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SOM- 4_2021

Logopädie, Pflanzen, Probiotika

Logopädie, Pflanzen, Probiotika

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10. Jahrgang · Ausgabe 4/2021 · 11,50 €

Aromatherapie

im Überblick

Die Kraft der

duftenden Heilpflanzen

Logopädie

Checklisten-gestützte

Auftragsklärung

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 1


Grundlagenseminare

aus der ganzheitlichen Zahnmedizin

für Ärzt*innen und Zahnärzt*innen

142. ZAEN-Kongress – vom 24. bis 27. März 2021

Donnerstag 24. März 2022

09:00–13:00 Uhr SEM-011: Kopf-, Kiefer-, Rückenschmerzen: die Zahnmedizin als unterschätzte Ursache

Hardy Gaus

14:30–18:00 Uhr SEM-013: Der Low-Level-Laser – wirksame IGEL-Leistung in der Alltagspraxis

Hardy Gaus

Freitag, 25. März 2022

09:00–13:00 Uhr SEM-017: Stumme Entzündungen im Kiefer und Krebs-Entwicklung und Neuroinflammation –

Wissenschaftliche Forschung zur destruktiven Signaltransduktion über RANTES/CCL5

Dr. Johann Lechner

14:30–18:00 Uhr SEM-021: Ayurvedische Perspektiven in der Zahnmedizin

Ananda Samir Chopra

Samstag, 26. März 2022

09:00–13:00 Uhr SEM-022: FreE-motion – Motopädie gegen Verspannungen und Schmerzen

14:30–18:00 Uhr Dr. Hubertus von Treuenfels

Sonntag, 27. März 2022

09:00–13:00 Uhr SEM-034: Ernährungstherapie in der (Zahn-)Arztpraxis

Dr. Maximilian Gärtner

Information:

ZAEN Freudenstadt

Am Promenadenplatz 1, 72250 Freudenstadt

Tel.: +49 7441 918580, Fax: +49 7441 9185822

E-Mail: info@zaen.org

www.zaen.org

Bei Besuch von 5 der 7

Seminare erhalten Sie das

Basiszertifikat „Ganzheitliche

ZahnMedizin” der GZM

2 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


4 Editorial

Wissenschaft

6 Probiotika und die Rolle bakterieller Biofilme in der Ätiologie und Therapie

parodontaler Erkrankungen

Prof. Dr. Ulrich Schlagenhauf

16 Suizidale Krisen

Anna-Lena Bröcker, M. Sc. (Psych.)

22 Aromatherapie im Überblick – die Kraft der duftenden Heilpflanzen

Dr. med. Wolfgang Etspüler

Schaubild

26 Aromatherapie

Praxis

28 Loslassen, loslegen! Reif für den Ruhestand!

Constance Nolting

34 Jameda listet Sie – ob Sie wollen oder nicht

36 Implantate aus Titan – der Wille der Patienten und Patientinnen ist bindend!

37 Das „Erste-Blusen-Knopf-Dilemma“ Checklisten-gestütze Auftragsklärung in der Logopädie

Nicole Kiefer

Pflanzenportait

44 Baldrian (Valeriana Officinalis)

Fortbildung

2 142. ZAEN-Kongress – Grundlagenseminare aus der ganzheitlichen Zahnmedizin für Ärzte und Zahnärzte

15 2. Virtuelles GZM-Symposium: Craniomanibuläre Dysfunktion (CMD)

49 GZM-Veranstaltungen

Claudia Reimer

48 Markt und Möglichkeiten 50 Impressum

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 3


9. Jahrgang · Ausgabe 4/2021

Kräftig Drücken!

Schon lange wissen wir, dass eine

liebevolle Berührung eine ganz besondere

Art von Medizin ist. Umarmungen

schenken Trost, sorgen

für Wohlbefinden und Entspannung.

Sogar als schmerzstillend werden Umarmungen

eingeordnet. Kein Wunder,

denn bei liebevollem Körperkontakt

kommt es in der Regel zur Ausschüttung

von Glückshormonen. Nicht umsonst

gibt es einige „Feier“tage der Umarmung.

Einer dieser Feiertage findet jährlich am

29. Juni statt. Er wurde von der US-amerikanischen

Hugs for Health Foundation

ins Leben gerufen. An diesem soll man

alle Menschen umarmen, die es brauchen.

Tatsächlich gehen viele Menschen

los, besuchen Altersheime, Kinderhorte

und Krankenhäuser, um dort Menschen

zu umarmen. Auch der 21. Januar gilt als

„Internationaler Tag der Umarmung“. An

diesem Tag nehmen sich weltweit Fremde

auf Straßen und Plätzen spontan in den

Arm. Seit mehr als 25 Jahren folgen mehr

und mehr Menschen rund um den Globus

Aufrufen nationaler und regionaler

Organisatoren und tun das, was gut tut.

Nun werden Sie sich fragen, wie ich auf

die Idee komme, gerade in den Zeiten

von Abstand und Hygieneregeln mit diesem

Thema zu beginnen. Gerade deswegen!

Wir sollten, trotz allen Abstands, die

Nähe nicht aus den Augen lassen und

uns daran erinnern, was Umarmungen

und Berührungen bedeuten und bewirken

können. Gerade jetzt sollten wir Gefühle

der Wärme, der Geborgenheit, der

Nächstenliebe und des Zusammenhalts

Für Ihr Wartezimmer:

Mensch & Mund

Aroma und Düfte:

wohltuend in der Zahnarztpraxis

Wissenswertes zur Aromatherapie und deren Einsatzgebieten können Sie

Ihren Patienten in der diesmaligen Ausgabe der Mensch und Mund anbieten.

Bitte melden Sie sich bei der GZM-Geschäftsstelle,

wenn Sie zusätzliche Exemplare für Ihre Praxis wünschen.

Aroma und Düfte:

Ganzheitliche ZahnMedizin für interessierte Patienten

wohltuend in der Zahnarztpraxis

4 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


stärken. Das geht übrigens auch durch

den reinen Gedanken an eine Umarmung.

Allein dieser schüttet Hormone

aus. Bei demjenigen oder derjenigen der

oder die umarmt und natürlich bei dem

Gegenüber – so er oder sie denn von der

gedanklichen Umarmung weiß. Lassen

Sie also ihr gegenüber wissen, dass Sie

es gerade drücken. Zumindest im Geiste.

Irgendwann kommt die Zeit, da geht

es auch wieder ohne Hygieneabstand im

Gepäck.

Liebevolle Berührungen und Körperkontakt

reduzieren Stress und stärken das

Immunsystem, sie senken das Risiko für

Herzerkrankungen und Depressionen.

Neben Oxytocin schüttet das Gehirn

durch die Berührung oder den Gedanken

daran Dopamin und Serotonin aus,

die Glückshormone unseres Körpers. Sie

hellen die Stimmung auf und können

langfristig Depressionen vorbeugen. Das

scheint in dieser Zeit besonders wichtig.

Depressionen sind Krankheiten, sind

oftmals mit suizidalen Gedanken verbunden.

Wenn Sie mehr darüber wissen

möchten, sollten Sie den Artikel „Suizidale

Krisen“ von Anna-Lena Bröcker auf

Seite 16 lesen, die uns über das Wesen

von suizidalen Gedanken und den Umgang

damit berichtet.

Ganz ohne Körperkontakt, dafür aber

auch entspannend, wohltuend und heilend

wirkt die Aromatherapie, die in

diesem Heft thematisiert wird. Wolfgang

Etspüler gibt einen Überblick über die

Historie und die Einsatzgebiete dieser

Therapie. In der Mitte des Heftes finden

Sie dazu eine Übersicht über Aromen

und ihre Einsatzmöglichkeiten. Auch die

MuM widmet sich diesem Thema.

Im Pflanzenportrait stellen wir den Baldrian

vor, eine Pflanze mit ganz besonderen

Kräften. Sollten Sie sich mit dem

Gedanken tragen, sich irgendwann von

der Praxis zu trennen und diese eventuell

an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin

weiterzugeben, könnte ein Tröpfchen

Baldrian zur Gelassenheit beitragen.

Denn Gelassenheit und ein guter

Zeitplan sind bei den Übergabeplänen

hilfreich. Mehr dazu auf Seite 44. Baldrian

könnte übrigens auch hilfreich sein,

wenn Sie einen Blick auf Ihre Jameda-Bewertung

werfen. Sie möchten sich nicht

bewerten lassen im Netz? Schauen Sie

mal auf die Seite 34.

Die ganzheitlichen Zahnmediziner*innen

sind in der Regel in therapeutischen

Netzwerken verbunden. Dazu gehören

auch Logopäd*innen. Nicola Kiefer berichtet

auf Seite 37 im Artikel „Das-Erste-

Blusen-Knopf-Dilemma“ über die richtige

Ausrichtung der Therapie und gibt aus

ihrer eigenen Praxis wichtige Hinweise,

damit die Logopädietherapie auch zum

Erfolg führt.

Ebenfalls lesenswert ist der Beitrag von

Ulrich Schlagenhauf zu der Rolle der

bakteriellen Biofilme in der Ätiologie

und Therapie parodontaler Erkrankungen.

Welche Rolle spielen der Lebensstil,

die Ernährung und die genetischen

Voraussetzungen und beeinflussen diese

Faktoren in signifikanter Weise, welche

Bakterien in welchem Umfang den

menschlichen Körper besiedeln? Antworten

dazu lesen Sie auf Seite 6.

Bitte beachten Sie unsere Fort- und Weiterbildungshinweise

am Ende des Heftes

und schauen Sie regelmäßig auf unsere

Homepage. Wir bleiben am Ball und werden

Sie über zusätzliche Veranstaltungen

auf dem Laufenden halten. Bis dahin drücken

wir die Daumen, dass die Zeiten für

alle wieder etwas leichter werden. Wir

schauen optimistisch in die Zukunft und

freuen uns, die SOM auch im nächsten

Jahr wieder mit interessanten und spannenden

Themen zu bestücken. Bis dahin,

liebe Leserinnen und Leser, fühlen Sie

sich gedrückt.

Im Geiste – lang und herzlich.

Ihre

Constance Nolting

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 5


Wissenschaft

Probiotika und die Rolle bakterieller

Biofilme in der Ätiologie und Therapie

parodontaler Erkrankungen

Der nächste Paradigmenwechsel?

Prof. Dr. Ulrich Schlagenhauf

Zusammenfassung

Nach aktuellem wissenschaftlichem Verständnis bildet nicht primär eine mangelhafte Mundhygiene, sondern eine durch Lebensstil,

Ernährung sowie genetische Disposition induzierte unphysiologische Veränderung des Keimspektrums (Dysbiose)

des humanen Mikrobioms der Mundhöhle und des Darms den eigentlichen Ausgangspunkt für eine inadäquate, chronisch

proinflammatorische Fehlregulation des mukosalen Immunsystems, welche sich nachfolgend u. a. als parodontale Entzündung

und Plaqueakkumulation klinisch manifestiert. Hierbei sind das Überwachsen virulenter, parodontopathogener Keime

und in gleichem Maße auch das Fehlen systemrelevanter entzündungsdämpfender Schlüsselkeime von Bedeutung. Die Substitution

dieser Schlüsselkeime durch den gezielten Konsum von Lebensmitteln mit gesundheitsfördernden Mikroorganismen

bildet die Basis des Konzepts der probiotischen Therapie. Zurzeit ist die verfügbare Evidenz zum klinisch relevanten Nutzen

der probiotischen Therapie bei Patient*innen mit manifester Parodontalerkrankung noch fragmentarisch. Die Ergebnisse

bereits vorliegender klinisch-experimenteller lnterventionsstudien belegen jedoch in ihrer Mehrzahl eine klinisch bedeutsame

Hemmwirkung der Gabe probiotischer Präparate auf die Ausprägung gingivaler Entzündungen sowie eine signifikante

Förderung der Abheilung parodontaler Läsionen nach Scaling und Root Planing.

Schlüsselwörter: bakterielle Plaque, mikrobieller Biofilm, parodontitisassoziierte Keime, humanes Mikrobiom, Probiotika, probiotische

Therapie, Lactobacillus reuteri

Abstract

According to current scientific understanding, the actual starting point for an inadequate, chronic proinflammatory dysregulation

of the mucosal immune system, which subsequently manifests itself clinically as periodontal inflammation and plaque

accumulation, is not primarily poor oral hygiene, but an unphysiological change in the germ spectrum (dysbiosis) of the

human microbiome of the oral cavity and intestine induced by lifestyle, diet and genetic disposition. In this context, the overgrowth

of virulent, periodontopathogenic germs and, to the same extent, the absence of system-relevant inflammation-suppressing

key germs are of importance. The substitution of these key germs through the targeted consumption of foods with

health-promoting microorganisms forms the basis of the concept of probiotic therapy. Currently, the available evidence on

the clinically relevant benefit of probiotic therapy in patients with manifest periodontal disease is still fragmentary. However,

the majority of the results of existing clinical-experimental intervention studies demonstrate a clinically significant inhibitory

effect of the administration of probiotic preparations on the development of gingival inflammation and a significant promotion

of the healing of periodontal lesions after scaling and root planing.

Keywords: bacterial plaque, microbial biofilm, periodontitis-associated germs, human microbiome, probiotics, probiotic therapy,

Lactobacillus reuteri

6 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Wissenschaft

Bakterielle Plaque und

parodontale Gesundheit –

etabliertes Wissen

Die gründliche Reinigung der Zähne

von anhaftenden mikrobiellen

Biofilmen mittels häuslicher

Mundhygiene sowie professionelle

Reinigungsanstrengungen bilden die

zentrale und von allen Expert*innen als

unverzichtbar beurteilte Basis jeglicher

systematischen Parodontaltherapie. Die

positive Wirkung einer konsequent betriebenen

Plaquekontrolle auf den Verlauf

und die Prävention parodontaler Erkrankungen

ist durch eine Vielzahl klinischer

Studien gut dokumentiert. Insbesondere

die professionelle Reinigung subgingivaler

Zahnflächen, die durch die entzündliche

Zerstörung des Parodontiums exponiert

und von einer meist gramnegativen

Mikroflora besiedelt werden, führt vorhersagbar

zu einer Auflösung der parodontalen

Entzündung, welche wiederum

in der Regel von einer signifikanten Reduktion

der sondierbaren Taschentiefen

und der Blutung auf Sondierung begleitet

wird. Dennoch haben weitere klinische

Untersuchungen zur Evaluation der individuellen

Anfälligkeit für die Ausprägung

einer Gingivitis enthüllt, dass bei Weitem

nicht jede ungestörte Plaqueakkumulation

zur Entwicklung einer klinisch manifesten

Gingivitis führt. Vielmehr zeigte

sich, dass eine mikrobielle Besiedlung

der gingivanahen Zahnoberfläche bei

manchen Individuen sehr rasch eine ausgeprägte

gingivale Entzündungsreaktion

induzierte, während andere Personen

auch nach Monaten fehlender Zahnreinigung

keine oder nur sehr milde gingivale

Entzündungszeichen aufwiesen[5]

(Abb. 1 und 2).

Dank Fortschritten in der mikrobiologischen

Diagnostik konnte diese Diskrepanz

durch die Beobachtung erklärt

werden, dass sich bakterielle Biofilme in

progredienten parodontalen Läsionen

signifikant von der residenten Mikroflora

in nicht entzündeten gingivalen Sulci

unterscheiden. Eine Arbeitsgruppe an

der Forsyth-Universität in Boston unter

der Leitung von Prof. Dr. S. Socransky

Abb. 1: Individuelle Unterschiede in der Entwicklung einer gingivalen Entzündung

nach Einstellung häuslicher Mundhygiene (modifiziert nach Brecx et al. [5])

(b)

Abb. 2: Ausgeprägte bakterielle Plaque mit Entzündung (a) und ohne sichtbare Entzündung

(b) der Gingiva

wies nach, dass die Präsenz einer kleinen

Gruppe gramnegativer, strikt anaerober

Keime (Porphyromonas gingivalis, Tannerella

forsythia und Treponema denticola),

die unter dem Namen ,,Red Complex"

zusammengefasst wurden, mit einem signifikant

erhöhten Risiko für zukünftigen

Attachmentverlust verbunden ist [22].

Neben den Red-Complex-Keimen wurde

zudem mit Aggregatibacter actinomycetemcomitans

ein weiterer parodontitisassoziierter

Keim identifiziert, welcher

insbesondere mit der Entstehung und

Progression aggressiver Verlaufsformen

der Parodontitis in Zusammenhang steht

(Abb. 3).

Ausgehend von diesem als spezifische

Plaquehypothese bezeichneten ätiologischen

Konzept der Parodontitis wurden

Strategien zur dauerhaften Elimination

parodontitisassoziierter Keime aus der

Mundhöhle parodontal erkrankter Patienten

entwickelt. Zu den bekannteren

zählen u. a. das von Quirynen et al. [13]

vorgestellte Konzept der Full-Mouth Disinfection

sowie die von van Winkelhoff

(a)

et a1. [20] propagierte adjunktive systemische

Gabe von Amoxicillin und Metronidazol.

Das Prinzip der Full-Mouth

Disinfection beinhaltet eine konsequente

supra- wie subgingival durchgeführte

Reinigung aller Zähne und Zahnfleischtaschen

mittels Scaling und Root Planing in

einem Zeitrahmen von maximal 24 Stunden.

Begleitend werden während und

nach erfolgter mechanischer Reinigung

alle Zahn- und Schleimhautoberflächen

im Mund-Rachen-Raum über einen Zeitraum

von 8 Wochen hinweg regelmäßig

mithilfe von Chlorhexidinpräparaten

sorgfältig desinfiziert (Abb. 4). lm gleichen

therapeutischen Sinne soll auch die

adjunktive systemische Antibiotikatherapie,

welche ebenso üblicherweise nur im

unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang

mit Scaling und Root Planing durchgeführt

wird, die Elimination parodontitisassoziierter

Keime in der Mundhöhle

bewirken. Die durch Studien belegte Evidenz

und die klinische Praxis zeigen, dass

die Anwendung beider zuvor dargestellten

Therapiekonzepte zu einer verbesser-

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 7


Wissenschaft

1.0

0.8

0.6

0.4

0.2

0.0

TBL

Zahn: MT4

Marker n ML Status

Aa 19.504 22.9%

Bf 0.96 1.1%

Pg 0.40 0.5%

Td 0.70 0.8%

TBL 85.08 -

TML

25% Typ

15

10

5

4

0

Aa Bf Pg Td

0 50 100 150

Abb. 3: Ergebnis der Analyse einer

subgingivalen Plaqueprobe bezüglich der

Anwesenheit der parodontitisassoziieren

Keime Aggregatibacter actinomycetemcomitans

(Aa), Baceroides (Tannerella)

forsythus (Bf), Porphyromonas gingivalis

(Pg) sowie Treponema denticola (Td)

mithilfe eines bakteriellen Gensondentestes

(IAI-Padotest)

Abb. 4: Sprayflasche zur Desinfektion des

Rachens mit 0,2 %-igem Chlorhexidin

ten Ausheilung insbesondere tiefer parodontaler

Läsionen führt (Abb. 5a und b).

Es gelang jedoch weder mit der Full-

Mouth Disinfection noch mit der systemischen

Antibiotikatherapie, die parodontitisassoziierten

Keime des ,,Red Complex"

vorhersagbar und langfristig aus der

Mundhöhle zu eliminieren. Ebenso fehlen

– von schwer zu interpretierenden

Kasuistiken abgesehen – klinische Daten,

die evidenzbasiert nachweisen könnten,

dass parodontal erkrankte Personen ihre

Erkrankung durch den Transfer ihrer parodontitisassoziierten

Keime auf zuvor

parodontal gesunde Lebenspartner, mit

denen sie genetisch nicht verwandt sind,

zu übertragen vermögen [19]. Nach aktuellem

Verständnis gehören parodontale

Erkrankungen daher zu den opportunistischen

Infektionen, bei denen erst die

Anfälligkeit des Wirts ein krankheitsauslösendes

Überwachsen parodontopathogener

Keime begünstigt. Zu den durch

Studien etablierten Risikofaktoren, die

eine erhöhte Anfälligkeit für parodontale

Entzündungen nach sich ziehen, gehören

u. a. Tabakkonsum, psychosozialer

Stress, Diabetes mellitus (Abb. 6) sowie

genetisch bedingte Fehl- und Überreaktionen

von Strukturelementen des mukosalen

Immunsystems.

