sich die Hände. „Ich habe<br />

mir gedacht, wir –“<br />

„Ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es!“, rief<br />

mein Vater. Er verschwand im Badezimmer und<br />

verriegelte die Tür.<br />

Jonathan lachte. „Du kannst ruhig herauskommen,<br />

Stefan. Wir tun gar nichts. Die Dinge tun alles.“<br />

Meine Mutter sah zuerst mich an, dann Jonathan.<br />

„Aha – die Dinge tun alles“, sagte sie dann leise.<br />

Mein Vater kam aus dem Badezimmer. „Zuerst<br />

wird gegessen“, sagte er. „Dann sind wir wenigstens<br />

gestärkt für das, was auf uns zukommt!“<br />

Während des Essens starrte ich neugierig auf das<br />

Buch, das Jonathan auf den Tisch gelegt hatte.<br />

„Und was steht da drin?“, fragte ich.<br />

„Es heißt ,Aufstand der Dinge‘“, sagte Jonathan,<br />

66


„und beschreibt, was geschieht, wenn eines Tages die<br />

Dinge in einen Streik treten.“<br />

„Wenn die Dinge streiken? Wie meinst du das?“,<br />

fragte mein Vater.<br />

„Na, die Haustür lässt dich nicht mehr herein,<br />

weil du dreimal mit dem Fuß gegen sie getreten<br />

hast im Zorn. Oder die Dusche will heute nicht nass<br />

werden und gibt kein Wasser. Oder der Fußball fliegt<br />

von selbst ins Tor und nicht immer nur daneben,<br />

nur weil keiner richtig schießen kann. Die Dinge<br />

tun einfach, wozu sie Lust haben.“<br />

„Das stell ich mir spannend vor!“, sagte ich.<br />

„Und warum sollten die Dinge streiken?“, fragte<br />

meine Mutter.<br />

„Weil wir sie nicht gut behandeln“, sagte Jonathan.<br />

„Überlegt doch nur, wie wir die Dinge die ganze<br />

Zeit von einer Ecke in die andere werfen. Wie wir<br />

alles achtlos herumliegen lassen. Wie oft wir etwas<br />

vergessen. Wie viel wir einfach wegwerfen, bevor wir<br />

uns die Mühe machen, es zu reparieren. Na, es gibt<br />

tausend Gründe, warum die Dinge nicht besonders<br />

gut auf uns zu sprechen sind.“<br />

„Und was hast du mit dem Buch vor?“ Mein Vater<br />

schaute das Buch an, als ob es ein gefährliches Tier<br />

67


wäre, das ihn beißen könnte.<br />

„Ich zeig‘s euch gleich.“ Jonathan wischte sich mit<br />

einer Serviette den Mund ab.<br />

Als wir mit dem Essen fertig waren, gingen wir<br />

ins Wohnzimmer. Jonathan wollte, dass wir uns auf<br />

den Boden setzten.<br />

„Das Sofa soll sich auch mal erholen können“,<br />

sagte er.<br />

Ich merkte schon am Blick meines Vaters: Er<br />

rechnete mit allem. Jonathan schaffte es fast immer,<br />

ihn völlig aus dem Konzept zu bringen.<br />

Jonathan schlug das Buch auf. „Lampe“, sagte er.<br />

„Da steht Lampe. Also, wer ist die Lampe?“<br />

Wir schauten ihn an, als wäre er jetzt endgültig<br />

und für alle Zeiten verrückt geworden.<br />

„Warum soll jemand die Lampe sein?“, fragte ich.<br />

„Max, du bist die Lampe“, sagte Jonathan. „Du<br />

musst dir vorstellen, du bist zum Beispiel diese<br />

Wohnzimmerlampe da oben und hast heute frei. Du<br />

kannst machen, was du willst. Du probst heute den<br />

Aufstand. Du streikst. Dieser Tag gehört dir. Das<br />

ist dein Sonntag. Ein freier Sonntag für die Lampe!<br />

Also – was machst du? Denk dir was aus!“<br />

Ich saß da und schaute zur Lampe hinauf. Ich<br />

68


war noch nie eine Lampe gewesen. Was sollte ich<br />

als Lampe schon viel anfangen?<br />

„Ich … ich mach heut kein Licht“, sagte ich zaghaft.<br />

„Bravo!“, rief Jonathan. „Recht so. Lass dir nichts<br />

gefallen!“<br />

„Und … ich möchte mal was anderes sehen als<br />

immer nur dieses Wohnzimmer!“<br />

„Genau!“, rief Jonathan begeistert. „Auf und davon.<br />

Hinaus in die Welt!“<br />

Meine Eltern sahen abwechselnd mich und die<br />

Lampe an, die über unseren Köpfen hing.<br />

„Also, ich … ich pack meine Glühbirnen zusammen,<br />

und dann machen wir einen Ausflug!“, stotterte<br />

ich. „Wir fahren zuerst in ein Lampengeschäft und<br />

schauen uns die anderen Lampen an. Nur so aus<br />

Neugier!“<br />

„Gute Idee“, sagte Jonathan. „Man muss sich auf<br />

dem Laufenden halten. Wie die Mode aussieht, was<br />

die anderen Lampen so reden und überhaupt.“<br />

Mein Vater sah mich an, als hätte ich mich wirklich<br />

in eine Lampe verwandelt.<br />

„Und dann?“, fragte er. „Was macht unsere Lampe<br />

dann?“<br />

„Ich fliege ans Meer“, sagte ich schnell. „Dort<br />

69


lege ich mich in die Sonne und lasse mich wärmen.<br />

Und dann warte ich, bis es Nacht wird. Wegen der<br />

Sterne. Damit ich einmal den Nachthimmel sehe,<br />

die Lampe mit den meisten Lichtern der Welt, von<br />

der ich schon so viel gehört habe.“<br />

„Gehört? Von wem?“, fragte mein Vater.<br />

„Na, von den Glühbirnen“, sagte ich.<br />

„Von den Glühbirnen“, wiederholte mein Vater.<br />

„Irgendwann nach Mitternacht fliege ich wieder<br />

heim und bin froh, dass ich wieder zu Hause bin.“<br />

„Eine schöne Geschichte“, sagte meine Mutter.<br />

„Wenn ich eine Lampe wäre, dann würde ich auch<br />

einmal den Sternenhimmel sehen wollen.“<br />

„Ja“, sagte ich. „Millionen von Glühbirnen.“<br />

Jonathan schlug das Buch auf einer anderen Seite<br />

auf.<br />

„Okay“, sagte er zu meiner Mutter. „Du bist an<br />

der Reihe.“<br />

„Was steht denn da für ein Wort?“, fragte sie.<br />

„Salzstreuer“, sagte Jonathan.<br />

„Ich träum ja von vielen Dingen“, sagte meine<br />

Mutter. „Aber ein Salzstreuer wollte ich noch nie sein.“<br />

Jonathan grinste sie an. „Jetzt ist es so weit. Nütze<br />

deine Chance!“<br />

70


Meine Mutter ging in die Küche und holte den<br />

Salzstreuer. Sie stellte ihn vor sich auf.<br />

„Damit ich mich besser hineinfühlen kann in<br />

einen Salzstreuer“, sagte sie.<br />

Ich musste lachen. Meine Mutter kicherte still in<br />

sich hinein.<br />

71


„Wir warten, lieber Salzstreuer!“, sagte Jonathan<br />

streng.<br />

„Na dann!“ Meine Mutter hielt den Salzstreuer<br />

hoch in die Luft. „Da heute mein freier Sonntag ist,<br />

habe ich beschlossen, in die Konditorei zu gehen.<br />

Ich will den ganzen Tag nur süße Sachen sehen. Ich<br />

hab genug vom ewigen Salz und von den scharfen<br />

Speisen. Ich gehe in die Konditorei, lasse mich mit<br />

Staubzucker anfüllen, stehe den ganzen Tag auf<br />

kleinen Tischchen herum und schaue zu, wie die<br />

Leute Torten und Kuchen und Schaumrollen und<br />

Eis mit Schlag essen. Ja, das mache ich! Und nach so<br />

einem Zuckertag hab ich dann auch wieder Lust aufs<br />

Heimkommen. Da kann ich es dann schon wieder<br />

eine Weile als Salzstreuer aushalten!“<br />

„Tja, dein Leben braucht Abwechslung, meine<br />

Süße“, sagte Jonathan.<br />

Mein Vater sah ihn verärgert an.<br />

„Und jetzt zu dir, Stefan“, sagte Jonathan zu ihm.<br />

Er blätterte im Buch.<br />

„Dein Wort heißt Stockhaus. Du bist doch<br />

Architekt. Also passt das Wort zu dir!“<br />

„Stockhaus?“ Mein Vater kratzte sich am Kinn.<br />

„Hmmm.“<br />

72


„Heute ist dein freier Sonntag, liebes Stockhaus“,<br />

sagte ich. „Mach dir einen schönen Tag!“<br />

„Das werde ich!“ Mein Vater setzte sich auf. „Zuerst<br />

gehe ich zwei Straßen weiter einen alten Freund<br />

