SOM- 4_2021
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
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10. Jahrgang · Ausgabe 4/2021 · 11,50 €
Aromatherapie
im Überblick
Die Kraft der
duftenden Heilpflanzen
Logopädie
Checklisten-gestützte
Auftragsklärung
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 1
Grundlagenseminare
aus der ganzheitlichen Zahnmedizin
für Ärzt*innen und Zahnärzt*innen
142. ZAEN-Kongress – vom 24. bis 27. März 2021
Donnerstag 24. März 2022
09:00–13:00 Uhr SEM-011: Kopf-, Kiefer-, Rückenschmerzen: die Zahnmedizin als unterschätzte Ursache
Hardy Gaus
14:30–18:00 Uhr SEM-013: Der Low-Level-Laser – wirksame IGEL-Leistung in der Alltagspraxis
Hardy Gaus
Freitag, 25. März 2022
09:00–13:00 Uhr SEM-017: Stumme Entzündungen im Kiefer und Krebs-Entwicklung und Neuroinflammation –
Wissenschaftliche Forschung zur destruktiven Signaltransduktion über RANTES/CCL5
Dr. Johann Lechner
14:30–18:00 Uhr SEM-021: Ayurvedische Perspektiven in der Zahnmedizin
Ananda Samir Chopra
Samstag, 26. März 2022
09:00–13:00 Uhr SEM-022: FreE-motion – Motopädie gegen Verspannungen und Schmerzen
14:30–18:00 Uhr Dr. Hubertus von Treuenfels
Sonntag, 27. März 2022
09:00–13:00 Uhr SEM-034: Ernährungstherapie in der (Zahn-)Arztpraxis
Dr. Maximilian Gärtner
Information:
ZAEN Freudenstadt
Am Promenadenplatz 1, 72250 Freudenstadt
Tel.: +49 7441 918580, Fax: +49 7441 9185822
E-Mail: info@zaen.org
www.zaen.org
Bei Besuch von 5 der 7
Seminare erhalten Sie das
Basiszertifikat „Ganzheitliche
ZahnMedizin” der GZM
2 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
4 Editorial
Wissenschaft
6 Probiotika und die Rolle bakterieller Biofilme in der Ätiologie und Therapie
parodontaler Erkrankungen
Prof. Dr. Ulrich Schlagenhauf
16 Suizidale Krisen
Anna-Lena Bröcker, M. Sc. (Psych.)
22 Aromatherapie im Überblick – die Kraft der duftenden Heilpflanzen
Dr. med. Wolfgang Etspüler
Schaubild
26 Aromatherapie
Praxis
28 Loslassen, loslegen! Reif für den Ruhestand!
Constance Nolting
34 Jameda listet Sie – ob Sie wollen oder nicht
36 Implantate aus Titan – der Wille der Patienten und Patientinnen ist bindend!
37 Das „Erste-Blusen-Knopf-Dilemma“ Checklisten-gestütze Auftragsklärung in der Logopädie
Nicole Kiefer
Pflanzenportait
44 Baldrian (Valeriana Officinalis)
Fortbildung
2 142. ZAEN-Kongress – Grundlagenseminare aus der ganzheitlichen Zahnmedizin für Ärzte und Zahnärzte
15 2. Virtuelles GZM-Symposium: Craniomanibuläre Dysfunktion (CMD)
49 GZM-Veranstaltungen
Claudia Reimer
48 Markt und Möglichkeiten 50 Impressum
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 3
9. Jahrgang · Ausgabe 4/2021
Kräftig Drücken!
Schon lange wissen wir, dass eine
liebevolle Berührung eine ganz besondere
Art von Medizin ist. Umarmungen
schenken Trost, sorgen
für Wohlbefinden und Entspannung.
Sogar als schmerzstillend werden Umarmungen
eingeordnet. Kein Wunder,
denn bei liebevollem Körperkontakt
kommt es in der Regel zur Ausschüttung
von Glückshormonen. Nicht umsonst
gibt es einige „Feier“tage der Umarmung.
Einer dieser Feiertage findet jährlich am
29. Juni statt. Er wurde von der US-amerikanischen
Hugs for Health Foundation
ins Leben gerufen. An diesem soll man
alle Menschen umarmen, die es brauchen.
Tatsächlich gehen viele Menschen
los, besuchen Altersheime, Kinderhorte
und Krankenhäuser, um dort Menschen
zu umarmen. Auch der 21. Januar gilt als
„Internationaler Tag der Umarmung“. An
diesem Tag nehmen sich weltweit Fremde
auf Straßen und Plätzen spontan in den
Arm. Seit mehr als 25 Jahren folgen mehr
und mehr Menschen rund um den Globus
Aufrufen nationaler und regionaler
Organisatoren und tun das, was gut tut.
Nun werden Sie sich fragen, wie ich auf
die Idee komme, gerade in den Zeiten
von Abstand und Hygieneregeln mit diesem
Thema zu beginnen. Gerade deswegen!
Wir sollten, trotz allen Abstands, die
Nähe nicht aus den Augen lassen und
uns daran erinnern, was Umarmungen
und Berührungen bedeuten und bewirken
können. Gerade jetzt sollten wir Gefühle
der Wärme, der Geborgenheit, der
Nächstenliebe und des Zusammenhalts
Für Ihr Wartezimmer:
Mensch & Mund
Aroma und Düfte:
wohltuend in der Zahnarztpraxis
Wissenswertes zur Aromatherapie und deren Einsatzgebieten können Sie
Ihren Patienten in der diesmaligen Ausgabe der Mensch und Mund anbieten.
Bitte melden Sie sich bei der GZM-Geschäftsstelle,
wenn Sie zusätzliche Exemplare für Ihre Praxis wünschen.
Aroma und Düfte:
Ganzheitliche ZahnMedizin für interessierte Patienten
wohltuend in der Zahnarztpraxis
4 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
stärken. Das geht übrigens auch durch
den reinen Gedanken an eine Umarmung.
Allein dieser schüttet Hormone
aus. Bei demjenigen oder derjenigen der
oder die umarmt und natürlich bei dem
Gegenüber – so er oder sie denn von der
gedanklichen Umarmung weiß. Lassen
Sie also ihr gegenüber wissen, dass Sie
es gerade drücken. Zumindest im Geiste.
Irgendwann kommt die Zeit, da geht
es auch wieder ohne Hygieneabstand im
Gepäck.
Liebevolle Berührungen und Körperkontakt
reduzieren Stress und stärken das
Immunsystem, sie senken das Risiko für
Herzerkrankungen und Depressionen.
Neben Oxytocin schüttet das Gehirn
durch die Berührung oder den Gedanken
daran Dopamin und Serotonin aus,
die Glückshormone unseres Körpers. Sie
hellen die Stimmung auf und können
langfristig Depressionen vorbeugen. Das
scheint in dieser Zeit besonders wichtig.
Depressionen sind Krankheiten, sind
oftmals mit suizidalen Gedanken verbunden.
Wenn Sie mehr darüber wissen
möchten, sollten Sie den Artikel „Suizidale
Krisen“ von Anna-Lena Bröcker auf
Seite 16 lesen, die uns über das Wesen
von suizidalen Gedanken und den Umgang
damit berichtet.
Ganz ohne Körperkontakt, dafür aber
auch entspannend, wohltuend und heilend
wirkt die Aromatherapie, die in
diesem Heft thematisiert wird. Wolfgang
Etspüler gibt einen Überblick über die
Historie und die Einsatzgebiete dieser
Therapie. In der Mitte des Heftes finden
Sie dazu eine Übersicht über Aromen
und ihre Einsatzmöglichkeiten. Auch die
MuM widmet sich diesem Thema.
Im Pflanzenportrait stellen wir den Baldrian
vor, eine Pflanze mit ganz besonderen
Kräften. Sollten Sie sich mit dem
Gedanken tragen, sich irgendwann von
der Praxis zu trennen und diese eventuell
an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin
weiterzugeben, könnte ein Tröpfchen
Baldrian zur Gelassenheit beitragen.
Denn Gelassenheit und ein guter
Zeitplan sind bei den Übergabeplänen
hilfreich. Mehr dazu auf Seite 44. Baldrian
könnte übrigens auch hilfreich sein,
wenn Sie einen Blick auf Ihre Jameda-Bewertung
werfen. Sie möchten sich nicht
bewerten lassen im Netz? Schauen Sie
mal auf die Seite 34.
Die ganzheitlichen Zahnmediziner*innen
sind in der Regel in therapeutischen
Netzwerken verbunden. Dazu gehören
auch Logopäd*innen. Nicola Kiefer berichtet
auf Seite 37 im Artikel „Das-Erste-
Blusen-Knopf-Dilemma“ über die richtige
Ausrichtung der Therapie und gibt aus
ihrer eigenen Praxis wichtige Hinweise,
damit die Logopädietherapie auch zum
Erfolg führt.
Ebenfalls lesenswert ist der Beitrag von
Ulrich Schlagenhauf zu der Rolle der
bakteriellen Biofilme in der Ätiologie
und Therapie parodontaler Erkrankungen.
Welche Rolle spielen der Lebensstil,
die Ernährung und die genetischen
Voraussetzungen und beeinflussen diese
Faktoren in signifikanter Weise, welche
Bakterien in welchem Umfang den
menschlichen Körper besiedeln? Antworten
dazu lesen Sie auf Seite 6.
Bitte beachten Sie unsere Fort- und Weiterbildungshinweise
am Ende des Heftes
und schauen Sie regelmäßig auf unsere
Homepage. Wir bleiben am Ball und werden
Sie über zusätzliche Veranstaltungen
auf dem Laufenden halten. Bis dahin drücken
wir die Daumen, dass die Zeiten für
alle wieder etwas leichter werden. Wir
schauen optimistisch in die Zukunft und
freuen uns, die SOM auch im nächsten
Jahr wieder mit interessanten und spannenden
Themen zu bestücken. Bis dahin,
liebe Leserinnen und Leser, fühlen Sie
sich gedrückt.
Im Geiste – lang und herzlich.
Ihre
Constance Nolting
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 5
Wissenschaft
Probiotika und die Rolle bakterieller
Biofilme in der Ätiologie und Therapie
parodontaler Erkrankungen
Der nächste Paradigmenwechsel?
Prof. Dr. Ulrich Schlagenhauf
Zusammenfassung
Nach aktuellem wissenschaftlichem Verständnis bildet nicht primär eine mangelhafte Mundhygiene, sondern eine durch Lebensstil,
Ernährung sowie genetische Disposition induzierte unphysiologische Veränderung des Keimspektrums (Dysbiose)
des humanen Mikrobioms der Mundhöhle und des Darms den eigentlichen Ausgangspunkt für eine inadäquate, chronisch
proinflammatorische Fehlregulation des mukosalen Immunsystems, welche sich nachfolgend u. a. als parodontale Entzündung
und Plaqueakkumulation klinisch manifestiert. Hierbei sind das Überwachsen virulenter, parodontopathogener Keime
und in gleichem Maße auch das Fehlen systemrelevanter entzündungsdämpfender Schlüsselkeime von Bedeutung. Die Substitution
dieser Schlüsselkeime durch den gezielten Konsum von Lebensmitteln mit gesundheitsfördernden Mikroorganismen
bildet die Basis des Konzepts der probiotischen Therapie. Zurzeit ist die verfügbare Evidenz zum klinisch relevanten Nutzen
der probiotischen Therapie bei Patient*innen mit manifester Parodontalerkrankung noch fragmentarisch. Die Ergebnisse
bereits vorliegender klinisch-experimenteller lnterventionsstudien belegen jedoch in ihrer Mehrzahl eine klinisch bedeutsame
Hemmwirkung der Gabe probiotischer Präparate auf die Ausprägung gingivaler Entzündungen sowie eine signifikante
Förderung der Abheilung parodontaler Läsionen nach Scaling und Root Planing.
Schlüsselwörter: bakterielle Plaque, mikrobieller Biofilm, parodontitisassoziierte Keime, humanes Mikrobiom, Probiotika, probiotische
Therapie, Lactobacillus reuteri
Abstract
According to current scientific understanding, the actual starting point for an inadequate, chronic proinflammatory dysregulation
of the mucosal immune system, which subsequently manifests itself clinically as periodontal inflammation and plaque
accumulation, is not primarily poor oral hygiene, but an unphysiological change in the germ spectrum (dysbiosis) of the
human microbiome of the oral cavity and intestine induced by lifestyle, diet and genetic disposition. In this context, the overgrowth
of virulent, periodontopathogenic germs and, to the same extent, the absence of system-relevant inflammation-suppressing
key germs are of importance. The substitution of these key germs through the targeted consumption of foods with
health-promoting microorganisms forms the basis of the concept of probiotic therapy. Currently, the available evidence on
the clinically relevant benefit of probiotic therapy in patients with manifest periodontal disease is still fragmentary. However,
the majority of the results of existing clinical-experimental intervention studies demonstrate a clinically significant inhibitory
effect of the administration of probiotic preparations on the development of gingival inflammation and a significant promotion
of the healing of periodontal lesions after scaling and root planing.
Keywords: bacterial plaque, microbial biofilm, periodontitis-associated germs, human microbiome, probiotics, probiotic therapy,
Lactobacillus reuteri
6 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Wissenschaft
Bakterielle Plaque und
parodontale Gesundheit –
etabliertes Wissen
Die gründliche Reinigung der Zähne
von anhaftenden mikrobiellen
Biofilmen mittels häuslicher
Mundhygiene sowie professionelle
Reinigungsanstrengungen bilden die
zentrale und von allen Expert*innen als
unverzichtbar beurteilte Basis jeglicher
systematischen Parodontaltherapie. Die
positive Wirkung einer konsequent betriebenen
Plaquekontrolle auf den Verlauf
und die Prävention parodontaler Erkrankungen
ist durch eine Vielzahl klinischer
Studien gut dokumentiert. Insbesondere
die professionelle Reinigung subgingivaler
Zahnflächen, die durch die entzündliche
Zerstörung des Parodontiums exponiert
und von einer meist gramnegativen
Mikroflora besiedelt werden, führt vorhersagbar
zu einer Auflösung der parodontalen
Entzündung, welche wiederum
in der Regel von einer signifikanten Reduktion
der sondierbaren Taschentiefen
und der Blutung auf Sondierung begleitet
wird. Dennoch haben weitere klinische
Untersuchungen zur Evaluation der individuellen
Anfälligkeit für die Ausprägung
einer Gingivitis enthüllt, dass bei Weitem
nicht jede ungestörte Plaqueakkumulation
zur Entwicklung einer klinisch manifesten
Gingivitis führt. Vielmehr zeigte
sich, dass eine mikrobielle Besiedlung
der gingivanahen Zahnoberfläche bei
manchen Individuen sehr rasch eine ausgeprägte
gingivale Entzündungsreaktion
induzierte, während andere Personen
auch nach Monaten fehlender Zahnreinigung
keine oder nur sehr milde gingivale
Entzündungszeichen aufwiesen[5]
(Abb. 1 und 2).
Dank Fortschritten in der mikrobiologischen
Diagnostik konnte diese Diskrepanz
durch die Beobachtung erklärt
werden, dass sich bakterielle Biofilme in
progredienten parodontalen Läsionen
signifikant von der residenten Mikroflora
in nicht entzündeten gingivalen Sulci
unterscheiden. Eine Arbeitsgruppe an
der Forsyth-Universität in Boston unter
der Leitung von Prof. Dr. S. Socransky
Abb. 1: Individuelle Unterschiede in der Entwicklung einer gingivalen Entzündung
nach Einstellung häuslicher Mundhygiene (modifiziert nach Brecx et al. [5])
(b)
Abb. 2: Ausgeprägte bakterielle Plaque mit Entzündung (a) und ohne sichtbare Entzündung
(b) der Gingiva
wies nach, dass die Präsenz einer kleinen
Gruppe gramnegativer, strikt anaerober
Keime (Porphyromonas gingivalis, Tannerella
forsythia und Treponema denticola),
die unter dem Namen ,,Red Complex"
zusammengefasst wurden, mit einem signifikant
erhöhten Risiko für zukünftigen
Attachmentverlust verbunden ist [22].
Neben den Red-Complex-Keimen wurde
zudem mit Aggregatibacter actinomycetemcomitans
ein weiterer parodontitisassoziierter
Keim identifiziert, welcher
insbesondere mit der Entstehung und
Progression aggressiver Verlaufsformen
der Parodontitis in Zusammenhang steht
(Abb. 3).
Ausgehend von diesem als spezifische
Plaquehypothese bezeichneten ätiologischen
Konzept der Parodontitis wurden
Strategien zur dauerhaften Elimination
parodontitisassoziierter Keime aus der
Mundhöhle parodontal erkrankter Patienten
entwickelt. Zu den bekannteren
zählen u. a. das von Quirynen et al. [13]
vorgestellte Konzept der Full-Mouth Disinfection
sowie die von van Winkelhoff
(a)
et a1. [20] propagierte adjunktive systemische
Gabe von Amoxicillin und Metronidazol.
Das Prinzip der Full-Mouth
Disinfection beinhaltet eine konsequente
supra- wie subgingival durchgeführte
Reinigung aller Zähne und Zahnfleischtaschen
mittels Scaling und Root Planing in
einem Zeitrahmen von maximal 24 Stunden.
Begleitend werden während und
nach erfolgter mechanischer Reinigung
alle Zahn- und Schleimhautoberflächen
im Mund-Rachen-Raum über einen Zeitraum
von 8 Wochen hinweg regelmäßig
mithilfe von Chlorhexidinpräparaten
sorgfältig desinfiziert (Abb. 4). lm gleichen
therapeutischen Sinne soll auch die
adjunktive systemische Antibiotikatherapie,
welche ebenso üblicherweise nur im
unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang
mit Scaling und Root Planing durchgeführt
wird, die Elimination parodontitisassoziierter
Keime in der Mundhöhle
bewirken. Die durch Studien belegte Evidenz
und die klinische Praxis zeigen, dass
die Anwendung beider zuvor dargestellten
Therapiekonzepte zu einer verbesser-
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 7
Wissenschaft
1.0
0.8
0.6
0.4
0.2
0.0
TBL
Zahn: MT4
Marker n ML Status
Aa 19.504 22.9%
Bf 0.96 1.1%
Pg 0.40 0.5%
Td 0.70 0.8%
TBL 85.08 -
TML
25% Typ
15
10
5
4
0
Aa Bf Pg Td
0 50 100 150
Abb. 3: Ergebnis der Analyse einer
subgingivalen Plaqueprobe bezüglich der
Anwesenheit der parodontitisassoziieren
Keime Aggregatibacter actinomycetemcomitans
(Aa), Baceroides (Tannerella)
forsythus (Bf), Porphyromonas gingivalis
(Pg) sowie Treponema denticola (Td)
mithilfe eines bakteriellen Gensondentestes
(IAI-Padotest)
Abb. 4: Sprayflasche zur Desinfektion des
Rachens mit 0,2 %-igem Chlorhexidin
ten Ausheilung insbesondere tiefer parodontaler
Läsionen führt (Abb. 5a und b).
Es gelang jedoch weder mit der Full-
Mouth Disinfection noch mit der systemischen
Antibiotikatherapie, die parodontitisassoziierten
Keime des ,,Red Complex"
vorhersagbar und langfristig aus der
Mundhöhle zu eliminieren. Ebenso fehlen
– von schwer zu interpretierenden
Kasuistiken abgesehen – klinische Daten,
die evidenzbasiert nachweisen könnten,
dass parodontal erkrankte Personen ihre
Erkrankung durch den Transfer ihrer parodontitisassoziierten
Keime auf zuvor
parodontal gesunde Lebenspartner, mit
denen sie genetisch nicht verwandt sind,
zu übertragen vermögen [19]. Nach aktuellem
Verständnis gehören parodontale
Erkrankungen daher zu den opportunistischen
Infektionen, bei denen erst die
Anfälligkeit des Wirts ein krankheitsauslösendes
Überwachsen parodontopathogener
Keime begünstigt. Zu den durch
Studien etablierten Risikofaktoren, die
eine erhöhte Anfälligkeit für parodontale
Entzündungen nach sich ziehen, gehören
u. a. Tabakkonsum, psychosozialer
Stress, Diabetes mellitus (Abb. 6) sowie
genetisch bedingte Fehl- und Überreaktionen
von Strukturelementen des mukosalen
Immunsystems.
Interaktion des Körpers mit
dem humanen Mikrobiom
Die Erforschung der Rolle des humanen
Mikrobioms, d. h. der Summe aller
Mikroorganismen unseres Körpers, in
der Ätiologie parodontaler Erkrankungen
wurde lange auf die Identifizierung
krankheitsauslösender Fähigkeiten parodontitisassoziierter
bzw. parodontopathogener
Keime beschränkt. Moderne
Forschungsansätze, wie sie in den letzten
Jahren vor allem im Bereich der gastroenterologischen
Forschung vorangetrieben
wurden, haben jedoch enthüllt, dass die
Entwicklung und die physiologische
Funktion des menschlichen Körpers in
ganz wesentlichem Maße vom humanen
Mikrobiom mitbestimmt werden.
Der menschliche Körper enthält ca. 10
Billionen Körperzellen, aber bereits im
menschlichen Dickdarm leben ca. 100
Billionen Bakterien [15]. Je nach Zählweise
wird heute von der Präsenz von
ca. 1000 verschiedenen Bakterienspezies
im Körper jedes Menschen ausgegangen,
deren in der bakteriellen DNA enthaltene
Struktur- und Metabolismusinformationen
diejenigen der humanen DNA etwa
um den Faktor 100 übersteigen. Die ganz
überwiegende Mehrzahl der Keime des
humanen Mikrobioms gehört zur Kategorie
der symbionten oder kommensalen
Keime. Dies bedeutet, dass ihre Anwesenheit
für eine physiologische Funktion
des Körpers in vielen Bereichen, die weit
über die Aufnahme und Verdauung von
Nahrung hinausgehen, unerlässlich ist.
Nur die in Relation zum humanen Gesamtmikrobiom
sehr kleine Gruppe der
pathogenen Mikroorganismen stellt eine
unter Umständen tödliche Gefahr für die
Funktion und das Überleben des Wirtsorganismus
dar.
Neuere Forschungsdaten lassen nun in
ersten Grundzügen erkennen, wie der
menschliche Körper das scheinbare Dilemma
löst, pathogene Keime wirksam
zu unterdrücken, ohne dabei das Wachstum
und den Stoffwechsel essenziell notwendiger
Keime in einer für den Körper
schädlichen Welse zu beeinträchtigen
[15]. Unter physiologischen Bedingungen
sind bakterielle Biofilme und die
benachbarten Oberflächen der Schleimhäute
stets durch eine für Bakterien nur
sehr schwer zu durchdringende Schleimschicht
getrennt, die in hoher Zahl antimikrobielle
Peptide und Antikörper
vom Typ sigA (sekretorisches Immunglobulin
A) enthält. Dazu favorisiert die
Oberfläche dieser Schleimschicht die
Kolonisation durch kommensale Keime,
welche die Besiedlung durch unerwünschte
pathogene Keime aktiv hemmen
und mit diesen um Nahrung sowie
Besiedlungsraum konkurrieren. Die
Schleimhautzellen unterhalb der protektiven
Schleimschicht weisen sogenannte
Pattern-Recognition-Rezeptoren (PRRs)
auf, zu denen auch die Rezeptoren der
Toll-like-Rezeptorfamilie gehören. Diese
sind in der Lage, bakterielle Antigene wie
etwa bakterielle Zellwandbruchstücke
8 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Wissenschaft
oder Quorum-Sensing-Kommunikationsmoleküle
der Keime zu binden, und
lösen nachfolgend über den Vorgang der
Signaltransduktion in den Schleimhautzellen
in niedriger Intensität die Synthese
proinflammatorischer Zytokine aus. Diese
wiederum induzieren eine konstante,
aber in ihrer Intensität ebenfalls geringe
Einwanderung immunkompetenter Zellen,
welche mehrheitlich unreife dendritische
Zellen sowie regulatorische T-Zellen
umfassen und keine klinisch sichtbare
Entzündungsreaktion auslösen.
Nur wenn die protektive Schleimschicht
ihre Schutzfunktion nicht mehr ausreichend
ausüben kann, etwa nach dem
Rückgang der Synthese antimikrobieller
Peptide infolge einer chronischen Stressbelastung,
gelangen pathogene Keime
in größerer Zahl in unmittelbaren körperlichen
Kontakt mit den Zellen der
Schleimhaut und können diese direkt
beschädigen bzw. in sie eindringen. Eine
direkte Beschädigung oder das Eindringen
von Keimen in die Epithelzellen der
Schleimhaut führt zur Aktivierung einer
weiteren, intrazellulären Rezeptorklasse,
der sogenannten NOD-like-Rezeptoren
(NLR). Die Aktivierung eines NOD-like-Rezeptors
wiederum bewirkt die Bildung
eines sogenannten Inflammasoms
[16], eines Enzymkomplexes, der u. a.
durch die Aktivierung des Enzyms Caspase
die inaktive Vorläuferform des proinflammatorischen
Zytokins Interleukin-lß
in die aktive entzündungsfördernde
Form überführt. Durch die Bildung des
intrazellulären Inflammasoms und die
nachfolgende massive Ausschüttung proinflammatorischer
Zytokine kommt es
rasch zur Einwanderung einer großen
Zahl von immunkompetenten Zellen,
welche die bakterielle Bedrohung an der
Grenzfläche zwischen Schleimhaut sowie
Biofilm unter Kontrolle bringen und
das System nachfolgend wieder in den
physiologischen Zustand der Dominanz
kommensaler Keime an der Grenzfläche
zurückversetzt.
Unter Umständen, die bis heute im Detail
nur teilweise aufgeklärt sind, versagt
jedoch die durch die bakterielle Invasion
der Schleimhäute ausgelöste Entzündungsreaktion
dabei, die ursächliche
Keim invasion unter Kontrolle zu bringen.