Interaktion des Körpers mit

dem humanen Mikrobiom

Die Erforschung der Rolle des humanen

Mikrobioms, d. h. der Summe aller

Mikroorganismen unseres Körpers, in

der Ätiologie parodontaler Erkrankungen

wurde lange auf die Identifizierung

krankheitsauslösender Fähigkeiten parodontitisassoziierter

bzw. parodontopathogener

Keime beschränkt. Moderne

Forschungsansätze, wie sie in den letzten

Jahren vor allem im Bereich der gastroenterologischen

Forschung vorangetrieben

wurden, haben jedoch enthüllt, dass die

Entwicklung und die physiologische

Funktion des menschlichen Körpers in

ganz wesentlichem Maße vom humanen

Mikrobiom mitbestimmt werden.

Der menschliche Körper enthält ca. 10

Billionen Körperzellen, aber bereits im

menschlichen Dickdarm leben ca. 100

Billionen Bakterien [15]. Je nach Zählweise

wird heute von der Präsenz von

ca. 1000 verschiedenen Bakterienspezies

im Körper jedes Menschen ausgegangen,

deren in der bakteriellen DNA enthaltene

Struktur- und Metabolismusinformationen

diejenigen der humanen DNA etwa

um den Faktor 100 übersteigen. Die ganz

überwiegende Mehrzahl der Keime des

humanen Mikrobioms gehört zur Kategorie

der symbionten oder kommensalen

Keime. Dies bedeutet, dass ihre Anwesenheit

für eine physiologische Funktion

des Körpers in vielen Bereichen, die weit

über die Aufnahme und Verdauung von

Nahrung hinausgehen, unerlässlich ist.

Nur die in Relation zum humanen Gesamtmikrobiom

sehr kleine Gruppe der

pathogenen Mikroorganismen stellt eine

unter Umständen tödliche Gefahr für die

Funktion und das Überleben des Wirtsorganismus

dar.

Neuere Forschungsdaten lassen nun in

ersten Grundzügen erkennen, wie der

menschliche Körper das scheinbare Dilemma

löst, pathogene Keime wirksam

zu unterdrücken, ohne dabei das Wachstum

und den Stoffwechsel essenziell notwendiger

Keime in einer für den Körper

schädlichen Welse zu beeinträchtigen

[15]. Unter physiologischen Bedingungen

sind bakterielle Biofilme und die

benachbarten Oberflächen der Schleimhäute

stets durch eine für Bakterien nur

sehr schwer zu durchdringende Schleimschicht

getrennt, die in hoher Zahl antimikrobielle

Peptide und Antikörper

vom Typ sigA (sekretorisches Immunglobulin

A) enthält. Dazu favorisiert die

Oberfläche dieser Schleimschicht die

Kolonisation durch kommensale Keime,

welche die Besiedlung durch unerwünschte

pathogene Keime aktiv hemmen

und mit diesen um Nahrung sowie

Besiedlungsraum konkurrieren. Die

Schleimhautzellen unterhalb der protektiven

Schleimschicht weisen sogenannte

Pattern-Recognition-Rezeptoren (PRRs)

auf, zu denen auch die Rezeptoren der

Toll-like-Rezeptorfamilie gehören. Diese

sind in der Lage, bakterielle Antigene wie

etwa bakterielle Zellwandbruchstücke

8 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Wissenschaft

oder Quorum-Sensing-Kommunikationsmoleküle

der Keime zu binden, und

lösen nachfolgend über den Vorgang der

Signaltransduktion in den Schleimhautzellen

in niedriger Intensität die Synthese

proinflammatorischer Zytokine aus. Diese

wiederum induzieren eine konstante,

aber in ihrer Intensität ebenfalls geringe

Einwanderung immunkompetenter Zellen,

welche mehrheitlich unreife dendritische

Zellen sowie regulatorische T-Zellen

umfassen und keine klinisch sichtbare

Entzündungsreaktion auslösen.

Nur wenn die protektive Schleimschicht

ihre Schutzfunktion nicht mehr ausreichend

ausüben kann, etwa nach dem

Rückgang der Synthese antimikrobieller

Peptide infolge einer chronischen Stressbelastung,

gelangen pathogene Keime

in größerer Zahl in unmittelbaren körperlichen

Kontakt mit den Zellen der

Schleimhaut und können diese direkt

beschädigen bzw. in sie eindringen. Eine

direkte Beschädigung oder das Eindringen

von Keimen in die Epithelzellen der

Schleimhaut führt zur Aktivierung einer

weiteren, intrazellulären Rezeptorklasse,

der sogenannten NOD-like-Rezeptoren

(NLR). Die Aktivierung eines NOD-like-Rezeptors

wiederum bewirkt die Bildung

eines sogenannten Inflammasoms

[16], eines Enzymkomplexes, der u. a.

durch die Aktivierung des Enzyms Caspase

die inaktive Vorläuferform des proinflammatorischen

Zytokins Interleukin-lß

in die aktive entzündungsfördernde

Form überführt. Durch die Bildung des

intrazellulären Inflammasoms und die

nachfolgende massive Ausschüttung proinflammatorischer

Zytokine kommt es

rasch zur Einwanderung einer großen

Zahl von immunkompetenten Zellen,

welche die bakterielle Bedrohung an der

Grenzfläche zwischen Schleimhaut sowie

Biofilm unter Kontrolle bringen und

das System nachfolgend wieder in den

physiologischen Zustand der Dominanz

kommensaler Keime an der Grenzfläche

zurückversetzt.

Unter Umständen, die bis heute im Detail

nur teilweise aufgeklärt sind, versagt

jedoch die durch die bakterielle Invasion

der Schleimhäute ausgelöste Entzündungsreaktion

dabei, die ursächliche

Keim invasion unter Kontrolle zu bringen.

Vielmehr kommt es zur Chronifizierung

des Entzündungsprozesses, der

durch die dabei unvermeidliche ausgeprägte

Freisetzung proteinreicher Exsudate

und Blutbestandteile das Wachstum

der mehrheitlich proteolytischen pathogenen

Keime sogar noch beschleunigt.

Gleichzeitig wird die Freisetzung von

Komplement und anderen antibakteriell

wirksamen Molekülen stark erhöht.

Proteolytische Keime wie Porphyromonas

gingivalis sind jedoch in der Lage,

mittels der Bildung von Proteasen etwa

der Zerstörung durch die Komplementfixierung

zu entgehen. Die kommensale

Mikroflora hingegen, welche im physiologischen

Zustand die wichtigste Barriere

gegen ein unkontrolliertes Wachstum

von Porphyromonas gingivalis darstellt,

wird durch die entzündungsbedingte

Freisetzung von Komplement schwer

geschädigt und in ihrer Zahl stark reduziert.

Das im Anschluss weitgehend unkontrollierte

Wachstum der pathogenen

Keime an der Grenzfläche zwischen Biofilm

und Schleimhaut führt zur massiven

(a)

(b)

Abb. 5: Alveoläre Knochendefekte

Regio 47 vor (a) sowie 24 nach (b) nicht

chirurgischer Parodontaltherapie und

adjunktiver systemischer Antibiose

Abb. 6: Häufigkeitsverteilung milder, moderater und schwerer Parodontitis unter

50-jährigen Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetikern sowie alterskorreliere Kontrollen (modifiziert

nach Herrmann [8])

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 9


Wissenschaft

Abb. 7: Veränderung der erfassten Blutung auf Sondierung zu Beginn sowie nach vier Wochen Steinzeitleben ohne Mundhygiene

(modifiziert nach Baumgartner et al. [4])

Freisetzung weiterer proinflammatorischer Zytokine, einem sogenannten

Zytokinsturm, der die umliegenden Gewebe schwer

schädigt und den Entzündungsprozess weiter chronifiziert.

Ist dieses Stadium etwa im chronisch entzündeten Parodontium

erreicht, wird die im Prinzip nun kontraproduktive Entzündungsreaktion

langfristig die progrediente Zerstörung der

Strukturen des Zahnhalteapparates und damit den Ausfall des

Zahnes nach sich ziehen.

Eine mechanische Zerstörung und Entfernung der proinflammatorischen

Biofilme mittels Scaling und Root Planing führt

nachfolgend zu einer Rekolonisation der gereinigten Oberflächen

mit verbliebenen Mundhöhlenkeimen. Ob dies in der

Ausbildung eines neuen, in der überwiegenden Mehrheit von

protektiven, kommensalen Keimen besiedelten Biofilms mündet

oder nicht, hängt u. a. davon ab, wie stark und schnell die

Entzündungsreaktion nach Entfernung des pathogenen Biofilms

abklingt, da eine persistierende Entzündung mit fortgesetzter

Freisetzung proteinreicher Exsudate die Rekolonisation

mit unerwünschten, proteolytischen pathogenen Keimen stark

begünstigt. In den meisten Fällen wird eine mechanische Reinigung

zumindest kurz- bis mittelfristig zur Reetablierung eines

bakteriellen Biofilms führen, der mit der oralen Gesundheit

kompatibel ist und eine Auflösung der Entzündungszeichen zur

Folge hat. Die Stabilität solcher gesundheitskompatibler Biofilme

wird jedoch längerfristig durch systemisch wie auch lokal

wirksame Risikoparameter gefährdet, welche etwa die Stärke

der Bildung protektiver Antikörper vermindern oder das Verhältnis

zwischen proinflammatorischen und entzündungshemmenden

Zellen des mukosalen Immunsystems in Richtung proinflammatorisch

verschieben und so das Überwachsen der von

einer Entzündungsreaktion profitierenden pathogenen Keime

fördern. Daher werden bei Parodontitispatient*innen in den

meisten Fällen auch nach gründlichstem Scaling und Root Planing

mittelfristig die neu aufgewachsenen bakteriellen Biofilme

wieder von proinflammatorischen Keimen dominiert, was eine

Wiederholung der professionellen Entfernung der Biofilme erforderlich

macht [14].

Risikoerhöhende Fehlsteuerungen der Wirtsantwort werden

nach aktuellen Erkenntnissen nicht nur direkt, etwa durch stressbedingte

Veränderungen im Aktivierungsmuster des vegetativen

Nervensystems ausgelöst, sondern entstehen nicht zuletzt

auch als Folge von Veränderungen in der Zusammensetzung der

Darmmikroflora, die ihrerseits durch das Ernährungsverhalten

eines Individuums signifikant beeinflusst wird. Ein praktisches

Beispiel hierfür lieferte eine Studie von Baumgartner et al. [4],

welche longitudinal die Mundgesundheit von zwei Familien untersuchte,

die für eine TV-Show des Schweizer Senders SRF einen

Monat lang unter steinzeitlichen Bedingungen lebten. Die

Familien mussten sich während des 4-wöchigen Experiments

von steinzeitlicher Kost ernähren und auf häusliche Zahnpflege

mittels Zahnbürste und Zahnpasta verzichten. Entgegen allen

Erwartungen war die durch das Einstellen des Zähneputzens ausgelöste

starke Zunahme bakterieller Zahnbeläge nicht mit einem

gleichzeitigen Auftreten gingivaler Entzündungen verbunden.

Vielmehr wurde bei fast allen Teilnehmer*innen am Ende des

Steinzeitexperiments trotz ausgeprägt verstärkter Plaquebedeckung

der Zähne eine sehr deutliche Abnahme von bereits vor

Beginn des Experiments vorhandenen Blutungen auf Sondierung

10 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Wissenschaft

registriert (Abb. 7). Dies steht in völligem Widerspruch zu den

etablierten Schlussfolgerungen aus den klassischen Studien von

Löe et al. [10] zur Entstehung experimenteller Gingivitis, in welchen

eine enge Korrelation zwischen zunehmender Plaquemenge

sowie dem Auftreten und der Stärke der Ausprägung gingivaler

Entzündungen beobachtet wurde. Auch die Kolonisation und die

Besiedlungsstärke der Proband*innen mit Tannerella forsythia,

einem Vertreter der Red-Complex-Keime, zeigten sich nach

vier Wochen Steinzeltleben wesentlich reduziert, ohne dass irgendwelche

Antibiotika oder Chemotherapeutika zum Einsatz

gekommen wären.

Archäologische Untersuchungen an Schädeln und Gebissen

aus der Jungsteinzeit untermauerten die verblüffenden Ergebnisse

der Baumgartner-Studie. Einer australischen Arbeitsgruppe

gelang es, bakterielle DNA aus 7000 Jahre altem Zahnstein

zu analysieren, welcher an den Zähnen von Menschen

haftete, die am Ende der Jungsteinzeit noch als nicht sesshafte

Jäger und Sammler lebten [1]. Die bakterielle Analyse ergab,

dass diese Menschen im Vergleich zu heute lebenden Personen

etwa dreimal so viele unterschiedliche Bakterienarten in

ihrem Mund beherbergten und annähernd parodontal gesund

waren. Die bakterielle Untersuchung weiterer Zahnsteinproben

aus späteren geschichtlichen Epochen wie der Kultur der

Linienbandkeramik, der Kelten, des frühen Mittelalters usw.

legte offen, dass es mit dem Beginn des Ackerbaus vor 7000

Jahren zu einer deutlichen Einschränkung der Vielfalt der

Ernährung kam, welche sich nachfolgend in einem dramatischen

Rückgang der bakteriellen Vielfalt im Darm und in der

Mundhöhle manifestierte. Gleichzeitig mit dem Rückgang der

bakteriellen Vielfalt im analysierten Zahnstein zeigte sich an

den prähistorischen Kiefern erstmals das verbreitete Auftreten

parodontitisbedingter Alveolarknochenverluste.

Nach aktuellen ätiologischen Vorstellungen erhöht ein Rückgang

der Artenvielfalt in einem Ökosystem die Gefahr des

unkontrollierten Überwachsens einzelner Spezies mit nachhaltiger

Störung der Homöostase. Das gilt in gleichem Maße

für makrobiologische Systeme wie etwa den Yellowstone-Nationalpark,

wo die Ausrottung der Wölfe lange Jahre die unkontrollierte

Vermehrung pflanzenfressender Arten mit einer

beträchtlichen Schädigung des Waldes nach sich zog, aber

auch für bakterielle Ökosysteme im Darm und in der Mundhöhle

von Menschen und anderen Säugetieren [6]. So konnten

Mazmanlan et al. [11] in einem Modellversuch in keimfrei

aufgezogenen Mäusen durch eine Monoinfektion mit Helicobacter

hepaticus vorhersagbar die Entstehung von Darmulzera

induzieren. Wurden die Versuchstiere jedoch parallel mit

Bacteroides fragilis, einem weiteren typischen Darmkeim,

koinfiziert, traten keine Ulzerationen im Darm auf. Der frappierende

Schutzeffekt konnte auf ein spezifisches Kohlenhydrat

(Polysaccharid A, PSA) in der Zellwand von Bacteroides

fragilis zurückgeführt werden. Das PSA wurde im Darm der

Versuchstiere von immunkompetenten dentristrischen Zellen

aufgenommen und veranlasste diese nachfolgend dazu, das

Wachstum und die metabolische Aktivität von entzündungshemmenden

Th1-Helferzellen sowie regulatorischen T-Zellen

zu stimulieren. Auf diese Weise wurde die Intensität einer

durch die Präsenz der bakteriellen Antigene von Helicobacter

hepaticus induzierten Entzündungsreaktion im Darm so weit

abgemildert, dass keine Ulzerationen im Entzündungsgebiet

mehr auftraten.

Mittlerweile steht das Konzept, dass eine kleine Gruppe von

Schlüsselbakterien (,,keystone bacteria") bei der Entstehung

einer adäquaten Wirtsantwort eine zentrale Rolle spielt, im Fokus

diverser aktueller Forschungsanstrengungen [7]. Ob diese

Keime in einem gegebenen Wirt in ausreichender Anzahl vorhanden

sind, hängt von verschiedenen genetischen und umweltbedingten

Faktoren ab. Die Zusammensetzung der aufgenommenen

Nahrung beeinflusst nicht nur den Stoffwechsel

des Wirts in entscheidender Weise, sondern führt auch zu

einer signifikanten bakteriellen Selektion innerhalb des oralen

und gastrointestinalen Mikrobioms mit nachfolgender Zunahme

oder Reduktion spezifischer Keime und Keimgruppen

[21]. Der Konsum faser- und ballaststoffreicher Kost wird bereits

seit Längerem als gesundheitsfördernd identifiziert. Erst

aktuelle Studien konnten jedoch aufzeigen, dass faserreiche

Ballaststoffe das Wachstum bestimmter Clostridienarten im

Darm fördern, welche die Ballaststoffe zu kurzkettigen Fettsäuren

(,,short chain fatty acids', SCFAs) verstoffwechseln [2].

SCFAs wiederum stimulieren das Wachstum und die Ausreifung

entzündungsdämpfender, regulatorischer CD4+ Foxp3+-T-Zellen

und damit die Reduktion chronisch ablaufender

Entzündungsprozesse. Ein Ernährungs- und Lebensstil, der

das Wachstum essenzieller Schlüsselkeime im Körper begünstigt,

ist daher nach aktuellen Erkenntnissen ein zentraler, ursachengerichteter

Ansatz zur Kontrolle chronisch-entzündlicher

Zivilisationserkrankungen.

Probiotika

Veränderungen des Lebens- und Ernährungsstils sind aber

bekanntermaßen aufgrund der Komplexität humaner psychosozialer

Strukturen in vielen Fällen nur sehr schwer dauerhaft

etablierbar. Der Umstand, dass es praktisch nicht möglich

ist, durch eine Veränderung des Lebensstils systemrelevanten

Schlüsselkeimen eine ausreichende natürliche Nische zur

dauerhaften Ansiedlung zu bieten, führte zu der Idee, diese

Keime von extern mit der Nahrung zuzuführen. Das Konzept

des Konsums von Lebensmitteln, die lebende Keime mit einer

gesundheitsfördernden Wirkung enthalten, welche eine

Passage durch die Magensäure unbeschadet überstehen, ist

seit Langem bekannt und unter dem Begriff Probiotika etabliert.

Insbesondere verschiedene Laktobazillenspezies, Bifidobakterien,

aber auch diverse weitere Bakterien sowie Hefen

wurden bislang in probiotischen Therapieansätzen verwendet.

Probiotische Lebensmittel enthalten ausschließlich apathogene

Keime und sind formal keine Medikamente. Vielmehr

handelt es sich um sogenannte Nahrungsergänzungsmittel,

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 11


Wissenschaft

Zeit

A/A (aktiv +aktiv)

{n=13,104 Stellen}

P/P (Placebo+Placebo)

(n=12, 96 Stellen)

Beginn 58 68

1. Woche 23 58

2. Woche 8* 45

4. Woche 15 64

Tab. 1: Anzahl auf Sondierung blutender Zahnfleischtaschen

unter dem Konsum probiotischer Lactobacillus-reuteri-haltiger

Kaugummis oder geschmacksidentischer Placebokaugummis.

Stopp der Einnehme nach zwei Wochen [18]

Abb. 9: Häufigkeitsverteilung der erfassten Gingivaindex

(GI)-Werte vor und nach dreimonatigem Konsum Lactobacillus-reuteri-haltiger

Lutschtabletten oder Placebo (modifiziert

nach Kleinhans [9])

Abb. 10: Häufigkeitsverteilung der erfassten Plaqueindex

(PI)-Werte vor und nach drei-monatigem Konsum Lactobacillus-reuteri-haltiger

Lutschtabletten oder Placebo (modifiziert

nach Kleinhans [9])

für deren Zulassung in Europa nicht die European Medicines

Agency (EMA), sondern die European Food Safety Authority

(EFSA) zuständig ist. Im Jahr 2012 entzog die EFSA allen auf

dem Markt befindlichen Probiotika die Erlaubnis, mit einem

konkreten Gesundheitsversprechen (Beispiele: „stärkt die Abwehrkräfte“,

„hilft bei Erkältungen“ etc.) für deren Kauf zu

werben (Abb. 8). Hintergrund dieser stark kontrovers diskutierten

Entscheidung war das Urteil eines Expertengremiums

der EFSA, dass für kein kommerziell erhältliches Probiotikum

eine ausreichende wissenschaftliche Evidenz vorliege, welche

die Existenz einer signifikanten gesundheitsfördernden Wirkung

bei gesunden Individuen belegen könnte.