von mir besuchen, das kleine gelbe Haus. Wir sind<br />

gemeinsam in die Schule gegangen.“<br />

„Müssen Häuser in die Schule gehen?“, fragte ich.<br />

„Natürlich“, sagte mein Vater. „Wir müssen zum<br />

Beispiel die Straßenverkehrsregeln gut beherrschen.<br />

Wehe, einer von uns geht bei Rot über die Kreuzung.“<br />

„Ich hab noch nie Häuser herumgehen sehen“,<br />

sagte ich.<br />

73


„Ich hab auch noch nie Lampen in der Gegend<br />

herumfliegen sehen“, sagte Jonathan. „Und jetzt<br />

Ruhe! Das Haus ist an der Reihe!“<br />

„Also, ich besuche meinen alten Freund. Dann<br />

gehen wir gemeinsam ein Zitroneneis essen – mein<br />

Lieblingseis. Dann fahren wir ins Grüne, wegen<br />

der Frischluft. Vielleicht spielen wir auch ein wenig<br />

Fußball auf einer Wiese. Wenn man dauernd herumsteht,<br />

braucht man Bewegung. Am Abend gehen<br />

wir gut essen. Und dann suchen wir uns noch eine<br />

gemütliche Diskothek und tanzen die ganze Nacht<br />

durch. Hoffentlich mit ein paar schönen Haus-<br />

Frauen, die auch dort sind!“<br />

„Das hör ich aber gar nicht gern!“, sagte meine<br />

Mutter und gab meinem Vater einen Stoß mit dem<br />

Ellbogen.<br />

„Jetzt haben wir schon eine Lampe am Meer,<br />

einen Salzstreuer in der Konditorei und ein Haus<br />

in der Diskothek.“ Jonathan nahm noch einmal das<br />

Buch. „Bett“, sagte er. „Da steht Bett. Das ist genau<br />

das Richtige für mich!“<br />

„Und was machst du den ganzen Tag, du Bett?“,<br />

fragte mein Vater.<br />

„Ich stehe sehr früh auf und spaziere zum nächst<br />

74


esten Fluss. Dort blase ich meine verborgenen Wasserflügel<br />

auf, und dann fahre ich davon. Ich treibe an<br />

den schönsten Landschaften vorbei – an blühenden<br />

Wiesen, geheimnisvollen Zaubergärten, ich fahre<br />

durch den Dschungel und durch die Wüste, bis zum<br />

Meer. Dort lasse ich meine Bettdecke flattern wie<br />

ein Segel. Ich stelle mich ein wenig seitwärts auf –<br />

und dann kann mich der Wind wie ein Segelschiff<br />

durch die Gegend blasen. So werde ich endlich einmal<br />

richtig gut durchgelüftet. Mein Sonntag dauert<br />

natürlich zwei Wochen. Sonderurlaub! Wenn ich<br />

wieder nach Hause komme, rieche ich nach Meer<br />

und Wind und Sonne!“<br />

75


„Das glaub ich sofort“, brummte mein Vater.<br />

Wir ließen uns noch ein paar Geschichten einfallen.<br />

Meine Mutter erzählte, was sie als Hut alles<br />

erleben würde, und mein Vater ließ seine Brille in<br />

einem Flugzeug dreimal um die Welt fliegen, damit<br />

sie einmal alles, aber auch wirklich alles sieht.<br />

Ich war eine leere Flasche, die als Flaschenpost<br />

von Insel zu Insel fuhr, und Jonathan erzählte aus<br />

dem Leben eines Hosenknopfs.<br />

Es wurde – wie jeden Sonntag – ziemlich spät,<br />

weil es so viel zu reden und zu lachen gab.<br />

Als ich endlich im Bett lag, musste ich an Jonathans<br />

Bett-Geschichte denken. Wenn mich mein<br />

Bett jetzt mit auf die Reise nehmen würde, durch<br />

geheimnisvolle Zaubergärten und mitten hinein in<br />

den Dschungel …


Der Sonntagsriese<br />

Der nächste Sonntag war kein Sonntag.<br />

Am Mittwoch, nach dem Abendessen, läutete es<br />

an der Tür. Ohne viel darüber nachzudenken, wer<br />

das sein könnte, machte ich auf. Draußen stand<br />

Jonathan.<br />

„Darf ich hereinkommen? Auch wenn heute nicht<br />

Sonntag ist?“<br />

Ich starrte ihn verdutzt an. „Natürlich kannst du<br />

hereinkommen“, stotterte ich. „Du kannst immer<br />

zu uns kommen.“<br />

Jonathan war irgendwie anders als sonst. Er wirkte<br />

fast schüchtern.<br />

„Ich bin sehr müde und würde mich gern bei<br />

euch ein wenig ausrasten“, sagte Jonathan zu meinen<br />

Eltern, die ihn erstaunt ansahen.<br />

„Willst du dich hinlegen?“, fragte meine Mutter.<br />

„Hast du schon gegessen?“ Mein Vater stand auf,<br />

um für Jonathan einen Teller zu holen.<br />

„Keinen Hunger, keinen Durst“, sagte Jonathan.<br />

77


„Ich bin einfach nur müde. Lasst euch nicht stören.<br />

Ich werde mich aufs Sofa im Wohnzimmer legen.<br />

Max, kommst du mit?“<br />

Mir wurde ganz komisch zumute. War Jonathan<br />

krank? Er sah so blass aus, so erschöpft.<br />

Er legte sich aufs Sofa, und meine Mutter wickelte<br />

ihn in eine warme Decke ein.<br />

„Ich bringe dir eine Tasse Tee und eine kleine<br />

Jause, für später.“ Sie strich ihm übers Haar.<br />

„Du kannst gern hier schlafen“, sagte mein Vater.<br />

„Wenn du möchtest.“<br />

Jonathan schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Ello<br />

wartet. Er ist nicht gern allein zur Zeit.“<br />

Ich saß da und verstand kein Wort. Wer war Ello?<br />

Und was war mit Jonathan passiert?<br />

„Setz dich zu mir, Sonntagsriese!“, sagte Jonathan.<br />

„Wie kommst du auf ,Sonntagsriese‘?“, fragte ich.<br />

„Das könnte ich eigentlich zu dir sagen. Du kommst<br />

jeden Sonntag, du bist groß – fast so groß wie ein<br />

Riese – und dann hast du auch noch jeden Sonntag<br />

eine Riesenüberraschung für mich. Also bist du der<br />

Sonntagsriese!“<br />

Jonathan wurde ganz verlegen.<br />

„Das hast du schön gesagt. Aber mir geht es ge-<br />

78


nauso. Ich seh dich am Sonntag, und jedesmal hab<br />

ich eine Riesenfreude, wenn ich bei euch bin. Also<br />

bist du mein Sonntagsriese. Immer, wenn ich von<br />

euch weggehe, fühle ich mich richtig gut!“<br />

„Dann sind wir beide Sonntagsriesen. Einmal<br />

du, einmal ich. Einverstanden?“ Ich hielt Jonathan<br />

die Hand hin.<br />

Er drückte sie fest. „Einverstanden“, sagte er.<br />

Er schloss die Augen. Ich wusste nicht, was ich<br />

sagen sollte.<br />

„Wer ist Ello?“, fragte ich nach einer Weile.<br />

„Ello ist ein alter Freund.“ Jonathan setzte sich<br />

auf. „Ello war früher einmal mein Nachbar. Er – und<br />

seine Frau. Seit sie gestorben ist, lebt er allein. Nur<br />

am Sonntag, da kommt sein Sohn, der auch schon<br />

ein alter Mann ist.“<br />

„Wie alt ist Ello denn?“<br />

„So an die achtzig. Er war früher einmal ein berühmter<br />

Clown.“<br />

„Und – du wohnst bei ihm? Ich meine, jetzt?<br />

Während du hier bist?“<br />

„Ich hab ihm vorgeschlagen, ein Buch über sein<br />

Leben zu machen. Ich frage ihn aus und nehme alles<br />

auf. Er hat noch viele alte Plakate und Fotos. Und<br />

79


ich fotografierte ihn auch manchmal. Selbst, wenn<br />

nie ein Buch daraus wird – es macht uns beiden viel<br />

Spaß. Ello ist schwer krank. Die Ärzte meinen, er<br />

wird nicht mehr lange leben.“<br />

„Und du kommst nur am Sonntag zu uns, weil –“<br />

„Weil ich da gut wegkann. Da ist Ellos Sohn zu<br />

Besuch, da braucht er mich nicht.“<br />

„Und warum lebt er allein? Er könnte doch –“<br />

„Er will allein sein. Er will in seiner Wohnung<br />

sterben. Das hat er so gesagt. In der Wohnung ist er<br />

auch auf die Welt gekommen.“<br />

„Kannst du – kannst du Ello nicht einmal mitnehmen,<br />

zu uns?“<br />

„Er kann kaum mehr gehen. Aber – vielleicht<br />

darfst du einmal mit zu ihm. Ich werde ihn fragen.“<br />

