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KÖHLMEIER, Märchen aus Corona-Zeiten_Leseprobe 2020

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„Miau!“<br />

Es war kaum wahrnehmbar. Aber Katharina hörte es, dieses stille,<br />

jämmerliche Weinen.<br />

„Miau!“<br />

Sie stieg vom Fahrrad, lehnte es gegen den mächtigen Nussbaum<br />

am Rand der Straße und tat ein paar Schritte in die Wiese, in der<br />

ein kleines Tigerkätzchen im Gras saß.<br />

„Vielleicht vom gestrigen Regen? Oder vom Tau frühmorgens?“, fragte<br />

sich Katharina. Jedenfalls klebte das Fell des Kätzchens derart dicht am<br />

Körper, dass Katharina sofort Mitleid mit dem armen Tier bekam, ihre<br />

Jacke <strong>aus</strong>zog, auf den Boden legte, das kleine Wesen auf die Jacke setzte<br />

und dessen Fell mit den Ärmeln der Jacke zu trocknen begann.<br />

Dann nahm Katharina Jacke samt Katzenkind und ging damit zum<br />

Fahrrad. Mit der Jacke polsterte sie den Fahrradkorb <strong>aus</strong>, nahm das<br />

Kätzchen, streichelte ihm über den Rücken und setzte es auf die Jacke.<br />

Sie wollte nach H<strong>aus</strong>e fahren, um es dort weiter zu pflegen und ihm<br />

Milch zu geben.<br />

Kaum saß Katharina auf dem Fahrrad, fielen erste Tropfen vom Himmel.<br />

Die Tropfen wurden mehr, immer mehr. Schließlich schüttete und<br />

stürmte es. Wieder begann das Kätzchen zu miauen, jämmerlich wie zuvor.<br />

Auch Katharina, die keinen Regenschutz mitgenommen hatte, war<br />

schon ziemlich nass; auch sie hätte am liebsten zu Jammern begonnen.<br />

Schließlich hielt sie bei einem H<strong>aus</strong> an und stellte sich unter das Vordach.<br />

Sie wartete, streichelte das Kätzchen und hoffte, dass der Regen bald aufhören<br />

möge. Zwei, drei Minuten stand sie vielleicht dort, als neben ihr<br />

die H<strong>aus</strong>tür aufging und eine alte Frau auf die Straße trat. Alt, sehr alt<br />

war die Frau. Uralt! „Sicher schon hundert“, dachte Katharina.<br />

„Wie heißt du denn?“, fragte die alte Frau.<br />

„Katharina!“<br />

„Katharina, ein schöner Name! Ich heiße Lili. Eigentlich Liliane, aber<br />

alle haben mich immer nur Lili genannt“, erzählte sie. „Und? Ist das<br />

dein Kätzchen?“, fragte sie.<br />

„Nein … doch, jetzt schon“, antwortete Katharina. „Ich hab’ sie ein<br />

Stück dort vorn in der Wiese gefunden.“<br />

Dass sie hungrig <strong>aus</strong>sehen würde, sie ihr etwas Milch geben wolle<br />

und sie doch reinkommen sollen, Katharina und das Kätzchen, sagte<br />

die alte Frau, die sich als Lili vorgestellt hatte.<br />

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