Probiotika in der medizinischen Therapie

Diese fehlende Evidenz der gesundheitsfördernden Wirkung

von Probiotika bei Gesunden muss jedoch vom Einsatz solcher

Präparate bei erkrankten Individuen unterschieden werden.

So ist die Gabe probiotischer Zubereitungen bei Dysbiosen

des Darms in der Pädiatrie eine seit einigen Jahren

übliche Therapieoption [3]. Auch in der Zahnheilkunde findet

sich seit geraumer Zeit eine beständig wachsende Anzahl

klinisch-experimenteller Untersuchungen, die eine klinisch

relevante positive Wirkung der Anwendung probiotischer Zubereitungen

belegt. Insbesondere zur gesundheitsfördernden

Wirkung des Konsums spezifischer probiotischer Lactobacillus-reuteri-Stämme

im Bereich parodontaler Erkrankungen

liegt mittlerweile eine ganze Reihe von in erstrangigen Fachzeitschriften

publizierten Studiendaten vor. So konnten Twetman

et al. [18] beobachten, dass es allein durch den regelmäßigen

Konsum Lactobacillus-reuteri-haltiger Kaugummis in

einem Kollektiv von stark mit Gingivitis simplex behafteten

Patienten ohne weitere Mundhygieneinstruktionen innerhalb

von 14 Tagen zu einem ganz ausgeprägten Rückgang der Sondierungsblutung

in der Testgruppe kam, während bei den Patient*innen

der Placebogruppe, die geschmacklich identische

Kaugummis ohne Lactobacillus reuteri konsumierten, eine

nur geringe, nicht signifikante Reduktion der gingivalen Entzündungssituation

festgestellt wurde (Tab. 1).

Eine von unserer Abteilung in Zusammenarbeit mit der Frauenklinik

des Universitätsklinikums Würzburg durchgeführte

klinische Studie an 45 schwangeren Frauen mit manifester

Schwangerschaftsgingivitis im letzten Trimester der Schwangerschaft

erbrachte ebenfalls ausgeprägte, klinisch relevante

Veränderungen der parodontalen Entzündungssituation [9].

Ohne weitere Instruktionen zur Verbesserung ihrer häuslichen

Mundhygiene wurden die schwangeren Studienteilnehmerinnen

angewiesen, ihnen randomisiert zugeteilte probiotische

Lutschtabletten mit Lactobacillus reuteri oder geschmacksidentische

Placebotabletten über einen Zeitraum von drei Monaten

zweimal täglich bis zur Geburt des Kindes zu konsumieren. Die

Analyse der Daten enthüllte für die Testgruppe am Ende des Beobachtungszeltraums

einen ausgeprägten Rückgang der gingi-

12 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Wissenschaft

valen Entzündung, während in der Placebogruppe nur eine wesentlich

geringere, nicht signifikante Reduktion der gingivalen

Entzündung dokumentiert werden konnte (Abb. 9). Ebenso reduzierte

sich die Plaquebedeckung der Zähne in der Testgruppe

signifikant, während wiederum in der Placebogruppe am Ende

des Beobachtungszeitraums von drei Monaten eine nur geringe,

nicht signifikante Verminderung der Plaquebedeckung zu verzeichnen

war (Abb. 10).

Der in der Lactobacillus reuteri konsumierenden Testgruppe

in Abwesenheit jeglicher Mundhygieneinstruktionen zu beobachtende

dramatische Rückgang der Plaquebedeckung auf

nur ein Drittel des Ausgangswertes bei gleichzeitig ebenfalls

sehr stark ausgeprägter Reduktion der gingivalen Entzündung

ist ein weiter Beleg für die Validität der These, dass der in einem

Individuum messbare Plaquebedeckungsgrad der Zähne

nicht nur durch die Effektivität der häuslichen Zahnpflege,

sondern vielmehr ganz ausgeprägt auch durch den Entzündungsgrad

der Gingiva beeinflusst wird. Entgegen etablierten

Vorstellungen auf der Basis des Modells der experimentellen

Gingivitis entstehung nach Löe et al. [10] führt nicht nur die

Etablierung von Plaque zur Entstehung gingivaler Entzündungen.

Vielmehr scheinen umgekehrt die Stärke der gingivalen

Entzündung und der hierdurch induzierte vermehrte Ausfluss

eines proteinhaltigen Exsudats aus dem gingivalen Sulkus ein

zentraler Promotor des Überwachsens parodontopathogener

Keime zu sein. Wird diese gingivale Entzündung wie im

vorliegenden Fall auch ohne Verbesserung der Effizienz der

häuslichen Mundhygiene reduziert, kommt es nachfolgend

nicht nur zu einer Verminderung der gingivalen Entzündung,

sondern gleichzeitig auch zu einer Abnahme der Plaquebedeckung

der Zähne.

Tierexperimentelle Studien an Mäusen zeigten weiterhin,

dass bereits der alleinige Konsum von Lactobacillus reuteri

im Trinkwasser dieser Tiere eine ganz ausgeprägte Steigerung

der Abheilung normiert zugefügter Hautwunden nach

sich zog, ohne dass Lactobacillus reuteri direkt in Kontakt

mit diesen Wunden gekommen wäre [12]. Die Analyse der

Ursachen hierfür ergab, dass der regelmäßige Konsum von

Lactobacillus-reuteri-Keimen zur vermehrten Freisetzung

des Neuropeptidhormons Oxytocin führte, welches nachfolgend

analog zur Wirkung kurzkettiger Fettsäuren die Aktivierung

immunregulatorischer T-Zellen induzierte. Die Daten

einer klinischen Studie zur Wirkung des Konsums Lactobacillus-reuteri-haltiger

Lutschtabletten auf die Abheilung parodontaler

Läsionen nach systematischer Parodontaltherapie

mittels Scaling und Root Planing bestätigten die zuvor dargestellte

tierexperimentelle Evidenz [17]. Es zeigte sich, dass die

Patient*innen, die in der parodontalen Abheilungsphase über

drei Monate hinweg regelmäßig Lactobacillus-reuteri-haltige

Lutschbonbons konsumiert hatten, zum Zeltpunkt der Reevaluation

einen signifikant höheren mittleren Attachmentgewinn

aufwiesen als die Patient*innen der Kontrollgruppe,

welche im Beobachtungszeitraum nur regelmäßig geschmacksidentische

Placebo-Lutschtabletten zu sich genommen hatten

(Abb. 11). Auch der Prozentsatz verbliebener Zähne mit parodontaler

Sondierungstiefe > 5 mm war zum Zeitpunkt der

Reevaluation in der Testgruppe mit 18 % signifikant niedriger

als in der Placebogruppe (34 %) (Abb. 12).

Abb. 11: Reduktion der sondierbaren Taschentiefen drei Monate

nach Scaling und Root Planing (SRP) unter dem Einfluss

des regelmäßigen Konsums Lactobacillus-reuteri-haltiger

Lutschtabletten oder geschmacksidentischer Placebotabletten

(modifiziert nach Teughels et al. [17]).

Abb. 12: Prozentsatz residualer Taschen mit Bedarf für parodontalchirurgische

Maßnahmen (Resttaschentiefe >5mm) drei

Monate nach Scaling und Root Planing (SRP) sowie dem nachfolgenden

regelmäßigen Konsums Lactobacillus-reuteri-haltiger

Lutschtabletten oder geschmacksidentischer Placebotabletten

(modifiziert nach Teughels et al. [17]).

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 13


Wissenschaft

Fazit

Die Zusammensetzung des humanen Mikrobioms berührt in

weit essenziellerer Weise als bislang angenommen die Funktionsfähigkeit

des mukosalen Immunsystems und die daraus resultierende

Entzündungslast im menschlichen Körper. Lebensstil,

Ernährung und eine genetische Disposition entscheiden

in signifikanter Weise darüber, welche Bakterien in welchem

Umfang den menschlichen Körper besiedeln. Störungen in der

Interaktion zwischen dem Körper und den Keimen des humanen

Mikrobioms durch das Überwachsen pathogener Arten wie

auch das Fehlen systemrelevanter Schlüsselkeime können den

Ausgangspunk chronisch-entzündlicher Prozesse bilden. Der

gezielte Konsum von Lebensmitteln mit gesundheitsfördernden

essenziellen Mikroorganismen bildet die Basis des Konzepts der

probiotischen Therapie. Die verfügbare Evidenz zum Nutzen

des Konsums von Probiotika bei Patienten, die eine klinisch relevante

Parodontalerkrankung aufweisen, ist zurzeit noch eher

fragmentarisch. Bislang durchgeführte klinische Untersuchungen

zeigen jedoch in ihrer großen Mehrzahl klinisch bedeutsame

Auswirkungen der Gabe probiotischer Präparate auf die

Ausprägung von Entzündungen und die Abheilung parodontaler

Läsionen, welche im Einklang mit aktuellen Vorstellungen

zur Interaktion des mukosalen Immunsystems mit den Keimen

des humanen Mikrobioms stehen. Angesichts einer ausgeprägten

genetischen Diversität zwischen Mikroorganismen der gleichen

Art von bis zu 30 % der Gene sind Wirkungen, die beim

klinischen Einsatz einzelner spezifischer Bakterienstämme beobachtet

wurden, nicht ohne Weiteres auf den Einsatz anderer

Bakterienstämme der gleichen Art übertragbar. Es sollten daher

nur solche Probiotika für den klinischen Gebrauch in Erwägung

gezogen werden, welche Stämme probiotischer Keime

enthalten, deren Wirksamkeit in klinischen, placebokontrollier-

ten Studien mit genügend großen Fallzahlen und unter Einsatz

einer verblindeten Placebogruppe verifiziert wurde. Ob der

präventive Konsum probiotischer Zubereitungen auch einen

positiven, klinisch relevanten Effekt auf die Mundgesundheit

von Individuen ausübt, die ein intaktes, entzündungsfreies Gebiss

aufweisen, ist anhand der verfügbaren Evidenzlage bislang

nicht zu klären.

Erstveröffentlichung: Quintessenz 2015, 66

Autor

Prof. Dr.

Ulrich Schlagenhauf

Abteilung für Parodontologie in der

Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie

Universitätsklinikum Würzburg

Pleicherwall 2

D-97070 Würzburg

Interessenkonflikt:

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien

des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

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14 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


2. Virtuelles GZM-Symposium

Craniomanibuläre Dysfunktion

(CMD)

3 Tage – 6 Referenten, jeweils von 19:00 bis 21:00 Uhr

Termine: Dienstag, 15. Februar 2022

Mittwoch, 16. Februar 2022

Donnerstag, 17. Februar 2022

Referenten:

Hardy Gaus, Dr. Annette Jasper, Dr. Horst Kares,

PD Dr. Katja Schwenzer-Zimmerer, Dr. Josef Vizkelety,

Prof. Dr. Erich Wühr

Information und Anmeldung:

Internationale Gesellschaft für Ganzheitliche ZahnMedizin e. V.

Kloppenheimer Straße 10 | 68239 Mannheim | www.gzm.org

Tel.: +49 621 4824300 | Fax: +49 621 473949 | E-Mail: info@gzm-org.de

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 15


Wissenschaft

Suizidale Krisen

Anna-Lena Bröcker, M. Sc. (Psych.)

Zahnärzt*innen sehen Ihre Patient*innen regelmäßig, häufig schon viele Jahre lang.

Eine Sensibilisierung für Anzeichen der Suizidalität können hilfreich sein, um ggf. mit

Patient*innen ins Gespräch zu kommen. Zahnärzt*innen gehören darüber hinaus zu

den Berufsgruppen mit erhöhten Risiko, denn sie gelten als Mediziner*innen besonders

gefährdet. Darüber hinaus: Die Selbstmordrate wird mit einem 50 % höheren Risiko

gegenüber anderen Berufsgruppen beziffert, wobei bei Ärztinnen die Suizidrate zu den

Frauen der Allgemeinbevölkerung sogar viermal höher liegt. Pro Jahr verüben bis zu 200

Mediziner*innen in Deutschland Selbstmord, wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte.

Viele Suizide werden als Unfälle oder Vergiftungen deklariert.

Anna-Lena Bröcker ist Stationspsychologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin der psychiatrischen

Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus in Berlin und stellt

im Folgenden das Wesen der suizidalen Krisen vor.

Zusammenfassung

Suizidale Krisen können uns in allen Bereichen des medizinischen und psychosozialen Helfersystems begegnen. So suchen

Menschen in akuten Belastungssituationen nicht selten zunächst den Weg zu ihrem/Ihrer Hausärzt*in. Erst schrittweise

kommt mehr Wissen und ein offener Umgang mit der Thematik in der Gesellschaft an. Welche Irrtümer halten sich hartnäckig

in der Gesellschaft? Wie kann ich Suizidalität erfragen? Wer gehört zu den Hoch-Risikogruppen einerseits und wie

individuell kann andererseits die zugrunde liegende Dynamik sein?

Schlüsselwörter: Suizidale Krise, Irrtümer über Suizidalität, Hochrisikogruppen für Suizidalität

Abstract

We can encounter suicidal crises in all areas of the medical and psychoso-cial helper system. In acute stressful situations, it

is not uncommon for peo-ple to first seek the way to their family doctor. Only gradually does more knowledge and an open

approach to the topic reach society. What errors persist in society? How can I inquire about suicidality? Who belongs to the

high-risk groups on the one hand and how individual can the underlying dynamics be on the other?

Keywords: Suicidal crisis, misconceptions about suicidality, high risk groups for suicidality

Den Raum betritt ein großer, schlanker

Mann Anfang 60, den Blick

leicht gesenkt. Er spricht zunächst

kaum, erst auf Nachfrage sagt er

nickend: „Ja, manchmal möchte ich gerade

einfach nicht mehr leben.“

In einer späteren Stunde, wir haben uns

inzwischen nonverbal aufeinander eingespielt,

was sich in einer synchronen Änderung

der Sitzposition oder dem gleichzeitigen

Ergreifen des Worts ausdrückt,

beginnt Herr A. plötzlich von seinen

Großeltern zu erzählen, bei denen er aufgewachsen

sei: von dem Haus in einem

nördlichen Dorf der Türkei, seinem stillen

Großvater und seiner nicht zur Ruhe

kommenden Großmutter und hat Tränen

in den Augen. So bewegt hatte ich ihn bis

dato noch nicht erlebt. Ich verstehe nun

besser, wo sein zunehmend aufflackerndes

schelmisches Grinsen oder seine warme

Art im Kontakt mit Mitpatienten herrührt.

Herr A. berichtet, wie seine Eltern ihn als

Jugendlichen unfreiwillig nach Deutschland

geholt hätten und wie schwierig das

für ihn gewesen sei. Seine Großeltern habe

er nie mehr wiedergesehen.

16 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Wissenschaft

Es wird immer deutlicher, wie hochambivalent

die eigenen Eltern besetzt sind.

Der Vater, der aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit

Herrn A. als Ältesten wiederkehrend

in die Verantwortung zwang,

sich nicht nur um ihn, sondern auch um

seine jüngeren Geschwister zu kümmern.

Seine Mutter, in der eigenen Passivität

gefangen. Neben Wut, Enttäuschung und

Resignation, die das Erleben zunächst

dominieren, stehen – noch im Nebel –

Wünsche nach Zuneigung, Anerkennung

und positiver Resonanz.

Epidemiologie und

Prävalenz

Jährlich sterben in Deutschland über

10 000 Menschen an vollendeten Suiziden.

Das Geschlechterverhältnis liegt bei

mehr als 2:1 (m:w), mit steigender Tendenz

der Suizidraten (pro 100 000 Einwohner/Jahr)

bei zunehmendem Alter,

insbesondere bezogen auf das männliche

Geschlecht (Tab. 1). Auch bei Menschen

im Alter zwischen 15 und 39 Jahren ist

der vollendete Suizid die zweithäufigste

Todesursache. Bei der noch deutlich höheren

Zahl an Suizidversuchen verhält

sich das Geschlechterverhältnis diametral,

wobei eine nähere Betrachtung dieses

Phänomens [1] den Rahmen hier übersteigt.

Suizid wird definiert als „die Summe aller

Denk- und Verhaltensweisen von Menschen

[...], die in Gedanken, durch aktives

Handeln, handeln lassen oder passives

Unterlassen den eigenen Tod anstreben

bzw. als möglichen Ausgang einer Handlung

in Kauf nehmen“ [2, S. 26].

Eine insgesamt rückläufige Tendenz der

Suizidraten bestärkt die These, dass sich

eine zunehmende Beschäftigung mit der

Thematik auszahlt [3]. Dennoch weisen

Fachverbände darauf hin, dass für suizidpräventive

Maßnahmen längst nicht

hinreichend Ressourcen zur Verfügung

stehen. Aus suizidologischer Perspektive

herrscht Konsens über die Notwendigkeit,

sowohl auf globaler (z. B. weitere Begrenzung

des Zugangs zu tödlichen Mitteln)

als auch auf individueller Ebene (z. B.

niedrigschwellige Anlaufstellen) Strategien

auszubauen, insbesondere jedoch den

politischen und öffentlichen Dialog zu

stärken und nicht zuletzt Aufklärungsarbeit

zu leisten [4, 5]. Wichtig hierbei ist

ein bewusster Umgang mit medialer Berichterstattung

[2]. Serien wie „13 Reasons

Why“, kürzlich auf dem Streamingportal

Netflix ausgestrahlt, schlagen in

ihrer Intention eher fehl, bergen Nachahmungspotenzial

(„Werther-Effekt“) und

tragen zu einer Glorifizierung, nicht aber

zu einer Aufklärung über Auswegmöglichkeiten

bei Suizidgedanken bei [6].

Woran erkenne ich

Suizidaliät?

Möglicherweise als Restspuren gesellschaftlicher

Tabuisierung besteht weiterhin

ein volkstümlicher Irrglaube

dahingehend, dass Menschen, die über

Suizidalität sprechen, sich nicht tatsächlich

etwas antun oder aber, dass das bloße

Nachfragen und Thematisieren von

Suizidalität Betroffene erst auf die Idee

bringen und einen suizidalen Akt gar

befördern möge. Vielmehr ist es so, dass

das „ernsthaft(e) und einfühlsam(e), direkt(e)

und konkret(e)“ [7] Nachfragen

enorm wichtig ist und für den (innerlich)

isolierten Menschen ein erstes Beziehungsangebot

und somit einen wichtigen

suizidpräventiven Faktor darstellt.

Suizidalität wird im psychiatrischen und

psychologischen Verständnis auf einem

Kontinuum angesiedelt, von einer eher

passiven (Lebensüberdruss) bis hin zur

akuten Suizidalität, mit unterschiedlicher

Indikation und Notwendigkeit zum aktiven

Handeln [2]. Sie wird klassischerweise

im Dreischritt erfragt, von Suizidgedanken

(z. B. „Es gibt Menschen, die in

einer vergleichbaren Situation lebensmüde

Gedanken entwickeln. Kennen Sie solche

Gedanken?“), über Suizidabsichten

(mit oder ohne konkreten Plan) bis hin

zu vorbereitenden (z. B. Horten von Tabletten),

begonnenen oder vollendeten

Suizidhandlungen (in der unmittelbaren

oder längeren Vorgeschichte). Ein

wichtiger, oft unterschätzter Hinweis ist

die passive Suizidalität („Zunehmend

wünschte ich mir morgens gar nicht mehr

aufzuwachen“), die i. d. R. mit einer höheren

Fähigkeit der Distanzierung und

einem flexibleren psychischen Innenraum

einhergeht, jedoch langfristig nicht

minder alarmieren sollte. Vielmehr ist die

therapeutische Erreichbarkeit zu diesem

Zeitpunkt begünstigt. Je höher die innere

und häufig auch interaktionelle Einengung

(Rückzug vom äußeren Umfeld),

desto größer die Gefahr (präsuizidales

Syndrom nach Ringel, [2]). Suizidalität

wohnt i. d. R. eine hohe Ambivalenz

inne, und genau hier liegt die Chance zur

Intervention.