Ich nickte. Diesen Ello würde ich gerne kennenlernen.<br />

„Ello hat mir einmal das Leben gerettet“, sagte<br />

Jonathan leise.<br />

„Das Leben gerettet? Dir? Ein so alter Mann?“<br />

Jonathan lachte. „Da war er noch nicht ganz so<br />

alt. Und außerdem – was hat denn das mit dem Alter<br />

zu tun? Er war einfach für mich da und hat mit mir<br />

geredet – wie ein Freund. Wie ein Großvater.“<br />

80


„Und das hat dich gerettet?“<br />

„Ja. Ich wollte zu dieser Zeit nicht mehr leben.<br />

Ich habe schon öfter solche Krisen gehabt. Ganz<br />

dunkle Zeiten. Wo mir alles so schwarz, so finster,<br />

so sinnlos vorkam. Und da hatte ich keine Lust mehr<br />

aufs Leben.“<br />

Ich schüttelte den Kopf. Das konnte ich nicht<br />

glauben.<br />

Mein Onkel Jonathan, der so viele verrückte<br />

Sachen machte? Den nichts aus der Ruhe brachte?<br />

Der immer gut gelaunt war?<br />

„Ich weiß schon, was du denkst“, sagte Jonathan.<br />

„Weil ich meistens so fröhlich bin, kannst du dir gar<br />

nicht vorstellen, dass es mir manchmal so schlecht<br />

geht. Das sind so Phasen, ich kann es dir auch nicht<br />

erklären. Eine Zeit lang geht es mir blendend, ich<br />

könnte die ganze Welt umarmen. Und dann – ganz<br />

plötzlich – fühle ich mich unheimlich schwer. Ich<br />

habe das Gefühl, als könnte ich mich nicht mehr bewegen,<br />

als wäre alles – egal was – vollkommen sinnlos<br />

und viel zu anstrengend. Es hat Zeiten gegeben,<br />

da bin ich monatelang gar nicht aus der Wohnung<br />

gegangen. Ich konnte kaum aus dem Bett steigen, so<br />

schwer und müde hab ich mich gefühlt. Die Ärzte<br />

81


sagen, man fällt in ein schwarzes Loch.“<br />

„Bist du jetzt in so einem schwarzen Loch?“ Ich<br />

schaute Jonathan ängstlich an. „Fühlst du dich jetzt<br />

auch so?“<br />

Er nahm meine Hand. „Keine Angst. So schlimm<br />

hat es mich schon lange nicht mehr erwischt. Ich<br />

bin heute nur ein wenig traurig und müde. Kein<br />

Vergleich mit früher. Ich habe mich jetzt viel besser<br />

im Griff. Eine Weile musste ich sogar alle möglichen<br />

Tabletten schlucken. Aber das Schlimmste ist vorbei.<br />

Nur manchmal habe ich noch Phasen, in denen ich<br />

so bedrückt bin – dann geht‘s schon wieder.“<br />

„Lebst du eigentlich allein?“, fragte ich. „Ich meine –<br />

in Amerika. Hast du da niemanden?“<br />

„Ich habe eine Freundin“, sagte Jonathan. „Die<br />

versteht mich. Und die nehme ich sicher auch einmal<br />

mit, wenn ich wiederkomme. Aber sie arbeitet<br />

in einer kleinen Galerie und kann nicht so oft weg.<br />

Sie malt auch selbst. Riesengroße, schöne Bilder. Die<br />

würden dir gefallen.“<br />

Es beruhigte mich, dass Jonathan eine Freundin<br />

hatte.<br />

Jonathan kramte in seiner Geldbörse und zog ein<br />

Schwarzweißfoto heraus.<br />

82


„Darf ich vorstellen? – Linda.“<br />

„Hallo, Linda“, sagte ich zu dem Foto. Linda hatte<br />

dunkle kurze Haare und ein sympathisches Lachen.<br />

„Sie ist meine Rettung“, sagte Jonathan. „Sie<br />

weiß, wie sie mich aufbauen kann, wenn ich mal<br />

wieder unten bin.“<br />

„Das ist gut“, sagte ich.<br />

Jonathan schaute mich nachdenklich an.<br />

„Bist du mir jetzt böse?“, fragte er schließlich.<br />

Ich runzelte die Stirn.<br />

83


„Weshalb sollte ich dir böse sein?“<br />

„Na, weil ich nicht der lustige tolle Onkel bin,<br />

für den du mich gehalten hast!“<br />

„Das bist du ja trotzdem. Ich freue mich auf jeden<br />

Sonntag mit dir. Und ich freu mich auch heute, dass<br />

du da bist. Traurig sein ist – glaub ich – ziemlich<br />

normal. Und nachdem du manchmal viel lustiger<br />

bist als die anderen, bist du dann wohl auch viel<br />

trauriger als die anderen. Oder nicht?“<br />

„Genauso ist es“, sagte Jonathan. „Das mit dem<br />

richtigen Mittelmaß, das hab ich nie geschafft. Dein<br />

Vater kann das!“<br />

„Mir wäre lieber, er wäre öfter so wie du. Er macht<br />

sich immer gleich Sorgen. Und alles muss seine<br />

Ordnung haben.“<br />

„Das treiben wir ihm schon noch aus“, sagte<br />

Jonathan. „Und deine Mutter, die darfst du nicht<br />

unterschätzen. Die ist schwer in Ordnung. Hast du<br />

sie Schlagzeug spielen gesehen?“<br />

Ich nickte. Eigentlich waren meine Eltern beide<br />

„schwer in Ordnung“.<br />

„Die müssen nur ein klein wenig aufgeweckt werden“,<br />

flüsterte Jonathan. „Das kriegen wir schon hin!“<br />

Wir zwinkerten uns zu wie zwei Verschwörer.<br />

84


Dann ließ ich Jonathan in Ruhe.<br />

Ich setzte mich zu meinen Eltern in die Küche.<br />

„Jonathan war früher oft im Krankenhaus“, sagte<br />

mein Vater. „Aber inzwischen geht‘s ihm besser. Er<br />

ist nur manchmal besonders gut drauf – und in der<br />

nächsten Minute ziemlich k.o.“<br />

„Das Reisen tut ihm gut“, sagte meine Mutter.<br />

„Es hat eine Zeit gegeben, da hat er sich vor allem<br />

gefürchtet. Er hat es mir einmal erzählt. Das ist<br />

längst vorbei. Jetzt fährt er um die Welt wie ein<br />

Abenteurer!“<br />

„Er ist ein Abenteurer!“, sagte ich. „Und – er ist<br />

mein Sonntagsriese!“<br />

„Wir sehen einander am Sonntag!“, sagte Jonathan,<br />

als er sich verabschiedete. Er hatte ein wenig<br />

geschlafen.<br />

„Schönen Gruß an Ello!“, sagte ich.<br />

Er schüttelte mir die Hand.<br />

„Wird ausgerichtet, Sonntagsriese.“<br />

„Selber!“, sagte ich.<br />

Dann schloss ich leise die Tür.


Auf hoher See<br />

Die nächsten zwei Sonntage kam Jonathan fast<br />

immer schon eine Stunde zu früh zum Essen. Und<br />

dabei hatte er nicht einmal richtig Hunger. Er wirkte<br />

müde und niedergeschlagen.<br />

„Mit Ello geht es bergab“, sagte er manchmal.<br />

„Aber er will euch unbedingt kennenlernen. Demnächst<br />

kommt eine Einladung!“<br />

Am ersten Sonntag fuhren wir zu einem kleinen<br />

Teich. Bei einem Gasthaus konnte man Boote mieten.<br />

Ich fuhr mit Jonathan in einem kleinen roten Boot<br />

ein paar Runden. Meine Eltern lagen in der Wiese<br />

und winkten uns zu.<br />

„Ich habe früher auch hier in der Stadt gewohnt“,<br />

erzählte Jonathan, während er gleichmäßig ruderte.<br />

„Das muss gut zehn Jahre her sein. Da warst du<br />

noch gar nicht auf der Welt. Da habe ich deine<br />

Eltern auch öfter besucht. Aber immer, wenn ich<br />

eine Krise hatte und mich nicht so wohl fühlte, bin<br />

ich verschwunden. Ich hab mich geniert für meine<br />

86


Traurigkeit. Verstehst du das?“<br />

Ich schaute mein Spiegelbild im Wasser an.<br />

„Wenn ich traurig bin, dann will ich auch meine<br />

Ruhe haben!“, sagte ich.<br />

„Dein Vater und deine Mutter haben mir immer<br />

gesagt: Du kannst jederzeit kommen. Melde dich,<br />

wenn du etwas brauchst! Sie waren mir nie böse.<br />

Aber ich habe mich trotzdem nicht oft gemeldet.<br />

Frag mich nicht, warum. Ich war zu stolz, vielleicht.<br />

Und manchmal war ich auch richtig neidisch auf<br />

ihr Leben.“<br />

Er spritzte mir mit der Hand ein paar Tropfen<br />

Wasser ins Gesicht.<br />

„He!“, rief ich. Sofort war eine kleine Wasserschlacht<br />

im Gange. Das Boot schaukelte gefährlich.


