Die Malteser-Zeitung 1/2021
Berichterstattung über nationale und internationale Tätigkeiten des Souveränen Malteser-Ritter-Orden und seine Werke sowie religiöse, karitative und soziale Fragen aller Art.
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IMFOKUS<br />
MORBIDE JUDIKATUR UNTER DEM<br />
DECKMANTEL DER FREIHEIT<br />
Von Stephanie Merckens<br />
Was bedeutet das Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshofs<br />
(VfGH) in Sachen Sterbehilfe aus juristischer Sicht? Eine Erläuterung und<br />
Schlussfolgerung.<br />
Mit 11. Dezember 2020 hob der VfGH das Verbot der<br />
Beihilfe zum Selbstmord als verfassungswidrig auf. Was<br />
bedeutet das? Für das Jahr <strong>2021</strong> noch nicht viel, denn die<br />
Entscheidung wirkt erst ab 1. Jänner 2022. Aber: Sollte<br />
der Gesetzgeber bis dahin keine Ersatzregelung getroffen<br />
haben, dann ist ab dem 1. Jänner 2022 jeglicher Beitrag<br />
zur Selbsttötung eines Menschen erlaubt. Wirklich<br />
jeder Beitrag? Immer? Egal aus welchem Grund?<br />
Brutal gesagt ja – die einzigen Voraussetzungen, die laut<br />
VfGH für die Straflosigkeit erfüllt sein müssen, sind der<br />
nachhaltige freie Willensentschluss des Suizidwilligen<br />
und die Bereitschaft des Beitragenden. Zu diesem Ergebnis<br />
kommt der VfGH vor allem aufgrund folgender<br />
Entscheidungsgründe:<br />
1. Nicht der „Schutz des Lebens“ ist die primäre Aufgabe des<br />
Staates, sondern die Wahrung des „Rechts auf Leben“.<br />
2. <strong>Die</strong>ses „Recht auf Leben“ umfasst auch das „Recht auf<br />
freie Selbstbestimmung“.<br />
3. Das „Recht auf freie Selbstbestimmung“ wiederum<br />
umfasst auch das Recht, seinem Leben ein Ende setzen<br />
zu wollen – und zwar auf die vom Sterbewilligen<br />
als „würdig“ empfundene Art und Weise.<br />
4. Braucht man dazu die Hilfe eines Anderen, und ist<br />
dieser Andere dazu bereit, so hat man auch das Recht<br />
darauf, dass dieser „helfen“ darf.<br />
5. Es dürfe nicht bewertet werden, warum sich jemand<br />
das Leben nehmen will.<br />
6. Es müsse allerdings geprüft werden, ob dieser Entschluss<br />
frei und nachhaltig getroffen wurde.<br />
7. Und es müsse sichergestellt werden, dass der Beitragende<br />
aus freien Stücken handelt.<br />
8. Allerdings stört den VfGH vor allem, dass ausnahmslos<br />
jede Hilfe verboten ist – es scheint also möglich,<br />
die Art und Weise zu beschränken, mit der „geholfen“<br />
werden darf.<br />
Der VfGH unterscheidet nicht zwischen dem Sterbenden,<br />
der eine tödliche Überdosis Morphium verabreicht bekommt,<br />
oder dem Verwitweten, der ohne Fallschirm aus<br />
dem Flugzeug springen möchte. Egal, ob aus Liebeskummer,<br />
Privatkonkurs oder aus sonstigen Gründen, egal ob<br />
mit Pistole, Seil oder Brückensprung: Wenn bis Ende des<br />
Jahres – dieses Jahres <strong>2021</strong> – keine Änderung erfolgt,<br />
darf bei all diesen Gründen und auf welche Art und Weise<br />
auch immer „geholfen“ werden, wenn sich jemand das<br />
Leben nehmen will.<br />
Der Missbrauch liegt in der Zulassung selbst<br />
Der Ball liegt also abermals beim Gesetzgeber. <strong>Die</strong>ser<br />
muss in einem ersten Schritt prüfen, welche Gestaltungsmöglichkeiten<br />
ihm überhaupt zu Verfügung stehen.<br />
Innerhalb des vom VfGH gesetzten Rahmens kann<br />
er nur mit einfacher Mehrheit agieren. Trifft er Entscheidungen,<br />
die über die Wertung des VfGH hinweg halten<br />
sollen, benötigt er eine Zwei-Drittel-Mehrheit.<br />
Wesentlich scheinen vor allem folgende Punkte: Suizidprävention<br />
sollte zum Staatsziel erhoben werden. Beihilfe<br />
zur Selbsttötung sollte weder Aufgabe der Ärzte noch<br />
sonst eines Pflegeberufes sein. <strong>Die</strong> Gewissensfreiheit<br />
sollte nicht nur für Privatpersonen, sondern auch für organisatorische<br />
Einheiten wie Krankenhausträger gelten.<br />
Niemandem sollte aus der Beihilfe ein Vorteil erwachsen,<br />
der über eine Abgeltung der geleisteten „<strong>Die</strong>nstleistung“<br />
hinausgeht. Aufklärungs-, Beratungs- und Kontrollmechanismen<br />
müssen möglichst sicherstellen, dass der Suizidwunsch<br />
„nachhaltig“ und „selbstbestimmt“ ist.<br />
Aber eines muss uns klar sein: Um Missbrauchsvermeidung<br />
geht es eigentlich nicht mehr, denn der Missbrauch<br />
liegt in der Zulassung selbst. Eine Judikatur,<br />
die die Tötungshilfe über die Lebenshilfe stellt, hat in<br />
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DIE MALTESER 1/<strong>2021</strong>