Klinisch hilfreich ist das Stadienmodell

der präsuizidalen Entwicklung von Pöldinger

[2], das unterscheidet zwischen:

Insg. 15–20 20–25 25–30 30–35 35–40 40–45 45–50 50–55 55–60 60–65 65–70 70–75 75–80 80–85 85–90 ≥90

m 18.4 6.2 10.2 12.5 14.6 14.5 17.9 19.6 22.7 25.9 21.8 20.3 29.7 36.8 52.4 71.7 112.9

w 6.5 3.2 3.3 3.4 4.2 4.6 6.5 7.2 8.5 8.9 7.9 8.5 11.0 10.8 11.1 13.6 15.6

z 12.3 4.7 6.9 8.1 9.5 9.6 12.2 13.5 15.7 17.4 14.6 14.1 19.7 22.3 27.6 33.0 37.4

Tab. 1: Suizidraten 2015 (Suizid/100 000 Einwohner), Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik [16]

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 17


Wissenschaft

Der größte „Fehler“ im

Umgang mit Suizidalität

ist es, nicht darüber zu

sprechen!

Abb. 1: Präsuizidaler Verlauf nach Pöldinger [zit. nach 2, S. 67]

▶ einem Erwägungsstadium

▶ einem Ambivalenzstadium

▶ einem Entschlussstadium, mit je abnehmender

Fähigkeit zur Distanzierung

und abnehmendem appellativen,

mehr resignativem Charakter (Abb. 1).

So weist das Modell auch darauf hin, dass

ein zum Suizid entschlossener Mensch

häufig einen Abfall der inneren Spannung

(„trügerische Ruhe“) erlebt, die im Klinikalltag

als vermeintliche Symptomverbesserung

verkannt werden kann.

Achtung: Die zu rasch gelöste Stimmung

depressiver Patienten*innen kann unter

Umständen darauf hinweisen, dass er oder

sie durch die Entscheidung, den Suizid zu

vollenden, gewissermaßen gelöster wirkt.

Einblick in Risikogruppen

und -faktoren

Etwa 90 % der Menschen, die Suizid

begehen, leiden an einer psychischen

Erkrankung, v. a. affektive, aber auch

Abhängigkeitssyndrome, psychotische

Erkrankungen, Persönlichkeits-, Anpassungs-,

Angst- und somatoforme Störungen

[2]. Die höchste Risikogruppe stellen

die depressiv Erkrankten dar, hierunter

vor allem ältere Männer (>70 Jahre), mit

anhaltenden Gefühlen von Insuffizienz,

Schuld, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit

oder aber mit (pseudo-)altruistischen

Ideen, i. S. v. die Welt sei besser

ohne den Betroffenen. Zu den Risikofaktoren

zählen ferner [nach 3, 8]:

▶ vorangegangene Suizidversuche (auch

im Familien- oder engeren Bekanntenkreis!)

▶ Suizidideen mit ausgeprägtem Handlungsdruck

und geringer Fähigkeit zur

Distanzierung

▶ Verlust äußerer Ressourcen (z. B.

sozialer Rückzug) oder Einbeziehung

Angehöriger i. S. der Idee eines erweiterten

Suizids

▶ Verlust innerer Ressourcen (z. B.

Glaubenssystem)

▶ direktes Suizidarrangement oder implizite

Vorkehrungen wie Testamentschreibung

▶ eine komorbide Substanzabhängigkeit,

komorbide Angst- oder Persönlichkeitsstörung,

psychotische

depressive Symptome

▶ körperliche und kognitive Symptome

wie anhaltende Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten

▶ aggressiv-impulsive Persönlichkeitsmerkmale

Wichtig zu beachten:

▶ offen Suizidgedanken/-pläne/-handlungen

erfragen

▶ akute Belastungssituation erfragen

▶ subjektive Erlebnisweise ernst nehmen

▶ Ressourcen erfragen (z. B. Partnerschaft)

▶ Distanzierungsfähigkeit einschätzen

Und dann?

▶ Zeit gewinnen

▶ empathisch, jedoch nicht panisch

reagieren

▶ Beziehungsangebot machen (neuer

Termin)

▶ Abwägen einer psychiatrischen Überweisung

▶ Austausch mit Kollegen (Inter- bzw.

Supervision)

▶ zu einem gewissen Grad immer auch

… Unsicherheit aushalten

Einschätzung der Akuität

Präsuizidale Verläufe liegen bei Depressionen

phänotypisch häufig nah an den

hier genannten Modellen. Aber auch

während einer floriden psychotischen

Episode kann sich ein Suizidgedanke

beispielsweise in Form von Phonemen

(„Stimmen hören“) ausdrücken,

die zum Suizid auffordern. Wichtig bei

der Einschätzung der Akuität ist, über

die Grunderkrankung hinweg, einerseits

die Distanzierungsfähigkeit und

andererseits bestehende Freiheitsgrade

i. S. v. intrapsychischer Flexibilität und

äußerer Ressourcen (v. a. Beziehungsgefüge).

Hiervon abhängig ist schließlich

die Indikation einer stationären Krisenintervention

und Notfallbehandlung.

Bei schizophrenen Erkrankungen wird

das Risikopotenzial postpsychotisch ins-

18 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Wissenschaft

besondere bei jüngeren Männern, mit

hoher Intelligenz und damit Einsichtsfähigkeit

in einen möglicherweise schwerwiegenden

Krankheitsverlauf, und der

damit verbundenen Aufgabe früherer

Lebenspläne, angesiedelt [3]. Hinzu kommen

allgemeinere Risikofaktoren, wie

komorbider Substanzabusus und eine

positive Suizidanamnese. Neben diesem

mehr bilanzierenden Aspekt, sind dem

post-psychotischen Verlauf überwiegend

auch akute depressive Symptome immanent,

die das Suizidrisiko wiederum erhöhen

können. Im Rahmen einer floriden

Psychose ist die Gefahr eines raptusartig-impulsiv

erfolgenden Suizidversuchs,

häufig ohne Ankündigung, erhöht [2, 9].

Ferner gelten Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen

(emotional instabil, histrionisch,

narzisstisch) als Risikogruppen, wobei

eine Ausführung leider den Rahmen

des Artikels übersteigt. In [2] wird für

den Kliniker hilfreich aufgeführt, wann in

dieser Patientengruppe teilweise vorkommendes

selbstverletzendes Verhalten in

suizidales Verhalten übergeht. Neben spezifischen

Risikogruppen, der Betrachtung

präsuizidaler Verläufe sowie der akuten

psychosozialen Belastungssituation sind

auch spezifische Persönlichkeitsmerkmale

als Risikofaktoren zunehmend zum

Forschungsgegenstand geworden [10, 11].

Im Kontakt mit suizidalen Patient*innen,

mit denen es nicht gelingt, eine – bis zum

nächsten Termin – tragfähige Beziehung

herzustellen, man aber ebenso wenig die

Anlaufstellen

Mögliche Anlaufstellen, (ggf. anonyme)

Beratungsangebote und Informationsquellen

für Betroffene und Angehörige:

▶ Rettungsstelle des zuständigen psychiatrischen

Krankenhauses

▶ Berliner Krisendienst

▶ Telefonseelsorge

▶ Nummer gegen Kummer (Kinder- und

Jugend- sowie Elterntelefon)

▶ [U25] Deutschland

▶ Bündnisse gegen Depression

▶ Homepage der Deutschen Gesellschaft

für Suizidprävention

bisher hergestellte Vertrauensbasis durch

etwaige Maßnahmen gegen den Willen

der Patient*in riskieren möchte, ist es eine

Möglichkeit, dieses innere Dilemma bei

der Erwägung eines stationären Aufenthalts

offen zu benennen. Damit verhindert

man, dass der/die Patient*in sich in

seiner/ihrer Gefährdung allein gelassen

erlebt. „(...) Die Wahrnehmung einer großen

Not und Gefährdung einerseits und der

situativen Unfähigkeit (des Patienten) , von

der gebotenen Hilfe Gebrauch zu machen,

andererseits“ [1, S.103]. Bestenfalls in

Kombination mit einem poststationären

Beziehungsangebot.

Psychodynamik der

Suizidalität

Ohne die Bedeutung klassisch psychiatrischer

Diagnostik zu schmälern, ermutigt

die Psychoanalytikerin Prof. Dr. Benigna

Gerisch in ihrem Buch „Suizidalität“ [1]

dazu, zusätzlich eine psychodynamische

Perspektive einzunehmen. Im Folgenden

soll auf Basis dieser Lektüre psychodynamisches

Denken zu Suizidalität

auszugsweise nähergebracht und auf das

Fallbeispiel angewendet werden. Psychodynamische

Konzeptualisierungen beachten

hierbei u. a. Annahmen Sigmund

Freuds, Karl Abrahams, Heinz Henselers

und Jürgen Kinds [1].

Die psychodynamische Denkweise versucht

über die Auslösesituation hinauszuschauen

und fragt, welche dahinterstehenden

(unbewussten) Konflikt- und

Spannungsfelder aktuell wirksam werden.

In dieser Betrachtungsweise ist die

Suizidalität gewissermaßen ein Symptom,

ein – mit hohen Kosten verbundener –

Reparationsversuch der Psyche für eine

sich zugespitzte, anders nicht mehr lösbare

intrapsychische und/oder interpersonelle

Spannung. Nach einem modernen

Verständnis birgt die Suizidalität somit

nicht selten einen gewissen Änderungswunsch

in einer vermeintlichen Pattsituation,

den es zu verstehen gilt; ähnlich

der zuvor beschriebenen Ambivalenz, die

eine Behandlung überhaupt erst möglich

macht. Im psychodynamischen Arbeiten

werden vergrabene Konfliktthemen peu

à peu mithilfe des Übertragungsgeschehen

erleb-, versteh- und veränderbar (gemacht).

Ein Fokus liegt hierbei auf frühen

Beziehungserfahrungen, die sich in der

Psyche gewissermaßen eingraviert haben

und das interpersonelle Erleben und

Handeln bedeutsam mitprägen.

Bei einer nun folgenden Anwendung psychodynamischen

Denkens auf Herrn A.

sei betont, dass es stets mehrere Betrachtungsweisen

gibt. Weder existiert die Psychodynamik

bezogen auf ein Individuum

noch die Psychodynamik der Suizidalität.

Herr A. – Auslösesituation

Allein die Auslösesituation ist multikausal

entstanden: Die Kinder werden erwachsen

und das Werk Herrn A’s als Vater

ist somit „vollendet“. Er erreicht ein

Alter, in dem er erstmals rückblickend

reflektiert, auch ein Alter, in dem sein eigener

Vater unerwartet an Herzversagen

verstarb. Die Mutter wird pflegebedürftig

und zu allem Überfluss – oder bereits als

Ausdruck dieser inneren Zuspitzung –

wird ihm nach jahrelanger Anstellung

von seinem Arbeitgeber gekündigt.

Herr A. ist zutiefst gekränkt, und es übermannt

ihn eine unbändige ohnmächtige

Wut. Er wird depressiv und nach vielen

Monaten auch suizidal und kommt in

stationäre Behandlung.

Herr A. – Spannungsfelder

Herr A. hat rasch geheiratet, und es war

ihm über viele Jahre möglich, das Selbstbild

eines fleißigen, versorgenden Vaters

aufrechtzuerhalten und hierüber sein

Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Der

Verlust des Berufes bringt die narzisstische

Homöostase bedrohlich ins Wanken

und ist bei einem brüchigen Selbstbild

aktuell kaum auszugleichen, umso mehr,

da ihn die inzwischen erwachsenen Söhne

weniger brauchen. Nicht nur, dass er

sich von ihnen „im Stich gelassen fühlt“,

auch projiziert er seine Unzulänglichkeitsgefühle

auf diese und zeigt sich gekränkt,

dass diese nicht (stellvertretend

für ihn) studiert hätten. Die Wut richtet

sich nun zunächst gegen ehemalige Arbeitskollegen,

seine Familie, dann gegen

sich selbst. Im Grunde richtet sich die

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 19


Wissenschaft

Wut aber gegen die eigenen Eltern, die

ihm dieses Unzulänglichkeitsgefühl quasi

eingebrannt haben. Frühe Bedürfnisse

nach Spiegelung und empathischer Zuwendung

werden reaktiviert und überfordern

ihn. Ein regressiver Prozess wird

angestoßen und befördert ihn zurück in

ein frühes ambivalentes Erleben aus Enttäuschungswut,

Insuffizienzgefühlen und

der Suche danach, von den eigenen Eltern

gesehen zu werden. Es ist ihm kaum

möglich, diese Emotionen zu benennen,

vielmehr tanzen sie auf der „Leibbühne

des Körpers“ [1]. Es ist ein Schmerz, der

über Kopf, Hüfte bis ins Herz wandert.

Diese körperlichen Symptome sind für

ihn neu, bergen sie doch viel von einem

frühen, noch vorsprachlichen Schmerz.

Die Wut kann nicht dorthin lokalisiert

werden, wo sie hingehört, weil die Bedürftigkeit,

die sich ebenfalls an die eigenen

Eltern richtet, zu dringlich ist. Freuds

These der Aggressionsumkehr als „Mord

am introjizierten Objekt“ ist denkbar,

vielleicht geht es aber auch gerade darum,

diese inneren Objekte zu schützen

und – in diesem Rettungsversuch – (lieber)

den eigenen bedürftigen Selbstanteil

anzugreifen. Verstrickter ist die Situation

noch, weil er nun das Alter erreicht, in

dem der eigene Vater an Herzversagen

plötzlich verstarb, ohne dass ungelöste

Gefühle Klärung finden und ein Trauerprozess

stattfinden konnte. Dass der

Vater ihn so zurückgelassen hat, macht

ihn unbewusst wütend und verzweifelt.

Gleichzeitig fühlt er sich durch diese Gefühle

schuldig, aus einer Ehr- und Respektsverpflichtung

diesem gegenüber;

aber auch, weil er in der vernichtend

brodelnden Wut riskiert, das so wichtige

Objekt (Vater) vollends zu verlieren. So

sehr sein Leitmotiv hieß „Ich möchte keinesfalls

werden wie mein Vater“, so blieb

er in dieser betonten Abgrenzung doch

im Grunde ganz eng mit diesem verbunden.

Es wäre (noch) zu schmerzhaft und

bedrohlich sich einzugestehen, dass er

seinem Vater gerade innerlich sehr nah

gerückt ist. Er inszeniert in seiner äußeren

Situation die ganze Dramatik dieser

Beziehung, insbesondere im Kontakt zu

seinen Söhnen. Diese bieten ihm nun,

aus Dankbarkeit und Zuneigung einem

wohl tatsächlich sehr liebevollen Vater

gegenüber, ihre finanzielle Unterstützung

an. Herr A. kann aber weder die Motive

dahinter erkennen, noch, dass diese womöglich

zum Ausdruck bringen, dass er

eben doch etwas anders gemacht hat als

sein Vater. Vielmehr erinnert er sich nun

daran, wie er wiederum seinem Vater

die Entzüge finanzierte und wie er sich

schwor, niemals so etwas von jemandem

zu verlangen. Die Suizidgedanken, als

Reparationsversuch, sind in dieser Konstellation

vielleicht eher als ein letzter

Versuch der Autonomiesicherung in der

Auseinandersetzung mit einer inneren

Beziehungsrepräsentanz zu sehen, mit

der er bis heute kämpft und in der er sich

stets als hilflos und ausgeliefert erlebt

hat. Die zunächst paradox anmutende

Befürchtung, plötzlich unvermittelt als

Folge einer Panikattacke an Herzversagen

zu versterben, wie er es häufig phantasiert,

verängstigt ihn massiv. Diese hypochondrischen

Ängste spiegeln, wie tief

die Abhängigkeit von dieser ungelösten

Beziehung ist. Ebenso zu versterben würde

unbewusst bedeuten, die Ablösung sei

endgültig missglückt. Die Suizidgedanken

sind somit paradoxerweise als Autonomiebestreben

zu verstehen, gleichwohl

dem Versuch, den eigenen Selbstwert

wiederherzustellen und eine vernichtende

narzisstische Krise aufzuhalten.

Die aktuelle Situation offenbart Herrn A.

auf eine Art, in der er sich schamhaft

ausgeliefert fühlt, sie spiegelt aber auch,

20 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Wissenschaft

dass er die Hoffnung noch nicht aufgegeben

hat. Und hier ist die wertvolle

Ambivalenz. Eine Hoffnung auf eine

Objektänderung, doch noch ein liebevoll

zugewandtes Vaterobjekt zu erreichen.

Und diese Objektgewandtheit ist es, die

es vielleicht möglich macht, die Wut und

Enttäuschung zu überwinden, sich von

Unerfülltem zu verabschieden und sich

den Eltern innerlich wieder anzunähern.

Herr A. – Verlauf

Zunächst tritt Herr A. in den Gesprächen

wenig in Kontakt, zunehmend

werden starke Wünsche nach positiver

Spiegelung und Anerkennung spürbar.

Über-Ich-entlastende Interventionen

und eine empathisch zugewandte Haltung,

auch ein Containment all der Wut

führen zu einer hohen affektiven Resonanz.

Der innerpsychische Raum wird

etwas flexibler, zunächst insbesondere

in nonverbalen Therapien, z. B. in der

Kunst oder beim Sport, wo Ängste angegangen

werden können. Als die Entlassung

aus dem stationären Kontext naht,

kann Herr A. (unbewusst) zunehmend

seine Wut auf seine Therapeuten lenken.

Dies zeigt einen hoffnungstragenden

Veränderungsraum auf, denn, je objektgerichteter

und bezogener das Empfinden

und auch das suizidale Erleben sind,

desto mehr findet die Ambivalenz ihren

Raum und kann bearbeitet werden.

Fataler ist die passive, in sich gekehrte

Suizidalität, die das Objekt rettungslos

aufgegeben hat.

„Wenn ich wieder gesund bin, dann mache

ich eine Reise in die Türkei, nicht dorthin,

wo ich aufgewachsen bin, sondern irgendwo

anders hin. Ich werde zu meiner Familie

zurückkehren, aber das ist etwas, das

ich nur für mich tun werde.“

Herr A. wurde medikamentös mitbehandelt.

Denkanstöße zur psychopharmakologischen

Akut- und Präventivbehandlung

sind im Literaturverzeichnis

aufgeführt [2, 12, 13].

Nachdruck aus dem zaenmagazin 2018 2

Autorin

Anna-Lena Bröcker, M. Sc. (Psych.)

Stationspsychologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus

Große Hamburger Str. 5-11, 10115 Berlin

Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee

of Medical Journal Editors besteht.

Literatur- und Quellenverweise

[1] Adler CJ., Dobney K., Weyrich LS. et al.: Sequencing Gerisch

B. Suizidalität. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2012.

[2] Wolfersdorf M, Etzersdorfer E. Suizid und Suizidprävention.

Stuttgart: Kohlhammer GmbH, 2011.

[3] Wolfersdorf M, Schneider B, Schmidtke A. Suizidalität:

Ein psychiatrischer Notfall, Suizidprävention: Eine

psychiatrische Verpflichtung. Nervenarzt 2015;86:1120-

1129.

[4] Lewitzka U, Wolfersdorf M. Aktuelle psychopharmakologische

und psy-chotherapeutische Strategien der Suizidprävention.

Nervenarzt 2016;87:465-466.

[5] http://www.who.int/mental_health/ suicide-prevention/

world_report _2014/en. (Letzter Zugriff: 4.1.2018).

[6] Kriesl I. Ärztin warnt vor umstrittener Netflix-Serie: “Ich

mache mir große Sorgen“. Stern 2017. https://www.stern.

de/gesundheit/aerztin-warnt-vor-netflix-serie--totemaedchen-luegen-nicht----ich-mache-mir-grosse-sorgen--7429632.html.