„Halt! Friede!“, rief Jonathan. Unsere Hemden<br />

waren ziemlich nass geworden.<br />

„Aber dafür hast du ein freies Leben. Du kannst<br />

dir die ganze Welt anschauen!“, sagte ich. „Und<br />

genug Geld hast du auch, oder?“<br />

„Es geht so“, sagte Jonathan. „Reich werd ich<br />

wohl nie werden. Aber es lässt sich leben.“<br />

„Und Kinder kannst du ja noch kriegen. Oder<br />

mag Linda keine Kinder?“ Ich konnte mir nicht vorstellen,<br />

dass Jonathan eine Freundin haben konnte,<br />

die keine Kinder mochte.<br />

„Und wie sie Kinder mag. Außerdem mag sie<br />

mich. Und ich bin schon Kind genug. Findest du<br />

nicht auch?“ Jonathan sah mich ernst an.<br />

„Du kannst aber auch ziemlich erwachsen aussehen“,<br />

sagte ich. Jonathan zog die Ruder ein und<br />

legte sie ins Boot.<br />

Wir ließen das Boot im Wasser treiben. Die Sonne<br />

war angenehm warm im Gesicht.<br />

„Zwei Sonntagsriesen auf hoher See!“, sagte<br />

Jonathan leise. Er schien fast schon zu schlafen. Ich<br />

sah zu meinen Eltern auf die Wiese hinüber. Sie<br />

lagen – eng aneinander gekuschelt – auf einer Decke<br />

im Gras und schienen auch zu schlafen. Ich seufzte.<br />

88


Das war ein ganz schön friedlicher Sonntag. Aber<br />

trotzdem fühlte ich mich wohl.<br />

Ich sah Jonathan an. Eine Biene hatte sich auf seine<br />

Nasenspitze gesetzt. Ich überlegte, wie ich sie am<br />

besten vertreiben konnte, ohne ihn zu erschrecken.<br />

„Das kann nur eine Biene sein“, hörte ich ihn in<br />

diesem Augenblick ruhig sagen. „So, wie das kitzelt!<br />

So kitzeln nur Bienen!“<br />

Er hob ganz langsam eine Hand vors Gesicht.<br />

Als die Biene merkte, dass sie plötzlich im Schatten<br />

saß, erhob sie sich von Jonathans Nasenspitze und<br />

flog weiter.<br />

„Blumen schmecken ja doch besser!“, brummte<br />

Jonathan.<br />

Am Abend saßen wir lange im Gasthaus. Meine<br />

Eltern und Jonathan erzählten davon, wie sie einander<br />

früher öfter gesehen hatten und wie sie manchmal<br />

miteinander schwimmen waren oder im Kino.<br />

„Ihr müsst Linda unbedingt kennenlernen!“, sagte<br />

Jonathan. „In ein paar Monaten werde ich einmal<br />

gemeinsam mit ihr bei euch auftauchen!“<br />

„Und dann werdet ihr – falls bei Ello zu wenig<br />

Platz ist —, bei uns wohnen!“, sagte meine Mutter.<br />

„Das Wohnzimmer, das jetzt schon eine Wüste, ein<br />

89


Konzertsaal und ich weiß nicht was gewesen ist, wird<br />

dann auch noch ein Gästezimmer. Ich freu mich<br />

schon darauf!“<br />

„Und dann brauchst du nicht nur am Sonntag zu<br />

kommen!“, sagte mein Vater.<br />

„Genau!“, rief ich. „Weil dann jeden Tag Sonntag<br />

ist!“


Der Sonntagskuss<br />

Der nächste Sonntag verlief noch viel ruhiger.<br />

Im Fernsehen wurden zwei alte Filme gezeigt, die<br />

mein Vater sehen wollte, und dann noch ein Fußballmatch.<br />

Noch dazu ein Ländermatch.<br />

Jonathan und ich machten es uns auf dem Sofa<br />

gemütlich, mein Vater und meine Mutter hatten eine<br />

weiche Decke auf dem Boden ausgebreitet.<br />

„Seit neuestem sitzen wir gerne auf dem Boden“,<br />

sagte mein Vater. „Ich muss sagen, Jonathan, du hast<br />

uns ziemlich viel beigebracht, die letzten Sonntage.“<br />

„Was denn zum Beispiel?“, fragte Jonathan.<br />

„Dass man nicht alles so ernst nehmen darf. Dass<br />

es gut tut, Spaß miteinander zu haben. Dass man<br />

wenigstens einen Tag in der Woche gemeinsam genießen<br />

sollte. Egal, was man dann macht. Es muss<br />

nur allen gefallen.“<br />

„Ein Tag in der Woche ist zu wenig“, sagte ich.<br />

„Es müsste öfter Sonntag sein.“<br />

„Sonntag ist immer dann, wenn man das Ge-<br />

91


fühl hat, dass Sonntag ist“, sagte<br />

Jonathan. „Heute zum Beispiel ist<br />

Sonntag!“<br />

„Aber – heute ist ja wirklich<br />

Sonntag!“, rief ich.<br />

„Ach so? Reiner Zufall!“ Jonathan zwinkerte mir<br />

zu. „Du weißt schon, was ich meine. Weihnachten<br />

fällt zum Beispiel oft auf keinen Sonntag. Und man<br />

hat doch ein Sonntagsgefühl. Oder an den anderen<br />

Feiertagen. Oder wenn schulfrei ist! Oder an deinem<br />

Geburtstag! Lauter Sonntage!“<br />

„Wenn es zum ersten Mal schneit! Wenn ich<br />

spüre, dass es Sommer wird! Wenn draußen alles<br />

blüht! Wenn ich verliebt bin!“ Meine Mutter seufzte:<br />

„Lauter Sonntage!“<br />

„Wenn du verliebt bist?“ Mein Vater sah sie prüfend<br />

an. „Ich hoffe, damit meinst du mich?“<br />

„In das Leben verliebt. Oder in dich. Manchmal.<br />

Wenn du nicht zu ernst bist.“ Meine Mutter gab<br />

ihm einen Kuss.<br />

„Jetzt weiß ich es“, sagte mein Vater. „Sonntag ist,<br />

wenn man geküsst wird.“<br />

Am Abend saß Jonathan bei mir im Zimmer und<br />

fragte mich aus: „Hast du eine Freundin? Warum<br />

92


nimmst du sie nicht mal mit nach Hause und stellst<br />

sie deinen Eltern vor? Hast du überhaupt Freunde?<br />

Darfst du nie bei ihnen schlafen? Traust du dich, alles<br />

deinen Eltern zu sagen? Hast du Angst vor ihnen?“<br />

Ich erzählte von Ulla aus meiner Klasse, in die ich<br />

schon ziemlich lange verliebt war und von meinen<br />

Freunden Erwin, Robert, Franz und Wolfgang …<br />

Jonathan hörte aufmerksam zu.<br />

Als ich schon im Bett lag, hörte ich ihn noch mit<br />

meinen Eltern in der Küche reden.<br />

Irgendwann, mitten in der Nacht, stand mein<br />

Vater bei mir im Zimmer und drückte mir einen<br />

Kuss auf die Stirn.<br />

„Das ist ein Sonntagskuss!“, hörte ich ihn sagen,<br />

dann war ich auch schon wieder eingeschlafen.