Vielmehr kommt es zur Chronifizierung
des Entzündungsprozesses, der
durch die dabei unvermeidliche ausgeprägte
Freisetzung proteinreicher Exsudate
und Blutbestandteile das Wachstum
der mehrheitlich proteolytischen pathogenen
Keime sogar noch beschleunigt.
Gleichzeitig wird die Freisetzung von
Komplement und anderen antibakteriell
wirksamen Molekülen stark erhöht.
Proteolytische Keime wie Porphyromonas
gingivalis sind jedoch in der Lage,
mittels der Bildung von Proteasen etwa
der Zerstörung durch die Komplementfixierung
zu entgehen. Die kommensale
Mikroflora hingegen, welche im physiologischen
Zustand die wichtigste Barriere
gegen ein unkontrolliertes Wachstum
von Porphyromonas gingivalis darstellt,
wird durch die entzündungsbedingte
Freisetzung von Komplement schwer
geschädigt und in ihrer Zahl stark reduziert.
Das im Anschluss weitgehend unkontrollierte
Wachstum der pathogenen
Keime an der Grenzfläche zwischen Biofilm
und Schleimhaut führt zur massiven
(a)
(b)
Abb. 5: Alveoläre Knochendefekte
Regio 47 vor (a) sowie 24 nach (b) nicht
chirurgischer Parodontaltherapie und
adjunktiver systemischer Antibiose
Abb. 6: Häufigkeitsverteilung milder, moderater und schwerer Parodontitis unter
50-jährigen Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetikern sowie alterskorreliere Kontrollen (modifiziert
nach Herrmann [8])
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 9
Wissenschaft
Abb. 7: Veränderung der erfassten Blutung auf Sondierung zu Beginn sowie nach vier Wochen Steinzeitleben ohne Mundhygiene
(modifiziert nach Baumgartner et al. [4])
Freisetzung weiterer proinflammatorischer Zytokine, einem sogenannten
Zytokinsturm, der die umliegenden Gewebe schwer
schädigt und den Entzündungsprozess weiter chronifiziert.
Ist dieses Stadium etwa im chronisch entzündeten Parodontium
erreicht, wird die im Prinzip nun kontraproduktive Entzündungsreaktion
langfristig die progrediente Zerstörung der
Strukturen des Zahnhalteapparates und damit den Ausfall des
Zahnes nach sich ziehen.
Eine mechanische Zerstörung und Entfernung der proinflammatorischen
Biofilme mittels Scaling und Root Planing führt
nachfolgend zu einer Rekolonisation der gereinigten Oberflächen
mit verbliebenen Mundhöhlenkeimen. Ob dies in der
Ausbildung eines neuen, in der überwiegenden Mehrheit von
protektiven, kommensalen Keimen besiedelten Biofilms mündet
oder nicht, hängt u. a. davon ab, wie stark und schnell die
Entzündungsreaktion nach Entfernung des pathogenen Biofilms
abklingt, da eine persistierende Entzündung mit fortgesetzter
Freisetzung proteinreicher Exsudate die Rekolonisation
mit unerwünschten, proteolytischen pathogenen Keimen stark
begünstigt. In den meisten Fällen wird eine mechanische Reinigung
zumindest kurz- bis mittelfristig zur Reetablierung eines
bakteriellen Biofilms führen, der mit der oralen Gesundheit
kompatibel ist und eine Auflösung der Entzündungszeichen zur
Folge hat. Die Stabilität solcher gesundheitskompatibler Biofilme
wird jedoch längerfristig durch systemisch wie auch lokal
wirksame Risikoparameter gefährdet, welche etwa die Stärke
der Bildung protektiver Antikörper vermindern oder das Verhältnis
zwischen proinflammatorischen und entzündungshemmenden
Zellen des mukosalen Immunsystems in Richtung proinflammatorisch
verschieben und so das Überwachsen der von
einer Entzündungsreaktion profitierenden pathogenen Keime
fördern. Daher werden bei Parodontitispatient*innen in den
meisten Fällen auch nach gründlichstem Scaling und Root Planing
mittelfristig die neu aufgewachsenen bakteriellen Biofilme
wieder von proinflammatorischen Keimen dominiert, was eine
Wiederholung der professionellen Entfernung der Biofilme erforderlich
macht [14].
Risikoerhöhende Fehlsteuerungen der Wirtsantwort werden
nach aktuellen Erkenntnissen nicht nur direkt, etwa durch stressbedingte
Veränderungen im Aktivierungsmuster des vegetativen
Nervensystems ausgelöst, sondern entstehen nicht zuletzt
auch als Folge von Veränderungen in der Zusammensetzung der
Darmmikroflora, die ihrerseits durch das Ernährungsverhalten
eines Individuums signifikant beeinflusst wird. Ein praktisches
Beispiel hierfür lieferte eine Studie von Baumgartner et al. [4],
welche longitudinal die Mundgesundheit von zwei Familien untersuchte,
die für eine TV-Show des Schweizer Senders SRF einen
Monat lang unter steinzeitlichen Bedingungen lebten. Die
Familien mussten sich während des 4-wöchigen Experiments
von steinzeitlicher Kost ernähren und auf häusliche Zahnpflege
mittels Zahnbürste und Zahnpasta verzichten. Entgegen allen
Erwartungen war die durch das Einstellen des Zähneputzens ausgelöste
starke Zunahme bakterieller Zahnbeläge nicht mit einem
gleichzeitigen Auftreten gingivaler Entzündungen verbunden.
Vielmehr wurde bei fast allen Teilnehmer*innen am Ende des
Steinzeitexperiments trotz ausgeprägt verstärkter Plaquebedeckung
der Zähne eine sehr deutliche Abnahme von bereits vor
Beginn des Experiments vorhandenen Blutungen auf Sondierung
10 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Wissenschaft
registriert (Abb. 7). Dies steht in völligem Widerspruch zu den
etablierten Schlussfolgerungen aus den klassischen Studien von
Löe et al. [10] zur Entstehung experimenteller Gingivitis, in welchen
eine enge Korrelation zwischen zunehmender Plaquemenge
sowie dem Auftreten und der Stärke der Ausprägung gingivaler
Entzündungen beobachtet wurde. Auch die Kolonisation und die
Besiedlungsstärke der Proband*innen mit Tannerella forsythia,
einem Vertreter der Red-Complex-Keime, zeigten sich nach
vier Wochen Steinzeltleben wesentlich reduziert, ohne dass irgendwelche
Antibiotika oder Chemotherapeutika zum Einsatz
gekommen wären.
Archäologische Untersuchungen an Schädeln und Gebissen
aus der Jungsteinzeit untermauerten die verblüffenden Ergebnisse
der Baumgartner-Studie. Einer australischen Arbeitsgruppe
gelang es, bakterielle DNA aus 7000 Jahre altem Zahnstein
zu analysieren, welcher an den Zähnen von Menschen
haftete, die am Ende der Jungsteinzeit noch als nicht sesshafte
Jäger und Sammler lebten [1]. Die bakterielle Analyse ergab,
dass diese Menschen im Vergleich zu heute lebenden Personen
etwa dreimal so viele unterschiedliche Bakterienarten in
ihrem Mund beherbergten und annähernd parodontal gesund
waren. Die bakterielle Untersuchung weiterer Zahnsteinproben
aus späteren geschichtlichen Epochen wie der Kultur der
Linienbandkeramik, der Kelten, des frühen Mittelalters usw.
legte offen, dass es mit dem Beginn des Ackerbaus vor 7000
Jahren zu einer deutlichen Einschränkung der Vielfalt der
Ernährung kam, welche sich nachfolgend in einem dramatischen
Rückgang der bakteriellen Vielfalt im Darm und in der
Mundhöhle manifestierte. Gleichzeitig mit dem Rückgang der
bakteriellen Vielfalt im analysierten Zahnstein zeigte sich an
den prähistorischen Kiefern erstmals das verbreitete Auftreten
parodontitisbedingter Alveolarknochenverluste.
Nach aktuellen ätiologischen Vorstellungen erhöht ein Rückgang
der Artenvielfalt in einem Ökosystem die Gefahr des
unkontrollierten Überwachsens einzelner Spezies mit nachhaltiger
Störung der Homöostase. Das gilt in gleichem Maße
für makrobiologische Systeme wie etwa den Yellowstone-Nationalpark,
wo die Ausrottung der Wölfe lange Jahre die unkontrollierte
Vermehrung pflanzenfressender Arten mit einer
beträchtlichen Schädigung des Waldes nach sich zog, aber
auch für bakterielle Ökosysteme im Darm und in der Mundhöhle
von Menschen und anderen Säugetieren [6]. So konnten
Mazmanlan et al. [11] in einem Modellversuch in keimfrei
aufgezogenen Mäusen durch eine Monoinfektion mit Helicobacter
hepaticus vorhersagbar die Entstehung von Darmulzera
induzieren. Wurden die Versuchstiere jedoch parallel mit
Bacteroides fragilis, einem weiteren typischen Darmkeim,
koinfiziert, traten keine Ulzerationen im Darm auf. Der frappierende
Schutzeffekt konnte auf ein spezifisches Kohlenhydrat
(Polysaccharid A, PSA) in der Zellwand von Bacteroides
fragilis zurückgeführt werden. Das PSA wurde im Darm der
Versuchstiere von immunkompetenten dentristrischen Zellen
aufgenommen und veranlasste diese nachfolgend dazu, das
Wachstum und die metabolische Aktivität von entzündungshemmenden
Th1-Helferzellen sowie regulatorischen T-Zellen
zu stimulieren. Auf diese Weise wurde die Intensität einer
durch die Präsenz der bakteriellen Antigene von Helicobacter
hepaticus induzierten Entzündungsreaktion im Darm so weit
abgemildert, dass keine Ulzerationen im Entzündungsgebiet
mehr auftraten.
Mittlerweile steht das Konzept, dass eine kleine Gruppe von
Schlüsselbakterien (,,keystone bacteria") bei der Entstehung
einer adäquaten Wirtsantwort eine zentrale Rolle spielt, im Fokus
diverser aktueller Forschungsanstrengungen [7]. Ob diese
Keime in einem gegebenen Wirt in ausreichender Anzahl vorhanden
sind, hängt von verschiedenen genetischen und umweltbedingten
Faktoren ab. Die Zusammensetzung der aufgenommenen
Nahrung beeinflusst nicht nur den Stoffwechsel
des Wirts in entscheidender Weise, sondern führt auch zu
einer signifikanten bakteriellen Selektion innerhalb des oralen
und gastrointestinalen Mikrobioms mit nachfolgender Zunahme
oder Reduktion spezifischer Keime und Keimgruppen
[21]. Der Konsum faser- und ballaststoffreicher Kost wird bereits
seit Längerem als gesundheitsfördernd identifiziert. Erst
aktuelle Studien konnten jedoch aufzeigen, dass faserreiche
Ballaststoffe das Wachstum bestimmter Clostridienarten im
Darm fördern, welche die Ballaststoffe zu kurzkettigen Fettsäuren
(,,short chain fatty acids', SCFAs) verstoffwechseln [2].
SCFAs wiederum stimulieren das Wachstum und die Ausreifung
entzündungsdämpfender, regulatorischer CD4+ Foxp3+-T-Zellen
und damit die Reduktion chronisch ablaufender
Entzündungsprozesse. Ein Ernährungs- und Lebensstil, der
das Wachstum essenzieller Schlüsselkeime im Körper begünstigt,
ist daher nach aktuellen Erkenntnissen ein zentraler, ursachengerichteter
Ansatz zur Kontrolle chronisch-entzündlicher
Zivilisationserkrankungen.
Probiotika
Veränderungen des Lebens- und Ernährungsstils sind aber
bekanntermaßen aufgrund der Komplexität humaner psychosozialer
Strukturen in vielen Fällen nur sehr schwer dauerhaft
etablierbar. Der Umstand, dass es praktisch nicht möglich
ist, durch eine Veränderung des Lebensstils systemrelevanten
Schlüsselkeimen eine ausreichende natürliche Nische zur
dauerhaften Ansiedlung zu bieten, führte zu der Idee, diese
Keime von extern mit der Nahrung zuzuführen. Das Konzept
des Konsums von Lebensmitteln, die lebende Keime mit einer
gesundheitsfördernden Wirkung enthalten, welche eine
Passage durch die Magensäure unbeschadet überstehen, ist
seit Langem bekannt und unter dem Begriff Probiotika etabliert.
Insbesondere verschiedene Laktobazillenspezies, Bifidobakterien,
aber auch diverse weitere Bakterien sowie Hefen
wurden bislang in probiotischen Therapieansätzen verwendet.
Probiotische Lebensmittel enthalten ausschließlich apathogene
Keime und sind formal keine Medikamente. Vielmehr
handelt es sich um sogenannte Nahrungsergänzungsmittel,
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 11
Wissenschaft
Zeit
A/A (aktiv +aktiv)
{n=13,104 Stellen}
P/P (Placebo+Placebo)
(n=12, 96 Stellen)
Beginn 58 68
1. Woche 23 58
2. Woche 8* 45
4. Woche 15 64
Tab. 1: Anzahl auf Sondierung blutender Zahnfleischtaschen
unter dem Konsum probiotischer Lactobacillus-reuteri-haltiger
Kaugummis oder geschmacksidentischer Placebokaugummis.
Stopp der Einnehme nach zwei Wochen [18]
Abb. 9: Häufigkeitsverteilung der erfassten Gingivaindex
(GI)-Werte vor und nach dreimonatigem Konsum Lactobacillus-reuteri-haltiger
Lutschtabletten oder Placebo (modifiziert
nach Kleinhans [9])
Abb. 10: Häufigkeitsverteilung der erfassten Plaqueindex
(PI)-Werte vor und nach drei-monatigem Konsum Lactobacillus-reuteri-haltiger
Lutschtabletten oder Placebo (modifiziert
nach Kleinhans [9])
für deren Zulassung in Europa nicht die European Medicines
Agency (EMA), sondern die European Food Safety Authority
(EFSA) zuständig ist. Im Jahr 2012 entzog die EFSA allen auf
dem Markt befindlichen Probiotika die Erlaubnis, mit einem
konkreten Gesundheitsversprechen (Beispiele: „stärkt die Abwehrkräfte“,
„hilft bei Erkältungen“ etc.) für deren Kauf zu
werben (Abb. 8). Hintergrund dieser stark kontrovers diskutierten
Entscheidung war das Urteil eines Expertengremiums
der EFSA, dass für kein kommerziell erhältliches Probiotikum
eine ausreichende wissenschaftliche Evidenz vorliege, welche
die Existenz einer signifikanten gesundheitsfördernden Wirkung
bei gesunden Individuen belegen könnte.
Probiotika in der medizinischen Therapie
Diese fehlende Evidenz der gesundheitsfördernden Wirkung
von Probiotika bei Gesunden muss jedoch vom Einsatz solcher
Präparate bei erkrankten Individuen unterschieden werden.
So ist die Gabe probiotischer Zubereitungen bei Dysbiosen
des Darms in der Pädiatrie eine seit einigen Jahren
übliche Therapieoption [3]. Auch in der Zahnheilkunde findet
sich seit geraumer Zeit eine beständig wachsende Anzahl
klinisch-experimenteller Untersuchungen, die eine klinisch
relevante positive Wirkung der Anwendung probiotischer Zubereitungen
belegt. Insbesondere zur gesundheitsfördernden
Wirkung des Konsums spezifischer probiotischer Lactobacillus-reuteri-Stämme
im Bereich parodontaler Erkrankungen
liegt mittlerweile eine ganze Reihe von in erstrangigen Fachzeitschriften
publizierten Studiendaten vor. So konnten Twetman
et al. [18] beobachten, dass es allein durch den regelmäßigen
Konsum Lactobacillus-reuteri-haltiger Kaugummis in
einem Kollektiv von stark mit Gingivitis simplex behafteten
Patienten ohne weitere Mundhygieneinstruktionen innerhalb
von 14 Tagen zu einem ganz ausgeprägten Rückgang der Sondierungsblutung
in der Testgruppe kam, während bei den Patient*innen
der Placebogruppe, die geschmacklich identische
Kaugummis ohne Lactobacillus reuteri konsumierten, eine
nur geringe, nicht signifikante Reduktion der gingivalen Entzündungssituation
festgestellt wurde (Tab. 1).
Eine von unserer Abteilung in Zusammenarbeit mit der Frauenklinik
des Universitätsklinikums Würzburg durchgeführte
klinische Studie an 45 schwangeren Frauen mit manifester
Schwangerschaftsgingivitis im letzten Trimester der Schwangerschaft
erbrachte ebenfalls ausgeprägte, klinisch relevante
Veränderungen der parodontalen Entzündungssituation [9].
Ohne weitere Instruktionen zur Verbesserung ihrer häuslichen
Mundhygiene wurden die schwangeren Studienteilnehmerinnen
angewiesen, ihnen randomisiert zugeteilte probiotische
Lutschtabletten mit Lactobacillus reuteri oder geschmacksidentische
Placebotabletten über einen Zeitraum von drei Monaten
zweimal täglich bis zur Geburt des Kindes zu konsumieren. Die
Analyse der Daten enthüllte für die Testgruppe am Ende des Beobachtungszeltraums
einen ausgeprägten Rückgang der gingi-
12 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Wissenschaft
valen Entzündung, während in der Placebogruppe nur eine wesentlich
geringere, nicht signifikante Reduktion der gingivalen
Entzündung dokumentiert werden konnte (Abb. 9). Ebenso reduzierte
sich die Plaquebedeckung der Zähne in der Testgruppe
signifikant, während wiederum in der Placebogruppe am Ende
des Beobachtungszeitraums von drei Monaten eine nur geringe,
nicht signifikante Verminderung der Plaquebedeckung zu verzeichnen
war (Abb. 10).
Der in der Lactobacillus reuteri konsumierenden Testgruppe
in Abwesenheit jeglicher Mundhygieneinstruktionen zu beobachtende
dramatische Rückgang der Plaquebedeckung auf
nur ein Drittel des Ausgangswertes bei gleichzeitig ebenfalls
sehr stark ausgeprägter Reduktion der gingivalen Entzündung
ist ein weiter Beleg für die Validität der These, dass der in einem
Individuum messbare Plaquebedeckungsgrad der Zähne
nicht nur durch die Effektivität der häuslichen Zahnpflege,
sondern vielmehr ganz ausgeprägt auch durch den Entzündungsgrad
der Gingiva beeinflusst wird. Entgegen etablierten
Vorstellungen auf der Basis des Modells der experimentellen
Gingivitis entstehung nach Löe et al. [10] führt nicht nur die
Etablierung von Plaque zur Entstehung gingivaler Entzündungen.
Vielmehr scheinen umgekehrt die Stärke der gingivalen
Entzündung und der hierdurch induzierte vermehrte Ausfluss
eines proteinhaltigen Exsudats aus dem gingivalen Sulkus ein
zentraler Promotor des Überwachsens parodontopathogener
Keime zu sein. Wird diese gingivale Entzündung wie im
vorliegenden Fall auch ohne Verbesserung der Effizienz der
häuslichen Mundhygiene reduziert, kommt es nachfolgend
nicht nur zu einer Verminderung der gingivalen Entzündung,
sondern gleichzeitig auch zu einer Abnahme der Plaquebedeckung
der Zähne.
Tierexperimentelle Studien an Mäusen zeigten weiterhin,
dass bereits der alleinige Konsum von Lactobacillus reuteri
im Trinkwasser dieser Tiere eine ganz ausgeprägte Steigerung
der Abheilung normiert zugefügter Hautwunden nach
sich zog, ohne dass Lactobacillus reuteri direkt in Kontakt
mit diesen Wunden gekommen wäre [12]. Die Analyse der
Ursachen hierfür ergab, dass der regelmäßige Konsum von
Lactobacillus-reuteri-Keimen zur vermehrten Freisetzung
des Neuropeptidhormons Oxytocin führte, welches nachfolgend
analog zur Wirkung kurzkettiger Fettsäuren die Aktivierung
immunregulatorischer T-Zellen induzierte. Die Daten
einer klinischen Studie zur Wirkung des Konsums Lactobacillus-reuteri-haltiger
Lutschtabletten auf die Abheilung parodontaler
Läsionen nach systematischer Parodontaltherapie
mittels Scaling und Root Planing bestätigten die zuvor dargestellte
tierexperimentelle Evidenz [17]. Es zeigte sich, dass die
Patient*innen, die in der parodontalen Abheilungsphase über
drei Monate hinweg regelmäßig Lactobacillus-reuteri-haltige
Lutschbonbons konsumiert hatten, zum Zeltpunkt der Reevaluation
einen signifikant höheren mittleren Attachmentgewinn
aufwiesen als die Patient*innen der Kontrollgruppe,
welche im Beobachtungszeitraum nur regelmäßig geschmacksidentische
Placebo-Lutschtabletten zu sich genommen hatten
(Abb. 11). Auch der Prozentsatz verbliebener Zähne mit parodontaler
Sondierungstiefe > 5 mm war zum Zeitpunkt der
Reevaluation in der Testgruppe mit 18 % signifikant niedriger
als in der Placebogruppe (34 %) (Abb. 12).
Abb. 11: Reduktion der sondierbaren Taschentiefen drei Monate
nach Scaling und Root Planing (SRP) unter dem Einfluss
des regelmäßigen Konsums Lactobacillus-reuteri-haltiger
Lutschtabletten oder geschmacksidentischer Placebotabletten
(modifiziert nach Teughels et al. [17]).
Abb. 12: Prozentsatz residualer Taschen mit Bedarf für parodontalchirurgische
Maßnahmen (Resttaschentiefe >5mm) drei
Monate nach Scaling und Root Planing (SRP) sowie dem nachfolgenden
regelmäßigen Konsums Lactobacillus-reuteri-haltiger
Lutschtabletten oder geschmacksidentischer Placebotabletten
(modifiziert nach Teughels et al. [17]).
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 13
Wissenschaft
Fazit
Die Zusammensetzung des humanen Mikrobioms berührt in
weit essenziellerer Weise als bislang angenommen die Funktionsfähigkeit
des mukosalen Immunsystems und die daraus resultierende
Entzündungslast im menschlichen Körper. Lebensstil,
Ernährung und eine genetische Disposition entscheiden
in signifikanter Weise darüber, welche Bakterien in welchem
Umfang den menschlichen Körper besiedeln. Störungen in der
Interaktion zwischen dem Körper und den Keimen des humanen
Mikrobioms durch das Überwachsen pathogener Arten wie
auch das Fehlen systemrelevanter Schlüsselkeime können den
Ausgangspunk chronisch-entzündlicher Prozesse bilden. Der
gezielte Konsum von Lebensmitteln mit gesundheitsfördernden
essenziellen Mikroorganismen bildet die Basis des Konzepts der
probiotischen Therapie. Die verfügbare Evidenz zum Nutzen
des Konsums von Probiotika bei Patienten, die eine klinisch relevante
Parodontalerkrankung aufweisen, ist zurzeit noch eher
fragmentarisch. Bislang durchgeführte klinische Untersuchungen
zeigen jedoch in ihrer großen Mehrzahl klinisch bedeutsame
Auswirkungen der Gabe probiotischer Präparate auf die
Ausprägung von Entzündungen und die Abheilung parodontaler
Läsionen, welche im Einklang mit aktuellen Vorstellungen
zur Interaktion des mukosalen Immunsystems mit den Keimen
des humanen Mikrobioms stehen. Angesichts einer ausgeprägten
genetischen Diversität zwischen Mikroorganismen der gleichen
Art von bis zu 30 % der Gene sind Wirkungen, die beim
klinischen Einsatz einzelner spezifischer Bakterienstämme beobachtet
wurden, nicht ohne Weiteres auf den Einsatz anderer
Bakterienstämme der gleichen Art übertragbar. Es sollten daher
nur solche Probiotika für den klinischen Gebrauch in Erwägung
gezogen werden, welche Stämme probiotischer Keime
enthalten, deren Wirksamkeit in klinischen, placebokontrollier-
ten Studien mit genügend großen Fallzahlen und unter Einsatz
einer verblindeten Placebogruppe verifiziert wurde. Ob der
präventive Konsum probiotischer Zubereitungen auch einen
positiven, klinisch relevanten Effekt auf die Mundgesundheit
von Individuen ausübt, die ein intaktes, entzündungsfreies Gebiss
aufweisen, ist anhand der verfügbaren Evidenzlage bislang
nicht zu klären.
Erstveröffentlichung: Quintessenz 2015, 66
Autor
Prof. Dr.
Ulrich Schlagenhauf
Abteilung für Parodontologie in der
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie
Universitätsklinikum Würzburg
Pleicherwall 2
D-97070 Würzburg
Interessenkonflikt:
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien
des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
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14 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
2. Virtuelles GZM-Symposium
Craniomanibuläre Dysfunktion
(CMD)
3 Tage – 6 Referenten, jeweils von 19:00 bis 21:00 Uhr
Termine: Dienstag, 15. Februar 2022
Mittwoch, 16. Februar 2022
Donnerstag, 17. Februar 2022
Referenten:
Hardy Gaus, Dr. Annette Jasper, Dr. Horst Kares,
PD Dr. Katja Schwenzer-Zimmerer, Dr. Josef Vizkelety,
Prof. Dr. Erich Wühr
Information und Anmeldung:
Internationale Gesellschaft für Ganzheitliche ZahnMedizin e. V.
Kloppenheimer Straße 10 | 68239 Mannheim | www.gzm.org
Tel.: +49 621 4824300 | Fax: +49 621 473949 | E-Mail: info@gzm-org.de
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 15
Wissenschaft
Suizidale Krisen
Anna-Lena Bröcker, M. Sc. (Psych.)
Zahnärzt*innen sehen Ihre Patient*innen regelmäßig, häufig schon viele Jahre lang.