(Letzter Zugriff: 4.1.2018).

[7] Wolfersdorf M. Empfehlungen zum Umgang mit Suizidalität

bei Depressi-ven, Suizidprophylaxe 1991;18:27-37

(Zitat S.28).

[8] DGPPN, BÄK, KBV, AWMF (Hrsg.) für die Leitliniengruppe

Unipolare De-pression*. S3-Leitlinie/Nationale

VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Kurzfassung,

2. Auflage. Version 1. 2017. http://www.depression.

versorgungsleitlinien.de. (Letzter Zugriff: 4.1.2018).

[9] Wolfersdorf M, Vogel R, Vogl R et al. Suizid im psychiatrischen

Kranken-haus - Ergebnisse, Risikofaktoren, therapeutische

Maßnahmen. Nervenarzt 2016;87:474-482.

[10] Lewitzka U, Denzin S, Sauer C et al. Personality differences

in early ver-sus late suicide attempters. BMC Psychiatry

2016;16(1):282.

[11] Lewitzka U, Spirling S, Ritter D et al. Suicidal ideation

vs. suicide at-tempts: Clinical and psychosocial profile

differences among depressed pa-tients. The Journal of

Nervous and Mental Disease 2017;205(5):361-371.

[12] Haußmann R, Bauer M, Lewitzka U et al. Psychopharmaka

zur Behand-lung suizidaler Patienten und zur Suizidprävention.

Nervenarzt 2016;87:483-487.

[13] Lewitzka U, Severus E, Bauer R et al. The suicide prevention

effect of lithium: More than 20 years of evidence - a

narrative review. International Journal of Bipolar Disorders

2015;3:15.

[14] DGS- Hilfsangebote. https://www.suizidprophylaxe.de/

hilfsangebote/fuer-betroffene-und-angehoerige/. (Letzter

Zugriff: 4.1.2018).

[15] Statistisches Bundesamt (2015). Todesursachen in

Deutschland. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/

Thema-tisch/Gesundheit/Todesursachen/Todesursachen.html.

(Letzter Zugriff: 4.1.2018).

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 21


Praxis

Aromatherapie im Überblick –

die Kraft der duftenden

Heilpflanzen

Dr. med. Wolfgang Etspüler

Zusammenfassung

Die Aromatherapie ist der Teil der Phytotherapie, die sich im engeren Sinne mit dem Duft – und dessen Wirkungen – beschäftigt,

der über ätherische Öle der Pflanzen verströmt wird. Es gibt aber Übergänge bis hin zur Einnahme oder Anwendung

als Pflanzenheilmittel. Die vielen Facetten und Therapieoptionen der Aromatherapie werden anhand von Beispielen

dargestellt.Schlüsselwörter: ätherische Öle, Aromatherapie, Aromen in der Zahnarztpraxis

Abstract

aromatherapy is the part of phytotherapy that deals in a narrower sense with the scent and its effects, which is exuded by the

essential oils of the plants. But there are transitions up to ingestion or application as a herbal remedy. The many facets and

therapy options of aromatherapy are illustrated using examples.

Keywords: Essential Oils, Aromatherapy, Aromas in the Dental Office

Geschichte der

Aromatherapie

Bei der Aromatherapie handelt sich um eine Methode, die

als ganzheitliches Heilsystem weit in die Geschichte zurückführt.

Im alten Ägypten wurden Aromaöle zu vielen

Zwecken eingesetzt, z. B. als Opfergaben, als Medizin, in

Kosmetika und zur Mumifizierung (Zedernöl). Im Mittelalter

wurde die Aromatherapie ab dem 11. Jahrhundert in Persien

wiederentdeckt. Mittels neuer Technik, der Wasserdampfdestillation,

wurde die Herstellung effektiver. Der Arzt Ibn Sina (genannt

auch Avicenna) schrieb ein Buch mit dem Titel „Canon

der Medizin“, das bis ins 16. Jahrhundert das bedeutendste

Lehrbuch der Medizin darstellte. Hier wurden Aromaöle zur

Behandlung von physischen und psychischen Krankheiten

beschrieben und nach Avicenna eingesetzt. Um das Jahr 1500

untersuchte der berühmte Arzt Paracelsus die Wirkungen der

ätherischen Aromaöle und nahm sie in seine Heilmittelsammlung

auf.

In der Neuzeit mussten die Öle und deren spezifische Wirkungen

erst mühsam wiederentdeckt und erforscht werden. Durch

Zufall fand der Chemiker Gattefossé um 1920 die wundheilende

und antibakterielle Wirkung, als er sich bei einem Laborunfall

den Arm verbrannte. Er tauchte ihn in das am nächsten

stehende Fass, das zufällig Lavendelöl enthielt. Der Arm heilte

gut ohne Narbenbildung, was ihn zu weiteren Untersuchungen

veranlasste. In der heutigen Zeit hat sich der Einsatz von Aromaölen

zu vielerlei Zwecken verbreitet und gut im Alltag etabliert,

man findet sie in der Wellnessbranche, der Physiotherapie

und natürlich in der Medizin.

Gewinnung von

ätherischen Ölen

Um das wertvolle ätherische Öl aus einer Pflanze zu gewinnen,

werden unterschiedliche Methoden der Gewinnung benutzt,

die auch einen Teil der unterschiedlichen Qualitäten erklären.

Die wichtigsten Gewinnungsmethoden sind:

▶ Enfleurage

Die Enfleurage ist die Auflage von Blüten auf fettbestrichene

Platten. Nach einigen Tagen wird das (nicht riechende) Fett

gesammelt und mittels Alkohol Aromaöl herausgewaschen.

22 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

So können auch hitzelabile Duftöle gewonnen werden, die

bei der Destillation Schaden nehmen würden.

▶ Wasserdampfdestillation

Die Wasserdampfdestillation wird am häufigsten eingesetzt.

Das zerkleinerte Pflanzenmaterial wird mit Wasserdampf

durchblasen, das Öl tritt durch die Hitze aus, und anschließend

trennen sich Wasser und Öl nach dem Abkühlen.

▶ Kaltpressung

Bei der Kaltpressung von Zitrusölen entsteht eine Emulsion,

die durch Zentrifugieren in die Bestandteile aufgetrennt

wird. Die Kaltpressung dient ausschließlich der Gewinnung

ätherischer Öle von Zitrusfrüchten, wobei man hier nur die

Fruchtschalen nutzt.

▶ Chemische Extraktion

Die chemische Extraktion von Blütenölen mittels verschiedener

Lösungsmittel, zum Schluss mit Alkohol, erfordert

eine Rückstandskontrolle, um sicher zu gehen, dass eine reine

Qualität erreicht wird.

Für die Beschreibung der Qualität ist auch die Anbaumethode

von Bedeutung, ob Wildsammlung, ökologische oder konventionelle

Landwirtschaft; außerdem aus welchem Land das Öl

stammt. Die unterschiedlichen Wirkstoffgehalte der einzelnen

Pflanzenteile erfordert zudem die Angabe, ob das Ausgangsmaterial

Blüten, Blätter oder die ganze Pflanze war. Der Aufwand

drückt sich im Preis aus; zum Beispiel liegt das hochwertige natürliche

Rosenöl bei Preisen von 10.000 € pro Liter, in kleinen

Verpackungseinheiten sogar etwa 25 € pro Milliliter und als

Ausweichprodukt „ätherisches, naturidentisches“ Rosenöl nur

11 € pro 100 Milliliter, wobei naturidentisch auf eine synthetische

Erzeugung hinweist, in der aber nicht alle Inhaltsstoffe

des Originals imitiert werden. Somit ist die Preisspanne für die

Qualitäten von mehr als 1:100 zu erklären.

Anwendungen von

ätherischen Ölen

Die häufigste Form der Aromatherapie ist die Anwendung in

der Duftlampe. Zu Hause wird eine kleine Kerze zur Erwärmung

in der Duftlampe angezündet, in Praxen oder Kliniken

nimmt man wegen der Brandschutzvorschriften eher elektrisch

angewärmte Schalen. Die Auswahl der Öle richtet sich nach der

therapeutischen Absicht. Welche Wirkung soll das Öl haben:

beruhigend, reinigend, aktivierend, erdend, aufmunternd und

andere.

In der Schulmedizin wird die Aromatherapie oft gering geschätzt

und gedanklich in die Wellnessecke eingeordnet. Ein

regelhafter Einsatz erfolgt außerhalb der physikalischen Therapieabteilung

zum Beispiel in der Palliativstation. Hier spielen

Fragen der Befindlichkeit, der Symptomlinderung und der

Lebensqualität die wichtigste Rolle, sogar die Bewertung des

Behandlungserfolgs geschieht über Befragung der Lebensqualitätsfaktoren

mittels standardisierter Fragebögen, z. B. den QLQ

C30 der EORTC. Die positive Wirkung der Aromatherapie wird

hier hoch geschätzt. In vielen Lehrbüchern der Palliativmedizin

wird eingehend auf die Verwendung von Aromaölen als Komplextherapie

mit anderen Verfahren oder Medikamenten eingegangen.

Die Ordnung ist thematisch nach geklagten Beschwerden,

hier als Beispiel für Muskelkrämpfe, im Zusammenspiel

mit anderen Medikamenten und Verfahren.

Die Aromaöle können als Raumspray, in der Duftlampe oder

als Einreibung zur Massage Anwendung finden. Erfahrene

Therapeuten können 2 bis 3 verschiedene Aromen mischen,

die zusammenpassen sollten. Als Trägeröl für Einreibung und

Massage wäre im obigen Beispiel von Muskelkrämpfen Johanniskrautöl

oder Arnikakörperöl zu empfehlen.

Aus Japan kommt eine bewährte Methode nach Deutschland:

das Waldbaden. Das „Shinrin Yoku“ ist übersetzt „ein Bad in

der Atmosphäre des Waldes nehmen“ und findet in speziellen,


Praxis

geschützten Therapiewäldern statt. Zum Waldbaden gibt es

wissenschaftliche Studien und geregelte Ausbildungen. Es wird

mittels Veränderung der Wahrnehmung auf mehreren Ebenen

eine reproduzierbare Entstressung erreicht, Burn-out-Probleme

reduziert, Anspannungen gelöst und Depressionen gemildert.

Das Immunsystem wird stimuliert, indem die Killerzellen ansteigen.

Dabei sind wesentliche Wirkkomponenten die von den

Bäumen gebildeten Phytonzide (Pflanzenschutzstoffe). Zu ihnen

gehören die Terpene D-Limonen, Alpha- und Beta-Pinen,

Camphen und andere, die uns als Duftwahrnehmung vor allem

bei Nadelhölzern auffallen.

Der Geruchssinn

Wichtige Voraussetzung für die Therapie mit duftenden Ölen

ist ein funktionierender Geruchssinn. Der Sinneseindruck wird

im Wesentlichen über ein 2 mal 5 cm² großes Areal im oberen

Bereich der Nase vermittelt. Dort liegende Sinneszellen geben

ihre Signale je Seite etwa über 20 Nervenfasern weiter an den

Bulbus olfactorius, der auf dem Siebbein aufliegt. Das Nervensignal

zieht über Gehirnbahnen direkt zur Riechrinde im

Großhirn, zur Amygdala und zum limbischen System. Es findet

keine Verschaltung im Thalamus statt wie bei anderen Sinneswahrnehmungen,

bevor das Signal das Großhirn erreicht. Dies

erklärt die unmittelbare Wirkung auf Psyche, Unterbewusstsein

und Verhalten. Ein zimtartiger Geruch erweckt ein warmes,

angenehmes Gefühl, es erzeugt in uns eine Erinnerung an die

Kindheit, als Mutter zur Weihnachtszeit Weihnachtsplätzchen

backte.

Der Mensch kann mit seinem Geruchssinn 400 verschiedene

Geruchsmoleküle differenzieren und durch deren Kombination

insgesamt etwa 10 000 verschiedene Gerüche. Der Geruchssinn

ist empfindlich für unterschiedliche Krankheiten (Viren), toxische

Belastungen und chronisch-entzündliche NNH-Reizungen,

was gerade in westlichen Ländern einer der häufigsten Gründe

für einen verminderten Geruchssinn darstellt und die Orientierung

des Menschen stört. Die Gerüche haben in der Evolution

des Menschen eine Anpassung an seine Bedürfnisse erfahren.

Archaisch sind die Warnsignale Fäulnis, Verwesung, Brandgeruch,

Gefahr (Adrenalin) und die Wahrnehmung und Analyse

von Nahrungsmitteln, die sich in der Natur für uns eignen. Für

uns ist die Unterscheidung von Früchten wichtiger als für einen

Hund, für den eher die Unterscheidung des Geruchs von Fettsäuren

eines Beutetiers ein Vorteil ist.

Für das soziale Verhalten ist der „Stallgeruch“ von Bedeutung.

Wo eine Gruppe Menschen in ähnlichen Lebensgewohnheiten

lebt und ähnliche Essgewohnheiten hat, fühlt man sich geruchsmäßig

zu Hause. Die Gerüche nähern sich mit der Zeit an. Sogar

der Mundgeruch der Gruppe wird ähnlicher und für einander erträglicher.

Der Geruch des vertrauten Partners erzeugt das Gefühl

„ich kann ihn/sie gut riechen“ und fördert das Zusammenleben.

Pheromone geben uns Signale über die Paarungsbereitschaft und

Fruchtbarkeit. Viele der archaischen Duftsignale erfahren durch

unser modernes Zusammenleben eine Modifikation. Unsere

Gesellschaft wird unübersichtlicher, komplizierter und verlangt

nach einer Körperhygiene, die viele (auch sinnvolle) Geruchssignale

überdeckt. Niemand möchte heute beispielsweise Paarungsbereitschaft

signalisieren, daher die Körperpflege mit Einsatz

von multiplen künstlichen Aromastoffen. Deo, Weichspüler,

Zahncreme, Haarshampoo und Rasierwasser – und das alles zur

gleichen Zeit! Das ist für den Geruchssinn eine Herausforderung.

Dazu kommen externe unnatürliche Gerüche zum Beispiel aus

dem Straßenverkehr oder von Baumaterial. Die Folge ist eine olfaktorische

Desorientierung.

Für die Therapie mit Aromen wundert es nicht, dass zunächst

die Belastung mit Geruchssmog gesenkt werden sollte. Es kommen

Aufenthalte in Luftkurorten, Waldbaden, Reinigungskuren,

Inhalationen und Verzicht auf Gerüche in Kosmetika etc.

infrage. Einige Verfahren der Naturheilkunde wie zum Beispiel

im Ayurveda haben eine Entgiftung und Reinigung zum Ziel,

im Besonderen Schwitzen (Svedana) und Nasenreinigung (Nasya).

Dabei sollten die feinen Energiekanäle wieder befreit und

aktiviert werden.

Der Geruchssinn lässt sich wiederherstellen und ausbilden. Die

Welt und unsere Position darin klart auf und wird bunter. Für

ein Kind mag die Unterscheidung des Geruchs/Geschmacks

von Riesling und Morio-Muskat ohne Bedeutung sein, für einen

Freund guter Küche aber ein Stück Lebensfreude.

Aromaöle in der

Phytotherapie

In großem Umfang kommen die Aromaöle zum Einsatz als Einreibung,

als Wickel/Auflagen, als Badezusatz, als Mundspülung

und zur Inhalation. Hierzu müssen die Öle zum Teil stark mit

Wasser oder Neutralöl verdünnt werden, da sie stark reizende

Wirkung haben. Insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern

wird vor einem Einsatz gewarnt, hier kann die Reizung

der Bronchien Luftnot bewirken. In wenigen Fällen wird ein

Öl örtlich pur eingesetzt, zum Beispiel wird ein mit Nelkenöl

getränktes Wattestäbchen an den schmerzhaften Zahn getupft

oder eine Gewürznelke in die Backentasche gelegt.

Beim australischen Teebaumöl (Melaleuka alternifolia) gibt es

einen breiten Einsatzbereich bei Entzündungen und Infektionen

oder kleinen Abszessen, die mit kleinen Mengen örtlich

behandelt werden. Eine austrocknende Komponente muss dabei

berücksichtigt werden (und ist manchmal erwünscht). Da

24 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Ätherische Öle und ihre Wirkung

▶ Bergamotte

▶ Mandarine

▶ Neroli

▶ Rose

▶ Sandelholz

Melaleuka wenig Cineol enthält (im Vergleich zu den anderen

Teebaumölen) und daher nicht brennt, kann es auch bei infizierten

Wunden eingesetzt werden. Teebaumöl bei Entzündung

im Mundraum kommt zum Einsatz, damit Zahnfleischentzündungen

abklingen und sich schädliche Bakterien nicht als Plaque

ablagern. Ein angenehmer Nebeneffekt besteht darin, dass

sich unangenehmer Mundgeruch, der sich durch Mundentzündung

häufig bemerkbar macht, reduziert.

Einsatz ätherischer Öle

bei Parodontitis

entkrampfend und angstlösend

entkrampfend, angstlösend und schlaffördernd

körperlich entkrampfend, auf seelischer

Ebene ausgleichend, beruhigend und

stimmungsaufhellend

körperlich wie seelisch entkrampfend,

beruhigend, stressreduzierend, harmonisierend

seelisch stärkend, aufrichtend, harmonisierend,

mildert unerträgliche Sinnesreize

Öle bei Muskelkrämpfen, Quelle: „Sterben begleiten“. Interdisziplinäre

und naturheilkundliche Konzepte. Gudrun Huber, Christina Casagrande,

Ursel Bühring, Rosmarie Maier, Thieme Verlag, 2. aktualisierte und

erweiterte Auflage 2019

Aggressive Parodontiserreger wie Aggregatibacter, Porphyromonas

und Prevotella reagieren gegenüber Antibiotika und antiseptischen

Mitteln hoch empfindlich. Doch auch ätherische Öle

können helfen. Dabei wirkt nicht jedes Öl gleich gut, sondern

das passende sollte mittels eines Aromatogramms herausgefunden

werden. Mittels Abstrich von Wunden, Rachen-Nasenraum,

Scheide oder aus Urin werden wie beim Antibiogramm

auch bei Aromatogrammen Keime auf Nährböden bebrütet,

auf denen zuvor Aromaöle aufgetragen wurden. Die Größe des

Wachstumshemmhofs bestimmt die stärkste keimhemmende

Substanz. Als besonders aktiv bekannt sind Lemongras öl, Teebaumöl

(Melaleuka), Manukaöl und Thymianöl.

Somit ergeben sich neue Möglichkeiten gegen aggressive Parodontitiserreger.

Apotheker stellen nach Rezeptur die ausgetesteten

Aromamischungen her in Form von Mundspülungen, Salben,

Kapseln etc. Mundwasser, die speziell zusammengemischt

werden. Sie machen eine – für den Patienten oder die Patientin

angenehme Behandlung möglich. Für die Wirkmechanismen

der Aromaöle sind Resistenzentwicklungen wie bei den Antibiotika

nicht möglich.

In höheren Dosen werden Aromaöle bei der Behandlung von

innerer Unruhe und Angstgefühlen eingesetzt. In einer Studie

war der Lavendelextrakt vergleichbar angstlösend wie 0,5 mg

Lorazepam, in einer anderen in den Punkten „ängstliche Stimmung“

und „Spannung“ vergleichbar mit 20 mg Paroxetin. Das

Lavendelpräparat erzeugt keine Abhängigkeit und hat wenig

Nebenwirkungen, man sollte aber besser nicht Aufstoßen nach

der Einnahme („als hätte man eine Flasche Parfüm getrunken“).

Ausblick

Forschungsaktivitäten

Eine Aufgabe für die Forschung mag künftig die antitumorale

Wirkung von ätherischen Ölen sein. Hier stehen die Terpenoide,

von denen viele antitumoral wirksam und Gegenstand der

Forschung sind, im Mittelpunkt. Eigene Erfahrung zusammen

mit dem Phytopharmaforscher Alfred Stirnadel liegt mit dem

Teebaumöl Manuka (Leptospermum scoparium) vor. Die enthaltenen

Sesquiterpene wirkten antitumoral, jedoch kamen die

Untersuchungen nicht weit über die Studien in vitro und im

Labor hinaus. Ab den Tierversuchen erreichen die Kosten der

Forschung neue Dimensionen, die von einem Privatgelehrten

nicht mehr getragen werden können.