Ein Clown in der Küche<br />

Ich öffnete die Tür – und musste laut lachen.<br />

Jonathan hatte eine rote Clownsnase auf. Sie<br />

passte gut zu ihm.<br />

„Man könnte glauben, du bist als Clown geboren“,<br />

sagte ich. Diesen Sonntag schien es Jonathan<br />

schon wieder besser zu gehen. Er sah viel fröhlicher<br />

aus als am Sonntag zuvor.<br />

Er drückte mit dem Zeigefinger auf seine Nase.<br />

Ein lautes Quietschen war zu hören.<br />

„Jonathans Nase quietscht!“, rief ich meinen Eltern<br />

zu, die neugierig ins Vorzimmer kamen.<br />

„Es ist so weit!“, sagte Jonathan. „Nächsten<br />

Sonntag seid ihr bei Ello eingeladen. Er gibt eine<br />

Abschiedsvorstellung! "<br />

„Das klingt ja furchtbar!“, sagte meine Mutter.<br />

„Wie kannst du da so gut aufgelegt sein. Geht es<br />

ihm so schlecht?“<br />

„Es geht ihm so halbwegs“, sagte Jonathan. „Aber<br />

das meine ich ja nicht. Er übersiedelt!“<br />

94


„Wohin denn?“, fragte ich. „Muss er in ein Heim?“<br />

„Nein“, Jonathan schüttelte energisch den Kopf.<br />

„Das ist ja das Schöne, und deshalb bin ich auch<br />

wieder besser gelaunt. Ello zieht zu seinem Sohn<br />

und dessen Familie.“<br />

Ich drückte fest auf Jonathans rote Nase. Sie<br />

quietschte jetzt noch lauter.<br />

„Ello war ja mit dem Zirkus in der ganzen Welt<br />

unterwegs. Das ist für einen Sohn, der zu Hause<br />

wartet, kein lustiges Leben. Und darum war er auf<br />

Ello nicht besonders gut zu sprechen. Aber sie haben<br />

in der letzten Zeit viel miteinander geredet. Und jetzt<br />

– endlich – konnte er Ello überreden, die Wohnung<br />

aufzugeben und zu ihm ins Haus zu ziehen! Das ist<br />

auf dem Land und für Ello hundertmal besser als in<br />

der engen, feuchten, dunklen Wohnung!“<br />

„Das muss gefeiert werden!“, sagte mein Vater.<br />

„Ich hole eine gute Flasche Wein. Die trinken wir<br />

auf Ello und seinen Sohn!“<br />

Jonathan nahm die rote Nase die ganze Zeit über<br />

nicht ab.<br />

„Warum behältst du die oben?“, fragte ich schließlich.<br />

„Ello zu Ehren!“, sagte Jonathan. „Und außerdem<br />

95


soll sie mich an etwas erinnern. Und spätestens,<br />

wenn ich in den Spiegel schaue, fällt es mir dann<br />

wieder ein!“<br />

„Und woran soll sie dich erinnern?“<br />

„An die kleine Zirkusvorstellung, die wir bei Ello<br />

geben werden.“ Jonathan sah uns freudestrahlend an.<br />

„Wir geben eine Zirkusvorstellung? Ich dachte,<br />

dass Ello –“, sagte mein Vater.<br />

„Ello zeigt ein paar Kunststücke. Und Fotos von<br />

früher. Aber ich habe mir gedacht, wir sollten auch<br />

etwas für ihn haben, als Geschenk.“<br />

„Und was könnte das sein, Herr Clown?“, fragte<br />

meine Mutter und drückte Jonathans Nase, dass sie<br />

gleich zweimal quietschte.<br />

„Jeder von uns studiert etwas ein, und das führen<br />

wir dann in Ellos Wohnung vor!“ Jonathan rieb sich<br />

begeistert die Hände. „Also, auf das Fest freu ich<br />

mich schon!“<br />

„Und wer wird da kommen?“ Ich konnte mir<br />

noch nicht vorstellen, was ich Ello zeigen sollte.<br />

„Nur wir vier“, sagte Jonathan. „Ein Fest unter<br />

Freunden. Und natürlich Ello selber!“<br />

„Das klingt alles schön und gut!“, sagte mein<br />

Vater. „Aber was sollen wir da groß vorführen? Ich<br />

96


kann nicht einmal ein Gedicht aufsagen!“<br />

„Ich schon!“, rief ich. „Ich kann mindestens vier<br />

Gedichte auswendig!“<br />

„Na also.“ Jonathan nahm einen Zettel und schrieb<br />

etwas auf. „Einen Programmpunkt haben wir schon.<br />

Max wird mindestens vier Gedichte aufsagen. Was<br />

haben wir noch anzubieten?“<br />

„Ich habe einmal – als junges Mädchen – Ballett<br />

getanzt“, sagte meine Mutter. „Ich könnte so tun,<br />

als würde ich …“<br />

Jonathan ließ sie gar nicht ausreden. „Viva Ballerina!“,<br />

rief er begeistert. „Das wird ein tolles Programm,<br />

das seh ich schon.“<br />

„Aber –“ Mein Vater sah uns alle mürrisch an.<br />

„Da blamieren wir uns doch nur. Ich meine, Ello<br />

ist immerhin …“<br />

„Ein sehr alter, kranker Mann, der sich kaum<br />

noch rühren kann, und der sich nicht geniert vor<br />

uns! Also, nur keine Ausreden!“<br />

Jonathan beugte sich zu meinem Vater. „Ello war<br />

vor vielen, vielen Jahren einmal ein großer Akrobat.<br />

Aber heute ist er nur noch ein Schatten seiner selbst.<br />

Es geht doch nur darum, ihm eine kleine Freude zu<br />

machen!“<br />

97


„Na gut. Ich könnte meinen Trick mit der Taschenlampe<br />

und den Händen zeigen!“, sagte mein Vater.<br />

„Du meinst, den Wolf und den Riesenfisch?“ Ich<br />

musste lachen. „Das ist das einzige Schattentheater,<br />

in dem nur zwei Figuren vorkommen!“<br />

„Mir fehlt einfach die Zeit zum Üben!“, sagte<br />

mein Vater. „Aber du musst zugeben, dass der Wolf<br />

wirklich zum Fürchten ausschaut. Und der Fisch<br />

schwimmt wunderschön durch die Luft!“<br />

Ich nickte. „Das stimmt! Es sieht toll aus!“<br />

Jonathan klatschte in die Hände. „Ich werde<br />

zuerst der Clown in der Küche sein, der alles falsch<br />

macht beim Servieren, und dann helfe ich dir beim<br />

Schattentheater. Da lassen wir uns noch etwas einfallen.“<br />

Wir verbrachten den ganzen Sonntagnachmittag<br />

damit, dass jeder für sich seinen „Auftritt“ übte.<br />

Ich las brav Gedichte durch, meine Mutter hüpfte<br />

vor dem Spiegel im Schlafzimmer auf und ab, und<br />

mein Vater saß mit einer Taschenlampe im dunklen<br />

Badezimmer.<br />

Jonathan hörten wir in der Küche mit dem<br />

Geschirr scheppern. Ein Glas war ihm bereits hinuntergefallen,<br />

aber komischerweise regte sich gar<br />

98


niemand auf. Alle taten so, als hätten sie es nicht<br />

gehört. Jonathan kehrte die Scherben weg, und dann<br />

übte er weiter.<br />

„Was machst du da eigentlich?“, fragte ich ihn<br />

nach einiger Zeit.<br />

Er stand mitten in der Küche, und auf seinem<br />

Kopf thronten übereinandergestapelt ein großer,<br />

ein mittelgroßer und ein kleiner Kochtopf. In den<br />

Händen hielt er drei Äpfel, mit denen er zu jonglieren<br />

begann.<br />

Es funktionierte!<br />

„Jonathan kann jonglieren!“, rief ich laut.<br />

99


Gerade als meine Mutter verschwitzt und mit<br />

hochrotem Kopf zur Küchentür hereinschaute, fielen<br />

die drei Töpfe mit großem Getöse zu Boden.<br />

„Was ist denn da los?“, rief mein Vater, der aus<br />

dem Badezimmer angerannt kam.<br />

„Das sind nur kleine Konzentrationsfehler“, sagte<br />