Eine Sensibilisierung für Anzeichen der Suizidalität können hilfreich sein, um ggf. mit
Patient*innen ins Gespräch zu kommen. Zahnärzt*innen gehören darüber hinaus zu
den Berufsgruppen mit erhöhten Risiko, denn sie gelten als Mediziner*innen besonders
gefährdet. Darüber hinaus: Die Selbstmordrate wird mit einem 50 % höheren Risiko
gegenüber anderen Berufsgruppen beziffert, wobei bei Ärztinnen die Suizidrate zu den
Frauen der Allgemeinbevölkerung sogar viermal höher liegt. Pro Jahr verüben bis zu 200
Mediziner*innen in Deutschland Selbstmord, wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte.
Viele Suizide werden als Unfälle oder Vergiftungen deklariert.
Anna-Lena Bröcker ist Stationspsychologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin der psychiatrischen
Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus in Berlin und stellt
im Folgenden das Wesen der suizidalen Krisen vor.
Zusammenfassung
Suizidale Krisen können uns in allen Bereichen des medizinischen und psychosozialen Helfersystems begegnen. So suchen
Menschen in akuten Belastungssituationen nicht selten zunächst den Weg zu ihrem/Ihrer Hausärzt*in. Erst schrittweise
kommt mehr Wissen und ein offener Umgang mit der Thematik in der Gesellschaft an. Welche Irrtümer halten sich hartnäckig
in der Gesellschaft? Wie kann ich Suizidalität erfragen? Wer gehört zu den Hoch-Risikogruppen einerseits und wie
individuell kann andererseits die zugrunde liegende Dynamik sein?
Schlüsselwörter: Suizidale Krise, Irrtümer über Suizidalität, Hochrisikogruppen für Suizidalität
Abstract
We can encounter suicidal crises in all areas of the medical and psychoso-cial helper system. In acute stressful situations, it
is not uncommon for peo-ple to first seek the way to their family doctor. Only gradually does more knowledge and an open
approach to the topic reach society. What errors persist in society? How can I inquire about suicidality? Who belongs to the
high-risk groups on the one hand and how individual can the underlying dynamics be on the other?
Keywords: Suicidal crisis, misconceptions about suicidality, high risk groups for suicidality
Den Raum betritt ein großer, schlanker
Mann Anfang 60, den Blick
leicht gesenkt. Er spricht zunächst
kaum, erst auf Nachfrage sagt er
nickend: „Ja, manchmal möchte ich gerade
einfach nicht mehr leben.“
In einer späteren Stunde, wir haben uns
inzwischen nonverbal aufeinander eingespielt,
was sich in einer synchronen Änderung
der Sitzposition oder dem gleichzeitigen
Ergreifen des Worts ausdrückt,
beginnt Herr A. plötzlich von seinen
Großeltern zu erzählen, bei denen er aufgewachsen
sei: von dem Haus in einem
nördlichen Dorf der Türkei, seinem stillen
Großvater und seiner nicht zur Ruhe
kommenden Großmutter und hat Tränen
in den Augen. So bewegt hatte ich ihn bis
dato noch nicht erlebt. Ich verstehe nun
besser, wo sein zunehmend aufflackerndes
schelmisches Grinsen oder seine warme
Art im Kontakt mit Mitpatienten herrührt.
Herr A. berichtet, wie seine Eltern ihn als
Jugendlichen unfreiwillig nach Deutschland
geholt hätten und wie schwierig das
für ihn gewesen sei. Seine Großeltern habe
er nie mehr wiedergesehen.
16 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Wissenschaft
Es wird immer deutlicher, wie hochambivalent
die eigenen Eltern besetzt sind.
Der Vater, der aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit
Herrn A. als Ältesten wiederkehrend
in die Verantwortung zwang,
sich nicht nur um ihn, sondern auch um
seine jüngeren Geschwister zu kümmern.
Seine Mutter, in der eigenen Passivität
gefangen. Neben Wut, Enttäuschung und
Resignation, die das Erleben zunächst
dominieren, stehen – noch im Nebel –
Wünsche nach Zuneigung, Anerkennung
und positiver Resonanz.
Epidemiologie und
Prävalenz
Jährlich sterben in Deutschland über
10 000 Menschen an vollendeten Suiziden.
Das Geschlechterverhältnis liegt bei
mehr als 2:1 (m:w), mit steigender Tendenz
der Suizidraten (pro 100 000 Einwohner/Jahr)
bei zunehmendem Alter,
insbesondere bezogen auf das männliche
Geschlecht (Tab. 1). Auch bei Menschen
im Alter zwischen 15 und 39 Jahren ist
der vollendete Suizid die zweithäufigste
Todesursache. Bei der noch deutlich höheren
Zahl an Suizidversuchen verhält
sich das Geschlechterverhältnis diametral,
wobei eine nähere Betrachtung dieses
Phänomens [1] den Rahmen hier übersteigt.
Suizid wird definiert als „die Summe aller
Denk- und Verhaltensweisen von Menschen
[...], die in Gedanken, durch aktives
Handeln, handeln lassen oder passives
Unterlassen den eigenen Tod anstreben
bzw. als möglichen Ausgang einer Handlung
in Kauf nehmen“ [2, S. 26].
Eine insgesamt rückläufige Tendenz der
Suizidraten bestärkt die These, dass sich
eine zunehmende Beschäftigung mit der
Thematik auszahlt [3]. Dennoch weisen
Fachverbände darauf hin, dass für suizidpräventive
Maßnahmen längst nicht
hinreichend Ressourcen zur Verfügung
stehen. Aus suizidologischer Perspektive
herrscht Konsens über die Notwendigkeit,
sowohl auf globaler (z. B. weitere Begrenzung
des Zugangs zu tödlichen Mitteln)
als auch auf individueller Ebene (z. B.
niedrigschwellige Anlaufstellen) Strategien
auszubauen, insbesondere jedoch den
politischen und öffentlichen Dialog zu
stärken und nicht zuletzt Aufklärungsarbeit
zu leisten [4, 5]. Wichtig hierbei ist
ein bewusster Umgang mit medialer Berichterstattung
[2]. Serien wie „13 Reasons
Why“, kürzlich auf dem Streamingportal
Netflix ausgestrahlt, schlagen in
ihrer Intention eher fehl, bergen Nachahmungspotenzial
(„Werther-Effekt“) und
tragen zu einer Glorifizierung, nicht aber
zu einer Aufklärung über Auswegmöglichkeiten
bei Suizidgedanken bei [6].
Woran erkenne ich
Suizidaliät?
Möglicherweise als Restspuren gesellschaftlicher
Tabuisierung besteht weiterhin
ein volkstümlicher Irrglaube
dahingehend, dass Menschen, die über
Suizidalität sprechen, sich nicht tatsächlich
etwas antun oder aber, dass das bloße
Nachfragen und Thematisieren von
Suizidalität Betroffene erst auf die Idee
bringen und einen suizidalen Akt gar
befördern möge. Vielmehr ist es so, dass
das „ernsthaft(e) und einfühlsam(e), direkt(e)
und konkret(e)“ [7] Nachfragen
enorm wichtig ist und für den (innerlich)
isolierten Menschen ein erstes Beziehungsangebot
und somit einen wichtigen
suizidpräventiven Faktor darstellt.
Suizidalität wird im psychiatrischen und
psychologischen Verständnis auf einem
Kontinuum angesiedelt, von einer eher
passiven (Lebensüberdruss) bis hin zur
akuten Suizidalität, mit unterschiedlicher
Indikation und Notwendigkeit zum aktiven
Handeln [2]. Sie wird klassischerweise
im Dreischritt erfragt, von Suizidgedanken
(z. B. „Es gibt Menschen, die in
einer vergleichbaren Situation lebensmüde
Gedanken entwickeln. Kennen Sie solche
Gedanken?“), über Suizidabsichten
(mit oder ohne konkreten Plan) bis hin
zu vorbereitenden (z. B. Horten von Tabletten),
begonnenen oder vollendeten
Suizidhandlungen (in der unmittelbaren
oder längeren Vorgeschichte). Ein
wichtiger, oft unterschätzter Hinweis ist
die passive Suizidalität („Zunehmend
wünschte ich mir morgens gar nicht mehr
aufzuwachen“), die i. d. R. mit einer höheren
Fähigkeit der Distanzierung und
einem flexibleren psychischen Innenraum
einhergeht, jedoch langfristig nicht
minder alarmieren sollte. Vielmehr ist die
therapeutische Erreichbarkeit zu diesem
Zeitpunkt begünstigt. Je höher die innere
und häufig auch interaktionelle Einengung
(Rückzug vom äußeren Umfeld),
desto größer die Gefahr (präsuizidales
Syndrom nach Ringel, [2]). Suizidalität
wohnt i. d. R. eine hohe Ambivalenz
inne, und genau hier liegt die Chance zur
Intervention.
Klinisch hilfreich ist das Stadienmodell
der präsuizidalen Entwicklung von Pöldinger
[2], das unterscheidet zwischen:
Insg. 15–20 20–25 25–30 30–35 35–40 40–45 45–50 50–55 55–60 60–65 65–70 70–75 75–80 80–85 85–90 ≥90
m 18.4 6.2 10.2 12.5 14.6 14.5 17.9 19.6 22.7 25.9 21.8 20.3 29.7 36.8 52.4 71.7 112.9
w 6.5 3.2 3.3 3.4 4.2 4.6 6.5 7.2 8.5 8.9 7.9 8.5 11.0 10.8 11.1 13.6 15.6
z 12.3 4.7 6.9 8.1 9.5 9.6 12.2 13.5 15.7 17.4 14.6 14.1 19.7 22.3 27.6 33.0 37.4
Tab. 1: Suizidraten 2015 (Suizid/100 000 Einwohner), Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik [16]
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 17
Wissenschaft
Der größte „Fehler“ im
Umgang mit Suizidalität
ist es, nicht darüber zu
sprechen!
Abb. 1: Präsuizidaler Verlauf nach Pöldinger [zit. nach 2, S. 67]
▶ einem Erwägungsstadium
▶ einem Ambivalenzstadium
▶ einem Entschlussstadium, mit je abnehmender
Fähigkeit zur Distanzierung
und abnehmendem appellativen,
mehr resignativem Charakter (Abb. 1).
So weist das Modell auch darauf hin, dass
ein zum Suizid entschlossener Mensch
häufig einen Abfall der inneren Spannung
(„trügerische Ruhe“) erlebt, die im Klinikalltag
als vermeintliche Symptomverbesserung
verkannt werden kann.
Achtung: Die zu rasch gelöste Stimmung
depressiver Patienten*innen kann unter
Umständen darauf hinweisen, dass er oder
sie durch die Entscheidung, den Suizid zu
vollenden, gewissermaßen gelöster wirkt.
Einblick in Risikogruppen
und -faktoren
Etwa 90 % der Menschen, die Suizid
begehen, leiden an einer psychischen
Erkrankung, v. a. affektive, aber auch
Abhängigkeitssyndrome, psychotische
Erkrankungen, Persönlichkeits-, Anpassungs-,
Angst- und somatoforme Störungen
[2]. Die höchste Risikogruppe stellen
die depressiv Erkrankten dar, hierunter
vor allem ältere Männer (>70 Jahre), mit
anhaltenden Gefühlen von Insuffizienz,
Schuld, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit
oder aber mit (pseudo-)altruistischen
Ideen, i. S. v. die Welt sei besser
ohne den Betroffenen. Zu den Risikofaktoren
zählen ferner [nach 3, 8]:
▶ vorangegangene Suizidversuche (auch
im Familien- oder engeren Bekanntenkreis!)
▶ Suizidideen mit ausgeprägtem Handlungsdruck
und geringer Fähigkeit zur
Distanzierung
▶ Verlust äußerer Ressourcen (z. B.
sozialer Rückzug) oder Einbeziehung
Angehöriger i. S. der Idee eines erweiterten
Suizids
▶ Verlust innerer Ressourcen (z. B.
Glaubenssystem)
▶ direktes Suizidarrangement oder implizite
Vorkehrungen wie Testamentschreibung
▶ eine komorbide Substanzabhängigkeit,
komorbide Angst- oder Persönlichkeitsstörung,
psychotische
depressive Symptome
▶ körperliche und kognitive Symptome
wie anhaltende Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten
▶ aggressiv-impulsive Persönlichkeitsmerkmale
Wichtig zu beachten:
▶ offen Suizidgedanken/-pläne/-handlungen
erfragen
▶ akute Belastungssituation erfragen
▶ subjektive Erlebnisweise ernst nehmen
▶ Ressourcen erfragen (z. B. Partnerschaft)
▶ Distanzierungsfähigkeit einschätzen
Und dann?
▶ Zeit gewinnen
▶ empathisch, jedoch nicht panisch
reagieren
▶ Beziehungsangebot machen (neuer
Termin)
▶ Abwägen einer psychiatrischen Überweisung
▶ Austausch mit Kollegen (Inter- bzw.
Supervision)
▶ zu einem gewissen Grad immer auch
… Unsicherheit aushalten
Einschätzung der Akuität
Präsuizidale Verläufe liegen bei Depressionen
phänotypisch häufig nah an den
hier genannten Modellen. Aber auch
während einer floriden psychotischen
Episode kann sich ein Suizidgedanke
beispielsweise in Form von Phonemen
(„Stimmen hören“) ausdrücken,
die zum Suizid auffordern. Wichtig bei
der Einschätzung der Akuität ist, über
die Grunderkrankung hinweg, einerseits
die Distanzierungsfähigkeit und
andererseits bestehende Freiheitsgrade
i. S. v. intrapsychischer Flexibilität und
äußerer Ressourcen (v. a. Beziehungsgefüge).
Hiervon abhängig ist schließlich
die Indikation einer stationären Krisenintervention
und Notfallbehandlung.
Bei schizophrenen Erkrankungen wird
das Risikopotenzial postpsychotisch ins-
18 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Wissenschaft
besondere bei jüngeren Männern, mit
hoher Intelligenz und damit Einsichtsfähigkeit
in einen möglicherweise schwerwiegenden
Krankheitsverlauf, und der
damit verbundenen Aufgabe früherer
Lebenspläne, angesiedelt [3]. Hinzu kommen
allgemeinere Risikofaktoren, wie
komorbider Substanzabusus und eine
positive Suizidanamnese. Neben diesem
mehr bilanzierenden Aspekt, sind dem
post-psychotischen Verlauf überwiegend
auch akute depressive Symptome immanent,
die das Suizidrisiko wiederum erhöhen
können. Im Rahmen einer floriden
Psychose ist die Gefahr eines raptusartig-impulsiv
erfolgenden Suizidversuchs,
häufig ohne Ankündigung, erhöht [2, 9].
Ferner gelten Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen
(emotional instabil, histrionisch,
narzisstisch) als Risikogruppen, wobei
eine Ausführung leider den Rahmen
des Artikels übersteigt. In [2] wird für
den Kliniker hilfreich aufgeführt, wann in
dieser Patientengruppe teilweise vorkommendes
selbstverletzendes Verhalten in
suizidales Verhalten übergeht. Neben spezifischen
Risikogruppen, der Betrachtung
präsuizidaler Verläufe sowie der akuten
psychosozialen Belastungssituation sind
auch spezifische Persönlichkeitsmerkmale
als Risikofaktoren zunehmend zum
Forschungsgegenstand geworden [10, 11].
Im Kontakt mit suizidalen Patient*innen,
mit denen es nicht gelingt, eine – bis zum
nächsten Termin – tragfähige Beziehung
herzustellen, man aber ebenso wenig die
Anlaufstellen
Mögliche Anlaufstellen, (ggf. anonyme)
Beratungsangebote und Informationsquellen
für Betroffene und Angehörige:
▶ Rettungsstelle des zuständigen psychiatrischen
Krankenhauses
▶ Berliner Krisendienst
▶ Telefonseelsorge
▶ Nummer gegen Kummer (Kinder- und
Jugend- sowie Elterntelefon)
▶ [U25] Deutschland
▶ Bündnisse gegen Depression
▶ Homepage der Deutschen Gesellschaft
für Suizidprävention
bisher hergestellte Vertrauensbasis durch
etwaige Maßnahmen gegen den Willen
der Patient*in riskieren möchte, ist es eine
Möglichkeit, dieses innere Dilemma bei
der Erwägung eines stationären Aufenthalts
offen zu benennen. Damit verhindert
man, dass der/die Patient*in sich in
seiner/ihrer Gefährdung allein gelassen
erlebt. „(...) Die Wahrnehmung einer großen
Not und Gefährdung einerseits und der
situativen Unfähigkeit (des Patienten) , von
der gebotenen Hilfe Gebrauch zu machen,
andererseits“ [1, S.103]. Bestenfalls in
Kombination mit einem poststationären
Beziehungsangebot.
Psychodynamik der
Suizidalität
Ohne die Bedeutung klassisch psychiatrischer
Diagnostik zu schmälern, ermutigt
die Psychoanalytikerin Prof. Dr. Benigna
Gerisch in ihrem Buch „Suizidalität“ [1]
dazu, zusätzlich eine psychodynamische
Perspektive einzunehmen. Im Folgenden
soll auf Basis dieser Lektüre psychodynamisches
Denken zu Suizidalität
auszugsweise nähergebracht und auf das
Fallbeispiel angewendet werden. Psychodynamische
Konzeptualisierungen beachten
hierbei u. a. Annahmen Sigmund
Freuds, Karl Abrahams, Heinz Henselers
und Jürgen Kinds [1].
Die psychodynamische Denkweise versucht
über die Auslösesituation hinauszuschauen
und fragt, welche dahinterstehenden
(unbewussten) Konflikt- und
Spannungsfelder aktuell wirksam werden.
In dieser Betrachtungsweise ist die
Suizidalität gewissermaßen ein Symptom,
ein – mit hohen Kosten verbundener –
Reparationsversuch der Psyche für eine
sich zugespitzte, anders nicht mehr lösbare
intrapsychische und/oder interpersonelle
Spannung. Nach einem modernen
Verständnis birgt die Suizidalität somit
nicht selten einen gewissen Änderungswunsch
in einer vermeintlichen Pattsituation,
den es zu verstehen gilt; ähnlich
der zuvor beschriebenen Ambivalenz, die
eine Behandlung überhaupt erst möglich
macht. Im psychodynamischen Arbeiten
werden vergrabene Konfliktthemen peu
à peu mithilfe des Übertragungsgeschehen
erleb-, versteh- und veränderbar (gemacht).
Ein Fokus liegt hierbei auf frühen
Beziehungserfahrungen, die sich in der
Psyche gewissermaßen eingraviert haben
und das interpersonelle Erleben und
Handeln bedeutsam mitprägen.
Bei einer nun folgenden Anwendung psychodynamischen
Denkens auf Herrn A.
sei betont, dass es stets mehrere Betrachtungsweisen
gibt. Weder existiert die Psychodynamik
bezogen auf ein Individuum
noch die Psychodynamik der Suizidalität.
Herr A. – Auslösesituation
Allein die Auslösesituation ist multikausal
entstanden: Die Kinder werden erwachsen
und das Werk Herrn A’s als Vater
ist somit „vollendet“. Er erreicht ein
Alter, in dem er erstmals rückblickend
reflektiert, auch ein Alter, in dem sein eigener
Vater unerwartet an Herzversagen
verstarb. Die Mutter wird pflegebedürftig
und zu allem Überfluss – oder bereits als
Ausdruck dieser inneren Zuspitzung –
wird ihm nach jahrelanger Anstellung
von seinem Arbeitgeber gekündigt.
Herr A. ist zutiefst gekränkt, und es übermannt
ihn eine unbändige ohnmächtige
Wut. Er wird depressiv und nach vielen
Monaten auch suizidal und kommt in
stationäre Behandlung.
Herr A. – Spannungsfelder
Herr A. hat rasch geheiratet, und es war
ihm über viele Jahre möglich, das Selbstbild
eines fleißigen, versorgenden Vaters
aufrechtzuerhalten und hierüber sein
Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Der
Verlust des Berufes bringt die narzisstische
Homöostase bedrohlich ins Wanken
und ist bei einem brüchigen Selbstbild
aktuell kaum auszugleichen, umso mehr,
da ihn die inzwischen erwachsenen Söhne
weniger brauchen. Nicht nur, dass er
sich von ihnen „im Stich gelassen fühlt“,
auch projiziert er seine Unzulänglichkeitsgefühle
auf diese und zeigt sich gekränkt,
dass diese nicht (stellvertretend
für ihn) studiert hätten. Die Wut richtet
sich nun zunächst gegen ehemalige Arbeitskollegen,
seine Familie, dann gegen
sich selbst. Im Grunde richtet sich die
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 19
Wissenschaft
Wut aber gegen die eigenen Eltern, die
ihm dieses Unzulänglichkeitsgefühl quasi
eingebrannt haben. Frühe Bedürfnisse
nach Spiegelung und empathischer Zuwendung
werden reaktiviert und überfordern
ihn. Ein regressiver Prozess wird
angestoßen und befördert ihn zurück in
ein frühes ambivalentes Erleben aus Enttäuschungswut,
Insuffizienzgefühlen und
der Suche danach, von den eigenen Eltern
gesehen zu werden. Es ist ihm kaum
möglich, diese Emotionen zu benennen,
vielmehr tanzen sie auf der „Leibbühne
des Körpers“ [1]. Es ist ein Schmerz, der
über Kopf, Hüfte bis ins Herz wandert.
Diese körperlichen Symptome sind für
ihn neu, bergen sie doch viel von einem
frühen, noch vorsprachlichen Schmerz.
Die Wut kann nicht dorthin lokalisiert
werden, wo sie hingehört, weil die Bedürftigkeit,
die sich ebenfalls an die eigenen
Eltern richtet, zu dringlich ist. Freuds
These der Aggressionsumkehr als „Mord
am introjizierten Objekt“ ist denkbar,
vielleicht geht es aber auch gerade darum,
diese inneren Objekte zu schützen
und – in diesem Rettungsversuch – (lieber)
den eigenen bedürftigen Selbstanteil
anzugreifen. Verstrickter ist die Situation
noch, weil er nun das Alter erreicht, in
dem der eigene Vater an Herzversagen
plötzlich verstarb, ohne dass ungelöste
Gefühle Klärung finden und ein Trauerprozess
stattfinden konnte. Dass der
Vater ihn so zurückgelassen hat, macht
ihn unbewusst wütend und verzweifelt.
Gleichzeitig fühlt er sich durch diese Gefühle
schuldig, aus einer Ehr- und Respektsverpflichtung
diesem gegenüber;
aber auch, weil er in der vernichtend
brodelnden Wut riskiert, das so wichtige
Objekt (Vater) vollends zu verlieren. So
sehr sein Leitmotiv hieß „Ich möchte keinesfalls
werden wie mein Vater“, so blieb
er in dieser betonten Abgrenzung doch
im Grunde ganz eng mit diesem verbunden.
Es wäre (noch) zu schmerzhaft und
bedrohlich sich einzugestehen, dass er
seinem Vater gerade innerlich sehr nah
gerückt ist. Er inszeniert in seiner äußeren
Situation die ganze Dramatik dieser
Beziehung, insbesondere im Kontakt zu
seinen Söhnen. Diese bieten ihm nun,
aus Dankbarkeit und Zuneigung einem
wohl tatsächlich sehr liebevollen Vater
gegenüber, ihre finanzielle Unterstützung
an. Herr A. kann aber weder die Motive
dahinter erkennen, noch, dass diese womöglich
zum Ausdruck bringen, dass er
eben doch etwas anders gemacht hat als
sein Vater. Vielmehr erinnert er sich nun
daran, wie er wiederum seinem Vater
die Entzüge finanzierte und wie er sich
schwor, niemals so etwas von jemandem
zu verlangen. Die Suizidgedanken, als
Reparationsversuch, sind in dieser Konstellation
vielleicht eher als ein letzter
Versuch der Autonomiesicherung in der
Auseinandersetzung mit einer inneren
Beziehungsrepräsentanz zu sehen, mit
der er bis heute kämpft und in der er sich
stets als hilflos und ausgeliefert erlebt
hat. Die zunächst paradox anmutende
Befürchtung, plötzlich unvermittelt als
Folge einer Panikattacke an Herzversagen
zu versterben, wie er es häufig phantasiert,
verängstigt ihn massiv. Diese hypochondrischen
Ängste spiegeln, wie tief
die Abhängigkeit von dieser ungelösten
Beziehung ist. Ebenso zu versterben würde
unbewusst bedeuten, die Ablösung sei
endgültig missglückt. Die Suizidgedanken
sind somit paradoxerweise als Autonomiebestreben
zu verstehen, gleichwohl
dem Versuch, den eigenen Selbstwert
wiederherzustellen und eine vernichtende
narzisstische Krise aufzuhalten.
Die aktuelle Situation offenbart Herrn A.
auf eine Art, in der er sich schamhaft
ausgeliefert fühlt, sie spiegelt aber auch,
20 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Wissenschaft
dass er die Hoffnung noch nicht aufgegeben
hat. Und hier ist die wertvolle
Ambivalenz. Eine Hoffnung auf eine
Objektänderung, doch noch ein liebevoll
zugewandtes Vaterobjekt zu erreichen.
Und diese Objektgewandtheit ist es, die
es vielleicht möglich macht, die Wut und
Enttäuschung zu überwinden, sich von
Unerfülltem zu verabschieden und sich
den Eltern innerlich wieder anzunähern.
Herr A. – Verlauf
Zunächst tritt Herr A. in den Gesprächen
wenig in Kontakt, zunehmend
werden starke Wünsche nach positiver
Spiegelung und Anerkennung spürbar.
Über-Ich-entlastende Interventionen
und eine empathisch zugewandte Haltung,
auch ein Containment all der Wut
führen zu einer hohen affektiven Resonanz.
Der innerpsychische Raum wird
etwas flexibler, zunächst insbesondere
in nonverbalen Therapien, z. B. in der
Kunst oder beim Sport, wo Ängste angegangen
werden können. Als die Entlassung
aus dem stationären Kontext naht,
kann Herr A. (unbewusst) zunehmend
seine Wut auf seine Therapeuten lenken.