Ein zukünftiges Forschungsfeld ist die Einwirkung von Aromastoffen

auf Rezeptoren an Zelloberflächen. Bei einigen Tumorarten

sind Rezeptoren für Aromastoffe an der Zelloberfläche

vorhanden, die bei gesunden Zellen des Organs auch vorkommen,

jedoch bei Karzinomzellen des Organs um ein Vielfaches

mehr exprimiert werden. So fanden Bochumer Forscher einen

Riechrezeptor bei Harnblasenzellen für Sandelholzduft, der

bei Blasenkrebszellen in der Zellkultur eine signifikante Hemmung

des Zellwachstums verursachte. Der Signalweg konnte

dargestellt werden. Darmkrebszellen tragen Rezeptoren für Ligusterblüten,

Prostatakrebszellen für Veilchenduft, Leberzellen

reagieren auf Zitrusduft. Diese faszinierenden Funde eröffnen

zukünftige Forschungsansätze, um neue Verfahren zur Diagnostik

und Therapie zu finden.

Autor

Dr. med.

Wolfgang Etspüler

Komplementäre Onkologie

Palliativmedizin

Naturheilkunde

Friedhofstr. 17

66957 Eppenbrunn

www.fiebertherapie.de

Praxis

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 25


Schaubild


Schaubild


Praxis

Loslassen, loslegen!

Reif für den Ruhestand!

Constance Nolting

Immer häufiger drängt er sich auf, der Wunsch nach weniger Stress, mehr Freizeit, nach dem

Reduzieren von Arbeitszeiten, Verantwortung abgeben … Auch wenn die ersten Gedanken

dazu schnell wieder aus dem Bewusstsein verschwinden, hinterlassen sie Spuren.

Der Inhaber oder die Inhaberin, einmal mit den Überlegungen begonnen, wird sich über

kurz oder lang intensiver mit der Nachfolge befassen. Er oder sie möchte dabei jemanden

gewinnen, dem oder der Praxis und Patient*innen anvertraut und zu einem angemessenen

Wert weitergegeben werden kann. Jemanden, der die Praxis im Sinne des jetzigen Inhabers

oder der Inhaberin weiterführt, die liebgewonnenen Patient*innen in Zukunft gut versorgt,

die Mitarbeiter*innen übernimmt und dazu den Preis für die Praxis zahlt, der dem Inhaber

oder der Inhaberin vorschwebt.

Zwischen Plan und

Umsetzung

Sollten sich erste Gedanken an die

Nachfolge eingestellt haben, ist es

zunächst wichtig, diese auf Ernsthaftigkeit

zu prüfen. Eine grundlegende

Auseinandersetzung mit der

Thematik bedeutet, sich Zeit zu nehmen

und verschiedene Aspekte zu durchdenken.

Warum wird ein*e Nachfolger*in

gesucht? Welche persönliche Motivation

steckt hinter dem Gedanken an Nachfolge.

Ist es eine Frage des Rentenalters oder

gibt es einen anderen Grund? Geht es um

kurzfristige Erleichterung durch die reine

Idee, die Praxis übergeben zu können,

oder um den wirklichen Wunsch, sich

von seinem Lebenswerk zu trennen?

Die ehrliche Auseinandersetzung mit der

eigenen Motivation ist der Schlüssel zum

Erfolg des Ganzen. Halbherzigkeit führt

in diesem Fall zu Misserfolg. Wenn klar

wird, dass die Nachfolge doch noch nicht

zum richtigen Zeitpunkt kommt, die Bereitschaft

doch noch nicht so hoch ist,

sollte man es besser lassen – zumindest

vorläufig. Für alle, die zu der Erkenntnis

gelangen, dass sie noch nicht bereit sind,

abzugeben, gibt es den Rat, gelegentlich

in sich hineinzuhören, ob der Wunsch

wächst. Eine Nachfolge sollte nämlich

rechtzeitig geplant sein.

Auch hinsichtlich zukünftiger finanzieller

Versorgung sollte man sich zeitig Gedanken

machen. Eine rechtzeitige Prüfung

der eigenen Finanz- und Liquiditätssituation

schafft Klarheit. Mit Eintritt in die

Rente greift eine oftmals vielschichtige

Kammerversorgung und ggfs. eine private

Versorgung. Dabei ändern sich auch

steuerliche Vorgaben. Der Finanzbedarf

für die Zukunft sollte in dieser Betrachtung

ebenfalls ermittelt werden. Unter

Umständen ist der Erlös aus dem geplanten

Praxisverkauf ein Fundament für eine

solide Altersversorgung.

Was aber, wenn der angestrebte Kaufpreis

nicht zu erzielen ist? Auch wenn der

Traum von einer eigenen Zahnarztpraxis

sicherlich verbreitet ist unter den Zahnmediziner*innen,

heißt es nicht, dass

die angebotene Praxis auch den liquiden

oder kreditwürdigen Nachfrager oder die

Nachfragerin trifft. Zumindest nicht sofort.

Zahnarztpraxen, die in einer 1 A-Lage

oder überdurchschnittlich groß sind,

können ebenso schwierig zu finanzieren

sein wie solche, die auf dem Land oder in

strukturschwachen Gegenden liegen. Ein

weiterer Punkt, den es zu bedenken gilt,

ist die Möglichkeit der Schließung durch

den Zulassungsausschuss. Ein Entzug

der Kassenzulassung bei Nichtausübung

des zahnärztlichen Berufs kann durchaus

vollzogen werden. Gemäß § 95 Absatz 6

SGB V ist eine „Zulassung zu entziehen,

wenn ihre Voraussetzungen nicht oder

nicht mehr vorliegen, der Vertragszahnarzt

die vertragszahnärztliche Tätigkeit

nicht aufnimmt oder nicht mehr ausübt

oder seine vertragszahnärztlichen Pflichten

gröblich verletzt. Der Zulassungsaus-

28 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

schuss kann in diesen Fällen statt einer

vollständigen auch eine hälftige Entziehung

der Zulassung beschließen“.

Um solche Risiken abzuwenden, kann

das rechtzeitige Überdenken der Situation

und der Anforderungen helfen. Einen

professionellen Berater für Nachfolge

hinzuzuziehen, ist ebenfalls hilfreich.

Übrigens: Bis zu 50 % der Beratungskosten

werden durch staatliche Fördermittel

erstattet. Generell förderfähig sind beispielsweise

Beratungen zur Praxisstrategie,

Digitalisierung, Qualitätssicherung,

Kooperationen, Organisation und Praxisabläufe,

Umwelt und – zur Nachfolge.

Der Praxiswert

Ein besonders sensibles Thema kann die

Einschätzung des Praxiswertes darstellen.

Auch hier ist die Zuhilfenahme eines professionellen

Beraters eine gute Idee, denn

nicht nur der Substanz- oder Ertragswert

zählt. Dieser wird durch ideellen Wert

ergänzt. Nicht selten haben Praxisinhaber*innen

und Nachfolger*innen genau

über diesen ideellen Wert unterschiedliche

Vorstellungen. Dann stellt sich die

Frage, ob Intervention möglich und nötig

ist, um die Vorstellungen einander näherzubringen.

Zu beachten ist, dass der ermittelte Praxiswert

immer nur eine Orientierungsgröße

ist. Oft wird auch eine Art Zielkorridor

ermittelt mit einem minimalen

und einem maximalen Verkaufserlös.

Letztendlich ausschlaggebend ist aber die

Nachfrage und auch die Möglichkeit der

Nachfolger*innen. Wenn jemand gefunden

wird, der passend ist, aber finanziell

noch nicht in der Lage, die Praxisübernahme

zu stemmen, gibt es eventuell

Konzepte, die eine Lösung für alle Beteiligten

darstellen. Deshalb sollte für jede

Praxis eine individuelle Strategie entwickelt

werden, die ggfs. Praxisinhaber*in

und Nachfolger*in verbindet.

Ein*e Nachfolger*in fällt nicht unbedingt

vom Himmel. Daher ist es wichtig, selbst

aktiv zu werden. Die kassenzahnärztlichen

Vereinigungen bieten Hilfe bei

der Suche an, insbesondere in strukturschwachen

Regionen. Potenzielle Interessent*innen

findet man zudem auf Internetplattformen,

in Zeitschriften, durch

Kontakt über die Zahnärztekammern, bei

Verbänden und Vereinigungen oder einfach

durch Mund-zu-Mund-Propaganda.

In manchen Gebieten sind nicht nur die

einzelnen Zahnärzt*innen von der Suche

nach Nachfolger*innen betroffen,

sondern auch ganze Gemeinden. Ebenso

können durch die Suche nach Nachfolger*innen

auch andere Gesundheitsberufe,

wie zum Beispiel zahntechnische

Labore, Apotheken und Therapeut*innen

betroffen sein. Wenn eine zuweisungskräftige

Zahnarztpraxis wegfällt,

bedeutet das auch Ausfälle für andere

Gesundheitsberufe, ggfs. sogar für deren

Nachfolgesuche. Daher sind oft auch

Netzwerke oder Gemeinden bemüht, bei

einer Zahnarztpraxisnachfolge zu unterstützen.

Auch die Regionalpolitik kann

mit ins Boot geholt werden. Oftmals helfen

Gemeinden mit unkonventionellen

Aufrufen und Hilfestellungen. So gibt

es Gemeinden, die werben, annoncieren

oder z. B. per Videobotschaft im Internet

und Regionalprogramm auf die Nachfolgesuche

aufmerksam machen und sich

teilweise sogar – fernab von Landesprogrammen

für ländliche Regionen – selbst

finanziell engagieren.

Die Suche nach Nachfolger*innen sollte

sich nie auf einen bestimmten Typus

Zahnarzt oder Zahnärztin beschränken.

Jeder Interessent, jede Interessentin ist

anders und bringt jeweils andere Vorteile

mit. Praxisverkäufer sollten das beherzigen

– auch wenn es manchmal schwerfällt,

dass nicht sofort der Idealtyp an

die Tür klopft. Natürlich ist der Wunsch

riesig, dass die eigenen Gedanken, Ideen

und Verfahren auch für Nachfolger*innen

praktikabel sind. Das muss aber nicht

von Anfang an sein. Vielleicht besteht die

Möglichkeit, dass der/die Nachfolger*in

in die Praxis „hineinwächst“ und sich

mit den angewandten Verfahren vertraut

macht. Gerade die Ganzheitlichkeit in

Praxisübergabe Peter Bornhofen

Ich habe meine Praxis an meinen Bruder

verkauft/übergeben.

Der wichtigste Schritt hierzu war der

Vertag, den wir schlossen, als er in die

Praxis eintrat. „Wie unter fremden Dritten“

war das Credo meines Steuerberaters.

Und es hat sich bewährt! Ob bei der

Betriebsprüfung des Finanzamts oder

meines Praxisanteils.

Frühzeitig (ca. 2,5 Jahre vor dem Termin)

haben wir beide die Übernahme

ange- und besprochen und konnten uns

auf den Eintrittsvertrag beziehen.

Als Mitinhaber der Gemeinschaftspraxis

kannte mein Bruder alle Zahlen der

betriebswirtschaftlichen Auswertungen.

Eine Wertermittlung des Sachwertes war

daher komplikationslos. Umsatzstärke

und Entwicklungspotenzial der Praxis

waren ebenso bekannt.

Beim „Goodwill“ haben wir länger diskutiert

und uns dann geeinigt. Ich hatte

mehr erwartet (aus der eigenen Zahlung

bei Fremdpraxisübernahme vor ca. 35

Jahren). Der „Goodwill“ hat meines Erachtens

heute fast keine Bedeutung mehr.

Ich habe nach der Übergabe aufgehört,

in der Praxis zu arbeiten. Ein neuer Chef

hat seinen eigenen Stil und neue Ideen,

die soll und muss er umsetzen können.

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 29


Praxis

der Zahnmedizin erfordert Zeit, Verstehen,

Erlernen und Erfahrung, bis sie

praktiziert werden kann.

Es ist hilfreich, sich einen Zeitplan zu erstellen

und sich dabei schlau zu machen,

wie viel Zeit im Durchschnitt für die einzelnen

Schritte benötigt werden. Wann

soll die Zahnarztpraxis übergeben werden,

wann beginnt die Suche. Wenn man

fündig geworden ist, gilt es zu überlegen,

wann die Einarbeitung des/der potenziellen

Nachfolger*in stattfinden kann und

in welchen Schritten dieses geschehen

soll? Gibt es die Zahnarztpraxis her, dass

eine Zeitlang parallel gearbeitet werden

kann? Oder muss der Staffelstab direkt

übergeben werden?

Und was geschieht mit den Mitarbeitern

und Mitarbeiterinnen? Wenn sich

Mitarbeiter*innen an den Gedanken gewöhnen

können, dass Chef oder Chefin

eine Nachfolge suchen, kann es ein Nachteil

sein, dass sich die Angestellten nach

anderen Arbeitsplätzen umschauen. Es

kann dagegen ein Vorteil sein, dass sich

neue Strukturen und Verantwortlichkeiten

ergeben und dem/der Nachfolger*in

ein offenes Klima entgegenschlägt. In jedem

Fall ist es wichtig, die Mitarbeiter*innen

frühzeitig in Kenntnis zu setzen und

Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auf

die Situation einzustellen. Man darf nicht

unterschätzen, dass Praxisübergaben

für alle Mitarbeiter*innen grundsätzlich

Zeiten der Unsicherheit sind und oft

schmerzliche Einschnitte bedeuten. Daher

ist sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt,

um einen harmonischen Übergang

zu gewährleisten.

Sollte die unglückliche Situation eintreten,

dass sich keine Nachfolger*innen

finden, können diese Informationen die

Mitarbeiter*innen sehr belasten. Für die

Inhaber*innen gilt dann, genau darauf

zu achten, dass die arbeitsrechtlichen

Vorgaben eingehalten werden. Dies gilt

natürlich auch bei einer Nachfolgeregelung.

Wichtig ist auf jeden Fall der Blick

auf die Kündigungsfristen der Mitarbeiter

und Mitarbeiterinnen. Diese ergeben

sich auch aus der Dauer der Zugehörigkeit

zur Praxis.

Gutes Zahlenwerk

Zahlen, Daten, Fakten aufbereiten und

zusammenstellen hilft bei der Findung

der Übergabemodalitäten. Eine gute

Aufbereitung bietet den Interessent*innen

eine Grundlage für Entscheidungen.

Mindestens sollte Folgendes zur Verfügung

stehen:

▶ Verträge (Übersicht, Laufzeit

und Verständlichkeit)

▶ steuerliche und wirtschaftliche

Auswertung der Praxiszahlen

▶ Dokumentation der Praxisabläufe,

einschließlich Potenzialen

▶ Analyse des Praxisumfelds –

regionale Gegebenheiten vor Ort

▶ Aufzeigen der Netzwerke

und Kooperationen

▶ Aufstellung der Aufgaben

der Mitarbeiter*innen

▶ erklärendes Patientenportfolio

Helfen können in allen Fällen Steuerberater*in

oder ein Unternehmen, das auf

Nachfolge spezialisiert ist. Manchmal ist

es nützlich, bei Verhandlungen eine dritte

Partei an der Seite zu haben. Dieses hilft

bei der Strukturierung der Verhandlung.

Man darf nicht vergessen, dass es sich bei

einer Praxis um ein stark Inhaber*in-geprägtes

Unternehmen handelt, das in der

Regel mit sehr viel Herzblut und Liebe

aufgebaut worden ist. Da kann es bei einer

Übergabe auch schon mal emotionaler

werden. Eine dritte Partei könnte für

die nötige klare Linie sorgen.

Kandidat*in in Sicht

Reicht die Ausbildung des Kandidaten

oder der Kandidatin, um die Praxis zu

übernehmen? Benötigt der Kandidat

oder die Kandidatin diesbezüglich Unterstützung?

Die Medizin wird weiblicher

und ein guter Prozentsatz an

Interessent*innen stammt nicht aus

Deutschland. Wichtige Erkenntnisse für

die Suche nach Nachfolger*innen beim

Praxisverkauf. Fast ein Viertel der Zahnärzt*innen

stammt aus dem Ausland, davon

ein großer Teil aus Syrien, Ägypten,

Serbien, Griechenland, Rumänien und

Bulgarien. Haben Sie jemanden aus dem

Ausland ins Auge gefasst, kann es zu Problemen

im Approbationsverfahren oder

aber auch bei der Finanzierung eines

Kaufpreises kommen. Schwierigkeiten

entstehen oft bei der Antragstellung, weil

Unterlagen, Bestätigungen oder Übersetzungen

fehlen. Auch mangelt es häufig

an ausreichenden Sprachkenntnissen.

Das kann ein schweres Hemmnis sein.

Unterstützung bei Sprachkursen ist hilfreich,

vielleicht auch die Vermittlung zu

Sprachkursen mit fachspezifischem Vokabular.

Auch so etwas sollte im Zeitplan

berücksichtigt werden, falls jemand aus

dem Ausland infrage kommt. Es sollte einem

Praxisverkäufer oder einer Verkäuferin

bewusst sein, dass es sich bei vielen

Interessenten nicht nur um die Arbeit

dreht, sondern auch um die Vereinbarkeit

von Beruf und Familie, einschließlich der

Möglichkeit von Kinderbetreuung oder

Jobsharing. Wenn Sie dazu Ideen und

Konzepte entwickeln, macht das die Praxis

deutlich attraktiver und erleichtert

den potenziellen Nachfolger*innen den

Einstieg erheblich.

Nicht jede Praxis

ist vermittelbar!

Es gibt Praxen, die mit dem Rentenalter

der Zahnärzt*innen geschlossen werden

müssen. Vielleicht sind ein paar Faktoren

zusammengekommen, die eine Fortführung

– beim besten Willen – nicht möglich

machen. Manchmal sind das demografische

Entwicklungen, manchmal eine

veränderte Konkurrenzsituation, etwa

weil eine moderne Zahnarztpraxis in der

Nähe eröffnet wurde.

Veraltete Technik oder bauliche Beschränkungen

können Ursachen für einen

Patientenschwund, damit auch für

geringere wirtschaftliche Attraktivität der

Praxis sein. Vernachlässigung der Praxis-

30 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

organisation, der Personalentwicklung

oder der Weiterbildung können ebenfalls

dazu führen, dass die Zahnarztpraxis

nicht weiter zu vermitteln ist. Manchmal

ist es auch eine geänderte Verkehrssituation,

eine schlechte Lage, zu wenige Parkmöglichkeiten

oder eine mangelhafte Anbindung

an den öffentlichen Nahverkehr,

die die Attraktivität der Zahnarztpraxis

leiden lässt.

Daher noch einmal der Hinweis auf den

Zeitplan. Wenn der Gedanke der Nachfolge

aufkommt, sollte man genau prüfen,

ob das, was man anbietet, attraktiv ist

oder ob noch Zeit ist, die Zahnarztpraxis

attraktiver zu gestalten oder umzuorganisieren.

Wenn die Zahnarztpraxis nun wirklich

aufgegeben werden muss, reicht es nicht,

einfach den Schlüssel umzudrehen. Es

müssen einige Vorgaben erfüllt werden.

Die Praxisaufgabe ist der Zahnärztekammer

anzuzeigen. Mit der Aufgabe

der zahnärztlichen Tätigkeit entfällt die

Pflichtmitgliedschaft in der Zahnärztekammer.

Natürlich steht jedem frei,

freiwilliges Mitglied zu ermäßigten Kammerbeiträgen

zu bleiben.

Die laufenden Verträge rund um die

Zahnarztpraxis müssen im Hinblick auf

Fristen geprüft sein. Das betrifft nicht

nur Mietverträge, sondern auch Wartungs-

und Leasingverträge und solche,

die die Medizintechnik, die Ausstattung,

die Stromversorgung oder anderes betreffen.

