MQ Frühjahr 2021 red
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KINDHEITSERINNERUNGEN
mein Freund von seinen Fesseln befreit,
und wir gingen beide, die Arme über
die Schultern gelegt, nach Hause.
Ich erntete ein Kopfschütteln, in Verbindung
gesetzt mit einem Klaps auf den
Hinterkopf und den Worten: „Was soll
aus dir nur mal werden?“ Dann wurde
Little Joe in die Badewanne gesteckt.
„Hockender Hund“ hingegen kam zu
Hause an den Marterpfahl. Er wollte
und brauchte danach nie wieder die
Rolle eines Indianers zu übernehmen.
Ich weiß nicht, warum ich viele meiner
Erinnerungen behalte, andere aber
nicht. Manchmal liegen sie anscheinend
schlummernd und verschüttet in
irgendeiner Schublade meines Hirns,
bis sie ein Zufall wieder an die Oberfläche
bringt. Es genügt ein Lied, ein
Geruch, ein Geschmack oder ein altes
Foto wie in diesem Fall, und es kommt
alles zurück.
Ein Bekannter sagte letztens zu mir: „Ich
sei SM sehr gut vertreten!“ Ich stutzte,
und es hat bei mir eine ganze Weile
gedauert, bis ich begriffen hatte, dass
er mit SM die Sozialen Medien meinte.
Da hätte ich sehr gern meinen Gesichtsausdruck
auf einem Foto sehen wollen.
Es stellt sich die Frage, wo bleiben da
die Erinnerungen?
Und so wie sich unsere Spuren in einer
digitalen Welt verändern, wird sich auch
das, was wir unter Erinnern verstehen,
nachhaltig verändern. Denn wenn
zwei oder mehr zusammensitzen und
über früher reden, zückt immer irgend
jemand ein Mobiltelefon, um nachzuschauen.
Aber genau das ist nicht die Erinnerung,
von der ich spreche. Denn das eigentlich
Interessante ist doch: „Wie ging‘s uns
dabei?“ Und nicht: „Wie war das ganz
genau?“
Meine Schwester und ich
Überhaupt, die vielen
Fotos. Wie wird es
wohl in den kommenden
Generationen
gehandhabt? Ein
Bruchteil der vielen
digitalen Bilder
hat es in Fotoalben
geschafft, der Rest
verteilt sich auf die
üblichen Nistplätze.
Die digitale Welt
wird andere Spuren
hinterlassen.
Fotos gibt es zwar
zuhauf, meist auch
noch in Form von
gestochen scharfen
Kurzvideos mit
brillantem Ton, aber
die sind zu oft eingesperrt
in einem alten
Handy, für das es
kein Ladekabel mehr
gibt, einen Computer,
dessen Festplatte
spinnt oder beschriftete
CDs, USB-Sticks
und Speicherkarten,
für deren sorgfältige
Sichtung sich nie
mehr die Zeit finden
wird. Ach ja, da sind
ja auch noch die „sozialen
Netzwerke“.
Ausgabe Frühjahr 2021 mq | 45