Dies zeigt einen hoffnungstragenden
Veränderungsraum auf, denn, je objektgerichteter
und bezogener das Empfinden
und auch das suizidale Erleben sind,
desto mehr findet die Ambivalenz ihren
Raum und kann bearbeitet werden.
Fataler ist die passive, in sich gekehrte
Suizidalität, die das Objekt rettungslos
aufgegeben hat.
„Wenn ich wieder gesund bin, dann mache
ich eine Reise in die Türkei, nicht dorthin,
wo ich aufgewachsen bin, sondern irgendwo
anders hin. Ich werde zu meiner Familie
zurückkehren, aber das ist etwas, das
ich nur für mich tun werde.“
Herr A. wurde medikamentös mitbehandelt.
Denkanstöße zur psychopharmakologischen
Akut- und Präventivbehandlung
sind im Literaturverzeichnis
aufgeführt [2, 12, 13].
Nachdruck aus dem zaenmagazin 2018 2
Autorin
Anna-Lena Bröcker, M. Sc. (Psych.)
Stationspsychologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus
Große Hamburger Str. 5-11, 10115 Berlin
Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee
of Medical Journal Editors besteht.
Literatur- und Quellenverweise
[1] Adler CJ., Dobney K., Weyrich LS. et al.: Sequencing Gerisch
B. Suizidalität. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2012.
[2] Wolfersdorf M, Etzersdorfer E. Suizid und Suizidprävention.
Stuttgart: Kohlhammer GmbH, 2011.
[3] Wolfersdorf M, Schneider B, Schmidtke A. Suizidalität:
Ein psychiatrischer Notfall, Suizidprävention: Eine
psychiatrische Verpflichtung. Nervenarzt 2015;86:1120-
1129.
[4] Lewitzka U, Wolfersdorf M. Aktuelle psychopharmakologische
und psy-chotherapeutische Strategien der Suizidprävention.
Nervenarzt 2016;87:465-466.
[5] http://www.who.int/mental_health/ suicide-prevention/
world_report _2014/en. (Letzter Zugriff: 4.1.2018).
[6] Kriesl I. Ärztin warnt vor umstrittener Netflix-Serie: “Ich
mache mir große Sorgen“. Stern 2017. https://www.stern.
de/gesundheit/aerztin-warnt-vor-netflix-serie--totemaedchen-luegen-nicht----ich-mache-mir-grosse-sorgen--7429632.html.
(Letzter Zugriff: 4.1.2018).
[7] Wolfersdorf M. Empfehlungen zum Umgang mit Suizidalität
bei Depressi-ven, Suizidprophylaxe 1991;18:27-37
(Zitat S.28).
[8] DGPPN, BÄK, KBV, AWMF (Hrsg.) für die Leitliniengruppe
Unipolare De-pression*. S3-Leitlinie/Nationale
VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Kurzfassung,
2. Auflage. Version 1. 2017. http://www.depression.
versorgungsleitlinien.de. (Letzter Zugriff: 4.1.2018).
[9] Wolfersdorf M, Vogel R, Vogl R et al. Suizid im psychiatrischen
Kranken-haus - Ergebnisse, Risikofaktoren, therapeutische
Maßnahmen. Nervenarzt 2016;87:474-482.
[10] Lewitzka U, Denzin S, Sauer C et al. Personality differences
in early ver-sus late suicide attempters. BMC Psychiatry
2016;16(1):282.
[11] Lewitzka U, Spirling S, Ritter D et al. Suicidal ideation
vs. suicide at-tempts: Clinical and psychosocial profile
differences among depressed pa-tients. The Journal of
Nervous and Mental Disease 2017;205(5):361-371.
[12] Haußmann R, Bauer M, Lewitzka U et al. Psychopharmaka
zur Behand-lung suizidaler Patienten und zur Suizidprävention.
Nervenarzt 2016;87:483-487.
[13] Lewitzka U, Severus E, Bauer R et al. The suicide prevention
effect of lithium: More than 20 years of evidence - a
narrative review. International Journal of Bipolar Disorders
2015;3:15.
[14] DGS- Hilfsangebote. https://www.suizidprophylaxe.de/
hilfsangebote/fuer-betroffene-und-angehoerige/. (Letzter
Zugriff: 4.1.2018).
[15] Statistisches Bundesamt (2015). Todesursachen in
Deutschland. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/
Thema-tisch/Gesundheit/Todesursachen/Todesursachen.html.
(Letzter Zugriff: 4.1.2018).
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 21
Praxis
Aromatherapie im Überblick –
die Kraft der duftenden
Heilpflanzen
Dr. med. Wolfgang Etspüler
Zusammenfassung
Die Aromatherapie ist der Teil der Phytotherapie, die sich im engeren Sinne mit dem Duft – und dessen Wirkungen – beschäftigt,
der über ätherische Öle der Pflanzen verströmt wird. Es gibt aber Übergänge bis hin zur Einnahme oder Anwendung
als Pflanzenheilmittel. Die vielen Facetten und Therapieoptionen der Aromatherapie werden anhand von Beispielen
dargestellt.Schlüsselwörter: ätherische Öle, Aromatherapie, Aromen in der Zahnarztpraxis
Abstract
aromatherapy is the part of phytotherapy that deals in a narrower sense with the scent and its effects, which is exuded by the
essential oils of the plants. But there are transitions up to ingestion or application as a herbal remedy. The many facets and
therapy options of aromatherapy are illustrated using examples.
Keywords: Essential Oils, Aromatherapy, Aromas in the Dental Office
Geschichte der
Aromatherapie
Bei der Aromatherapie handelt sich um eine Methode, die
als ganzheitliches Heilsystem weit in die Geschichte zurückführt.
Im alten Ägypten wurden Aromaöle zu vielen
Zwecken eingesetzt, z. B. als Opfergaben, als Medizin, in
Kosmetika und zur Mumifizierung (Zedernöl). Im Mittelalter
wurde die Aromatherapie ab dem 11. Jahrhundert in Persien
wiederentdeckt. Mittels neuer Technik, der Wasserdampfdestillation,
wurde die Herstellung effektiver. Der Arzt Ibn Sina (genannt
auch Avicenna) schrieb ein Buch mit dem Titel „Canon
der Medizin“, das bis ins 16. Jahrhundert das bedeutendste
Lehrbuch der Medizin darstellte. Hier wurden Aromaöle zur
Behandlung von physischen und psychischen Krankheiten
beschrieben und nach Avicenna eingesetzt. Um das Jahr 1500
untersuchte der berühmte Arzt Paracelsus die Wirkungen der
ätherischen Aromaöle und nahm sie in seine Heilmittelsammlung
auf.
In der Neuzeit mussten die Öle und deren spezifische Wirkungen
erst mühsam wiederentdeckt und erforscht werden. Durch
Zufall fand der Chemiker Gattefossé um 1920 die wundheilende
und antibakterielle Wirkung, als er sich bei einem Laborunfall
den Arm verbrannte. Er tauchte ihn in das am nächsten
stehende Fass, das zufällig Lavendelöl enthielt. Der Arm heilte
gut ohne Narbenbildung, was ihn zu weiteren Untersuchungen
veranlasste. In der heutigen Zeit hat sich der Einsatz von Aromaölen
zu vielerlei Zwecken verbreitet und gut im Alltag etabliert,
man findet sie in der Wellnessbranche, der Physiotherapie
und natürlich in der Medizin.
Gewinnung von
ätherischen Ölen
Um das wertvolle ätherische Öl aus einer Pflanze zu gewinnen,
werden unterschiedliche Methoden der Gewinnung benutzt,
die auch einen Teil der unterschiedlichen Qualitäten erklären.
Die wichtigsten Gewinnungsmethoden sind:
▶ Enfleurage
Die Enfleurage ist die Auflage von Blüten auf fettbestrichene
Platten. Nach einigen Tagen wird das (nicht riechende) Fett
gesammelt und mittels Alkohol Aromaöl herausgewaschen.
22 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
So können auch hitzelabile Duftöle gewonnen werden, die
bei der Destillation Schaden nehmen würden.
▶ Wasserdampfdestillation
Die Wasserdampfdestillation wird am häufigsten eingesetzt.
Das zerkleinerte Pflanzenmaterial wird mit Wasserdampf
durchblasen, das Öl tritt durch die Hitze aus, und anschließend
trennen sich Wasser und Öl nach dem Abkühlen.
▶ Kaltpressung
Bei der Kaltpressung von Zitrusölen entsteht eine Emulsion,
die durch Zentrifugieren in die Bestandteile aufgetrennt
wird. Die Kaltpressung dient ausschließlich der Gewinnung
ätherischer Öle von Zitrusfrüchten, wobei man hier nur die
Fruchtschalen nutzt.
▶ Chemische Extraktion
Die chemische Extraktion von Blütenölen mittels verschiedener
Lösungsmittel, zum Schluss mit Alkohol, erfordert
eine Rückstandskontrolle, um sicher zu gehen, dass eine reine
Qualität erreicht wird.
Für die Beschreibung der Qualität ist auch die Anbaumethode
von Bedeutung, ob Wildsammlung, ökologische oder konventionelle
Landwirtschaft; außerdem aus welchem Land das Öl
stammt. Die unterschiedlichen Wirkstoffgehalte der einzelnen
Pflanzenteile erfordert zudem die Angabe, ob das Ausgangsmaterial
Blüten, Blätter oder die ganze Pflanze war. Der Aufwand
drückt sich im Preis aus; zum Beispiel liegt das hochwertige natürliche
Rosenöl bei Preisen von 10.000 € pro Liter, in kleinen
Verpackungseinheiten sogar etwa 25 € pro Milliliter und als
Ausweichprodukt „ätherisches, naturidentisches“ Rosenöl nur
11 € pro 100 Milliliter, wobei naturidentisch auf eine synthetische
Erzeugung hinweist, in der aber nicht alle Inhaltsstoffe
des Originals imitiert werden. Somit ist die Preisspanne für die
Qualitäten von mehr als 1:100 zu erklären.
Anwendungen von
ätherischen Ölen
Die häufigste Form der Aromatherapie ist die Anwendung in
der Duftlampe. Zu Hause wird eine kleine Kerze zur Erwärmung
in der Duftlampe angezündet, in Praxen oder Kliniken
nimmt man wegen der Brandschutzvorschriften eher elektrisch
angewärmte Schalen. Die Auswahl der Öle richtet sich nach der
therapeutischen Absicht. Welche Wirkung soll das Öl haben:
beruhigend, reinigend, aktivierend, erdend, aufmunternd und
andere.
In der Schulmedizin wird die Aromatherapie oft gering geschätzt
und gedanklich in die Wellnessecke eingeordnet. Ein
regelhafter Einsatz erfolgt außerhalb der physikalischen Therapieabteilung
zum Beispiel in der Palliativstation. Hier spielen
Fragen der Befindlichkeit, der Symptomlinderung und der
Lebensqualität die wichtigste Rolle, sogar die Bewertung des
Behandlungserfolgs geschieht über Befragung der Lebensqualitätsfaktoren
mittels standardisierter Fragebögen, z. B. den QLQ
C30 der EORTC. Die positive Wirkung der Aromatherapie wird
hier hoch geschätzt. In vielen Lehrbüchern der Palliativmedizin
wird eingehend auf die Verwendung von Aromaölen als Komplextherapie
mit anderen Verfahren oder Medikamenten eingegangen.
Die Ordnung ist thematisch nach geklagten Beschwerden,
hier als Beispiel für Muskelkrämpfe, im Zusammenspiel
mit anderen Medikamenten und Verfahren.
Die Aromaöle können als Raumspray, in der Duftlampe oder
als Einreibung zur Massage Anwendung finden. Erfahrene
Therapeuten können 2 bis 3 verschiedene Aromen mischen,
die zusammenpassen sollten. Als Trägeröl für Einreibung und
Massage wäre im obigen Beispiel von Muskelkrämpfen Johanniskrautöl
oder Arnikakörperöl zu empfehlen.
Aus Japan kommt eine bewährte Methode nach Deutschland:
das Waldbaden. Das „Shinrin Yoku“ ist übersetzt „ein Bad in
der Atmosphäre des Waldes nehmen“ und findet in speziellen,
Praxis
geschützten Therapiewäldern statt. Zum Waldbaden gibt es
wissenschaftliche Studien und geregelte Ausbildungen. Es wird
mittels Veränderung der Wahrnehmung auf mehreren Ebenen
eine reproduzierbare Entstressung erreicht, Burn-out-Probleme
reduziert, Anspannungen gelöst und Depressionen gemildert.
Das Immunsystem wird stimuliert, indem die Killerzellen ansteigen.
Dabei sind wesentliche Wirkkomponenten die von den
Bäumen gebildeten Phytonzide (Pflanzenschutzstoffe). Zu ihnen
gehören die Terpene D-Limonen, Alpha- und Beta-Pinen,
Camphen und andere, die uns als Duftwahrnehmung vor allem
bei Nadelhölzern auffallen.
Der Geruchssinn
Wichtige Voraussetzung für die Therapie mit duftenden Ölen
ist ein funktionierender Geruchssinn. Der Sinneseindruck wird
im Wesentlichen über ein 2 mal 5 cm² großes Areal im oberen
Bereich der Nase vermittelt. Dort liegende Sinneszellen geben
ihre Signale je Seite etwa über 20 Nervenfasern weiter an den
Bulbus olfactorius, der auf dem Siebbein aufliegt. Das Nervensignal
zieht über Gehirnbahnen direkt zur Riechrinde im
Großhirn, zur Amygdala und zum limbischen System. Es findet
keine Verschaltung im Thalamus statt wie bei anderen Sinneswahrnehmungen,
bevor das Signal das Großhirn erreicht. Dies
erklärt die unmittelbare Wirkung auf Psyche, Unterbewusstsein
und Verhalten. Ein zimtartiger Geruch erweckt ein warmes,
angenehmes Gefühl, es erzeugt in uns eine Erinnerung an die
Kindheit, als Mutter zur Weihnachtszeit Weihnachtsplätzchen
backte.
Der Mensch kann mit seinem Geruchssinn 400 verschiedene
Geruchsmoleküle differenzieren und durch deren Kombination
insgesamt etwa 10 000 verschiedene Gerüche. Der Geruchssinn
ist empfindlich für unterschiedliche Krankheiten (Viren), toxische
Belastungen und chronisch-entzündliche NNH-Reizungen,
was gerade in westlichen Ländern einer der häufigsten Gründe
für einen verminderten Geruchssinn darstellt und die Orientierung
des Menschen stört. Die Gerüche haben in der Evolution
des Menschen eine Anpassung an seine Bedürfnisse erfahren.
Archaisch sind die Warnsignale Fäulnis, Verwesung, Brandgeruch,
Gefahr (Adrenalin) und die Wahrnehmung und Analyse
von Nahrungsmitteln, die sich in der Natur für uns eignen. Für
uns ist die Unterscheidung von Früchten wichtiger als für einen
Hund, für den eher die Unterscheidung des Geruchs von Fettsäuren
eines Beutetiers ein Vorteil ist.
Für das soziale Verhalten ist der „Stallgeruch“ von Bedeutung.
Wo eine Gruppe Menschen in ähnlichen Lebensgewohnheiten
lebt und ähnliche Essgewohnheiten hat, fühlt man sich geruchsmäßig
zu Hause. Die Gerüche nähern sich mit der Zeit an. Sogar
der Mundgeruch der Gruppe wird ähnlicher und für einander erträglicher.
Der Geruch des vertrauten Partners erzeugt das Gefühl
„ich kann ihn/sie gut riechen“ und fördert das Zusammenleben.
Pheromone geben uns Signale über die Paarungsbereitschaft und
Fruchtbarkeit. Viele der archaischen Duftsignale erfahren durch
unser modernes Zusammenleben eine Modifikation. Unsere
Gesellschaft wird unübersichtlicher, komplizierter und verlangt
nach einer Körperhygiene, die viele (auch sinnvolle) Geruchssignale
überdeckt. Niemand möchte heute beispielsweise Paarungsbereitschaft
signalisieren, daher die Körperpflege mit Einsatz
von multiplen künstlichen Aromastoffen. Deo, Weichspüler,
Zahncreme, Haarshampoo und Rasierwasser – und das alles zur
gleichen Zeit! Das ist für den Geruchssinn eine Herausforderung.
Dazu kommen externe unnatürliche Gerüche zum Beispiel aus
dem Straßenverkehr oder von Baumaterial. Die Folge ist eine olfaktorische
Desorientierung.
Für die Therapie mit Aromen wundert es nicht, dass zunächst
die Belastung mit Geruchssmog gesenkt werden sollte. Es kommen
Aufenthalte in Luftkurorten, Waldbaden, Reinigungskuren,
Inhalationen und Verzicht auf Gerüche in Kosmetika etc.
infrage. Einige Verfahren der Naturheilkunde wie zum Beispiel
im Ayurveda haben eine Entgiftung und Reinigung zum Ziel,
im Besonderen Schwitzen (Svedana) und Nasenreinigung (Nasya).
Dabei sollten die feinen Energiekanäle wieder befreit und
aktiviert werden.
Der Geruchssinn lässt sich wiederherstellen und ausbilden. Die
Welt und unsere Position darin klart auf und wird bunter. Für
ein Kind mag die Unterscheidung des Geruchs/Geschmacks
von Riesling und Morio-Muskat ohne Bedeutung sein, für einen
Freund guter Küche aber ein Stück Lebensfreude.
Aromaöle in der
Phytotherapie
In großem Umfang kommen die Aromaöle zum Einsatz als Einreibung,
als Wickel/Auflagen, als Badezusatz, als Mundspülung
und zur Inhalation. Hierzu müssen die Öle zum Teil stark mit
Wasser oder Neutralöl verdünnt werden, da sie stark reizende
Wirkung haben. Insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern
wird vor einem Einsatz gewarnt, hier kann die Reizung
der Bronchien Luftnot bewirken. In wenigen Fällen wird ein
Öl örtlich pur eingesetzt, zum Beispiel wird ein mit Nelkenöl
getränktes Wattestäbchen an den schmerzhaften Zahn getupft
oder eine Gewürznelke in die Backentasche gelegt.
Beim australischen Teebaumöl (Melaleuka alternifolia) gibt es
einen breiten Einsatzbereich bei Entzündungen und Infektionen
oder kleinen Abszessen, die mit kleinen Mengen örtlich
behandelt werden. Eine austrocknende Komponente muss dabei
berücksichtigt werden (und ist manchmal erwünscht). Da
24 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Ätherische Öle und ihre Wirkung
▶ Bergamotte
▶ Mandarine
▶ Neroli
▶ Rose
▶ Sandelholz
Melaleuka wenig Cineol enthält (im Vergleich zu den anderen
Teebaumölen) und daher nicht brennt, kann es auch bei infizierten
Wunden eingesetzt werden. Teebaumöl bei Entzündung
im Mundraum kommt zum Einsatz, damit Zahnfleischentzündungen
abklingen und sich schädliche Bakterien nicht als Plaque
ablagern. Ein angenehmer Nebeneffekt besteht darin, dass
sich unangenehmer Mundgeruch, der sich durch Mundentzündung
häufig bemerkbar macht, reduziert.
Einsatz ätherischer Öle
bei Parodontitis
entkrampfend und angstlösend
entkrampfend, angstlösend und schlaffördernd
körperlich entkrampfend, auf seelischer
Ebene ausgleichend, beruhigend und
stimmungsaufhellend
körperlich wie seelisch entkrampfend,
beruhigend, stressreduzierend, harmonisierend
seelisch stärkend, aufrichtend, harmonisierend,
mildert unerträgliche Sinnesreize
Öle bei Muskelkrämpfen, Quelle: „Sterben begleiten“. Interdisziplinäre
und naturheilkundliche Konzepte. Gudrun Huber, Christina Casagrande,
Ursel Bühring, Rosmarie Maier, Thieme Verlag, 2. aktualisierte und
erweiterte Auflage 2019
Aggressive Parodontiserreger wie Aggregatibacter, Porphyromonas
und Prevotella reagieren gegenüber Antibiotika und antiseptischen
Mitteln hoch empfindlich. Doch auch ätherische Öle
können helfen. Dabei wirkt nicht jedes Öl gleich gut, sondern
das passende sollte mittels eines Aromatogramms herausgefunden
werden. Mittels Abstrich von Wunden, Rachen-Nasenraum,
Scheide oder aus Urin werden wie beim Antibiogramm
auch bei Aromatogrammen Keime auf Nährböden bebrütet,
auf denen zuvor Aromaöle aufgetragen wurden. Die Größe des
Wachstumshemmhofs bestimmt die stärkste keimhemmende
Substanz. Als besonders aktiv bekannt sind Lemongras öl, Teebaumöl
(Melaleuka), Manukaöl und Thymianöl.
Somit ergeben sich neue Möglichkeiten gegen aggressive Parodontitiserreger.
Apotheker stellen nach Rezeptur die ausgetesteten
Aromamischungen her in Form von Mundspülungen, Salben,
Kapseln etc. Mundwasser, die speziell zusammengemischt
werden. Sie machen eine – für den Patienten oder die Patientin
angenehme Behandlung möglich. Für die Wirkmechanismen
der Aromaöle sind Resistenzentwicklungen wie bei den Antibiotika
nicht möglich.
In höheren Dosen werden Aromaöle bei der Behandlung von
innerer Unruhe und Angstgefühlen eingesetzt. In einer Studie
war der Lavendelextrakt vergleichbar angstlösend wie 0,5 mg
Lorazepam, in einer anderen in den Punkten „ängstliche Stimmung“
und „Spannung“ vergleichbar mit 20 mg Paroxetin. Das
Lavendelpräparat erzeugt keine Abhängigkeit und hat wenig
Nebenwirkungen, man sollte aber besser nicht Aufstoßen nach
der Einnahme („als hätte man eine Flasche Parfüm getrunken“).
Ausblick
Forschungsaktivitäten
Eine Aufgabe für die Forschung mag künftig die antitumorale
Wirkung von ätherischen Ölen sein. Hier stehen die Terpenoide,
von denen viele antitumoral wirksam und Gegenstand der
Forschung sind, im Mittelpunkt. Eigene Erfahrung zusammen
mit dem Phytopharmaforscher Alfred Stirnadel liegt mit dem
Teebaumöl Manuka (Leptospermum scoparium) vor. Die enthaltenen
Sesquiterpene wirkten antitumoral, jedoch kamen die
Untersuchungen nicht weit über die Studien in vitro und im
Labor hinaus. Ab den Tierversuchen erreichen die Kosten der
Forschung neue Dimensionen, die von einem Privatgelehrten
nicht mehr getragen werden können.
Ein zukünftiges Forschungsfeld ist die Einwirkung von Aromastoffen
auf Rezeptoren an Zelloberflächen. Bei einigen Tumorarten
sind Rezeptoren für Aromastoffe an der Zelloberfläche
vorhanden, die bei gesunden Zellen des Organs auch vorkommen,
jedoch bei Karzinomzellen des Organs um ein Vielfaches
mehr exprimiert werden. So fanden Bochumer Forscher einen
Riechrezeptor bei Harnblasenzellen für Sandelholzduft, der
bei Blasenkrebszellen in der Zellkultur eine signifikante Hemmung
des Zellwachstums verursachte. Der Signalweg konnte
dargestellt werden. Darmkrebszellen tragen Rezeptoren für Ligusterblüten,
Prostatakrebszellen für Veilchenduft, Leberzellen
reagieren auf Zitrusduft. Diese faszinierenden Funde eröffnen
zukünftige Forschungsansätze, um neue Verfahren zur Diagnostik
und Therapie zu finden.
Autor
Dr. med.
Wolfgang Etspüler
Komplementäre Onkologie
Palliativmedizin
Naturheilkunde
Friedhofstr. 17
66957 Eppenbrunn
www.fiebertherapie.de
Praxis
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 25
Schaubild
Schaubild
Praxis
Loslassen, loslegen!
Reif für den Ruhestand!
Constance Nolting
Immer häufiger drängt er sich auf, der Wunsch nach weniger Stress, mehr Freizeit, nach dem
Reduzieren von Arbeitszeiten, Verantwortung abgeben … Auch wenn die ersten Gedanken
dazu schnell wieder aus dem Bewusstsein verschwinden, hinterlassen sie Spuren.
Der Inhaber oder die Inhaberin, einmal mit den Überlegungen begonnen, wird sich über
kurz oder lang intensiver mit der Nachfolge befassen. Er oder sie möchte dabei jemanden
gewinnen, dem oder der Praxis und Patient*innen anvertraut und zu einem angemessenen
Wert weitergegeben werden kann. Jemanden, der die Praxis im Sinne des jetzigen Inhabers
oder der Inhaberin weiterführt, die liebgewonnenen Patient*innen in Zukunft gut versorgt,
die Mitarbeiter*innen übernimmt und dazu den Preis für die Praxis zahlt, der dem Inhaber
oder der Inhaberin vorschwebt.
Zwischen Plan und
Umsetzung
Sollten sich erste Gedanken an die
Nachfolge eingestellt haben, ist es
zunächst wichtig, diese auf Ernsthaftigkeit
zu prüfen. Eine grundlegende
Auseinandersetzung mit der
Thematik bedeutet, sich Zeit zu nehmen
und verschiedene Aspekte zu durchdenken.
Warum wird ein*e Nachfolger*in
gesucht? Welche persönliche Motivation
steckt hinter dem Gedanken an Nachfolge.
Ist es eine Frage des Rentenalters oder
gibt es einen anderen Grund? Geht es um
kurzfristige Erleichterung durch die reine
Idee, die Praxis übergeben zu können,
oder um den wirklichen Wunsch, sich
von seinem Lebenswerk zu trennen?