Ebenso müssen die Servicever-

Praxisübergabe Klaus Dann

Im Jahr 1988 habe ich die Zahnarztpraxis

von einem älteren Kollegen übernommen.

Der Verkauf wurde durch ein

Dentaldepot in die Wege geleitet, ohne

Exposé und Beraterstab. Absprachen

wurden mündlich getroffen und mit

Handschlag und einem einfachen Vertrag

besiegelt. Die Praxis wurde von mir

allein weitergeführt. Meine Frau unterstützte

mich bei den ganzheitlichen Testungen

und war für die Rezeption und

Abrechnung zuständig. Ebenso meine

Töchter, die uns von Jugend an unterstützten.

Sie wuchsen mit ihren Aufgaben.

Wir waren eine tolle Familienpraxis,

bei der jeder eine Aufgabe hatte. Da die

Praxis nur zwei Behandlungszimmer

hatte, erfolgte 2007 der Umzug in neue

größere Praxisräume mit dem damaligen

Standard und den Auflagen.

Im Jahr 2018 nach einem Praxisübergabe-Seminar

der LZK Rheinland-Pfalz,

reifte der Entschluss, die Praxisabgabe

vorzubereiten. Laut Aussage der Seminarleitung

sollte man sich auf einen

zwei jährigen Vorbereitungsprozess einstellen.

Wir fingen an, uns umzuhören,

und stellten fest, dass auch in unserem

Dentaldepot ein Generationenwechsel

stattfinden sollte. Bei einem Gespräch

mit dem Depot wurden zwei Zahnärztinnen

erwähnt, die Interesse zeigten,

eine Praxis zu übernehmen. Offensichtlich

gab es mehr Angebote als Interessenten.

Tiefer in der Materie stellten

wir dann fest, dass die klassische Einbehandlerpraxis

abgelöst wird von dem

Mehrbehandler-Konzept, insbesondere

gelebt von Zahnärztinnen.

Wir haben daraufhin ein Exposé in Auftrag

gegeben. Das Depot hat das komplette

Inventar aufgelistet und geschätzt.

Diese Daten und die Umsatzzahlen der

letzten drei Jahre der Praxis wurden in

das Exposé eingearbeitet. Die Geräte,

die aufgelistet wurden, mußten dabei

vorhanden und funktionsfähig sein. Die

Behandlungsstühle wurden kurz vor der

Übergabe vom Depot gewartet und in

Stand gesetzt. Somit waren die Bestände

einwandfrei.

Das erste Kennenlernen mit den zwei

interessierten Zahnärztinnen mit Praxisbesichtigung

war im Dezember 2018.

Alle Fakten und Zahlen, die in diesem

Gespräch gesagt wurden, waren bindend

für den späteren Vertrag! Das

Dentaldepot wurde durch zwei Mitarbeiter

vertreten. Die Zahnärztinnen

waren überzeugt: Ausschlag für den

Praxiskauf allerdings war der sehr gute

Zustand der Praxisräume, des Inventars,

dazu die gute Infrastruktur und die

Erweiterbarkeit der Praxisräume in eine

Zweibehandlerpraxis.

Nach Weihnachten 2018 trafen wir uns

zu weiterem Austausch. Es wurde vereinbart,

dass eine Kollegin von Januar

bis Ende März als Entlastungs-Assistentin

arbeitet. Der Praxisübergabevertrag

wurde von einem Rechtsanwalt ausgearbeitet.

Die Übergabe der Praxis sollte

dann am 1. April 2019 stattfinden. Die

zweite Kollegin startete mit der Übergabe,

und ich war nur noch tageweise

in der Praxis tätig. Dadurch war ein

fließender Übergang zum Generationswechsel

gewährleistet. Eine längere

Übergangsphase wäre für die Patienten

günstiger gewesen, denn für viele kam

der Wechsel sehr spontan. Wir einigten

uns auf eine Zeitungsanzeige statt

auf Patientenbriefe. Die ganzheitliche

Arbeitsweise wurde allerdings nicht

fortgesetzt. Die Praxis wird jetzt als moderne,

an sozialen Medien orientierte

Praxis geführt.

Wir haben uns in dieser Phase sehr oft

an unsere eigene Praxisübernahme erinnert.

Jetzt sind wir die ältere Generation

und geben unser Werk weiter. Und

das mit einem lachenden und einem

weinenden Auge. Wichtig für uns war

und ist: Wir wissen unsere sehr langjährigen

Patienten und Patientinnen

zahnmedizinisch gut versorgt, und das

ist sehr schön.

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 31


Praxis

träge mit externen Dienstleistern und

eventuell solche geprüft werden, die für

Online-Präsentationen abgeschlossen wurden.

Ob bei Schließung oder Übergabe:

Hier sorgfältig zu dokumentieren, ist in

jedem Fall nötig.

Während der zahnärztlichen Tätigkeit ist

eine Haftpflichtversicherung verpflichtend.

Sollte über den Praxisverkauf oder

die -übergabe noch Tätigkeit ausgeführt

werden, als Vertretung oder Mitarbeit,

ist weiterhin eine ausreichende Versicherung

nötig. Hier gibt es Anbieter für spezielle

Ruhestandversicherungen, die sich

auf die Situation ausrichten lassen.

Wenn die zahnärztliche Tätigkeit aufgegeben

wird, sollte man allerdings eine

Nachhaftungsversicherung abschließen,

denn die Berufshaftpflichtversicherung

deckt üblicherweise nur Schäden ab, die

während der Laufzeit der Berufshaftpflichtversicherung

entstanden sind. Es

kann der Fall eintreten, dass ein Haftungsfall

erst später eintritt. Es gibt Berufshaftpflichtpolicen,

die die Nachhaftung

beinhalten.

Privatrezepte können auch nach der

Aufgabe der Zahnarztpraxis zum Eigengebrauch

ausgestellt werden. Allerdings

müssen diese mit der Privatanschrift

ausgestellt werden, die Praxisadresse

darf nicht mehr verwendet werden. Auch

über die Aufbewahrung von zahnärztlichen

Aufzeichnungen sollte man sich vor

der Schließung Gedanken machen, denn

die Dokumente müssen gesichert mindestens

10 Jahre aufbewahrt werden.

Literatur- und Quellenverweise

Mama oder Pappa

ante Portas?

Ausschlafen und gemütlich frühstücken,

spazieren gehen und dann nach dem Mittagessen

ein ausgedehntes Nickerchen ...

Endlich ist Zeit für all die schönen Dinge,

die man sich schon lange vorgenommen

hat. Das Sortieren der Bücherwand und

der alten Schallplatten und das Pflegen

der Fotobücher steht immerhin schon

lange an. Wenn die Praxis übergeben

oder geschlossen ist, bleibt viel Zeit für

Freunde und Familie, den Garten, den

Hund und die Nachbarn. Die meisten

Berufstätigen malen sich ein entspanntes

Rentnerdasein aus. Doch reichen auf

Dauer diese schönen Dinge nicht, um

ein erfülltes Leben nach dem Beruf zu

führen. Denn die meisten Menschen,

die mit 65 Jahren in Rente gehen, sind fit

und haben ausreichend Energie, um sich

noch einige Ziele zu stecken. Hat man die

Praxis losgelassen, fällt auch ein großer

Teil der Lebenssinnstiftung weg. Und das

nicht nur in Bezug auf den Broterwerb.

Es entfällt auch die Wertschätzung für die

zahnärztliche Tätigkeit und die Struktur,

die ein Berufsalltag mit sich bringt. Was

also zunächst als Erleichterung verspürt

wird – die Praxis ist an eine*n Nachfolger*in

gegangen zu einem guten Preis,

zum Wohle der Patient*innen ist alles

geregelt – kann auch in Langeweile umschlagen.

Die hohe Lebenszufriedenheit,

vergleichbar mit dem Honeymoon,

[1] Mergenthaler, A.; Konzelmann, L.; Cihlar, V.; Micheel, F.; Schneider, N. F.: Vom Ruhestand zu (Un-)

Ruheständen. Ergebnisse der Studie „Transitions and Old Age Potential“ (TOP) von 2013 bis 2019.

[2] Schawniski, R. (2002). Lebenslust bis 100. Das Ego-Projekt. Zürich: mvg Verlag.

[3] Janz, D.; Schnelle, T. (2019). Gründung, Veräußerung und Erwerb von Arzt- und Zahnarztpraxen –

Steuerrechtliche Grundlagen und Fallstricke. 1. Edition mit Übersichten, Checklisten. Berlin: Erich

Schmidt Verlag GmbH & Co.

[4] Lewejohann, D.; Morton A.; Porten, S.; Stein, O. (2018). Kauf und Bewertung einer Arztpraxis: Rechtliche

Rahmenbedingungen. Steuerliche Konsequenzen. Bilanzielle Aspekte. Arztpraxisbewertung Herne:

NWB Verlag.

schwindet schrittweise. Es kommt zu

einer gewissen Ernüchterung. Ohne die

Tagesstruktur und beruflich bedingte

Sozialkontakte, ohne die Wertschätzung,

die durch den Job entgegengebracht wurde,

bauen viele Menschen rapide ab. Die

Rente kann ein Risiko für die körperliche,

geistige und seelische Gesundheit

werden. Allein Freizeitpläne können die

Lebensqualität nicht erhalten.

Auch hier hilft nur die bewusste Planung

des Ruhestandes. Der stufenweise Ausstieg

aus der Praxis ist daher nicht nur

für den/die Nachfolger*in wertvoll, sondern

bietet auch dem/der Inhaber*in eine

Möglichkeit, in eine neue Lebenssituation

hin einzuwachsen. Es ist dabei keine kleine

Herausforderung, sich mit einer neuen

Lebensphase zu beschäftigen. Laut einer

Umfrage des Sinus-Instituts für Marktund

Sozialforschung Heidelberg setzt

sich nur ein Fünftel der 40- bis 55-Jährigen

mit der Planung des Ruhestandes

auseinander. Die Studie „Transitions and

Old Age Potential“ (TOP) des Bundesinstituts

für Bevölkerungsforschung zeigte,

dass etwa 50 % derjenigen, die gerade in

den Ruhestand wechseln, Pläne für die

Zeit nach dem Berufsleben haben. Für

einen Erhalt der Lebensqualität, der über

ein kurzfristiges Wohlbefinden durch

Reisen oder das Ausüben der Hobbys

entsteht, sollten weitere Pläne geschmiedet

werden. Eine wichtige Säule spielt

dabei gemäß Professorin Ursula Maria

Staudinger, Psychologin und Alternsforscherin

(Rektorin der TU Dresden), das

Engagement in der Gesellschaft oder der

Familie, eventuell durch die Ausübung

eines Ehrenamts oder das Kümmern

um jüngere Familienmitglieder. Soziale

Kontakte und das Kennenlernen anderer

Menschen geben neue Impulse und

zwingen dazu, zu interagieren und geistig

fit zu bleiben. Wer frühzeitig darüber

nachdenkt, was Spaß macht und welche

Aufgaben Sinn und Bestätigung geben,

hat dann genug Zeit, diese vorzubereiten

und damit loszulegen.

32 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


CURRICULUM

SENIOREN-ZAHNMEDIZIN

2022

Save the Date!

20. MAI 2022 – 12. NOVEMBER 2022

Modul I:

Diagnostik und Therapieplanung

• Freitag/Samstag, 20./21.05.2022

Modul II: Alterszahnheilkunde – die richtigen Gebühren für

besondere Leistungen / Prävention und endodontische

Maßnahmen

• Freitag/Samstag, 01./02.07.2022

Modul III: Pflegebedürftigkeit – Organisation, Prävention, Kooperation,

Prothetik, Fälle

• Freitag/Samstag, 07./08.10.2022

Modul IV: Parodontologische, implantologische und

restaurative Therapie, Nachsorge

• Freitag/Samstag, 11./12.11.2022

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 33

www.haranni-academie.de/curriculare-fortbildung


Praxis

Jameda listet Sie –

ob Sie wollen oder nicht

Mitte Oktober entschied der Bundesgerichtshof: Mediziner*innen – also auch Zahnärzt*innen

– müssen es hinnehmen, dass sie auf der Online-Bewertungs-Plattform Jameda gelistet

werden, auch wenn sie das gar nicht wollen.

In einem langjährigen Rechsstreit hatte

ein Zahnmediziner-Ehepaar erreichen

wollen, dauerhaft nicht bei Jameda

gelistet zu werden. Dafür hatten sie

zahlreiche Gründe vorgelegt, wobei sie

vor allem die unterschiedliche Behandlung

der aufgeführten Mediziner*innen

monierten. Jameda listet nämlich sämtliche

Ärzt*innen in einem sogenannten

Basisprofil auf, bietet darüber hinaus

mit einem „Gold-“ bzw. „Platin-Paket“

aber auch Bezahloptionen an, bei denen

gegen unterschiedlich hohe monatliche

Gebühren zusätzliche Leistungen genutzt

werden können, um die eigene Praxis attraktiver

darzustellen. Dazu gehören das

Hochladen von Bildern, das Setzen eines

Links zur eigenen Website, oder die Veröffentlichung

von Fachartikeln.

Die Kläger wollten keine

Listung

Die Kläger – eine Fachärztin für Parodontologie

und ein Fachzahnarzt für

Oralchirurgie aus Nordrhein-Westfalen –

verlangten die vollständige Löschung

ihrer Daten aus dem Portal und wollten

außerdem sichergestellt sehen, dass sie

auch in Zukunft nicht gegen ihren Willen

mit einem Basisprofil gelistet werden,

solange andere durch Bezahloptionen

besser gestellt würden.

Interessen der Plattform

als höher bewertet

Das Landgericht Bonn hatte beiden Klagen

im Jahr 2018 stattgegeben, auch das

Oberlandesgericht Köln hatte der Berufung

von Jameda gegen die Löschungsanträge

im Jahr 2019 widersprochen.

Allerdings wurde die Klage auf Unterlassung

einer erneuten Listung im Basisprofil

abgewiesen. In der Begründung

hatte es geheißen, dass aufgrund einer

gebotenen Einzelfallabwägung von den

Grundsätzen eines Urteils des BGH vom

20. Februar 2018 auszugehen sei, demzufolge

die Plattform Jameda eine von

der Rechtsordnung gebilligte und gesellschaftlich

erwünschte Funktion ausübe.

Dies überwiege allerdings dann nicht

mehr die Interessen von Einzelpersonen

wie den Klägern, wenn die Plattform ihre

auf das Grundrecht auf Meinungs- und

Medienfreiheit gestützte Stellung als neutraler

Informationsmittler nicht wahre

und stattdessen den eigenen Kunden in

Gewinnerzielungsabsicht verdeckte Vorteile

verschaffe.

Im Klartext: Besucher der Plattform

müssten auf den ersten Blick erkennen

können, welchen Listungen Basis-, und

welchen Bezahlprofile zugrunde liegen.

Insbesondere die damalige Praxis, dass

Jameda die kostenfreien Basisprofile

dazu nutzte, um dort Anzeigen konkurrierender

Ärzt*innen zu platzieren, hatte

das BGH in seinem Urteil als unzulässig

erklärt. In der Folge hat Jameda seine

Plattform mehrfach nachjustiert, um die

rechtlichen Anforderungen zu erfüllen.

Rechtssicherheit –

aber gegen die Kläger

Die beiden Kläger wollten trotz der auf

der Plattform vorgenommenen Änderungen

dort dauerhaft nicht gelistet werden.

Diese Revision hat der BGH nun

allerdings abgewiesen. Zwar wurden zunächst

noch nicht die Gründe im Einzelnen

bekannt gegeben, trotzdem kann diese

Entscheidung der Karlsruher Richter

als abschließend in diesem langjährigen

Rechtsstreit gelten.

Je mehr Meinung,

desto besser?

Ärzt*innen müssen es also akzeptieren,

dass sie mit ihren berufsbezogenen Daten

auf Jameda gelistet werden, selbst

wenn sie dies nicht wollen. Entsprechend

müssen sie auch die dort veröffentlichten

Bewertungen hinnehmen, auch kritische,

34 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

solange diese nicht das Persönlichkeitsrecht

verletzen.

Rechtsanwalt Carsten Ulbricht, Internet-Rechtsexperte

aus Stuttgart, sagte

in einer Einordnung des Urteils gegenüber

dem SWR: „Der BGH hat hier entschieden,

dass Personen, die sozusagen

Teil des öffentlichen Lebens sind, auch

erst mal damit leben müssen, auf diesen

Portalen gelistet zu werden.“ 1 Doch da

fange das Problem schon an, befindet

der Rechtsanwalt, der schon oft ähnliche

Verfahren begleitet hat. „Bei Jameda

ist es sehr leicht, anonyme Bewertungen

zu hinterlassen. Heute muss ich als Arzt

damit leben, dass mich irgendjemand

bewertet. Ich kann nicht mal prüfen, ob

derjenige überhaupt jemals Patient bei

mir war. Es gibt nämlich keinen rechtlichen

Anspruch an die Portale, dass sie

herausgeben, wer mich bewertet hat“, so

Ulbricht. Man könne gegen diese Bewertungsplattformen

nur vorgehen, wenn

sich in den Bewertungen entweder Beleidigungen,

Schmähkritik oder Äußerungen

befinden, die objektiv einfach falsch

seien, sagte er.

Jameda selbst ermutigt seine Besucher

dazu, in ihren Kommentaren klare Meinungsäußerungen

zu hinterlassen – und

zwar mit dem Hinweis, dass subjektive

Meinungen weniger angreifbar seien als

Tatsachenbehauptungen, die im Zweifelsfall

beweisbar sein müssten. 2

Die relevanten gerichtlichen

Entscheidungen:

Bundesgerichtshof:

Az.: VI ZR 488/19 und VI ZR 489/19

Vorinstanzen:

VI ZR 488/19

LG Bonn – 9 O 157/18 –

Entscheidung vom 29. März 2019

OLG Köln – 15 U 89/19 –

Entscheidung vom 14. November 2019

und VI ZR 489/19

LG Bonn – 18 O 143/18 –

Entscheidung vom 28. März 2019

OLG Köln – 15 U 126/19 –

Entscheidung vom 14. November 2019

1

Quelle Zitat RA Ulbricht: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/bgh-weist-aerzteklagen-gegen-bewertungsportal-jameda-ab-100.html

2

Quelle Jameda: www.jameda.de/qualitaetssicherung/rechtliche-grundlagen/

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 35


Praxis

Implantate aus Titan –

der Wille der Patienten und

Patientinnen ist bindend!

Mit der Aufklärungspflicht eines Zahnarztes beim Einsatz eines Titan-Implantates hat sich

das Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg in einem Hinweisbeschluss vom 27.5.2021

(12 U 173/20) befasst. Hier ging es darum, dass ein Zahnarzt von einer Patientin wegen

des Vorwurfs von Behandlungsfehlern auf Rückzahlung des Zahnarzthonorars, auf die

Zahlung von Schmerzensgeld und auf Feststellung einer Ersatzpflicht für zukünftige

Schäden verklagt wurde.

§§

Die Patientin erläuterte, dass der Zahnarzt unter anderem

entgegen ihrem ausdrücklich erklärten Wunsch, kein

Metall beim Einsatz von Zahnimplantaten zu verwenden,

Implantate aus Titan eingesetzt habe. Bei diesen

Implantaten handelte es sich um zwei Ankylos-Implantate, die

aus Titan bestehen und mit Vollkeramik-Abutments und Vollkeramikkronen

versorgt wurden.

Das Landgericht Potsdam urteilte, dass der Zahnarzt an die

Patientin ein Schmerzensgeld von 1.500 €, weitere 5.569,34 €

sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zahlen muss, des

Weiteren wurde eine Ersatzpflicht für künftige Schäden ausgesprochen

(Landgericht Potsdam Urt. v. 8.7.2020 – 11 O 144/15).

In seinem Hinweisbeschluss bestätigte das OLG Brandenburg

das Urteil des Landesgerichts Potsdam. Die Eingriffe erfolgten

ohne Einwilligung und seien damit rechtswidrig. Es sei klar,

dass der Patientin entgegen ihrem ausdrücklichen Wunsch

Implantate eingesetzt wurden, die Titan und damit Metall enthalten.