Jonathan und hob die drei Töpfe wieder auf. „Zum<br />

Glück verwendet ihr lauter Sachen, die ohnehin<br />

nicht zerbrechen können. Und wie steht‘s bei euch?“<br />

„Wenn Mücken sich bücken – seh ich mit Entzücken<br />

– ihren kleinen, feinen Rücken“, sagte ich.<br />

„Bravo!“, rief Jonathan. „Mehr darfst du noch<br />

nicht verraten. Wir lassen uns überraschen!“<br />

„Ich probiere einen kurzen Tanz mit einer Blume“,<br />

sagte meine Mutter.<br />

„Und ich brauche deine Hilfe“, meinte mein Vater<br />

grinsend. „Sonst frisst der Wolf noch den Fisch,<br />

so schnell kann ich gar nicht schauen!“<br />

Mein Vater und Jonathan blieben ziemlich lang<br />

im Badezimmer. Als sie endlich herauskamen, sahen<br />

sie recht zufrieden aus.<br />

„Ich glaube, das wird was“, sagte mein Vater.<br />

„Und wie heißt die Geschichte, die ihr spielen<br />

wollt?“, fragte ich.<br />

100


Jonathan nahm seine rote Nase herunter und setzte<br />

sie mir auf. Sie zwickte ein wenig an der Nasenspitze.<br />

Er drückte die Nase und ließ es quietschen.<br />

„Es wird weder ein Wolf noch ein Fisch vorkommen“,<br />

sagte mein Vater stolz.<br />

„Sondern?“ Ich war jetzt wirklich neugierig.<br />

„Riesen, zum Beispiel“, sagte mein Vater.<br />

Als Jonathan ging, durfte ich die rote Clownsnase<br />

behalten.<br />

„Aber sie ist nur geborgt“, sagte Jonathan. „Am<br />

nächsten Sonntag brauche ich sie. Unbedingt!“<br />

101


Ich legte mich am Abend mit meinem Pyjama<br />

und mit der roten Nase ins Bett.<br />

Mein Vater und meine Mutter kamen gemeinsam<br />

zu mir ins Zimmer. Jeder drückte einmal meine<br />

Nase. Es quietschte zweimal.<br />

„Das soll ,gute Nacht‘ heißen“, sagte meine<br />

Mutter. Ich drückte meine Nasenspitze. „Das auch“,<br />

sagte ich.<br />

Ich lag noch lange wach und stellte mir vor, ich<br />

sei ein richtiger Clown und würde mit einem Zirkus<br />

rund um die Welt fahren …


Der fliegende Akrobat<br />

Am nächsten Sonntag fuhren wir zu Ellos Wohnung.<br />

Ich war ganz schön aufgeregt. Nicht wegen der paar<br />

kurzen Gedichte, die ich aufsagen sollte, sondern weil<br />

ich neugierig auf Ello war. Er gehörte zu einem Teil<br />

von Jonathans Leben, den ich noch nicht kannte.<br />

Ello wohnte in einem hohen Haus in der Nähe<br />

des Riesenrades. Das Haus war alt, die gelbe Farbe<br />

bröckelte schon überall ab.<br />

Jonathan wartete vor der Haustür auf uns.<br />

„Seid ihr bereit?“, fragte er, als er uns sah.<br />

Ich hob die rote Nase hoch. „Ich hab sie nicht<br />

vergessen!“<br />

Meine Mutter trug in einer Tasche ihr Kleid zum<br />

Tanzen, und mein Vater hatte ein paar Taschenlampen<br />

und sonst noch einige Dinge eingepackt, die ich<br />

nicht sehen durfte.<br />

Im Stiegenhaus roch es muffig und feucht. Einige<br />

Glühbirnen waren kaputt, es war ziemlich finster.<br />

„Dritter Stock, linke Tür“, rief Jonathan.<br />

103


Es gab nicht einmal einen Aufzug. Da konnte Ello<br />

ja nie mehr hinausgehen, wenn seine Beine schon so<br />

schwach waren! An der Eingangstür hingen ein paar<br />

rote und gelbe Luftballons.<br />

„Eintritt frei!“, sagte Jonathan und hielt die Tür<br />

zur Wohnung auf.<br />

Wir gingen durch eine kleine Küche, und dann<br />

standen wir im Wohnzimmer. Überall hingen alte<br />

Plakate an der Wand. Ello und Jonathan hatten bunte<br />

Glühbirnen in die Lampen gedreht, sodass das Licht<br />

jetzt grün und blau und rot und gelb schimmerte.<br />

Auf dem Tisch stand ein großer Kuchen. Auf einem<br />

Plattenspieler, der sicher schon so alt wie Ello sein<br />

musste, drehte sich eine zerkratzte Schallplatte. Die<br />

Musik war so, wie ich sie aus alten Filmen kannte.<br />

Ello war nirgendwo zu sehen.<br />

„Er ist im Nebenzimmer!“, sagte Jonathan. „Ein<br />

Akrobat braucht seinen Auftritt! Bitte hier in der<br />

ersten Reihe Platz zu nehmen!“<br />

Er stellte uns einige Stühle hin. Wir mussten uns<br />

so setzen, dass wir genau auf die Tür zum Nebenzimmer<br />

schauten.<br />

„Achtung! Aufgepasst! Manege frei für Ello!“, rief<br />

Jonathan.<br />

104


Wir kamen uns – glaube ich – ziemlich sonderbar<br />

vor.<br />

Jonathan öffnete die Tür.<br />

Zuerst sahen wir nur ein großes Bett, das quer<br />

zur Tür mitten im Raum stand. Dahinter sah man<br />

einen hohen, braunen Kasten. Das Bett schien nur<br />

aus einer dicken, weißen Daunendecke zu bestehen.<br />

Plötzlich stieg aus dem Bett eine kleine, bunte Papierleiter<br />

empor. Sie wuchs und wuchs. Sie ging fast<br />

bis zur Decke hinauf.<br />

Ich staunte. Das sah wie Zauberei aus!<br />

Auf einmal kletterte eine kleine Figur aus Papier<br />

die Leiter empor. Es war ein Mann mit einem Rucksack.<br />

Blitzschnell sauste er die Leiter hinauf. Als er<br />

oben war, sah ich, dass er an einem dünnen, kaum<br />

sichtbaren Stäbchen befestigt war. Er stand auf der<br />

obersten Sprosse und winkte uns zu. Automatisch<br />

winkte ich zurück.<br />

Und dann – mit einem lauten „Hipp!Hipp!Hurra!“<br />

sprang das kleine Männchen einfach ins Leere. Es<br />

segelte durch die Luft, als würde es fliegen. Es drehte<br />

sich, machte einen Salto und landete weich auf der<br />

Bettdecke. Es stellte sich auf und verbeugte sich.<br />

Wir applaudierten wie wild.<br />

105


„Bravo!“, rief mein Vater. Er war vor Begeisterung<br />

kaum zu halten. „Bravo! Phantastisch! Großartig!“<br />

Wahrscheinlich dachte er daran, wie schwer er sich<br />

dabei tat, mit seinen Händen ein paar Schattenspiele<br />

zu machen. Und da turnte ein Männchen aus Papier<br />

durch die Luft, als würde es tatsächlich leben!<br />

Die Leiter wurde langsam eingezogen. Das<br />

Männchen verschwand. Jetzt erschien ein Turm aus<br />

Papier. Er wurde von hinten blau beleuchtet. Die<br />

106


ganze Bettdecke schimmerte blau. Wie Wasser sah<br />

das aus! Wie ein Schwimmbecken oder ein See oder<br />

das Meer! Und jetzt kletterte eine kleine Figur in<br />

einem weißen Badeanzug auf den Turm. Es war eine<br />

Frau. Sie hatte eine Badehaube auf und stellte sich<br />

ganz vorne auf den Turm. Und dann – mit einem<br />

weiten Satz – sprang sie vom Turm. Sie machte einen<br />

dreifachen Salto, drehte sich in der Luft wie eine<br />

Schraube und verschwand im Wasser. Sie tauchte so<br />

in die Bettdecke ein, dass wir sie nicht mehr sehen<br />

konnten. Nach einiger Zeit erschien ihr Kopf wieder<br />

an der Oberfläche. Sie winkte uns zu. Wir klatschten<br />