Die ehrliche Auseinandersetzung mit der
eigenen Motivation ist der Schlüssel zum
Erfolg des Ganzen. Halbherzigkeit führt
in diesem Fall zu Misserfolg. Wenn klar
wird, dass die Nachfolge doch noch nicht
zum richtigen Zeitpunkt kommt, die Bereitschaft
doch noch nicht so hoch ist,
sollte man es besser lassen – zumindest
vorläufig. Für alle, die zu der Erkenntnis
gelangen, dass sie noch nicht bereit sind,
abzugeben, gibt es den Rat, gelegentlich
in sich hineinzuhören, ob der Wunsch
wächst. Eine Nachfolge sollte nämlich
rechtzeitig geplant sein.
Auch hinsichtlich zukünftiger finanzieller
Versorgung sollte man sich zeitig Gedanken
machen. Eine rechtzeitige Prüfung
der eigenen Finanz- und Liquiditätssituation
schafft Klarheit. Mit Eintritt in die
Rente greift eine oftmals vielschichtige
Kammerversorgung und ggfs. eine private
Versorgung. Dabei ändern sich auch
steuerliche Vorgaben. Der Finanzbedarf
für die Zukunft sollte in dieser Betrachtung
ebenfalls ermittelt werden. Unter
Umständen ist der Erlös aus dem geplanten
Praxisverkauf ein Fundament für eine
solide Altersversorgung.
Was aber, wenn der angestrebte Kaufpreis
nicht zu erzielen ist? Auch wenn der
Traum von einer eigenen Zahnarztpraxis
sicherlich verbreitet ist unter den Zahnmediziner*innen,
heißt es nicht, dass
die angebotene Praxis auch den liquiden
oder kreditwürdigen Nachfrager oder die
Nachfragerin trifft. Zumindest nicht sofort.
Zahnarztpraxen, die in einer 1 A-Lage
oder überdurchschnittlich groß sind,
können ebenso schwierig zu finanzieren
sein wie solche, die auf dem Land oder in
strukturschwachen Gegenden liegen. Ein
weiterer Punkt, den es zu bedenken gilt,
ist die Möglichkeit der Schließung durch
den Zulassungsausschuss. Ein Entzug
der Kassenzulassung bei Nichtausübung
des zahnärztlichen Berufs kann durchaus
vollzogen werden. Gemäß § 95 Absatz 6
SGB V ist eine „Zulassung zu entziehen,
wenn ihre Voraussetzungen nicht oder
nicht mehr vorliegen, der Vertragszahnarzt
die vertragszahnärztliche Tätigkeit
nicht aufnimmt oder nicht mehr ausübt
oder seine vertragszahnärztlichen Pflichten
gröblich verletzt. Der Zulassungsaus-
28 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
schuss kann in diesen Fällen statt einer
vollständigen auch eine hälftige Entziehung
der Zulassung beschließen“.
Um solche Risiken abzuwenden, kann
das rechtzeitige Überdenken der Situation
und der Anforderungen helfen. Einen
professionellen Berater für Nachfolge
hinzuzuziehen, ist ebenfalls hilfreich.
Übrigens: Bis zu 50 % der Beratungskosten
werden durch staatliche Fördermittel
erstattet. Generell förderfähig sind beispielsweise
Beratungen zur Praxisstrategie,
Digitalisierung, Qualitätssicherung,
Kooperationen, Organisation und Praxisabläufe,
Umwelt und – zur Nachfolge.
Der Praxiswert
Ein besonders sensibles Thema kann die
Einschätzung des Praxiswertes darstellen.
Auch hier ist die Zuhilfenahme eines professionellen
Beraters eine gute Idee, denn
nicht nur der Substanz- oder Ertragswert
zählt. Dieser wird durch ideellen Wert
ergänzt. Nicht selten haben Praxisinhaber*innen
und Nachfolger*innen genau
über diesen ideellen Wert unterschiedliche
Vorstellungen. Dann stellt sich die
Frage, ob Intervention möglich und nötig
ist, um die Vorstellungen einander näherzubringen.
Zu beachten ist, dass der ermittelte Praxiswert
immer nur eine Orientierungsgröße
ist. Oft wird auch eine Art Zielkorridor
ermittelt mit einem minimalen
und einem maximalen Verkaufserlös.
Letztendlich ausschlaggebend ist aber die
Nachfrage und auch die Möglichkeit der
Nachfolger*innen. Wenn jemand gefunden
wird, der passend ist, aber finanziell
noch nicht in der Lage, die Praxisübernahme
zu stemmen, gibt es eventuell
Konzepte, die eine Lösung für alle Beteiligten
darstellen. Deshalb sollte für jede
Praxis eine individuelle Strategie entwickelt
werden, die ggfs. Praxisinhaber*in
und Nachfolger*in verbindet.
Ein*e Nachfolger*in fällt nicht unbedingt
vom Himmel. Daher ist es wichtig, selbst
aktiv zu werden. Die kassenzahnärztlichen
Vereinigungen bieten Hilfe bei
der Suche an, insbesondere in strukturschwachen
Regionen. Potenzielle Interessent*innen
findet man zudem auf Internetplattformen,
in Zeitschriften, durch
Kontakt über die Zahnärztekammern, bei
Verbänden und Vereinigungen oder einfach
durch Mund-zu-Mund-Propaganda.
In manchen Gebieten sind nicht nur die
einzelnen Zahnärzt*innen von der Suche
nach Nachfolger*innen betroffen,
sondern auch ganze Gemeinden. Ebenso
können durch die Suche nach Nachfolger*innen
auch andere Gesundheitsberufe,
wie zum Beispiel zahntechnische
Labore, Apotheken und Therapeut*innen
betroffen sein. Wenn eine zuweisungskräftige
Zahnarztpraxis wegfällt,
bedeutet das auch Ausfälle für andere
Gesundheitsberufe, ggfs. sogar für deren
Nachfolgesuche. Daher sind oft auch
Netzwerke oder Gemeinden bemüht, bei
einer Zahnarztpraxisnachfolge zu unterstützen.
Auch die Regionalpolitik kann
mit ins Boot geholt werden. Oftmals helfen
Gemeinden mit unkonventionellen
Aufrufen und Hilfestellungen. So gibt
es Gemeinden, die werben, annoncieren
oder z. B. per Videobotschaft im Internet
und Regionalprogramm auf die Nachfolgesuche
aufmerksam machen und sich
teilweise sogar – fernab von Landesprogrammen
für ländliche Regionen – selbst
finanziell engagieren.
Die Suche nach Nachfolger*innen sollte
sich nie auf einen bestimmten Typus
Zahnarzt oder Zahnärztin beschränken.
Jeder Interessent, jede Interessentin ist
anders und bringt jeweils andere Vorteile
mit. Praxisverkäufer sollten das beherzigen
– auch wenn es manchmal schwerfällt,
dass nicht sofort der Idealtyp an
die Tür klopft. Natürlich ist der Wunsch
riesig, dass die eigenen Gedanken, Ideen
und Verfahren auch für Nachfolger*innen
praktikabel sind. Das muss aber nicht
von Anfang an sein. Vielleicht besteht die
Möglichkeit, dass der/die Nachfolger*in
in die Praxis „hineinwächst“ und sich
mit den angewandten Verfahren vertraut
macht. Gerade die Ganzheitlichkeit in
Praxisübergabe Peter Bornhofen
Ich habe meine Praxis an meinen Bruder
verkauft/übergeben.
Der wichtigste Schritt hierzu war der
Vertag, den wir schlossen, als er in die
Praxis eintrat. „Wie unter fremden Dritten“
war das Credo meines Steuerberaters.
Und es hat sich bewährt! Ob bei der
Betriebsprüfung des Finanzamts oder
meines Praxisanteils.
Frühzeitig (ca. 2,5 Jahre vor dem Termin)
haben wir beide die Übernahme
ange- und besprochen und konnten uns
auf den Eintrittsvertrag beziehen.
Als Mitinhaber der Gemeinschaftspraxis
kannte mein Bruder alle Zahlen der
betriebswirtschaftlichen Auswertungen.
Eine Wertermittlung des Sachwertes war
daher komplikationslos. Umsatzstärke
und Entwicklungspotenzial der Praxis
waren ebenso bekannt.
Beim „Goodwill“ haben wir länger diskutiert
und uns dann geeinigt. Ich hatte
mehr erwartet (aus der eigenen Zahlung
bei Fremdpraxisübernahme vor ca. 35
Jahren). Der „Goodwill“ hat meines Erachtens
heute fast keine Bedeutung mehr.
Ich habe nach der Übergabe aufgehört,
in der Praxis zu arbeiten. Ein neuer Chef
hat seinen eigenen Stil und neue Ideen,
die soll und muss er umsetzen können.
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 29
Praxis
der Zahnmedizin erfordert Zeit, Verstehen,
Erlernen und Erfahrung, bis sie
praktiziert werden kann.
Es ist hilfreich, sich einen Zeitplan zu erstellen
und sich dabei schlau zu machen,
wie viel Zeit im Durchschnitt für die einzelnen
Schritte benötigt werden. Wann
soll die Zahnarztpraxis übergeben werden,
wann beginnt die Suche. Wenn man
fündig geworden ist, gilt es zu überlegen,
wann die Einarbeitung des/der potenziellen
Nachfolger*in stattfinden kann und
in welchen Schritten dieses geschehen
soll? Gibt es die Zahnarztpraxis her, dass
eine Zeitlang parallel gearbeitet werden
kann? Oder muss der Staffelstab direkt
übergeben werden?
Und was geschieht mit den Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen? Wenn sich
Mitarbeiter*innen an den Gedanken gewöhnen
können, dass Chef oder Chefin
eine Nachfolge suchen, kann es ein Nachteil
sein, dass sich die Angestellten nach
anderen Arbeitsplätzen umschauen. Es
kann dagegen ein Vorteil sein, dass sich
neue Strukturen und Verantwortlichkeiten
ergeben und dem/der Nachfolger*in
ein offenes Klima entgegenschlägt. In jedem
Fall ist es wichtig, die Mitarbeiter*innen
frühzeitig in Kenntnis zu setzen und
Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auf
die Situation einzustellen. Man darf nicht
unterschätzen, dass Praxisübergaben
für alle Mitarbeiter*innen grundsätzlich
Zeiten der Unsicherheit sind und oft
schmerzliche Einschnitte bedeuten. Daher
ist sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt,
um einen harmonischen Übergang
zu gewährleisten.
Sollte die unglückliche Situation eintreten,
dass sich keine Nachfolger*innen
finden, können diese Informationen die
Mitarbeiter*innen sehr belasten. Für die
Inhaber*innen gilt dann, genau darauf
zu achten, dass die arbeitsrechtlichen
Vorgaben eingehalten werden. Dies gilt
natürlich auch bei einer Nachfolgeregelung.
Wichtig ist auf jeden Fall der Blick
auf die Kündigungsfristen der Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen. Diese ergeben
sich auch aus der Dauer der Zugehörigkeit
zur Praxis.
Gutes Zahlenwerk
Zahlen, Daten, Fakten aufbereiten und
zusammenstellen hilft bei der Findung
der Übergabemodalitäten. Eine gute
Aufbereitung bietet den Interessent*innen
eine Grundlage für Entscheidungen.
Mindestens sollte Folgendes zur Verfügung
stehen:
▶ Verträge (Übersicht, Laufzeit
und Verständlichkeit)
▶ steuerliche und wirtschaftliche
Auswertung der Praxiszahlen
▶ Dokumentation der Praxisabläufe,
einschließlich Potenzialen
▶ Analyse des Praxisumfelds –
regionale Gegebenheiten vor Ort
▶ Aufzeigen der Netzwerke
und Kooperationen
▶ Aufstellung der Aufgaben
der Mitarbeiter*innen
▶ erklärendes Patientenportfolio
Helfen können in allen Fällen Steuerberater*in
oder ein Unternehmen, das auf
Nachfolge spezialisiert ist. Manchmal ist
es nützlich, bei Verhandlungen eine dritte
Partei an der Seite zu haben. Dieses hilft
bei der Strukturierung der Verhandlung.
Man darf nicht vergessen, dass es sich bei
einer Praxis um ein stark Inhaber*in-geprägtes
Unternehmen handelt, das in der
Regel mit sehr viel Herzblut und Liebe
aufgebaut worden ist. Da kann es bei einer
Übergabe auch schon mal emotionaler
werden. Eine dritte Partei könnte für
die nötige klare Linie sorgen.
Kandidat*in in Sicht
Reicht die Ausbildung des Kandidaten
oder der Kandidatin, um die Praxis zu
übernehmen? Benötigt der Kandidat
oder die Kandidatin diesbezüglich Unterstützung?
Die Medizin wird weiblicher
und ein guter Prozentsatz an
Interessent*innen stammt nicht aus
Deutschland. Wichtige Erkenntnisse für
die Suche nach Nachfolger*innen beim
Praxisverkauf. Fast ein Viertel der Zahnärzt*innen
stammt aus dem Ausland, davon
ein großer Teil aus Syrien, Ägypten,
Serbien, Griechenland, Rumänien und
Bulgarien. Haben Sie jemanden aus dem
Ausland ins Auge gefasst, kann es zu Problemen
im Approbationsverfahren oder
aber auch bei der Finanzierung eines
Kaufpreises kommen. Schwierigkeiten
entstehen oft bei der Antragstellung, weil
Unterlagen, Bestätigungen oder Übersetzungen
fehlen. Auch mangelt es häufig
an ausreichenden Sprachkenntnissen.
Das kann ein schweres Hemmnis sein.
Unterstützung bei Sprachkursen ist hilfreich,
vielleicht auch die Vermittlung zu
Sprachkursen mit fachspezifischem Vokabular.
Auch so etwas sollte im Zeitplan
berücksichtigt werden, falls jemand aus
dem Ausland infrage kommt. Es sollte einem
Praxisverkäufer oder einer Verkäuferin
bewusst sein, dass es sich bei vielen
Interessenten nicht nur um die Arbeit
dreht, sondern auch um die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie, einschließlich der
Möglichkeit von Kinderbetreuung oder
Jobsharing. Wenn Sie dazu Ideen und
Konzepte entwickeln, macht das die Praxis
deutlich attraktiver und erleichtert
den potenziellen Nachfolger*innen den
Einstieg erheblich.
Nicht jede Praxis
ist vermittelbar!
Es gibt Praxen, die mit dem Rentenalter
der Zahnärzt*innen geschlossen werden
müssen. Vielleicht sind ein paar Faktoren
zusammengekommen, die eine Fortführung
– beim besten Willen – nicht möglich
machen. Manchmal sind das demografische
Entwicklungen, manchmal eine
veränderte Konkurrenzsituation, etwa
weil eine moderne Zahnarztpraxis in der
Nähe eröffnet wurde.
Veraltete Technik oder bauliche Beschränkungen
können Ursachen für einen
Patientenschwund, damit auch für
geringere wirtschaftliche Attraktivität der
Praxis sein. Vernachlässigung der Praxis-
30 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
organisation, der Personalentwicklung
oder der Weiterbildung können ebenfalls
dazu führen, dass die Zahnarztpraxis
nicht weiter zu vermitteln ist. Manchmal
ist es auch eine geänderte Verkehrssituation,
eine schlechte Lage, zu wenige Parkmöglichkeiten
oder eine mangelhafte Anbindung
an den öffentlichen Nahverkehr,
die die Attraktivität der Zahnarztpraxis
leiden lässt.
Daher noch einmal der Hinweis auf den
Zeitplan. Wenn der Gedanke der Nachfolge
aufkommt, sollte man genau prüfen,
ob das, was man anbietet, attraktiv ist
oder ob noch Zeit ist, die Zahnarztpraxis
attraktiver zu gestalten oder umzuorganisieren.
Wenn die Zahnarztpraxis nun wirklich
aufgegeben werden muss, reicht es nicht,
einfach den Schlüssel umzudrehen. Es
müssen einige Vorgaben erfüllt werden.
Die Praxisaufgabe ist der Zahnärztekammer
anzuzeigen. Mit der Aufgabe
der zahnärztlichen Tätigkeit entfällt die
Pflichtmitgliedschaft in der Zahnärztekammer.
Natürlich steht jedem frei,
freiwilliges Mitglied zu ermäßigten Kammerbeiträgen
zu bleiben.
Die laufenden Verträge rund um die
Zahnarztpraxis müssen im Hinblick auf
Fristen geprüft sein. Das betrifft nicht
nur Mietverträge, sondern auch Wartungs-
und Leasingverträge und solche,
die die Medizintechnik, die Ausstattung,
die Stromversorgung oder anderes betreffen.
Ebenso müssen die Servicever-
Praxisübergabe Klaus Dann
Im Jahr 1988 habe ich die Zahnarztpraxis
von einem älteren Kollegen übernommen.
Der Verkauf wurde durch ein
Dentaldepot in die Wege geleitet, ohne
Exposé und Beraterstab. Absprachen
wurden mündlich getroffen und mit
Handschlag und einem einfachen Vertrag
besiegelt. Die Praxis wurde von mir
allein weitergeführt. Meine Frau unterstützte
mich bei den ganzheitlichen Testungen
und war für die Rezeption und
Abrechnung zuständig. Ebenso meine
Töchter, die uns von Jugend an unterstützten.
Sie wuchsen mit ihren Aufgaben.
Wir waren eine tolle Familienpraxis,
bei der jeder eine Aufgabe hatte. Da die
Praxis nur zwei Behandlungszimmer
hatte, erfolgte 2007 der Umzug in neue
größere Praxisräume mit dem damaligen
Standard und den Auflagen.
Im Jahr 2018 nach einem Praxisübergabe-Seminar
der LZK Rheinland-Pfalz,
reifte der Entschluss, die Praxisabgabe
vorzubereiten. Laut Aussage der Seminarleitung
sollte man sich auf einen
zwei jährigen Vorbereitungsprozess einstellen.
Wir fingen an, uns umzuhören,
und stellten fest, dass auch in unserem
Dentaldepot ein Generationenwechsel
stattfinden sollte. Bei einem Gespräch
mit dem Depot wurden zwei Zahnärztinnen
erwähnt, die Interesse zeigten,
eine Praxis zu übernehmen. Offensichtlich
gab es mehr Angebote als Interessenten.
Tiefer in der Materie stellten
wir dann fest, dass die klassische Einbehandlerpraxis
abgelöst wird von dem
Mehrbehandler-Konzept, insbesondere
gelebt von Zahnärztinnen.
Wir haben daraufhin ein Exposé in Auftrag
gegeben. Das Depot hat das komplette
Inventar aufgelistet und geschätzt.
Diese Daten und die Umsatzzahlen der
letzten drei Jahre der Praxis wurden in
das Exposé eingearbeitet. Die Geräte,
die aufgelistet wurden, mußten dabei
vorhanden und funktionsfähig sein. Die
Behandlungsstühle wurden kurz vor der
Übergabe vom Depot gewartet und in
Stand gesetzt. Somit waren die Bestände
einwandfrei.
Das erste Kennenlernen mit den zwei
interessierten Zahnärztinnen mit Praxisbesichtigung
war im Dezember 2018.
Alle Fakten und Zahlen, die in diesem
Gespräch gesagt wurden, waren bindend
für den späteren Vertrag! Das
Dentaldepot wurde durch zwei Mitarbeiter
vertreten. Die Zahnärztinnen
waren überzeugt: Ausschlag für den
Praxiskauf allerdings war der sehr gute
Zustand der Praxisräume, des Inventars,
dazu die gute Infrastruktur und die
Erweiterbarkeit der Praxisräume in eine
Zweibehandlerpraxis.
Nach Weihnachten 2018 trafen wir uns
zu weiterem Austausch. Es wurde vereinbart,
dass eine Kollegin von Januar
bis Ende März als Entlastungs-Assistentin
arbeitet. Der Praxisübergabevertrag
wurde von einem Rechtsanwalt ausgearbeitet.
Die Übergabe der Praxis sollte
dann am 1. April 2019 stattfinden. Die
zweite Kollegin startete mit der Übergabe,
und ich war nur noch tageweise
in der Praxis tätig. Dadurch war ein
fließender Übergang zum Generationswechsel
gewährleistet. Eine längere
Übergangsphase wäre für die Patienten
günstiger gewesen, denn für viele kam
der Wechsel sehr spontan. Wir einigten
uns auf eine Zeitungsanzeige statt
auf Patientenbriefe. Die ganzheitliche
Arbeitsweise wurde allerdings nicht
fortgesetzt. Die Praxis wird jetzt als moderne,
an sozialen Medien orientierte
Praxis geführt.
Wir haben uns in dieser Phase sehr oft
an unsere eigene Praxisübernahme erinnert.
Jetzt sind wir die ältere Generation
und geben unser Werk weiter. Und
das mit einem lachenden und einem
weinenden Auge. Wichtig für uns war
und ist: Wir wissen unsere sehr langjährigen
Patienten und Patientinnen
zahnmedizinisch gut versorgt, und das
ist sehr schön.
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 31
Praxis
träge mit externen Dienstleistern und
eventuell solche geprüft werden, die für
Online-Präsentationen abgeschlossen wurden.
Ob bei Schließung oder Übergabe:
Hier sorgfältig zu dokumentieren, ist in
jedem Fall nötig.
Während der zahnärztlichen Tätigkeit ist
eine Haftpflichtversicherung verpflichtend.
Sollte über den Praxisverkauf oder
die -übergabe noch Tätigkeit ausgeführt
werden, als Vertretung oder Mitarbeit,
ist weiterhin eine ausreichende Versicherung
nötig. Hier gibt es Anbieter für spezielle
Ruhestandversicherungen, die sich
auf die Situation ausrichten lassen.
Wenn die zahnärztliche Tätigkeit aufgegeben
wird, sollte man allerdings eine
Nachhaftungsversicherung abschließen,
denn die Berufshaftpflichtversicherung
deckt üblicherweise nur Schäden ab, die
während der Laufzeit der Berufshaftpflichtversicherung
entstanden sind. Es
kann der Fall eintreten, dass ein Haftungsfall
erst später eintritt. Es gibt Berufshaftpflichtpolicen,
die die Nachhaftung
beinhalten.
Privatrezepte können auch nach der
Aufgabe der Zahnarztpraxis zum Eigengebrauch
ausgestellt werden. Allerdings
müssen diese mit der Privatanschrift
ausgestellt werden, die Praxisadresse
darf nicht mehr verwendet werden. Auch
über die Aufbewahrung von zahnärztlichen
Aufzeichnungen sollte man sich vor
der Schließung Gedanken machen, denn
die Dokumente müssen gesichert mindestens
10 Jahre aufbewahrt werden.
Literatur- und Quellenverweise
Mama oder Pappa
ante Portas?
Ausschlafen und gemütlich frühstücken,
spazieren gehen und dann nach dem Mittagessen
ein ausgedehntes Nickerchen ...
Endlich ist Zeit für all die schönen Dinge,
die man sich schon lange vorgenommen
hat. Das Sortieren der Bücherwand und
der alten Schallplatten und das Pflegen
der Fotobücher steht immerhin schon
lange an. Wenn die Praxis übergeben
oder geschlossen ist, bleibt viel Zeit für
Freunde und Familie, den Garten, den
Hund und die Nachbarn. Die meisten
Berufstätigen malen sich ein entspanntes
Rentnerdasein aus. Doch reichen auf
Dauer diese schönen Dinge nicht, um
ein erfülltes Leben nach dem Beruf zu
führen. Denn die meisten Menschen,
die mit 65 Jahren in Rente gehen, sind fit
und haben ausreichend Energie, um sich
noch einige Ziele zu stecken. Hat man die
Praxis losgelassen, fällt auch ein großer
Teil der Lebenssinnstiftung weg. Und das
nicht nur in Bezug auf den Broterwerb.
Es entfällt auch die Wertschätzung für die
zahnärztliche Tätigkeit und die Struktur,
die ein Berufsalltag mit sich bringt. Was
also zunächst als Erleichterung verspürt
wird – die Praxis ist an eine*n Nachfolger*in
gegangen zu einem guten Preis,
zum Wohle der Patient*innen ist alles
geregelt – kann auch in Langeweile umschlagen.
Die hohe Lebenszufriedenheit,
vergleichbar mit dem Honeymoon,
[1] Mergenthaler, A.; Konzelmann, L.; Cihlar, V.; Micheel, F.; Schneider, N. F.: Vom Ruhestand zu (Un-)
Ruheständen. Ergebnisse der Studie „Transitions and Old Age Potential“ (TOP) von 2013 bis 2019.
[2] Schawniski, R. (2002). Lebenslust bis 100. Das Ego-Projekt. Zürich: mvg Verlag.
[3] Janz, D.; Schnelle, T. (2019). Gründung, Veräußerung und Erwerb von Arzt- und Zahnarztpraxen –
Steuerrechtliche Grundlagen und Fallstricke. 1. Edition mit Übersichten, Checklisten. Berlin: Erich
Schmidt Verlag GmbH & Co.
[4] Lewejohann, D.; Morton A.; Porten, S.; Stein, O. (2018). Kauf und Bewertung einer Arztpraxis: Rechtliche
Rahmenbedingungen. Steuerliche Konsequenzen. Bilanzielle Aspekte. Arztpraxisbewertung Herne:
NWB Verlag.
schwindet schrittweise. Es kommt zu
einer gewissen Ernüchterung. Ohne die
Tagesstruktur und beruflich bedingte
Sozialkontakte, ohne die Wertschätzung,
die durch den Job entgegengebracht wurde,
bauen viele Menschen rapide ab. Die
Rente kann ein Risiko für die körperliche,
geistige und seelische Gesundheit
werden. Allein Freizeitpläne können die
Lebensqualität nicht erhalten.
Auch hier hilft nur die bewusste Planung
des Ruhestandes. Der stufenweise Ausstieg
aus der Praxis ist daher nicht nur
für den/die Nachfolger*in wertvoll, sondern
bietet auch dem/der Inhaber*in eine
Möglichkeit, in eine neue Lebenssituation
hin einzuwachsen. Es ist dabei keine kleine
Herausforderung, sich mit einer neuen
Lebensphase zu beschäftigen. Laut einer
Umfrage des Sinus-Instituts für Marktund
Sozialforschung Heidelberg setzt
sich nur ein Fünftel der 40- bis 55-Jährigen
mit der Planung des Ruhestandes
auseinander. Die Studie „Transitions and
Old Age Potential“ (TOP) des Bundesinstituts
für Bevölkerungsforschung zeigte,
dass etwa 50 % derjenigen, die gerade in
den Ruhestand wechseln, Pläne für die
Zeit nach dem Berufsleben haben. Für
einen Erhalt der Lebensqualität, der über
ein kurzfristiges Wohlbefinden durch
Reisen oder das Ausüben der Hobbys
entsteht, sollten weitere Pläne geschmiedet
werden. Eine wichtige Säule spielt
dabei gemäß Professorin Ursula Maria
Staudinger, Psychologin und Alternsforscherin
(Rektorin der TU Dresden), das
Engagement in der Gesellschaft oder der
Familie, eventuell durch die Ausübung
eines Ehrenamts oder das Kümmern
um jüngere Familienmitglieder. Soziale
Kontakte und das Kennenlernen anderer
Menschen geben neue Impulse und
zwingen dazu, zu interagieren und geistig
fit zu bleiben. Wer frühzeitig darüber
nachdenkt, was Spaß macht und welche
Aufgaben Sinn und Bestätigung geben,
hat dann genug Zeit, diese vorzubereiten
und damit loszulegen.
32 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
CURRICULUM
SENIOREN-ZAHNMEDIZIN
2022
Save the Date!
20. MAI 2022 – 12. NOVEMBER 2022
Modul I:
Diagnostik und Therapieplanung
• Freitag/Samstag, 20./21.05.2022
Modul II: Alterszahnheilkunde – die richtigen Gebühren für
besondere Leistungen / Prävention und endodontische
Maßnahmen
• Freitag/Samstag, 01./02.07.2022
Modul III: Pflegebedürftigkeit – Organisation, Prävention, Kooperation,
Prothetik, Fälle
• Freitag/Samstag, 07./08.10.2022
Modul IV: Parodontologische, implantologische und
restaurative Therapie, Nachsorge
• Freitag/Samstag, 11./12.11.2022
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 33
www.haranni-academie.de/curriculare-fortbildung
Praxis
Jameda listet Sie –
ob Sie wollen oder nicht
Mitte Oktober entschied der Bundesgerichtshof: Mediziner*innen – also auch Zahnärzt*innen
– müssen es hinnehmen, dass sie auf der Online-Bewertungs-Plattform Jameda gelistet
werden, auch wenn sie das gar nicht wollen.
In einem langjährigen Rechsstreit hatte
ein Zahnmediziner-Ehepaar erreichen
wollen, dauerhaft nicht bei Jameda
gelistet zu werden. Dafür hatten sie
zahlreiche Gründe vorgelegt, wobei sie
vor allem die unterschiedliche Behandlung
der aufgeführten Mediziner*innen
monierten. Jameda listet nämlich sämtliche
Ärzt*innen in einem sogenannten
Basisprofil auf, bietet darüber hinaus
mit einem „Gold-“ bzw. „Platin-Paket“
aber auch Bezahloptionen an, bei denen
gegen unterschiedlich hohe monatliche
Gebühren zusätzliche Leistungen genutzt
werden können, um die eigene Praxis attraktiver
darzustellen. Dazu gehören das
Hochladen von Bildern, das Setzen eines
Links zur eigenen Website, oder die Veröffentlichung
von Fachartikeln.
Die Kläger wollten keine
Listung
Die Kläger – eine Fachärztin für Parodontologie
und ein Fachzahnarzt für
Oralchirurgie aus Nordrhein-Westfalen –
verlangten die vollständige Löschung
ihrer Daten aus dem Portal und wollten
außerdem sichergestellt sehen, dass sie
auch in Zukunft nicht gegen ihren Willen
mit einem Basisprofil gelistet werden,
solange andere durch Bezahloptionen
besser gestellt würden.
Interessen der Plattform
als höher bewertet
Das Landgericht Bonn hatte beiden Klagen
im Jahr 2018 stattgegeben, auch das
Oberlandesgericht Köln hatte der Berufung
von Jameda gegen die Löschungsanträge
im Jahr 2019 widersprochen.
Allerdings wurde die Klage auf Unterlassung
einer erneuten Listung im Basisprofil
abgewiesen. In der Begründung
hatte es geheißen, dass aufgrund einer
gebotenen Einzelfallabwägung von den
Grundsätzen eines Urteils des BGH vom
20. Februar 2018 auszugehen sei, demzufolge
die Plattform Jameda eine von
der Rechtsordnung gebilligte und gesellschaftlich
erwünschte Funktion ausübe.
Dies überwiege allerdings dann nicht
mehr die Interessen von Einzelpersonen
wie den Klägern, wenn die Plattform ihre
auf das Grundrecht auf Meinungs- und
Medienfreiheit gestützte Stellung als neutraler
Informationsmittler nicht wahre
und stattdessen den eigenen Kunden in
Gewinnerzielungsabsicht verdeckte Vorteile
verschaffe.
Im Klartext: Besucher der Plattform
müssten auf den ersten Blick erkennen
können, welchen Listungen Basis-, und
welchen Bezahlprofile zugrunde liegen.
Insbesondere die damalige Praxis, dass
Jameda die kostenfreien Basisprofile
dazu nutzte, um dort Anzeigen konkurrierender
Ärzt*innen zu platzieren, hatte
das BGH in seinem Urteil als unzulässig
erklärt. In der Folge hat Jameda seine
Plattform mehrfach nachjustiert, um die
rechtlichen Anforderungen zu erfüllen.
Rechtssicherheit –
aber gegen die Kläger
Die beiden Kläger wollten trotz der auf
der Plattform vorgenommenen Änderungen
dort dauerhaft nicht gelistet werden.
Diese Revision hat der BGH nun
allerdings abgewiesen. Zwar wurden zunächst
noch nicht die Gründe im Einzelnen
bekannt gegeben, trotzdem kann diese
Entscheidung der Karlsruher Richter
als abschließend in diesem langjährigen
Rechtsstreit gelten.
Je mehr Meinung,
desto besser?
Ärzt*innen müssen es also akzeptieren,
dass sie mit ihren berufsbezogenen Daten
auf Jameda gelistet werden, selbst
wenn sie dies nicht wollen. Entsprechend
müssen sie auch die dort veröffentlichten
Bewertungen hinnehmen, auch kritische,
34 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
solange diese nicht das Persönlichkeitsrecht
verletzen.
Rechtsanwalt Carsten Ulbricht, Internet-Rechtsexperte
aus Stuttgart, sagte
in einer Einordnung des Urteils gegenüber
dem SWR: „Der BGH hat hier entschieden,
dass Personen, die sozusagen
Teil des öffentlichen Lebens sind, auch
erst mal damit leben müssen, auf diesen
Portalen gelistet zu werden.“ 1 Doch da
fange das Problem schon an, befindet
der Rechtsanwalt, der schon oft ähnliche
Verfahren begleitet hat. „Bei Jameda
ist es sehr leicht, anonyme Bewertungen
zu hinterlassen. Heute muss ich als Arzt
damit leben, dass mich irgendjemand
bewertet. Ich kann nicht mal prüfen, ob
derjenige überhaupt jemals Patient bei
mir war. Es gibt nämlich keinen rechtlichen
Anspruch an die Portale, dass sie
herausgeben, wer mich bewertet hat“, so
Ulbricht. Man könne gegen diese Bewertungsplattformen
nur vorgehen, wenn
sich in den Bewertungen entweder Beleidigungen,
Schmähkritik oder Äußerungen
befinden, die objektiv einfach falsch
seien, sagte er.
Jameda selbst ermutigt seine Besucher
dazu, in ihren Kommentaren klare Meinungsäußerungen
zu hinterlassen – und
zwar mit dem Hinweis, dass subjektive
Meinungen weniger angreifbar seien als
Tatsachenbehauptungen, die im Zweifelsfall
beweisbar sein müssten. 2
Die relevanten gerichtlichen
Entscheidungen:
Bundesgerichtshof:
Az.: VI ZR 488/19 und VI ZR 489/19
Vorinstanzen:
VI ZR 488/19
LG Bonn – 9 O 157/18 –
Entscheidung vom 29. März 2019
OLG Köln – 15 U 89/19 –
Entscheidung vom 14. November 2019
und VI ZR 489/19
LG Bonn – 18 O 143/18 –
Entscheidung vom 28. März 2019
OLG Köln – 15 U 126/19 –
Entscheidung vom 14. November 2019
1
Quelle Zitat RA Ulbricht: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/bgh-weist-aerzteklagen-gegen-bewertungsportal-jameda-ab-100.html
2
Quelle Jameda: www.jameda.de/qualitaetssicherung/rechtliche-grundlagen/
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 35
Praxis
Implantate aus Titan –
der Wille der Patienten und
Patientinnen ist bindend!
Mit der Aufklärungspflicht eines Zahnarztes beim Einsatz eines Titan-Implantates hat sich
das Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg in einem Hinweisbeschluss vom 27.5.2021
(12 U 173/20) befasst. Hier ging es darum, dass ein Zahnarzt von einer Patientin wegen
des Vorwurfs von Behandlungsfehlern auf Rückzahlung des Zahnarzthonorars, auf die
Zahlung von Schmerzensgeld und auf Feststellung einer Ersatzpflicht für zukünftige
Schäden verklagt wurde.
§§
Die Patientin erläuterte, dass der Zahnarzt unter anderem
entgegen ihrem ausdrücklich erklärten Wunsch, kein
Metall beim Einsatz von Zahnimplantaten zu verwenden,
Implantate aus Titan eingesetzt habe. Bei diesen
Implantaten handelte es sich um zwei Ankylos-Implantate, die
aus Titan bestehen und mit Vollkeramik-Abutments und Vollkeramikkronen
versorgt wurden.
Das Landgericht Potsdam urteilte, dass der Zahnarzt an die
Patientin ein Schmerzensgeld von 1.500 €, weitere 5.569,34 €
sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zahlen muss, des
Weiteren wurde eine Ersatzpflicht für künftige Schäden ausgesprochen
(Landgericht Potsdam Urt. v. 8.7.2020 – 11 O 144/15).
In seinem Hinweisbeschluss bestätigte das OLG Brandenburg
das Urteil des Landesgerichts Potsdam. Die Eingriffe erfolgten
ohne Einwilligung und seien damit rechtswidrig. Es sei klar,
dass der Patientin entgegen ihrem ausdrücklichen Wunsch
Implantate eingesetzt wurden, die Titan und damit Metall enthalten.
Auch die Behandlungsdokumentation zeigte, dass die
Patientin keinesfalls in eine Behandlung mit den verwendeten
Titan-Implantaten einwilligte. Aus der Dokumentation ging
auch nicht hervor, dass die Patientin während der Behandlung
auf die Titan-Implantate hingewiesen wurde. Der Sachverständige
konnte ein Aufklärungsgespräch bestätigen, bei dem auch
eine Infobroschüre übergeben wurde. In einem „ausführlichen
Beratungsgespräch über das Einsetzen von Ankylos-Implantaten“
wurde allerdings kein Hinweis darauf festgestellt, dass
die verwendeten Implantate Titan enthalten. Ebenfalls sei nicht
belegt, dass der Patientin gegenüber erwähnt worden war, dass
es sich entgegen ihrem Wunsch um Metall-Implantate gehandelt
habe.
Der Wille der Patient*innen ist für Zahnärzt*innen
grundsätzlich bindend.
Dies ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Patienten.
Eine Zahnärzt*in darf einem Patienten, der eine bestimmte Vorstellung
einer ganz bestimmten medizinischen Versorgung hat
– hier der Verwendung von Vollkeramik-Implantaten –, nicht
ohne eigene sachkundige Prüfung die gewünschte Behandlungsweise
angedeihen lassen, denn Zahnärzt*innen schulden
grundsätzlich eine Behandlung lege artis. In diesem Fall wäre es
aber möglich gewesen, bei der Patientin auch Implantate ohne
Metall zu verwenden.
Die Höhe des durch das Landgericht ausgesprochenen Schmerzensgelds
war nach Auffassung des OLG angemessen. Der
Zahnarzt habe die Eingriffe zwar lege artis durchgeführt, hatte
aber dennoch gegen den ausdrücklichen Willen der Patientin
gehandelt. Somit habe sie zudem einen Anspruch auf Schadenersatz
in Form der Rückzahlung des Zahnarzthonorars. Weitere
Schäden durch die Behandlung sind nicht auszuschließen, daher
sei auch das Feststellungsbegehren der Patientin zur Ersatzpflicht
bei zukünftigen Schäden zulässig und begründet.
36 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
Das „Erste-Blusen-Knopf-
Dilemma“
Checklisten-gestütze Auftragsklärung in der Logopädie
Nicole Kiefer
Einleitung:
Orofaziale Dysfunktionen bilden multifaktorielle Funktionsstörungen ab. Im Kontext der
Systemischen Medizin kann nur im interdisziplinärem Zusammenspiel therapeutischer
Ansätze auf Therapieerfolg und dauerhafte Beseitigung gehofft werden.
Dieser Aspekt wird häufig in der universitären sowie Berufsfachschulausbildung von Therapeuten
unzureichend vermittelt. Wichtige Fragen sind jedoch: Was kann Logopädie im
interdisziplinären Netzwerk zur Therapie kraniomandibulärer Dysfunktionen leisten?
Welche Informationen von Zahnarzt zu Logopäden und umgekehrt ist für eine Therapieplanung
und Therapiezielsetzung im logopädischen wie zahnmedizinischen Sinne (CMD,
KFO) sinnvoll?
Antworten zu diesen Fragen sucht Nicole Kiefer – Logopädin M Sc., Inhaberin einer großen
logopädischen Praxis im Rhein-Main-Gebiet – sie ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft
der Padovan®-Methode e. V. für den deutschsprachigen Raum. Anhand der von ihr
entwick elten Checklisten soll die anamnestische und klinische Faktensammlung für Logopäden
und Zahnärzte standardisiert, systematisiert und vereinfacht werden. Nicole Kiefer
betreibt in Brühl, Baden-Württemberg, ein Therapiezentrum mit interdis ziplinärer Ausrichtung.
2019 schloss sie ihr Masterstudium in Cranio-Facial-Kinetic Science an der Universität
Basel erfolgreich ab.
Zusammenfassung
Die Therapie orofazialer Dysfunktionen stellt durch ihr multifaktorielles Erscheinungsbild Ärzte und Therapeuten in ihrer
täglichen Arbeit immer wieder vor große Herausforderungen. Therapiekonzepte können jedoch nur dann zielführend sein,
wenn die erforderlichen Informationen strukturiert erfasst werden und die Grundbedingungen (Auftragsklärung, Zielsetzung,
Vorgehen, Qualitätsüberprüfung) in einem Therapieprozess erfüllt sind. Die Autorin hat Checklisten entwickelt, mit
deren Hilfe der Auftragsklärungsprozess systematisch durchlaufen werden kann.
Schlüsselwörter: craniomandibuläre Dysfunktion, Logopädie, Zielführung in der logopädischen Therapie
Abstract
Speech therapists deal with prevention, counseling, diagnostics, therapy and rehabilitation for voice, speaking, language and
swallowing. As a specialist therapeutic occupation, speech therapy aims to restore, improve or compensate for disease or
developmental restrictions in the above-mentioned subject areas. Mental, emotional and physical relationships are equally
involved in the formation of language, the modulation of voice, the process of swallowing and articulation. A restriction in
the areas mentioned always affects the whole person.
Keywords: craniomandibular dysfunction, speech therapy, targeting in speech therapy
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 37
Praxis
Logopäden beschäftigen sich mit der
Prävention, Beratung, Diagnostik,
Therapie und Rehabilitation bei
Stimmgebung, Sprechen, Sprache
sowie Schlucken [3]. Als therapeutischer
Fachberuf zielt die Logopädie auf die
Wiederherstellung, Verbesserung oder
Kompensation von krankheits- oder entwicklungsbedingten
Einschränkungen der
genannten Themenbereiche. Geistige, seelische
und körperliche Zusammenhänge
sind gleichermaßen an der Bildung von
Sprache, der Modulation von Stimme,
dem Vorgang des Schluckens sowie der
Artikulation beteiligt. Eine Einschränkung
in den genannten Bereichen betrifft
immer den ganzen Menschen [8].
Im Rahmen ihres Studiums an der Universität
Basel wurde der Autorin innerhalb
der Vorlesungen zur Methode k-o-s-t®
(körperorientierte Sprachtherapie) nach
Susanne Codoni bewusst, dass die Ursache
für ein unbefriedigendes Erleben
bzw. ein Scheitern logopädischer Therapien
häufig eine diffuse Auftragslage und
Zielsetzung ist. Eine weitere Ursache für
Ineffizienzen und Zielverfehlungen ist
eine oftmals mangelnde Kommunikation
zwischen allen an einer Therapie Beteiligten.
Dieser Beitrag möchte klären, warum die
Auftragsklärungsphase oft nicht professionell
durchgeführt wird bzw. weshalb
die Kommunikation im Argen liegt. Auf
Basis der gewonnenen Erkenntnis soll ein
konkreter Vorschlag unterbreitet werden,
wie sich diese Missstände beseitigen lassen.
Weshalb ist die Auftragsklärung
das „A und O“?
Patienten und Patientinnen kommen mit
unterschiedlichen Anliegen zum Logopäden.
Damit verbunden sind vielfältige,
oft widersprüchliche Erwartungen an das
Vorgehen und das Ziel der Therapie. Es
ist demnach für das Gelingen einer zielgerichteten,
effizienten Therapie wichtig,
zu Beginn (sowie auch im weiteren Therapieverlauf)
die gemeinsame Auftragslage
und Zielsetzung zu klären und sie
gegebenenfalls neu zu formulieren oder
anzupassen. Codoni et al. beschreiben,
dass die multifaktoriellen Bedingungen,
wie dies etwa bei einer Artikulationsstörung
der Fall ist, für Laien und Nicht-Betroffene
oft schwer nachvollziehbar sind.
Die Zusammenhänge zwischen einer
artikulatorischen Störung, orofazialen
Dysfunktionen, Haltung und Gesundheit
sind sehr komplex. Sie müssen in verständlicher
Form erklärt werden, sodass
der Laie und die in die Behandlung involvierten
Ärzte/Therapeuten sie verstehen.
Dies allerdings gelingt häufig nicht [2].
Häufig liegt einem unklaren Therapieauftrag
ein nicht unerhebliches Informationsdefizit
bei allen am Prozess Beteiligten
zugrunde. Codoni et al. führen auf,
dass dieses Defizit zu Irritationen und
Missverständnissen im therapeutischen
Prozess führt [2]. Viele für die Therapie
relevante Informationen sind jedoch
meist vorhanden: bei Therapeuten und
Therapeutinnen, bei den behandelnden
Ärzten und Ärztinnen, bei Patienten
und Patientinnen sowie deren Angehörigen.
Diese werden im Verlauf der Therapie
oftmals jedoch gar nicht oder nur
unstrukturiert erfasst. Dabei stellen eine
spezifische Auftragsklärung und Zielsetzung
bereits einen ersten Interventionscharakter
dar, der die Therapiemotivation
zu steigern vermag. Folglich ist das
Misslingen der Therapie nahezu unvermeidlich.
Es ist wie beim Bluse knöpfen:
Fängt man oben falsch an, so kann man
unten nie richtig enden.
Warum scheitert die
Auftragsklärung?
Sabine Hammer geht auf Spurensuche.
In ihren Untersuchungen kommt sie zu
dem Ergebnis, dass die Phase einer spezifischen
Auftragsklärung und Zielsetzung
in der Ausbildung von Logopäden und
Logopädinnen in Deutschland nur unzureichend
beachtet wird. Auch mangelt es
an der Vermittlung Compliance-fördernder
Kommunikationsstrategien.
Weiter beschreibt Hammer: „Auch nach
über 30 Jahren intensiver Forschungsarbeit
auf dem Gebiet der Compliance ist es
nicht gelungen, größere Fortschritte für
die Berufsgruppe der Heilmittelerbringer
in diesem Bereich zu erzielen.“ Dies mag
zum einen seine Ursache darin haben,
„dass das Phänomen Compliance nach
wie vor nur unzureichend verstanden ist“,
zum anderen liegt das Hauptproblem der
Complianceforschung vermutlich darin,
dass Compliance schwer messbar und
damit entsprechend schwer objektivierbar
ist [5].
Werden in einem Therapieprozess Informationen
gewonnen, fehlt Logopäden
und Logopädinnen oft ein erweitertes
(medizinisches) Fachwissen, um
die Relevanz dieser Fakten einzuordnen
und daraus die Konsequenzen für
den weiteren Verlauf ableiten zu können.
So ist es beispielsweise bei myofunktionellen
Störungen notwendig,
Nebendiagnosen zu berücksichtigen,
in die Behandlungsplanung miteinzubeziehen
und gegebenenfalls eine weiterführende
Differenzialdiagnostik zu
veranlassen. Codoni et al. legen offen,
dass die Folgen dieser fehlenden oder
unstrukturierten Informationsgewinnung
im Rahmen einer Therapie bei
myofunktionellen Störungen in den
meisten Fällen fragwürdige Therapieergebnisse,
Rezidive sowie Frustrationen
bei allen Beteiligten sind [2].
Hinzu kommt, dass die Kooperation
mit den Angehörigen, mit verordnenden
Stellen und – im Fall von minderjährigen
Patienten und Patientinnen –
mit den Eltern häufig zu wünschen
übrig lässt. Auch gestaltet sich oft eine
interdisziplinäre Zusammenarbeit mit
angrenzenden Fachdisziplinen als inkonstant
und inkonsequent [2]. Offensichtlich
fehlte bisher ein wirksames
und vor allem praktikables Instrument
zur Exploration und strukturierten
Informationsgewinnung, beginnend
beim Erstkontakt über Diagnostik und
Anamnese, der Evaluation von Maßnahmen
sowie der therapeutischen
Eigenreflexion bis hin zur Entlassung
der Patienten und Patientinnen aus der
Therapie. Solch ein Instrument ist jedoch
unabdingbar für einen qualitativ
hochwertigen Therapieprozess.
38 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
Aus welchen Gründen
werden Therapieziele
nicht erreicht?
Die Gründe des Misslingens oder des
Abbruchs einer Therapie sind bislang
kaum betrachtet worden. Wissenschaftlich
untersucht wurden bislang überwiegend
Faktoren, die eine Steigerung der
Therapietreue zur Folge haben könnten.
Beushausen und Grötzbach beschreiben,
dass der Auftragsklärungsprozess und die
Zielsetzung in einer Therapie traditionell
häufig noch ausschließlich von der Fachkraft
bestimmt und geleitet werden [1].
Dieses Vorgehen beruht in aller Regel auf
der klinischen Evidenz der Praktiker. Es
ist zwar zeitökonomisch, da keine umfassenden
Zieldiskussionen geführt werden
müssen, allerdings sind damit auch mehrere
Nachteile verbunden, insbesonders
werden einige Faktoren nur unzureichend
berücksichtigt, wie etwa:
▶ die Ressourcen und Präferenzen der
Patienten und Patientinnen
▶ das erweiterte Umfeld im therapeutischen
Prozess (Stakeholder)
▶ die Beziehung zwischen Therapeuten
und Therapeutinnen und Patienten
und Patientinnen
▶ weitere medizinische Faktoren
Zudem formulieren Fachkräfte häufig
auf der Grundlage ärztlicher Diagnosen
bereits vor einer Zielsetzung mit den
Patienten und Patientinnen einen inneren
Auftrag (an sich selbst). Auf diesem
„inneren Auftrag“ baut sich dann die
Erwartung des Therapeuten auf, dass die
Patienten und Patientinnen / die Angehörigen
nach ersten Instruktionen und
Beispielen (basierend auf einer lückenhaften
Informationslage) selbstständig zu
arbeiten beginnen.
Wenn das selbstständige Arbeiten der
Patienten und Patientinnen ausbleibt, so
reagieren Fachkräfte vielfach damit, weitere
Instruktionen (aber immer weniger
Informationen) zu geben. Dies geschieht
in der Annahme, der Patient/die Patientin
bräuchte noch mehr methodischen
Input. Da den Patienten und Patientinnen
sowie den Angehörigen notwendige
Informationen als Basis für eine gelingende
Therapie fehlen (wie beispielsweise
Wirkprinzipien: „Warum mache ich
überhaupt diese und jene Übung?“) werden
Patient und Patientin / die Angehörigen
zu einer passiven und abwartenden
Haltung gegenüber den therapeutischen
Maßnahmen geradezu eingeladen.
Dabei wünschen sich die behandelnden
Therapeuten und Therapeutinnen vor
Therapiebeginn und im weiteren Verlauf
der Behandlung umfassendere Informationen
der Zuweiser über die Behandlungsplanung.
Gerade vonseiten der
Zahnmedizin und Kieferorthopädie sind
weiterführende Informationen für einen
zielgerichteten Therapieprozess unabdingbar.
Welche Faktoren führen
zu einer gelingenden
Therapie?