und tobten. Mein Vater klatschte so laut, dass ich<br />

mir ein Ohr zuhalten musste.<br />

Jetzt war der Turm wieder weg. Das blaue Licht<br />

wurde abgeschaltet.<br />

Ganz links außen erschien das Männchen mit<br />

dem Rucksack, ganz rechts die Frau im Badeanzug.<br />

Und in der Mitte des Bettes sah man plötzlich Ellos<br />

Kopf.<br />

Wir riefen „Bravo!“ und gingen ins Zimmer.<br />

Jonathan half Ello zurück ins Bett.<br />

Ello hatte dichtes weißes Haar und trug einen<br />

blau-weiß gestreiften Pyjama. Er war mindestens<br />

107


so dünn wie Jonathan, nur viel kleiner. Er strahlte<br />

übers ganze Gesicht.<br />

„Das war gar nicht so übel, oder?“, fragte er mit<br />

heiserer Stimme. „Das hat richtig Spaß gemacht.<br />

Dabei sind es ganz einfache Tricks. Was man halt<br />

so machen kann, wenn man kaum aus dem Bett<br />

kommt!“<br />

„Das war großartig!“, sagte ich. „Es hat wie Zauberei<br />

ausgesehen! Als würden sich die Figuren von<br />

allein bewegen!“<br />

„Ich wette, du weißt, wie man das macht?“, fragte<br />

Jonathan.<br />

„Mit ganz dünnen Stäbchen“, sagte ich. „Einmal<br />

hab ich sie kurz gesehen.“<br />

„Du hast gute Augen“, sagte Ello. „Ja, man führt<br />

die Figuren an dünnen, festen Stäbchen kreuz und<br />

quer in der Gegend herum. Man lässt sie springen<br />

und tanzen in der Luft!“<br />

Obwohl Ello krank und müde aussah, spürte<br />

man, wie sehr er sich über unseren Besuch freute.<br />

„Das war meine Abschiedsvorstellung!“, sagte er zu<br />

uns. „Nächste Woche ziehe ich aufs Land. Zu meinem<br />

Sohn. Ein wenig Abwechslung wird mir gut tun. Und<br />

Jonathan muss ja auch wieder zurück nach Amerika.“<br />

108


Jonathan stellte uns alle einzeln vor, obwohl Ello<br />

sicher schon viel über uns wusste.<br />

„Das ist mein Bruder Stefan, das ist seine Frau<br />

Julia und das hier ist Max, mein Sonntagsriese!“<br />

Ello gab uns allen die Hand.<br />

Jonathan sagte: „Und das ist Ello, der fliegende<br />

Akrobat! Einer der berühmtesten Clowns und<br />

Artisten der Welt!“<br />

Ello winkte ab. „Na, jetzt übertreib nicht. Ihr<br />

könnt euch gern die Plakate anschauen und die<br />

Fotos dort auf dem kleinen Tisch. Da seht ihr mich<br />

in Aktion. Als ich noch jünger war!“<br />

„Der fliegende Akrobat!“ war auf vielen Plakaten<br />

zu lesen. Manchmal stand da auch nur „ELLO“ oder<br />

„The flying Ello“.<br />

„Warum hat man dich den fliegenden Akrobaten‘<br />

genannt?“, fragte ich Ello. Ich setzte mich zu ihm<br />

ans Bett.<br />

„Das kann ich dir gern erklären“, sagte er. „Mach<br />

einmal die linke Kastentüre auf. Im Kasten stehen<br />

riesige schwarze Schuhe drin. Bring sie bitte mal<br />

her!“<br />

Ich machte die Türe auf. Die Schuhe, die er<br />

meinte, waren mindestens einen halben Meter lang.<br />

109


Es waren schmale, dünne Clownsschuhe, mit denen<br />

man sicher nur ganz schwer gehen konnte. Sie hatten<br />

da und dort Löcher.<br />

„Die haben schon viel erlebt!“, sagte Ello. „Die<br />

haben die ganze Welt gesehen. Indien, Amerika,<br />

Afrika – überall war ich mit dem Zirkus unterwegs.<br />

Fast mein ganzes Leben lang. Und meine berühmteste<br />

Nummer – ich hatte ja viele Nummern – aber<br />

meine berühmteste war die mit dem Fliegen!“<br />

Ich schaute die Schuhe an und dann Ello. „Du<br />

bist mit diesen Schuhen geflogen?“<br />

Ello schüttelte den Kopf. „Ich bin in diese Schuhe<br />

hineingeflogen. Hinein, verstehst du?“<br />

Ich verstand kein Wort.<br />

„Ich werde es dir erklären“, sagte Jonathan. „Du<br />

hast doch die kleine Figur gesehen, die auf eine Leiter<br />

hinaufklettert und dann herunterspringt?“<br />

Ich nickte.<br />

„Nun, Ello ist mit seinen großen Schuhen in<br />

die Manege gekommen, und da war so eine Leiter<br />

– bis ganz hinauf in die Kuppel des Zirkuszeltes.<br />

Jemand hat oben ,Ello!‘ gerufen. Ello ist dann ganz<br />

umständlich die Leiter hinaufgeklettert – kannst<br />

du dir vorstellen, wie schwer das mit den Schuhen<br />

110


war? Unterwegs hat er seine Schuhe verloren und<br />

war ganz traurig darüber. Ein anderer Clown hat die<br />

Schuhe unten in der Manege auf einen Sandhaufen<br />

gestellt. Ja, und dann –“<br />

„Und dann?“, fragte ich.<br />

„Bin ich gesprungen“, sagte Ello. „Von ziemlich<br />

hoch oben bin ich – mit einem Salto – in meine<br />

Schuhe hineingesprungen! Das war ein Aufschrei unter<br />

den Leuten. Der weiche Sand hat mich gebremst,<br />

aber es hat manchmal auch ziemlich wehgetan. Ich<br />

musste genau wissen, wie ich auf dem Boden aufkommen<br />

darf!“<br />

111


„Unter dem Sand war auch noch Schaumgummi –<br />

aber trotzdem! Es war eine gefährliche Nummer!“,<br />

sagte Jonathan.<br />

„Ich wurde in der ganzen Welt als der ,Fliegende<br />

Ello‘ gefeiert. Bis ich einmal danebengesprungen<br />

bin und mir beide Beine gebrochen habe. Sie sind<br />

nie mehr ganz geheilt. Und heute liege ich im Bett.<br />

So ist das!“<br />

Ello schlug mit der Hand auf die Bettdecke. „Ich<br />

hätte es wissen sollen, dass man rechtzeitig damit<br />

aufhören muss!“<br />

Ich hatte noch immer die Schuhe in der Hand.<br />

Ich fühlte mich gar nicht mehr so wohl dabei.<br />

„Stell sie zurück in den Kasten!“, sagte Ello. „Die<br />

können ja nichts dafür. War ja meine Idee! Ich wollte<br />

eben eine Nummer haben, die sonst keiner hat!“<br />

„Das ist alles lang vorbei“, sagte Jonathan. „Aber<br />

wir werden ein tolles Buch darüber machen. Die<br />

Interviews mit Ello sind fertig. Ich werde noch mit<br />

ein paar alten Artisten reden, die Ello von früher<br />

kennen – und dann könnt ihr das alles in Ruhe<br />

nachlesen!“<br />

„Wir haben auch eine Überraschung für Sie!“,<br />

sagte meine Mutter. „Sind Sie bereit?“<br />

112


„Ich liebe Überraschungen“, sagte Ello. „Von mir<br />

aus kann‘s losgehen!“<br />

Wir bereiteten uns draußen vor. Dann war es so<br />

weit.<br />

Jonathan stolperte als Clown mit roter Nase durch<br />

die Wohnung. Er hatte zwei Kochtöpfe auf dem<br />

Kopf, jonglierte mit Äpfeln und Orangen und servierte<br />

so ungeschickt Kuchen, dass jeder sein Stück<br />

auffangen musste. Ich sagte tapfer – nach einem<br />

Kochlöffel-Trommelwirbel von Jonathan – meine<br />

vier kurzen Gedichte auf, und meine Mutter erschien<br />

in einem langen roten Kleid. Sie hielt eine rote Rose<br />

in der Hand, tanzte mit langsamen Schritten und<br />

sah tatsächlich wie eine Balletttänzerin aus.