Neben einer ausführlichen Anamnese
und Diagnostik bilden weitere Variablen
die Basis für erfolgreiche logopädische
Therapien. Aufgrund persönlicher therapeutischer
Erfahrungen in der logopädischen
Praxis sowie durch belegte Nachweise
aus der Fachliteratur (etwa Codoni,
Grötzbach; Hollenweger-Haskell & Iven
und Hammer [2, 4, 5]) wird davon ausgegangen,
dass die folgenden zehn Variablen
für eine erfolgreiche und effiziente
logopädische Therapie für alle am System
Beteiligten (z. B. Patienten und Patientinnen,
Angehörige, Eltern, Ärzte und Ärztinnen
…) von Bedeutung sind:
(1) Beziehung Therapeut*in-Patient*in
(2) Ressourcen
(3) Umfeld
(4) Medizinische Faktoren
(5) Anamnese/Diagnostik
(6) Rahmenbedingungen
(7) Veränderungsmotivation/Compliance
(8) Setting
(9) Vorgehen
(10) Auftrag/Zielsetzung
(11) Informationsgewinnung
(1) Beziehung Therapeut*in-Patient
Ob eine Therapie gelingt, hängt im Wesentlichen
von der Beziehung zwischen
Therapeuten und Therapeutinnen und
Patienten und Patientinnen ab. Um ein
förderliches Verhältnis zwischen Therapeuten
und Therapeutinnen und Patienten
und Patientinnen aufzubauen, spielt
die Kommunikation und das Wissen
über die Bildung von Beziehungsstrukturen
eine entscheidende Rolle. Die Qualität
in der Kommunikation zwischen
beiden Parteien ist entscheidend für den
gesamten Therapieprozess. Patienten
und Patientinnen wünschen sich, neben
der Lösung des klinischen Problems, u. a.
Folgendes:
▶ Information und Instruktion,
▶ emotionale Unterstützung,
▶ Rücksicht und Respekt sowie
▶ leibliches Wohlbefinden.
Entscheidend für eine konstruktive Beziehung
zwischen Therapeuten und
Therapeutinnen und Patienten und Patientinnen
ist das Menschenbild der Therapeuten
und Therapeutinnen sowie die
daraus resultierenden Werteideale. Unser
Menschbild wiederum hängt v. a. mit persönlichen
Erfahrungen zusammen und
bestimmt nicht nur, wie man sich selbst
und andere sieht, sondern auch, wie miteinander
umgegangen wird. Das Menschenbild
ist also von äußerster Wichtigkeit
in der Beziehung von Therapeuten
und Therapeutinnen und Patienten und
Patientinnen; es ist ein essenzieller Faktor
für das Gelingen oder Misslingen einer
Therapie.
(2) Ressourcen
Die klassische Logopädie betrachtet überwiegend
Mängel. Das heißt, sie diagnostiziert
und therapiert primär symptomund
defizitorientiert. Diese Einstellung
fördert ein geringes Selbstwertgefühl,
die Wahrnehmung von Hilflosigkeit und
eine hohe Erwartungshaltung an den
Therapeuten/die Therapeutin, er/sie werde
das Problem schon beseitigen. Wenig
Beachtung hingegen finden die Potenziale
der Patienten und Patientinnen. Die
Fähigkeiten und Fertigkeiten der Patienten
und Patientinnen bleiben häufig im
Verborgenen. Doch gerade die Identifikation
und das Nutzen von Ressourcen
stärken die psychische Widerstandskraft
(Resilienz) und unterstützen den Prozess
der Salutogenese – der Herstellung und
Erhaltung von Gesundheit.
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 39
Praxis
(3) Umfeld
Die Einbeziehung des nahen und erweiterten
Patienten und Patientinnenumfelds
in den therapeutischen Prozess ist essenziell
für den Therapieerfolg. Bei der Aufklärung
über das therapeutische Ziel, die
angewendeten Methoden und bei der Absprache
zu Übungen sollte das Umfeld der
Patienten und Patientinnen einbezogen
werden. Die soziale Unterstützung durch
Angehörige beeinflusst die Therapietreue/
Compliance maßgeblich.
Auch im Umfeld der Patienten und Patientinnen
finden sich erhebliche Ressourcen,
die dem Patienten bei der Rehabilitation
und der Erhaltung der Gesundheit
dienlich sind.
Nicht nur das persönliche, auch das institutionelle
Umfeld ist von Bedeutung.
Verordnende Stellen sollten zu jedem
Zeitpunkt gut über den aktuellen Stand
der logopädischen Therapie informiert
sein. Ein vertrauens- und respektvoller
Austausch sowie eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit auf Augenhöhe unterstützen
den Gesundungsprozess der Patienten
und Patientinnen. Die konsequente
Zusammenarbeit und der fachliche Austausch
mit angrenzenden, mitbehandelnden
Fachdisziplinen legen hier den
Grundstein zu einer für alle Seiten zielführenden
Arbeit.
Nur mit einem klar vermittelten Ziel
(wer macht was mit wem, wie wann und
wo) kann eine Veränderungsmotivation
entstehen und aufrechterhalten werden.
Dies gilt für Patienten und Patientinnen,
Angehörige und Therapeuten und Therapeutinnen
gleichermaßen.
(4) Medizinische Faktoren
Mögliche Hemmnisse bzw. hemmende
medizinische Faktoren können den Therapieerfolg
beeinträchtigen. Komorbiditäten
bedingen immer eine weiterführende
Diagnostik. Durch eine umfassende
Anamnese können die therapiebeeinflussenden
Faktoren von Therapeuten und
Therapeutinnen erkannt, dokumentiert
und kommuniziert werden.
Bereits während der Embryonalentwicklung
können Funktionsstörungen in der
Entwicklung und Ausbildung der orofazialen
Muskulatur auftreten. Diese bedingen
im weiteren Verlauf eine Dystonie
insbesondere der Zungen- und Gesichtsmuskulatur.
Heike Korbmacher-Steiner ist der Auffassung:
„Die physische Gestalt scheint nicht
a priori gesetzt, sondern als ein Ergebnis
der Bewegung, der Funktion“ [6]. Demnach
gilt es, auch weiter vom Mundraum
entfernte Funktionen und deren mögliche
Störungen, welche in Wechselwirkung
zum stomatognathen System stehen, zu
betrachten. Durch die komplexen, den
ganzen Menschen betreffenden Zusammenhänge
bei einer myofunktionellen
Störung ist es folglich unumgänglich, in
der logopädischen Diagnostik alle relevanten
medizinischen Aspekte in die Therapieplanung
und Durchführung einzubeziehen
– eine Fokussierung auf die Region
des Mundbereichs reicht nicht aus.
(5) Anamnese und Diagnostik
Als verbindlicher Teil einer jeden Therapie
– so Korntheuer et al. [7] – stellt die Anamnese
die Basis eines mehrgliedrigen Auftragsklärungs-
und Zielsetzungsprozesses
im klinischen Alltag einer Sprach therapie
dar. Aufgrund des multifaktoriellen Bedingungsgefüges,
wie bei einer orofazialen
Dysfunktion, ermöglicht es eine ausführliche
Anamnese den Praktikern, weitere
Entscheidungen für eine Differenzialdiagnostik
zu treffen und erste Arbeitshypothesen
zu bilden. Erkenntnisse aus Anamnese
und Diagnostik legen den Grundstein für
die Entscheidung einzuleitender therapeutischer
und interdisziplinärer Maßnahmen.
Darüber hinaus zeigt die praktische Erfahrung,
dass das übliche Diagnostikmaterial
bei myofunktionellen Störungen / orofazialen
Dysfunktionen immer nur Teilaspekte
abbildet und nicht umfangreich genug gestaltet
ist, um alle Einflussfaktoren zu erfassen.
Außerdem beinhaltet das vorhandene
Material kaum praktikable Beispiele für
den Prozess einer partizipativen Auftragsklärung
und Zielsetzung. Dabei stellt dies
den zentralen Bereich für die Berücksichtigung
von Patienten- und Patientinnenpräferenzen
im therapeutischen Prozess
dar und bildet somit die Grundlage für die
Aufrechterhaltung einer Veränderungsmotivation
bei Patienten und Patientinnen
und Angehörigen
(6) Rahmenbedingungen
Rahmenbedingungen sind vielfältig – sie
reichen von der subjektiven Wahrnehmung
des Patienten (z. B. in Bezug auf
die Gestaltung der Therapieräume) über
die Terminvergabe bis hin zur Einschätzung
der Kompetenz des behandelnden
Therapeuten.
Die Qualitätsbeurteilung aus Patientenund
Patientinnensicht gewinnt zunehmend
an Bedeutung. Die Patienten- und
Patientinnenzufriedenheit ist dabei ein relatives
Maß aus Erwartungen an eine Behandlung
und tatsächlich erfahrener Behandlung.
Sie stellt somit nur einen Aspekt
der Qualitätssicherung dar, ermöglicht es
jedoch, negative Qualitätsentwicklungen
frühzeitig zu identifizieren. Weiterhin reflektiert
sie wichtige zwischenmenschliche
Aspekte einer logopädischen Behandlung
und gibt Aufschluss über die Praxis als
Leistungserbringer.
Hammer nennt folgende therapeutische
Rahmenbedingungen: Therapiefrequenz,
Menge, Dauer und Form der Übungen,
der Faktor „Spaß“, Alltagsintegration,
Wirksamkeit, Übungskontinuität und
zeitliche Ressourcen des Patienten [5].
Um ein gutes Arbeitsbündnis mit den
Patienten und Patientinnen und deren
Angehörigen eingehen zu können, müssen
die Rahmenbedingungen vor Therapiebeginn
unter Berücksichtigung der
persönlichen Präferenzen der Patienten
und Patientinnen kommuniziert und geklärt
werden. Denn, so Codoni, „nur der/
die gut informierte Patient/Patientin in
seinem Umfeld und das gut informierte
Umfeld mit dem/der Patienten/Patientin
können die Grundlage für gelingende
therapeutische Prozesse bilden“ [2].
(7) Veränderungsmotivation/Compliance
Der Erfolg therapeutischer Maßnahmen
hängt wesentlich von der Eigenverantwortung
der Patienten und Patientinnen
ab. In der ambulanten logopädischen
Therapie ist der Therapeut in aller Regel
auf die Kooperation der Patienten und
Patientinnen angewiesen. Diese Compliance
(auch Therapietreue genannt)
betrifft beispielsweise das Einhalten von
Terminen und das Durchführen von
häuslichen Übungen.
40 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
beschreibt Faktoren, die die Compliance
beeinflussen [5]:
▶ soziale und ökonomische Faktoren
▶ versorgungs- und systembezogene
Faktoren
▶ erkrankungsbezogene Faktoren
▶ therapiebezogene Faktoren
▶ patientenbezogene Faktoren
Eine hohe Veränderungsmotivation, eine
positive Einstellung zur Therapie, eine
gute Beziehung zwischen Therapeut/
Therapeutin und Patient/Patientin sowie
eine angemessene Erwartung in Bezug
auf die Erreichung des Therapieziels wirken
sich förderlich auf die Compliance
aus [5].
(8) Setting
Ein Setting beschreibt im therapeutischen
Kontext die Umgebung oder das Arrangement
einer Therapiemaßnahme. Dies
beinhaltet, die Rollen aller am therapeutischen
Prozess Beteiligten festzulegen, das
Klären des Therapieauftrags, die Formulierung
von Zielen sowie die Auswahl von
geeigneten Methoden und Techniken.
Von äußerster Wichtigkeit in einem therapeutischen
Setting sind sozioökonomische
Faktoren, nämlich:
▶ sozioökologische Faktoren (Wohnverhältnisse,
Bildung, Berufswahl)
▶ soziokulturelle Faktoren (Sprache, Sitten,
Bräuche, Traditionen, Religion)
▶ sozioökonomische Faktoren (Einkommen,
Sozialisation, Milieu)
(9) Vorgehen
Die Grundlage jedes therapeutischen
Handelns bildet:
▶ umfassende Anamnese
▶ Erstellung eines logopädischen
Befundes und ggf. Weiterleitung zur
Differenzialdiagnostik
▶ empathisch-partnerschaftlicher
Umgang in der Kommunikation mit
Patienten und Patientinnen und Angehörigen
Die Anwendung etablierter sowie alternativer
sprachtherapeutischer Verfahren
sollten idealerweise in ein interdisziplinäres,
nach den Präferenzen der Patienten
und Patientinnen ausgerichtetes Vorgehen
eingebunden sein. Eine möglichst
Abb. 1: Anteile der Informationsgewinnung im Therapieprozess (exemplarisch) – eigene
Darstellung
enge Einbindung der Angehörigen sollte
zu jeder Zeit selbstverständlich sein.
Fachliche Informationen und Instruktionen
sollten nach dem neusten Stand
der Wissenschaft in einer für Patienten
und Patientinnen und deren Umfeld verständlichen
Sprache übermittelt werden.
Zur Überwindung sprachlicher Barrieren
bieten sich bildlich erklärende Darstellungen
an.
(10) Auftrag/Zielsetzung
Beushausen und Grötzbach beschreiben
die Zielsetzung als den zentralen Bereich
für die Berücksichtigung von Patientenund
Patientinnenpräferenzen im therapeutischen
Prozess. Traditionell beruht
die Definition von Therapiezielen häufig
immer noch auf einem paternalistischen
Vorgehen.
Paternalistische Zielsetzungen haben situativ
ihre Berechtigung (etwa, wenn Patient
und Umfeld nicht in der Lage sind,
aktiv am Therapieprozess teilzunehmen).
Allgemein ist dieser Zielsetzungsprozess
jedoch mit dem Nachteil verbunden, dass
er die Präferenzen der Patienten und Patientinnen
nur unzureichend berücksichtigt
und dass lediglich eine geringe Akzeptanz
gegenüber den von der Fachkraft
festgelegten Zielen besteht [1].
Anders in der partizipativen Auftragsklärung/Zielsetzung
– hier werden Aufträge
und Therapieziele von der Fachkraft und
den Patienten und Patientinnen gemeinsam
definiert. Das geteilte Wissen von
Fachkraft und Patienten und Patientinnen
bildet die Grundlage für die Definition
der Therapieziele.
Der Aufwand eines partizipativen Vorgehens
in der Auftragsklärung und
Zielsetzung erscheint auf den ersten
Blick hoch, da ein ausführliches Zielsetzungsgespräch
notwendig ist. Jedoch
kann durch die hohe Identifikation aller
Beteiligten mit den Therapiezielen von
einer schnelleren Überwindung der vorherrschenden
Symp tomatik ausgegangen
und ein langwieriger und unbefriedigender
Therapieprozess vermieden
werden. Voraussetzung für eine partizipative
Auftragsklärung und Zielsetzung
ist die aktive Teilnahme der Patienten
und Patientinnen am Prozess.
(11) Informationsgewinnung
Abb. 1 zeigt schematisch die Anteile der
Informationsgewinnung bei einem paternalistischen
gegenüber einem partizipativen
Vorgehen. Die Darstellung erhebt
keinen Anspruch auf wissenschaftlich exakte
Zahlen oder Proportionen. Es kann
davon ausgegangen werden, dass die Gesamtzahl
der Informationen bei einem
partizipativ-holistischen Ansatz wegen
der erweiterten Sichtweise höher ist als
bei einem überwiegenden symptom- und
defizitorientierten Vorgehen, wie es in einem
paternalistisch geprägten Therapieprozess
der Fall ist.
Durch eine sinnvolle Extrahierung kann
so ein höherer Anteil an nützlichen Informationen
erhalten werden. Ein strukturierter
Informationsgewinnungsprozess
folgt einer vorher festgelegten Struktur,
wie etwa anhand eines Leitfadens oder
einer Checkliste. Unstrukturiert werden
Informationen lediglich aufgrund
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 41
Praxis
von Erfahrungen, Glück, Zufall und Tagesform
gewonnen.
Eine strukturierte Informationsgewinnung
sorgt dafür, dass der Prozess der
Auftragsklärung und Zielsetzung jederzeit
auf gleichbleibend hohem Niveau
durchgeführt werden kann. Der Prozess
ist somit weitestgehend unabhängig von
äußeren Einflüssen. Ziel ist es, den grauen
(unstrukturierten) Bereich in den grünen
(strukturierten) Bereich zu überführen.
Das Ideal stellt die vollkommene Informationsgewinnung
aller für die Therapie
hilfreichen Informationen dar.
Zwischenfazit
Um als Therapeut/Therapeutin erfolgreich
zu sein, muss vor Beginn einer
Therapie die Auftragsklärung und Zielsetzung
gemeinsam mit den Patienten
und Patientinnen und deren Umfeld
stattfinden. Dieses Procedere dient dazu,
klare Beschreibungen der Aufgaben und
Erwartungen zu formulieren und Rollen
zuzuweisen. Somit werden Konflikte im
Therapieprozess weitestgehend verhindert.
Nach erfolgter Diagnostik und Aufklärung
sowie der Vorstellung therapeutisch-methodischer
Möglichkeiten durch
den Behandler muss der Patient/die
Patientin und sein/ihr Umfeld persönliche
Prioritäten für die Therapie setzen.
Durch ein zielorientiertes Gespräch wird
klar, wo und wie genau die weitere Therapie
ansetzen muss, um effizient, wirksam
und effektiv zu sein.
Therapeuten und Therapeutinnen stehen
für eine Auftragsklärung zwei mögliche
Ansätze zur Verfügung. Zum einen über
den paternalistischen Ansatz, in dem das
Vorgehen ausschließlich von der Fachkraft
auf Grundlage ihrer klinischen Expertise
bestimmt wird. Dieser Ansatz ist
zeitökonomisch, da er bei allen Patienten
und Patientinnen, gleich welchen Störungsbildes,
zu jeder Zeit anwendbar ist.
Paternalistische Zielsetzungen haben situativ
ihre Berechtigung, z. B. wenn Patient
und Umfeld nicht in der Lage sind,
aktiv am Therapieprozess teilzunehmen.
Allerdings birgt er auf Patientenseite die
Gefahr einer geringeren Akzeptanz gegenüber
Therapiezielen. Anders verhält
es sich beim partizipativen Ansatz. Hier
wird das Vorgehen von Patienten und
Patientinnen und Fachkraft gemeinsam
bestimmt. Der partizipative Ansatz ist
zeitaufwendig, da hierbei oftmals ausführliche
Gespräche notwendig sind. Die
Grundlage bilden das gemeinsame Wissen
und der Austausch von Informationen.
Im Alltag klären Menschen vielerlei Aufträge
und setzen Ziele. Nie käme man
beispielsweise auf die Idee, einem Maler
zu sagen: „Sie sind der Fachmann, sie
werden schon wissen was sie tun, machen
sie mal“, um sich dann im Verlauf der Renovierung
darüber zu wundern, warum
die Streifentapete im Wohnzimmer diagonal
geklebt nicht optimal wirkt.
Aber warum ist es in einem
Therapieprozess so oft ganz
anders als im Alltag?
Warum findet keine (systematische und
umfassende) Auftragsklärung statt?
Für die überwiegende Anzahl von Patienten
und Patientinnen und Angehörigen
ist es ungewohnt, klare Anliegen, Wünsche
und Erwartungen an eine logopädische
Intervention zu formulieren. Patienten
und Patientinnen bzw. Angehörige
sind, oftmals durch ihre Erfahrungen aus
einem stark komplementär geprägten
Arzt-Patienten und Patientinnen-Verhältnis,
darauf ausgerichtet, ausschließlich
den Experten die Entscheidung für
eine Behandlungsplanung zu überlassen.
Die Logopädie als medizinischer Hilfsberuf
nimmt aus dem Blickwinkel der
Patienten und Patientinnen bzw. Angehörigen
einen ähnlich komplementären
Beziehungsstatus ein, sodass auch hier
vonseiten der Patienten und Patientinnen
und Angehörigen eher von einem paternalistischen,
also einem ausschließlich
von der Fachkraft bestimmten, Vorgehen
ausgegangen wird. Wird explizit nach
Anliegen gefragt, neigen Patienten und
Patientinnen und Angehörige dazu, die
Frage an den/die Therapeuten und Therapeutinnen
zurückzugeben.
Wie gelingen Auftragsklärungsgespräche?
Wie können alle wesentlichen Faktoren
in einem Therapieprozess erkannt und
eingeordnet werden? Wie kann Wissen
effizient ausgetauscht werden? Wie kann
sichergestellt werden, dass keine Punkte
übersehen werden? Und: Wie bleibt
dieser Prozess möglichst unabhängig
von äußeren Faktoren wie Zufall, Glück
und Tagesform? Die Antwort ist so verblüffend
wie naheliegend: mithilfe von
Checklisten.
In der Luftfahrt gehört der Einsatz von
Checklisten zur Vermeidung von Missverständnissen
und zur Vorbeugung von
Flugunfällen zur Routine. Piloten setzen
sie vor, während und nach einem Flug
ein. Sie kennen diese Checklisten beinahe
auswendig. Und dennoch werden sie immer
wieder Punkt für Punkt vorgelesen
und bestätigt. Selbst wenn der Pilot einen
schlechten Tag hat, wird erwartet, dass er
seinen Job dennoch sorgfältig und gewissenhaft
ausführt. Analog haben Patienten
und Patientinnen das Recht auf eine von
äußeren Einflüssen unabhängige und v. a.
umfassende Auftragsklärung.
Vor diesem Hintergrund hat die Autorin
Checklisten zur Zielsetzung und Auftragsklärung
in der logopädischen Therapie
entwickelt.
Infoflyer „Was ist eine
myofunktionelle Störung?“
Neben der Checkliste hat die Autorin einen
Informationsflyer für Patienten und
Patientinnen und Angehörige konzipiert.
Er ermöglicht den Therapeuten, einen
laiengerechten und anschaulichen Informationstransport
im Patientengespräch.
42 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Praxis
Warum ist die therapeutische
Eigenreflexion
wichtig?
Zitiert von Marion Sonnenmoser [9] sagen
die US-amerikanischen Psychologen
Knapp, Gottlieb und Handelsmann
über die therapeutische Eigenrefektion:
„Selbstreflexion ist nichts, das von alleine
kommt.“ Sie verweisen darauf, dass die
Selbstreflexion eine innere Haltung und
ein lebenslanger Lernprozess ist. Eine Vielzahl
der Therapeuten und Therapeutinnen
beginnt damit allerdings erst, wenn es im
Laufe einer Therapie zu Schwierigkeiten
kommt. Auch diesen wichtigen Aspekt bildet
die Checkliste ab.
Um als Therapeut/Therapeutin einen
ganzheitlichen Blick auf den/die Patienten
und Patientinnen einnehmen zu können,
bedarf es einer umfassenden Ausbildung.
Durch Schulungen und (universitäre)
Weiterbildungen – wie sie beispielsweise
der interdisziplinäre Masterstudiengang
„Cranio-Facial-Kinetic Science“ der Universität
Basel bietet – können von Therapeuten
und Therapeutinnen neue Blickwinkel
in der Betrachtung der Patienten
und Patientinnen eingenommen werden.
Diese gilt es, miteinander zu verknüpfen
und neue Netzwerke zu generieren.
Für Therapeuten und Therapeutinnen
heißt dies, ein Berufsleben lang weitere
Kompetenzen zu erwerben sowie sich
selbstständig mit den täglichen beruflichen
Anforderungen auseinanderzusetzen.
Das bedeutet für die Patienten und
Patientinnen eine Behandlung auf hohem
fachlichen Niveau im ganzheitlichen
Kontext.
Durch Informationsveranstaltungen für
Logopäden und Logopädinnen, Zuweiser*innen
sowie Praktiker*innen angrenzender
Disziplinen könnten sich
regionale Netzwerke bilden. Dies wäre
eine weitere Möglichkeit, die holistische
Betrachtungsweise der Patienten und
Patientinnen verstärkt in den Fokus der
täglichen Praxis zu rücken.
Fazit
Jede Therapie, die erfolgreich sein soll,
benötigt klare Aufträge und Ziele. Im
Rahmen einer logopädischen Intervention
sind Orientierung und Standards in
der Auftragsklärung zwingend notwendig.
Durch die Entwicklung von Checklisten
wurde ein Instrument zur Exploration
und Informationsverdichtung für
die tägliche Praxis entwickelt, in das unterschiedliche
Quellen und Perspektiven
einfließen. In der Zusammenführung
verschiedener, auch kontroverser, Sichtweisen
ergibt sich fast immer ein Zugewinn
an Erkenntnisqualität.
Aufträge können zu Beginn einer Therapie
nur einen vorläufigen Charakter haben.
Die entwickelten Checklisten bieten
zwar ein systematisches Vorgehen an, jedoch
sind sie viel mehr als ein „spiralförmiges“
Instrument anzusehen, dessen
einzelne Schritte immer wieder durchlaufen
werden.
Mit dem Aufbau einer gleichberechtigten
Arbeitsbeziehung entwickelt sich auch
Autorin
Nicole Kiefer, Logopädin
Praxis Nicola Kiefer
Uhlandstraße 19, 68782 Brühl
www.logopädiepraxis-kiefer.de
kiefer@logopädiepraxis-kiefer.de
die Tiefe und Weite der Wahrnehmung
in einem therapeutischen Prozess. Somit
werden neue Themen sichtbar, und Ziele
können ggf. angepasst werden. Logopäden
und Logopädinnen benötigen für
ihre tägliche Arbeit das Vertrauen in den
Prozess der gemeinsamen Arbeit, der erst
ein vertieftes Erkennen für das zu behandelnde
Störungsbild bei Therapeuten,
Patienten und Patientinnen und Angehörigen
ermöglicht. Eine durchgängig
transparente Kommunikation stellt einen
entscheidenden Faktor dar, wenn eine
Therapie von Patienten und Patientinnen,
Angehörigen und Therapeuten und
Therapeutinnen als befriedigend wahrgenommen
werden soll.
Mit den vorliegenden Checklisten wurde
ein therapeutisches Instrument für den
praktischen Alltag der Kliniker entwickelt,
das Einflussfaktoren für eine gelingende
therapeutische Intervention erfassen,
bewerten und kommunizieren kann.
Durch eine strukturierte Informationsgewinnung
und der daraus zur Verfügung
stehenden breiteren Informationsbasis ist
es den Therapeuten und Therapeutinnen
noch besser möglich, eine effiziente Behandlungsplanung
zu entwickeln. Diese
Checkliste bietet das Fundament eines
Qualitätssicherungsprogramms in der
logopädischen Praxis und ist damit ein
geeignetes Werkzeug, um das „Erste-Blusenknopf-Dilemma“
zu verhindern.
Literatur- und Quellenverweise
[1] Beushausen, Ulla & Grötzbach, Holger (2018): Evidenzbasierte Sprachtherapie, 2. Auflage,
Schulz-Kirchner Verlag, Idstein.
[2] Codoni, Susanne; Spirgi-Gantert, Irene & von Jackowski, Jeannette (2018): Funktionsorientierte
Logopädie: Der Einfluss von Haltung und Bewegung auf Schlucken, Sprechen
und Sprache, Springer-Verlag
[3] Glaremin, Stefanie: Was ist Logopädie? [online]: URL https://www.online-logopaedie.
de/logopaedie.html (27.10.21).
[4] Grötzbach, Holger; Hollenweger-Haskell, Judith & Iven, Claudia (2014): ICF und ICF-
CY in der Sprachtherapie, Umsetzung und Anwendung in der logopädischen Praxis, 2.,
aktualisierte Auflage, Schulz-Kirchner Verlag, Idstein.
[5] Hammer, Sabine et al. (2013): Mein Patient macht nicht mit – was nun? Compliance als
Schlüssel zum Therapieerfolg, Schulz-Kirchner Verlag, Idstein.
[6] Korbmacher-Steiner, Heike (2019): Kieferorthopädie und Funktion, [online]: https://
www.zm-online.de/archiv/2019/01_02/zahnmedizin/kieferorthopaedie-und-funktion/
(27.10.21).
[7] Korntheuer, Petra; Gumpert, Maike; Vogt, Susanne (2014): Anamnese in der Sprachtherapie,
Ernst Reinhardt Verlag, München.
[8] Kraft, Ulrich; Waitz, Martina (2018): Was versteht man unter Logopädie? [online]:
URL https://www.tk.de/techniker/gesundheit-und-medizin/kinder-und-jugendliche/was-versteht-man-unter-logopaedie-2013370
(27.10.21)
[9] Sonnenmoser, Marion (2017): Selbstreflexion: Ein Weg zum besseren Therapeuten,
[online]: URL https://www.aerzteblatt.de/archiv/193838/Selbstreflexion-Ein-Weg-zum-besseren-Therapeuten
(27.10.21)
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 43
Pflanzenportrait
Baldrian (Valeriana Officinalis)
Vielseitiger Nutzen, auch für Zahnpatient*innen
Eine der hierzulande bekanntesten und am weitesten verbreiteten Heilpflanzen ist sicher
der Baldrian. Dabei ist es eher der Wirkstoff, der bekannt ist – die Pflanze selbst werden
sehr viel weniger Menschen auf Anhieb erkennen. Dabei sehen die kleinen Blüten des
Baldrians schön aus, und auch der typische Duft wird als angenehm empfunden. Die
erste Assoziation der Baldrianwirkung ist „beruhigend“ – und das kann man sich auch bei
Zahnbehandlungen zunutze machen.
Baldrian, auch Echter Baldrian oder Apotheker-Baldrian,
lateinisch Valeriana officinalis, fühlt sich in der freien
Natur auf feuchten Wiesen und an Waldlichtungen, an
Gräben und Bachufern am wohlsten. Aber nicht nur dort
ist diese mehrjährige Staudenpflanze anzutreffen, auch im eigenen
Garten lässt sich Baldrian gut anbauen und ist leicht zu
pflegen.
Baldrian im eigenen Garten
Ein sonniger Standort ist dem Baldrian besonders zuträglich,
aber selbst wenn die Sonne nicht dauernd scheint, gedeiht er
gut. Nur Wasser braucht der Baldrian immer reichlich, und der
Boden sollte nährstoffreich und nicht zu sandig sein.
Die stattliche Staudenpflanze erreicht eine Wuchshöhe von bis
zu 150 cm und ist schön anzuschauen, weil die vielen kleinen
Blüten zusammen Dolden bilden, die mit ihrer hellen Färbung
angenehme Akzente setzen. Ausgesät wird Valeriana officinalis
im Frühjahr, bevorzugt im März oder April. Bald erscheinen die
ersten Stängel mit hübschen, gefiederten Blättern. Die lanzettartigen
Blätter sind ganzrandig bis grob gesägt. Im Juni erscheinen
an den Spitzen der Zweige zartrosa bis weiße Blüten mit
doldenförmiger Blumenkrone. Sie duften sehr süßlich und angenehm.
Bedenken sollte man dabei, dass vor allem Katzen den
Geruch von Baldrian betörend finden – es schadet also nicht,
Katzenfreund zu sein, wenn man Baldrian in seinen Garten sät
oder pflanzt.
Baldrian bildet einen kräftigen Wurzelstock aus, der aus zahlreichen
Einzelwurzeln besteht. Damit der Wurzelstock sich voll
entfaltet, empfiehlt es sich, zwischen den einzelnen Stauden
Zwischenräume von 80 bis 100 Zentimetern einzuhalten.
Die gute Entwicklung der Wurzeln ist auch deshalb so wichtig,
weil sie es sind, aus denen die Wirkstoffe des Baldrian gewon-
44 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Pflanzenportrait
Erscheinungsbild des Baldrians
Wuchs: buschig, aufrecht, mit hohlem,
gefurchtem Stängel
Wuchshöhe: 100 bis 150 cm
Wuchsbreite: 80 bis 100 cm
Blütenform: doldenförmig
Blütenfarbe: hellrot-lila, rosa, bis weißlich
Blütengröße: Dolde insgesamt groß (> 10 cm), bestehend
aus sehr vielen,3 bis 6 mm kleinen Blüten.
Blütenduft:
Blütezeit:
Blatt:
Laubfarbe:
Frucht:
intensiv und typisch
Juni bis August
gefiedert, Blattrand grob gesägt, matt, derb,
grün; wird im Herbst abgeworfen
Samen mit Pappus
nen werden. Dazu entnimmt man im zweiten Jahr vor der Blüte
die Wurzeln und verarbeitet sie z. B. zu Tee. Wenn man sichergehen
will, macht man das aber nicht selbst, sondern holt sich
seinen Baldrian in der Apotheke. Dort gibt es bewährte Darreichungsformen
in kontrollierter Qualität, und außerdem kann
man sich ausführlich zur Einnahme beraten lassen.
Baldrian: Heilpflanze seit altersher
Schon in der Antike waren vor allem die Wurzeln des Baldrians
als Heilpflanze bekannt. Der lateinische Name Valeriana leitet
sich wahrscheinlich von valere = gesund sein ab. Interessanterweise
wurde Valeriana officinalis damals für vollkommen andere
Zwecke gebraucht als heutzutage. Aus den Kräuterbüchern
des frühen und späten Mittelalters gibt es keine Hinweise, dass
die Baldrianwurzel bei Schlafstörungen oder bei nervöser Unruhe
verwendet wurde. In den Kräuterbüchern von P. A. Matthioli
oder Hieronymus Bock (beide etwa Mitte 16. Jahrhundert)
wird Baldrian bei Blähungen, Seitenstechen, Harnbeschwerden,
Husten, Akne, Kopfschmerzen sowie Augenbeschwerden verwendet.
Häufig wurde die Wurzel pulverisiert und mit Wein
oder anderen Kräutern wie Süßholzwurzel und Anis vermischt.
Auch für Hildegard von Bingen war Baldrian ein Begriff, auch
wenn die Pflanze damals noch nicht ihren heutigen Namen
hatte: Die als Valeriana id est denemarcha bezeichnete Arznei-
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 45
Pflanzenportrait
pflanze wurde eher bei Brustfellentzündung und bei einer als
Vich (Vicht) bezeichneten Krankheit verwendet, einer Art Vorkrebserkrankung
(Präkanzerose).
Im 17. Jahrhundert schrieb der englische Apotheker, Arzt und
Astrologe Nicholas Culpeper über den Baldrian: „Er ist eine
treffliche Arznei, den Stuhlgang zu befördern, wenn andere
Mittel versagen. Er ist hülflich für Kopfschmerzen, Zittern, Zuckungen,
hysterische Leiden und die Schwermut.“
Heute:
beruhigende Wirkung im Vordergrund
Heutzutage sehen wir im Baldrian ganz andere Vorzüge: allen
voran seine beruhigende Wirkung. Beginnend im 18. Jahrhundert
wird Baldrian als Beruhigungsmittel sowie zur Behandlung
von Stress und Nervosität verwendet. Er gilt heute als eines der
besten und am meisten genutzten pflanzlichen Sedativa. Pharmakologisch
sind dabei praktisch ausschließlich die Baldrianwurzeln
interessant. Heute kennt man mehr als 150 chemische
Wirkstoffe, die im Baldrian enthalten sind. Viele Wissenschaftler
halten es für wahrscheinlich, dass erst die Kombination dieser
Stoffe die Baldrian-typische Wirkung ergibt, weil sie sich
synergetisch gegenseitig ermöglichen und verstärken.
Die hauptsächlichen Inhaltsstoffe des Baldrians sind die ätherischen
Öle Valenol, Valeriansäure, Valerensäure, weitere Stoffe
aus der Gruppe der Valepotriate sowie einige wenige Alkaloide.
Die Inhaltsstoffe des Baldrians wirken auf den Organismus:
▶ schlaffördernd
▶ beruhigend
▶ angstlösend
▶ spasmolytisch (entkrampfend)
Valerensäure beispielsweise hat eine spasmolytische, angstlösende
sowie muskelentspannende Wirkung und wirkt direkt
auf das Zentralnervensystem ein. Die schlaffördernden und
entspannenden Eigenschaften des Baldrians führt man auf die
Wechselwirkungen vieler verschiedener Stoffe zurück (u. a. Valepotriaten),
auch wenn diese bis heute noch nicht in allen Einzelheiten
erforscht sind.
Baldrian gilt als ein klassisches Nervenberuhigungsmittel mit
beruhigend-ausgleichender, entspannender Wirkung – ohne
das Nervensystem zu betäuben oder die Leistungsfähigkeit einzuschränken.
Indem Baldrian hilft, die innere Unruhe zu besiegen
und Nervenbahnen zu lockern, ermöglicht er auch den
Organen eine entspannte Arbeitsweise.
In der durch Baldrian gewonnenen Erholungsphase sollte nun
Kraft geschöpft werden, um dem Grund der Unruhe auf die
Spur zu kommen – und entsprechend Abhilfe zu schaffen.
Baldrian bei der Zahnbehandlung
Es ist leider immer noch eine weit verbreitete Erscheinung, dass
Patient*innen Angst vor dem Zahnarztbesuch haben. Die Gründe
sind bekanntermaßen vielfältig und beginnen oft schon mit
traumatischen Ereignissen in der Kindheit. Daher sollte man
meinen, dass vor allem ältere Patient*innen betroffen sind, weil
zu ihrer Zeit die Zahnmedizin noch nicht so weit entwickelt war
wie heute. Wer als Kind einmal auf einem Zahnarztstuhl saß,
bei dem der Bohrer noch per Fußpedal bedient wurde, um die
Drehzahl zum Bohren zu erreichen, wird sich nur sehr ungern
daran erinnern – selbst wenn natürlich auch damals Hilfe das
Ziel war und so ein Gerät medizinisch bis in die 1960er-Jahre
als State-of-the-Art galt. Interessanterweise haben aber auch
viele junge Menschen Angst vor der Zahnbehandlung. Hier
verspricht Baldrian Linderung des psychologischen Drucks, der
Sorge, der Angst.
Und in akuter Lage bewährt sich Baldrian auch bei der Behandlung
von Schmerzen. Das können einerseits Zahnschmerzen
sein, z. B. aufgrund von unbehandeltem Zahnkaries oder einer
Entzündung an der Zahnwurzel oder im Kieferknochen. Aber
auch eine Reihe von anderen Erkrankungen und Phänomenen
lösen Schmerzen aus, die in den Kiefer ausstrahlen können, darunter
Kopfschmerzen, Angina Pectoris, Gürtelrose, Migräne,
Muskelverspannungen und Entzündungen.
Baldrian ist beruhigend und schmerzstillend. Darüber hinaus
wirkt sich Baldrian auch positiv auf das Seelenleben aus, weil
er dabei helfen kann, Einschlafstörungen, Depressionen, Resignation
und Reizbarkeit, ausgelöst durch starke Zahnschmerzen,
zu beheben. Nicht zuletzt empfinden viele Menschen Schmerzen
als seelisch äußerst belastend; auch hier kann Baldrian ausgleichend
wirken.
Baldrian kann dabei als Tee, Tinktur oder als Pulver eingesetzt
werden. Sollte es zu einer akuten Schlaflosigkeit kommen, empfiehlt
es sich, vor dem Schlafengehen einen Tee aus Baldrian,
Hopfen, Beifuss und Melisse zu trinken. Diese Hausmittel auf
pflanzlicher Basis versprechen eine rasche Verbesserung des
Leidens und können auf dem Weg der Schmerztherapie begleitend
eingesetzt werden.
In leichten Fällen kann man sich auch vor dem Zahnarztbesuch
mit Entspannungstees oder Tropfen aus Lavendelblüten, Baldrian,
Passionsblume und Hopfen gegen die aufziehende Furcht
mental stärken.
Bruxismus
Schlafbruxismus wird als schlafbezogene Bewegungsstörung
angesehen, die in ähnlicher Weise mit dem Restless-Legs-Syndrom
und periodischen Bewegungen der Gliedmaßen klassifiziert
wird.
Baldrianwurzel verbessert nachweislich die Schlafqualität. Baldrian
enthält zwei Substanzen: Valepotriate und Sesquiterpene.
Ersteres, das zur Standardisierung des Arzneimittels verwendet
wurde, ist zytotoxisch. Letzteres hat keinen solchen Effekt. Beide
haben eine beruhigende Wirkung.
An einem Präparat, das hauptsächlich Sesquiterpene enthält,
wurde ein Doppelblindtest durchgeführt. Im Vergleich
zu Placebo zeigte es eine gute und signifikante Wirkung auf
46 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Pflanzenportrait
schlechten Schlaf (p < 0,001). 44 % berichteten von perfektem
Schlaf und 89 % berichteten von verbessertem Schlaf durch die
Zubereitung. Es wurden keine Nebenwirkungen beobachtet.
Eine von der School of Nursing der University of Pennsylvania
durchgeführte Studie ergab, dass 800 Milligramm Baldrian
über einen Zeitraum von acht Wochen die Symptome des
Restless-Legs-Syndroms verbesserten. Ebenso verbesserte sich
die allgemeine Lebensqualität. Da Bruxismus als schlafbezogene
Bewegungsstörung genauso wie das Restless-Legs-Syndrom
eingestuft wird, ist der Versuch mit Baldrian zu beachten.
Trotz aller Vorzüge:
Vorsicht walten lassen!
Alles, was eine Wirkung hat, kann auch eine Nebenwirkung haben.
Mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
sollten ausgeschlossen werden.
Darüber hinaus sollte eine Therapie mit Baldrian nur eine
Überbrückungsphase sein. Dabei ist Geduld gefragt, denn Baldrian
wirkt nicht binnen Stunden, sondern muss über mehrere
Wochen eingenommen werden, um die gewünschte Wirkung
zu zeigen. Und es ist nicht angeraten, gleichzeitig synthetische
Stoffe oder Medikamente einzunehmen, sofern dies nicht ärztlich
angeordnet wurde.
Bei Depressionen, Angstzuständen oder chronischer Unruhe ist
Baldrian das falsche Mittel.
Quelle: Wikipedia xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Fazit:
Baldrian kann sehr nutzbringend sein
Literatur- und Quellenverzeichnis
In der modernen Pflanzenheilkunde hat gerade eine altbewährte
Heilpflanze wie Baldrian ihren festen Platz für zahlreiche
nutzbringende Anwendungen. Immer mit dem Ziel, Schmerzen
zu lindern, Angst abzumildern und Sorgen in Vertrauen zu verwandeln.
BLV Tier- und Pflanzenführer für unterwegs (München 1996). ISBN 3-405-14800-6
Schirner, Markus. Aromaöle (Schirner Verlag Darmstadt, 2005). ISBN 3-89767-496-3
Harding, Jennie. Kräuter-Bibel: Heilkräuter, Rezepte, Pflanzentipps. (Parragon, o.J.). ISBN
978-1-4075-7058-7
https://www.maxcare.de/ratgeber/tipps-tricks/angst-vor-dem-zahnarzt/
https://www.baumschule-horstmann.de/shop/exec/product/693/7046/Echter-Apotheker-Baldrian.html
Wirkbereiche des Baldrians
Wirkung auf den Körper
antibakteriell, blähungsmindernd, blutdrucksenkend, harnhemmend,
krampflösend, magenstärkend, ausgleichend,
schmerzstillend
Anwendung: bei spastischem Asthma, hohem Blutdruck,
Cholera, Durchfall, Epilepsie, Fieber, rheumatischen Gliederschmerzen,
nervösen Hautleiden, nervösen Herzbeschwerden,
Herzklopfen, nervösen Kopfschmerzen, Magen- und
Darmkrämpfen, Migräne, nervösen Verdauungsstörungen,
rheumatischen Schmerzen, Schuppenflechte, Sodbrennen,
Übelkeit, nervösem Zucken
Wirkung auf die Seele
Emotional entkrampfend, entspannend, schlaffördernd
Anwendung: bei Ängsten, Ruhelosigkeit, Halluzinationen,
nervösen Stimmungsschwankungen, Schlaflosigkeit, geistiger
Überanstrengung, innerer Unruhe
Vorsicht: Sparsam verwenden! In hohen Dosen können
Lähmungserscheingungen auftreten. Nicht über längere
Zeit einnehmen: Das kann sonst zu Abhängigkeitsgefühlen
und vereinzelt zu Allergien führen.
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 47
Markt und Möglichkeiten
Myotalea®
Die erste aktive myofunktionelle Apparatur der Welt
Bei Patienten, die unter Dysgnathien, SBAS, CMD
und Störungen des kraniofazialen Wachstums
leiden, ist die Zungen-, Lippen-, Kiefer- und Halsmuskulatur
oft nicht kräftig genug.
Diese Muskeln spielen jedoch eine wichtige
Rolle beim optimalen Wachstum und der optimalen
Mundfunktions- und Atmungsfähigkeit
des Patienten.
Gezielte Übungen sind nötig, um
die Muskelschwäche zu beheben,
die aus jahrelangem falschen Einsatz
resultiert. Das Myotalea® TLJ ist
die weltweit erste aktive intraorale myofunktionelle
Apparatur, die speziell zur
Kräftigung von Zungen-, Lippen-, Kiefer-,
Rachen- und Mundbodenmuskulatur konzipiert
wurde.
Das 2019 eingeführte Myotalea®-Behandlungssystem
ist eine Weiterentwicklung
der aktiven myofunktionellen Behandlung
bei kieferorthopädischen Problemen,
CMD und schlafbezogenen Atmungsstörungen.
Die MYOVOSA®-Öffnung (variable
Öffnung) des TLJ ermöglicht chronischen
Mundatmern den Übergang zur Nasenatmung.
Mit dem Myotalea® TLJ können
Behandler nun in einem einzigen anwenderfreundlichen,
integrativen Apparaturensystem
den Lippenschluss ihrer Patienten
verbessern, ihre Zungen-, Rachen- und
Mundbodenmuskulatur kräftigen und sie
auf die Nasenatmung umgewöhnen.
Es wird empfohlen, das Myotalea® TLJ
anfangs zweimal täglich etwa 3 Minuten
lang einzusetzen, um die Trainingsmöglichkeiten
voll auszuschöpfen. Diese einfache
Übungssequenz hilft beim Aufbau
von mehr Kraft und einem besseren Muskeltonus.
Nähere Infos unter:
https://www.myoresearch.com/de-de/
appliances/myotalea
48 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Fortbildung
GZM-Veranstaltungen
Weitere Termine im Internet unter www.gzm.org
Weitere Veranstaltungen
und detaillierte Informationen
verschiedener Anbieter finden Sie
auf unserer Internetseite unter:
www.gzm.org/35-0-seminare.htm.
KONGRESSE
CURRICULA
Online-Symposium
Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
3 Tage – 6 Referenten
Termin: 15. bis 17. März 2022
jeweils von 19:00 bis 21:00 Uhr
Referenten: Hardy Gaus, Dr. Horst Kares,
Dr. Annette Jasper,
Dr. Josef Vizkelety
Prof. Dr. Erich Wühr, PD Dr Dr. Katja
Schwenzer-Zimmerer
142. ZAEN-Kongress
Termin: 23. bis 27. März 2022
Ort: Freudenstadt
Weitere Informationen:
ZAEN Freudenstadt
Am Promenadenplatz 1
72250 Freudenstadt
Tel.: +49 7441 918580
Fax: +49 7441 9185822
E-Mail: info@zaen.org
www.zaen.org
Curriculum Systemische ZahnMedizin
Alle Blöcke auch einzeln buchbar
Block 1: Umwelt-Zahnmedizin –
Fokus Systemische Orale Medizin
Referent: Dr. Uwe Drews
Termin: 28. bis 29. Januar 2022
Ort: Siegburg
Block 2: Systemische Parodontologie
und Mikrobiologie – Einfluss
der Ernährung auf die
parodontale Gesundheit
Referenten: Dr. Heinz-Peter Olbertz,
PD Dr. Johan Wölber,
Dr. Andreas Rüffer
Termin: 25. bis 26. Februar 2022 – online
Block 3: Moderne Prothetik im Kontext
kraniofazialer Orthopädie
CMD – Diagnose und Therapie
im Netzwerk
Referenten: Dr. Thomas Weidenbeck,
Dr. Jens Heerklotz, NN
Termin: 25. bis 26. März 2022 – online
Block 4: Psychosomatische Aspekte in der
ganzheitlichen Zahnmedizin /
Die systemische Zahnmedizin
vermarkten: Externes und internes
Praxismarketing
Referenten: Dr. Martina Obermeyer,
Dr. Sebastian Schulz
Termin: 29. bis 30. April 2022 – online
Block 5: Ganzheitliche Zahnmedizin und
Implantologie /
Ganzheitliches Schmerzmanagement
in der Zahnarztpraxis
Referenten: Dr. Thomas Rosner, ZA Hardy Gaus
Termin: 20. bis 22. Mai 2022
Ort: Siegburg
Block 6: Praxisseminar: Integration
ganzheitlicher ZM in einer
ZA-Praxis – Regulationsmedizin
im täglichen Praxisablauf
Referenten: Jens-Uwe Jessen,
Dr. Jürgen Ludolph,
Dr. Dierk Remberg
Termin: 24. bis 25. Juni 2022
Ort: Hamburg
Anmeldung: GZM Geschäftsstelle
Kloppenheimer Str. 10
68239 Mannheim
Tel.: +49 621 4824300
Fax: +49 621 473949
E-Mail: info@gzm-org.de
www.gzm.org
Die Corona-Lücken
im Veranstaltungskalender
werden sobald es geht
wieder aufgefüllt.
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 49
GZM Leitbild
• Der Patient ist ein individuelles und komplexes Wesen, welches entsprechend wahrgenommen und
behandelt wird. Die Zusammenhänge zwischen Mund- und Allgemeingesundheit werden bei der
zahnärztlichen Tätigkeit stets beachtet.
• GZM Zahnärzte arbeiten auf dem aktuellen Stand des zahnärztlichen Wissens.
• Sie integrieren Naturheilkunde und komplementäre Medizin durch interdisziplinäre
Zusammenarbeit mit Ärzten und anderen Therapeuten im Netzwerk.
• Individuelle Gesundheitsförderung durch Gesundheitscoaching und Regulationsmedizin.
Anregung der Selbstheilungskräfte.
• GZM Zahnärzte agieren wertschätzend gegenüber Patienten, Kollegen, Co-Therapeuten
und sich selbst.
• GZM Zahnärzte sehen ihren Beruf als Berufung und stellen traditionelle ärztliche Werte in den
Vordergrund. Sie behandeln mit einer ethischen Grundhaltung so wie sie selbst behandelt
werden möchten.
• Die GZM Zahnärzte unterstützen die Persönlichkeitsentwicklung der Mitglieder, der Patienten
und der Mitarbeiter mit dem Ziel einer authentischen heilsamen Begegnung.
• GZM Zahnärzte nutzen multimodale Therapieansätze für chronisch kranke Patienten.
Fachorgan der Internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche ZahnMedizin e. V.
IMPRESSUM
Herausgeber & Verlag:
Internationale Gesellschaft
für Ganzheitliche ZahnMedizin e. V.
Kloppenheimer Straße 10
68239 Mannheim
Tel.: +49 621 4824300
Fax: +49 621 473949
Internet: www.gzm.org
E-Mail: gzm@gzm.org
ISSN 2194-945X
Anzeigen / Koordination:
Cornelia Wittersheim, GZM-GmbH
Tel.: +49 6209 7975415
Fax: +49 6209 7975416
E-Mail: media1@gzm-org.de
Erscheinungsweise: 4-mal jährlich
Format/Umfang: SOM: DIN A4 / 36 Seiten
MuM: DIN A4 / 8 Seiten
Auflage:
SOM: 2.000 Stück
MuM: 2.500 Stück
Preise:
GZM-Mitglieder:
SGZM-Mitglieder:
Nicht-Mitglieder:
Studenten:
Einzelverkaufspreis:
Chefredaktion:
im Mitgliedsbeitrag
enthalten
im Mitgliedsbeitrag
enthalten
€ 45,00/Jahr
€ 27,00/Jahr
€ 11,50/Exemplar
Constance Nolting
Anschrift der Redaktion:
Constance Nolting
Kloppenheimer Straße 10, 68239 Mannheim
E-Mail: gzm.redaktion@gzm-org.de
Redakteur
Mensch & Mund: Ludwig Fiebig
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Gedruckt auf 100 % Recycling-Papier
50 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 51
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