Mit einer feierlichen Verbeugung überreichte sie<br />

Ello die rote Rose.<br />

Ello war gerührt. Er beugte sich vor und küsste<br />

meiner Mutter die Hand. Wir applaudierten.<br />

„So, und jetzt zum Schattentheater!“, rief Jonathan.<br />

Mein Vater holte zwei Taschenlampen. Jonathan<br />

rückte einen Blumentopf zur Seite und nahm ein<br />

Bild von der Wand.<br />

„Das ist jetzt die Bühne“, sagte er. Er schloss die<br />

Fenster und zog die Vorhänge zu. Meine Mutter und<br />

ich mussten die Taschenlampen halten.<br />

Mein Vater und Jonathan hatten plötzlich kleine<br />

ausgeschnittene Figuren in der Hand.<br />

„Das Stück heißt: ,Die Sonntagsriesen im Zirkus!‘“,<br />

rief mein Vater.<br />

Sie hatten die Papierfiguren auf dünne Stäbchen<br />

geklebt und ließen sie vor dem Licht so auf und ab<br />

tanzen, dass man auf der Wand groß ihre Schatten sah.<br />

Eine Figur stellte Jonathan dar, das war gleich zu<br />

erkennen, lang und dünn mit abstehenden Haaren<br />

huschte er über die Wand. Eine kleine Figur – das<br />

sollte wohl ich sein – tauchte auf, und dann noch<br />

zwei große – meine Mutter und mein Vater.<br />

114


Wir waren Artisten im Zirkus. Ich machte einen<br />

Kopfstand auf Jonathans Kopf. Mein Vater schleuderte<br />

meine Mutter durch die Luft. Sie machte einen<br />

Salto, und er fing sie wieder auf. Dann standen wir<br />

alle übereinander, als hoher schwankender Turm<br />

115


Meine Mutter und ich mussten so lachen, dass wir<br />

die Taschenlampen nicht ruhig halten konnten. Die<br />

Lichtkegel huschten über die Wand, und manchmal<br />

waren die Figuren beleuchtet, manchmal auch nicht.<br />

Jonathan und mein Vater kamen sich immer wieder<br />

in die Quere, sodass man entweder überhaupt<br />

keine Figur an der Wand sah oder nur eine einzige<br />

große. Ello rief trotzdem „Bravo!“ und „Hopp!“<br />

und „Sprung!“ und schien ganz in seinem Element.<br />

Für ihn lebten die Figuren. Er war plötzlich wieder<br />

mitten in der Manege.<br />

Als wir uns am Abend von Ello verabschiedeten,<br />

drückte er jedem von uns lange die Hand. Meine<br />

Mutter gab ihm einen Kuss auf die Wange.<br />

„Wir werden Sie bei Ihrem Sohn einmal besuchen<br />

kommen“, sagte sie. „Versprochen. Sie müssen uns<br />

nur die Adresse geben.“<br />

Jonathan schrieb die Adresse auf einen Zettel.<br />

Mein Vater gab Ello noch einmal die Hand.<br />

„Bis zum nächsten Mal!“, sagte er. „Danke für<br />

den schönen Nachmittag!“<br />

Ello fuhr mir bei der Verabschiedung durchs Haar.<br />

„Jonathan hat mir schon viel von dir erzählt“,<br />

sagte er. „Lass dich nicht unterkriegen!“<br />

116


„Du auch nicht!“, sagte ich.<br />

Jonathan begleitete uns noch zum Auto.<br />

„Das war sehr nett von euch“, sagte er. „Ello hat es<br />

großen Spaß gemacht. Und ich weiß, was ich an euch<br />

habe.“ Er umarmte meine Mutter, meinen Vater und<br />

mich, und bevor wir noch etwas sagen konnten, war<br />

er auch schon wieder im Haus.<br />

„Bis nächsten Sonntag!“, rief er uns noch zu, dann<br />

fuhren wir los.


Der Sonntagsmaler<br />

„Heut ist mir so nach Malen zumute!“, rief Jonathan,<br />

als ich ihm am nächsten Sonntag die Tür öffnete. Er<br />

hatte eine Schachtel in der Hand, die mit ein paar<br />

Schnüren zugebunden war.<br />

„Meine uralten Buntstifte. Die sind noch aus<br />

meiner Schulzeit!“, sagte Jonathan.<br />

„Du hast doch gesagt, auf die weißen Tapeten in<br />

deinem Zimmer darf man malen! Richtig?“<br />

„Richtig!“, sagte ich. „Ich hab auch schon angefangen.<br />

Aber viel ist noch nicht zu sehen!“<br />

„Das wird sich heute ändern.“ Jonathan stürmte<br />

in die Küche, umarmte meinen Vater und dann<br />

meine Mutter.<br />

„Ello ist bereits bei seinem Sohn und fühlt sich<br />

ganz wohl dort. Ich soll euch schöne Grüße ausrichten!<br />

Er hat in zwei Wochen Geburtstag. Vielleicht<br />

wollt ihr da vorbeischauen! Ihr habt ja die Telefonnummer.<br />

Kurze Anmeldung genügt!“<br />

„Das werden wir machen“, sagte meine Mutter.<br />

118


„Und du – wirst du nicht mitkommen? Wo wohnst<br />

du denn jetzt überhaupt?“<br />

„Ich habe heute noch in Ellos Wohnung geschlafen.<br />

Aber morgen wird sie geräumt. Und ich fahr<br />

übermorgen zurück nach Amerika.“<br />

Ich musste schlucken. Ich hatte befürchtet, dass<br />

Jonathan eines Tages wieder weg sein würde, aber …<br />

„Ich komme in zwei, drei Monaten wieder“, sagte<br />

Jonathan. „Ich werde Linda mitbringen, und wenn es<br />

euch wirklich nicht stört, dann werden wir bei euch<br />

wohnen. Keine Angst. Nur ein paar Tage!“<br />

„Es können ruhig auch ein paar Wochen sein“,<br />

sagte meine Mutter. „Ich freue mich, wenn ihr da<br />

seid.“<br />

Mein Vater musste versprechen, dass wir Jonathan<br />

in New York besuchen würden, vielleicht schon zu<br />

Weihnachten.<br />

Dann setzte sich Jonathan mit seinen Buntstiften<br />

in mein Zimmer.<br />

„Wer hilft mir beim Malen?“, fragte er. „Als echter<br />

Sonntagsmaler würde ich am liebsten nur Sonntagsbilder<br />

malen! Wer ist dabei?“<br />

Er verteilte Buntstifte. Meine Mutter malte sich<br />

119


mit einem Schlagzeug und sagte: „Das war ein tolles<br />

Sonntagsgefühl!“<br />

Mein Vater malte sich mit einem riesigen Strohhut<br />

auf dem Kopf, und dann zeichnete er noch einen<br />

Hut, der durch die Luft wirbelte.<br />

Ich setzte mich in meinem Bild in ein gewaltiges<br />

Vogelnest, das so groß wie ein Haus war.<br />

Jonathan malte eine Wand gelb an und sagte:<br />

„Das ist die Wüste Gobi!“ Er zeichnete uns vier auf<br />

Kamelen, mit Turban und weiten Gewändern.<br />

Mir gingen die Sonntage mit Jonathan noch<br />

einmal durch den Kopf. Ich war froh, dass er plötzlich<br />

aufgetaucht war und dass er sich nicht gleich<br />

wieder versteckt hatte, als es ihm nicht so gut ging.<br />

Mein Vater und er kamen mir jetzt immer ähnlicher<br />

vor. Mein Vater hatte sich verändert in den letzten<br />

Wochen. Er war lockerer geworden und lachte auch<br />

mehr als früher. Und meine Mutter kam mir manchmal<br />

wie ein junges, ausgelassenes Mädchen vor.<br />

Alles in allem war es jetzt zu Hause viel lustiger.<br />

Als Jonathan nach dem Abendessen schon angezogen<br />

im Vorzimmer stand, kramte er lange in seiner<br />

Jackentasche. „Ich möchte dir etwas dalassen!“, sagte<br />

er zu mir.<br />

120


Er zog seinen Reisezwerg aus der Tasche.<br />

„Der braucht sicher auch einmal Urlaub“, sagte<br />

er. „Er wird ganz froh sein, wenn er sich einmal<br />

ausrasten kann.“<br />

„Bei mir geht‘s ihm gut“, sagte ich. „Da hat er 77<br />

Zwerge zum Plaudern.“<br />

„Das auch noch.“ Jonathan seufzte. „Aber, wenn<br />

ich wiederkomme, werde ich ihn mir wieder holen.<br />

Jeder Urlaub hat auch ein Ende!“<br />

Ich nahm den Reisezwerg und hielt ihn fest in<br />

der Hand.<br />

„Alles klar!“, sagte ich.<br />

Jonathan drückte mich fest an sich. Mir war zum<br />

Heulen zumute, aber ich wollte es nicht zeigen.<br />

„Ich stelle ihn zu den anderen“, sagte ich, und<br />

dann rannte ich mit dem Zwerg in der Hand schnell<br />

in mein Zimmer.<br />

Ich hörte noch, wie Jonathan sich von meinem<br />

Vater und von meiner Mutter verabschiedete. Dann<br />

kam er zu mir ins Zimmer und sagte: „Mach‘s gut,<br />

Sonntagsriese. Bis bald!“<br />

Ich nickte.<br />

„Bis bald!“, sagte ich leise.<br />

Ich öffnete das Fenster und stellte den Zwerg mit<br />

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der blauen Mütze aufs Fensterbrett. Mit einer Hand<br />

hielt ich ihn vorsichtig fest.<br />

Dann sahen wir lange hinaus und hörten das<br />

Meer rauschen.


DER AUTOR<br />

Heinz Janisch,<br />

geboren 1960. Er studierte Germanistik und<br />

Publizistik in Wien. Seit 1982 arbeitet er als freier<br />

Mitarbeiter beim ORF-Hörfunk, wo er Sendungen<br />

gestaltet und moderiert. Heinz Janisch schreibt<br />

neben Kinderbüchern auch Bücher für Erwachsene<br />

und erhielt mehrere Literaturpreise.<br />

Bei Obelisk als CLUB-Taschenbuch erschienen:<br />

„Der rote Pirat“.<br />

DIE ILLUSTRATORIN<br />

Susanne Wechdorn,<br />

geboren in Klosterneuburg. Sie studierte Rechtswissenschaften<br />

an der Universität Wien. Nach Beendigung<br />

des Studiums absolvierte sie die Grafische<br />

Bundeslehr- und Versuchsanstalt. Sie lebt in Wien<br />

und arbeitet als Illustratorin.<br />

Sie hat bei Obelisk mehrere Bücher illustriert, u.a.<br />

von Chantal Schreiber „Das Orakel“, „Una und die<br />

Elfe“, „Una im Elfenwinterland“.

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