Auch die Behandlungsdokumentation zeigte, dass die

Patientin keinesfalls in eine Behandlung mit den verwendeten

Titan-Implantaten einwilligte. Aus der Dokumentation ging

auch nicht hervor, dass die Patientin während der Behandlung

auf die Titan-Implantate hingewiesen wurde. Der Sachverständige

konnte ein Aufklärungsgespräch bestätigen, bei dem auch

eine Infobroschüre übergeben wurde. In einem „ausführlichen

Beratungsgespräch über das Einsetzen von Ankylos-Implantaten“

wurde allerdings kein Hinweis darauf festgestellt, dass

die verwendeten Implantate Titan enthalten. Ebenfalls sei nicht

belegt, dass der Patientin gegenüber erwähnt worden war, dass

es sich entgegen ihrem Wunsch um Metall-Implantate gehandelt

habe.

Der Wille der Patient*innen ist für Zahnärzt*innen

grundsätzlich bindend.

Dies ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Patienten.

Eine Zahnärzt*in darf einem Patienten, der eine bestimmte Vorstellung

einer ganz bestimmten medizinischen Versorgung hat

– hier der Verwendung von Vollkeramik-Implantaten –, nicht

ohne eigene sachkundige Prüfung die gewünschte Behandlungsweise

angedeihen lassen, denn Zahnärzt*innen schulden

grundsätzlich eine Behandlung lege artis. In diesem Fall wäre es

aber möglich gewesen, bei der Patientin auch Implantate ohne

Metall zu verwenden.

Die Höhe des durch das Landgericht ausgesprochenen Schmerzensgelds

war nach Auffassung des OLG angemessen. Der

Zahnarzt habe die Eingriffe zwar lege artis durchgeführt, hatte

aber dennoch gegen den ausdrücklichen Willen der Patientin

gehandelt. Somit habe sie zudem einen Anspruch auf Schadenersatz

in Form der Rückzahlung des Zahnarzthonorars. Weitere

Schäden durch die Behandlung sind nicht auszuschließen, daher

sei auch das Feststellungsbegehren der Patientin zur Ersatzpflicht

bei zukünftigen Schäden zulässig und begründet.

36 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

Das „Erste-Blusen-Knopf-

Dilemma“

Checklisten-gestütze Auftragsklärung in der Logopädie

Nicole Kiefer

Einleitung:

Orofaziale Dysfunktionen bilden multifaktorielle Funktionsstörungen ab. Im Kontext der

Systemischen Medizin kann nur im interdisziplinärem Zusammenspiel therapeutischer

Ansätze auf Therapieerfolg und dauerhafte Beseitigung gehofft werden.

Dieser Aspekt wird häufig in der universitären sowie Berufsfachschulausbildung von Therapeuten

unzureichend vermittelt. Wichtige Fragen sind jedoch: Was kann Logopädie im

interdisziplinären Netzwerk zur Therapie kraniomandibulärer Dysfunktionen leisten?

Welche Informationen von Zahnarzt zu Logopäden und umgekehrt ist für eine Therapieplanung

und Therapiezielsetzung im logopädischen wie zahnmedizinischen Sinne (CMD,

KFO) sinnvoll?

Antworten zu diesen Fragen sucht Nicole Kiefer – Logopädin M Sc., Inhaberin einer großen

logopädischen Praxis im Rhein-Main-Gebiet – sie ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft

der Padovan®-Methode e. V. für den deutschsprachigen Raum. Anhand der von ihr

entwick elten Checklisten soll die anamnestische und klinische Faktensammlung für Logopäden

und Zahnärzte standardisiert, systematisiert und vereinfacht werden. Nicole Kiefer

betreibt in Brühl, Baden-Württemberg, ein Therapiezentrum mit interdis ziplinärer Ausrichtung.

2019 schloss sie ihr Masterstudium in Cranio-Facial-Kinetic Science an der Universität

Basel erfolgreich ab.

Zusammenfassung

Die Therapie orofazialer Dysfunktionen stellt durch ihr multifaktorielles Erscheinungsbild Ärzte und Therapeuten in ihrer

täglichen Arbeit immer wieder vor große Herausforderungen. Therapiekonzepte können jedoch nur dann zielführend sein,

wenn die erforderlichen Informationen strukturiert erfasst werden und die Grundbedingungen (Auftragsklärung, Zielsetzung,

Vorgehen, Qualitätsüberprüfung) in einem Therapieprozess erfüllt sind. Die Autorin hat Checklisten entwickelt, mit

deren Hilfe der Auftragsklärungsprozess systematisch durchlaufen werden kann.

Schlüsselwörter: craniomandibuläre Dysfunktion, Logopädie, Zielführung in der logopädischen Therapie

Abstract

Speech therapists deal with prevention, counseling, diagnostics, therapy and rehabilitation for voice, speaking, language and

swallowing. As a specialist therapeutic occupation, speech therapy aims to restore, improve or compensate for disease or

developmental restrictions in the above-mentioned subject areas. Mental, emotional and physical relationships are equally

involved in the formation of language, the modulation of voice, the process of swallowing and articulation. A restriction in

the areas mentioned always affects the whole person.

Keywords: craniomandibular dysfunction, speech therapy, targeting in speech therapy

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 37


Praxis

Logopäden beschäftigen sich mit der

Prävention, Beratung, Diagnostik,

Therapie und Rehabilitation bei

Stimmgebung, Sprechen, Sprache

sowie Schlucken [3]. Als therapeutischer

Fachberuf zielt die Logopädie auf die

Wiederherstellung, Verbesserung oder

Kompensation von krankheits- oder entwicklungsbedingten

Einschränkungen der

genannten Themenbereiche. Geistige, seelische

und körperliche Zusammenhänge

sind gleichermaßen an der Bildung von

Sprache, der Modulation von Stimme,

dem Vorgang des Schluckens sowie der

Artikulation beteiligt. Eine Einschränkung

in den genannten Bereichen betrifft

immer den ganzen Menschen [8].

Im Rahmen ihres Studiums an der Universität

Basel wurde der Autorin innerhalb

der Vorlesungen zur Methode k-o-s-t®

(körperorientierte Sprachtherapie) nach

Susanne Codoni bewusst, dass die Ursache

für ein unbefriedigendes Erleben

bzw. ein Scheitern logopädischer Therapien

häufig eine diffuse Auftragslage und

Zielsetzung ist. Eine weitere Ursache für

Ineffizienzen und Zielverfehlungen ist

eine oftmals mangelnde Kommunikation

zwischen allen an einer Therapie Beteiligten.

Dieser Beitrag möchte klären, warum die

Auftragsklärungsphase oft nicht professionell

durchgeführt wird bzw. weshalb

die Kommunikation im Argen liegt. Auf

Basis der gewonnenen Erkenntnis soll ein

konkreter Vorschlag unterbreitet werden,

wie sich diese Missstände beseitigen lassen.

Weshalb ist die Auftragsklärung

das „A und O“?

Patienten und Patientinnen kommen mit

unterschiedlichen Anliegen zum Logopäden.

Damit verbunden sind vielfältige,

oft widersprüchliche Erwartungen an das

Vorgehen und das Ziel der Therapie. Es

ist demnach für das Gelingen einer zielgerichteten,

effizienten Therapie wichtig,

zu Beginn (sowie auch im weiteren Therapieverlauf)

die gemeinsame Auftragslage

und Zielsetzung zu klären und sie

gegebenenfalls neu zu formulieren oder

anzupassen. Codoni et al. beschreiben,

dass die multifaktoriellen Bedingungen,

wie dies etwa bei einer Artikulationsstörung

der Fall ist, für Laien und Nicht-Betroffene

oft schwer nachvollziehbar sind.

Die Zusammenhänge zwischen einer

artikulatorischen Störung, orofazialen

Dysfunktionen, Haltung und Gesundheit

sind sehr komplex. Sie müssen in verständlicher

Form erklärt werden, sodass

der Laie und die in die Behandlung involvierten

Ärzte/Therapeuten sie verstehen.

Dies allerdings gelingt häufig nicht [2].

Häufig liegt einem unklaren Therapieauftrag

ein nicht unerhebliches Informationsdefizit

bei allen am Prozess Beteiligten

zugrunde. Codoni et al. führen auf,

dass dieses Defizit zu Irritationen und

Missverständnissen im therapeutischen

Prozess führt [2]. Viele für die Therapie

relevante Informationen sind jedoch

meist vorhanden: bei Therapeuten und

Therapeutinnen, bei den behandelnden

Ärzten und Ärztinnen, bei Patienten

und Patientinnen sowie deren Angehörigen.

Diese werden im Verlauf der Therapie

oftmals jedoch gar nicht oder nur

unstrukturiert erfasst. Dabei stellen eine

spezifische Auftragsklärung und Zielsetzung

bereits einen ersten Interventionscharakter

dar, der die Therapiemotivation

zu steigern vermag. Folglich ist das

Misslingen der Therapie nahezu unvermeidlich.

Es ist wie beim Bluse knöpfen:

Fängt man oben falsch an, so kann man

unten nie richtig enden.

Warum scheitert die

Auftragsklärung?

Sabine Hammer geht auf Spurensuche.

In ihren Untersuchungen kommt sie zu

dem Ergebnis, dass die Phase einer spezifischen

Auftragsklärung und Zielsetzung

in der Ausbildung von Logopäden und

Logopädinnen in Deutschland nur unzureichend

beachtet wird. Auch mangelt es

an der Vermittlung Compliance-fördernder

Kommunikationsstrategien.

Weiter beschreibt Hammer: „Auch nach

über 30 Jahren intensiver Forschungsarbeit

auf dem Gebiet der Compliance ist es

nicht gelungen, größere Fortschritte für

die Berufsgruppe der Heilmittelerbringer

in diesem Bereich zu erzielen.“ Dies mag

zum einen seine Ursache darin haben,

„dass das Phänomen Compliance nach

wie vor nur unzureichend verstanden ist“,

zum anderen liegt das Hauptproblem der

Complianceforschung vermutlich darin,

dass Compliance schwer messbar und

damit entsprechend schwer objektivierbar

ist [5].

Werden in einem Therapieprozess Informationen

gewonnen, fehlt Logopäden

und Logopädinnen oft ein erweitertes

(medizinisches) Fachwissen, um

die Relevanz dieser Fakten einzuordnen

und daraus die Konsequenzen für

den weiteren Verlauf ableiten zu können.

So ist es beispielsweise bei myofunktionellen

Störungen notwendig,

Nebendiagnosen zu berücksichtigen,

in die Behandlungsplanung miteinzubeziehen

und gegebenenfalls eine weiterführende

Differenzialdiagnostik zu

veranlassen. Codoni et al. legen offen,

dass die Folgen dieser fehlenden oder

unstrukturierten Informationsgewinnung

im Rahmen einer Therapie bei

myofunktionellen Störungen in den

meisten Fällen fragwürdige Therapieergebnisse,

Rezidive sowie Frustrationen

bei allen Beteiligten sind [2].

Hinzu kommt, dass die Kooperation

mit den Angehörigen, mit verordnenden

Stellen und – im Fall von minderjährigen

Patienten und Patientinnen –

mit den Eltern häufig zu wünschen

übrig lässt. Auch gestaltet sich oft eine

interdisziplinäre Zusammenarbeit mit

angrenzenden Fachdisziplinen als inkonstant

und inkonsequent [2]. Offensichtlich

fehlte bisher ein wirksames

und vor allem praktikables Instrument

zur Exploration und strukturierten

Informationsgewinnung, beginnend

beim Erstkontakt über Diagnostik und

Anamnese, der Evaluation von Maßnahmen

sowie der therapeutischen

Eigenreflexion bis hin zur Entlassung

der Patienten und Patientinnen aus der

Therapie. Solch ein Instrument ist jedoch

unabdingbar für einen qualitativ

hochwertigen Therapieprozess.

38 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

Aus welchen Gründen

werden Therapieziele

nicht erreicht?

Die Gründe des Misslingens oder des

Abbruchs einer Therapie sind bislang

kaum betrachtet worden. Wissenschaftlich

untersucht wurden bislang überwiegend

Faktoren, die eine Steigerung der

Therapietreue zur Folge haben könnten.

Beushausen und Grötzbach beschreiben,

dass der Auftragsklärungsprozess und die

Zielsetzung in einer Therapie traditionell

häufig noch ausschließlich von der Fachkraft

bestimmt und geleitet werden [1].

Dieses Vorgehen beruht in aller Regel auf

der klinischen Evidenz der Praktiker. Es

ist zwar zeitökonomisch, da keine umfassenden

Zieldiskussionen geführt werden

müssen, allerdings sind damit auch mehrere

Nachteile verbunden, insbesonders

werden einige Faktoren nur unzureichend

berücksichtigt, wie etwa:

▶ die Ressourcen und Präferenzen der

Patienten und Patientinnen

▶ das erweiterte Umfeld im therapeutischen

Prozess (Stakeholder)

▶ die Beziehung zwischen Therapeuten

und Therapeutinnen und Patienten

und Patientinnen

▶ weitere medizinische Faktoren

Zudem formulieren Fachkräfte häufig

auf der Grundlage ärztlicher Diagnosen

bereits vor einer Zielsetzung mit den

Patienten und Patientinnen einen inneren

Auftrag (an sich selbst). Auf diesem

„inneren Auftrag“ baut sich dann die

Erwartung des Therapeuten auf, dass die

Patienten und Patientinnen / die Angehörigen

nach ersten Instruktionen und

Beispielen (basierend auf einer lückenhaften

Informationslage) selbstständig zu

arbeiten beginnen.

Wenn das selbstständige Arbeiten der

Patienten und Patientinnen ausbleibt, so

reagieren Fachkräfte vielfach damit, weitere

Instruktionen (aber immer weniger

Informationen) zu geben. Dies geschieht

in der Annahme, der Patient/die Patientin

bräuchte noch mehr methodischen

Input. Da den Patienten und Patientinnen

sowie den Angehörigen notwendige

Informationen als Basis für eine gelingende

Therapie fehlen (wie beispielsweise

Wirkprinzipien: „Warum mache ich

überhaupt diese und jene Übung?“) werden

Patient und Patientin / die Angehörigen

zu einer passiven und abwartenden

Haltung gegenüber den therapeutischen

Maßnahmen geradezu eingeladen.

Dabei wünschen sich die behandelnden

Therapeuten und Therapeutinnen vor

Therapiebeginn und im weiteren Verlauf

der Behandlung umfassendere Informationen

der Zuweiser über die Behandlungsplanung.

Gerade vonseiten der

Zahnmedizin und Kieferorthopädie sind

weiterführende Informationen für einen

zielgerichteten Therapieprozess unabdingbar.

Welche Faktoren führen

zu einer gelingenden

Therapie?

Neben einer ausführlichen Anamnese

und Diagnostik bilden weitere Variablen

die Basis für erfolgreiche logopädische

Therapien. Aufgrund persönlicher therapeutischer

Erfahrungen in der logopädischen

Praxis sowie durch belegte Nachweise

aus der Fachliteratur (etwa Codoni,

Grötzbach; Hollenweger-Haskell & Iven

und Hammer [2, 4, 5]) wird davon ausgegangen,

dass die folgenden zehn Variablen

für eine erfolgreiche und effiziente

logopädische Therapie für alle am System

Beteiligten (z. B. Patienten und Patientinnen,

Angehörige, Eltern, Ärzte und Ärztinnen

…) von Bedeutung sind:

(1) Beziehung Therapeut*in-Patient*in

(2) Ressourcen

(3) Umfeld

(4) Medizinische Faktoren

(5) Anamnese/Diagnostik

(6) Rahmenbedingungen

(7) Veränderungsmotivation/Compliance

(8) Setting

(9) Vorgehen

(10) Auftrag/Zielsetzung

(11) Informationsgewinnung

(1) Beziehung Therapeut*in-Patient

Ob eine Therapie gelingt, hängt im Wesentlichen

von der Beziehung zwischen

Therapeuten und Therapeutinnen und

Patienten und Patientinnen ab. Um ein

förderliches Verhältnis zwischen Therapeuten

und Therapeutinnen und Patienten

und Patientinnen aufzubauen, spielt

die Kommunikation und das Wissen

über die Bildung von Beziehungsstrukturen

eine entscheidende Rolle. Die Qualität

in der Kommunikation zwischen

beiden Parteien ist entscheidend für den

gesamten Therapieprozess. Patienten

und Patientinnen wünschen sich, neben

der Lösung des klinischen Problems, u. a.

Folgendes:

▶ Information und Instruktion,

▶ emotionale Unterstützung,

▶ Rücksicht und Respekt sowie

▶ leibliches Wohlbefinden.

Entscheidend für eine konstruktive Beziehung

zwischen Therapeuten und

Therapeutinnen und Patienten und Patientinnen

ist das Menschenbild der Therapeuten

und Therapeutinnen sowie die

daraus resultierenden Werteideale. Unser

Menschbild wiederum hängt v. a. mit persönlichen

Erfahrungen zusammen und

bestimmt nicht nur, wie man sich selbst

und andere sieht, sondern auch, wie miteinander

umgegangen wird. Das Menschenbild

ist also von äußerster Wichtigkeit

in der Beziehung von Therapeuten

und Therapeutinnen und Patienten und

Patientinnen; es ist ein essenzieller Faktor

für das Gelingen oder Misslingen einer

Therapie.

(2) Ressourcen

Die klassische Logopädie betrachtet überwiegend

Mängel. Das heißt, sie diagnostiziert

und therapiert primär symptomund

defizitorientiert. Diese Einstellung

fördert ein geringes Selbstwertgefühl,

die Wahrnehmung von Hilflosigkeit und

eine hohe Erwartungshaltung an den

Therapeuten/die Therapeutin, er/sie werde

das Problem schon beseitigen. Wenig

Beachtung hingegen finden die Potenziale

der Patienten und Patientinnen. Die

Fähigkeiten und Fertigkeiten der Patienten

und Patientinnen bleiben häufig im

Verborgenen. Doch gerade die Identifikation

und das Nutzen von Ressourcen

stärken die psychische Widerstandskraft

(Resilienz) und unterstützen den Prozess

der Salutogenese – der Herstellung und

Erhaltung von Gesundheit.

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 39


Praxis

(3) Umfeld

Die Einbeziehung des nahen und erweiterten

Patienten und Patientinnenumfelds

in den therapeutischen Prozess ist essenziell

für den Therapieerfolg. Bei der Aufklärung

über das therapeutische Ziel, die

angewendeten Methoden und bei der Absprache

zu Übungen sollte das Umfeld der

Patienten und Patientinnen einbezogen

werden. Die soziale Unterstützung durch

Angehörige beeinflusst die Therapietreue/

Compliance maßgeblich.

Auch im Umfeld der Patienten und Patientinnen

finden sich erhebliche Ressourcen,

die dem Patienten bei der Rehabilitation

und der Erhaltung der Gesundheit

dienlich sind.

Nicht nur das persönliche, auch das institutionelle

Umfeld ist von Bedeutung.

Verordnende Stellen sollten zu jedem

Zeitpunkt gut über den aktuellen Stand

der logopädischen Therapie informiert

sein. Ein vertrauens- und respektvoller

Austausch sowie eine interdisziplinäre

Zusammenarbeit auf Augenhöhe unterstützen

den Gesundungsprozess der Patienten

und Patientinnen. Die konsequente

Zusammenarbeit und der fachliche Austausch

mit angrenzenden, mitbehandelnden

Fachdisziplinen legen hier den

Grundstein zu einer für alle Seiten zielführenden

Arbeit.

Nur mit einem klar vermittelten Ziel

(wer macht was mit wem, wie wann und

wo) kann eine Veränderungsmotivation

entstehen und aufrechterhalten werden.

Dies gilt für Patienten und Patientinnen,

Angehörige und Therapeuten und Therapeutinnen

gleichermaßen.

(4) Medizinische Faktoren

Mögliche Hemmnisse bzw. hemmende

medizinische Faktoren können den Therapieerfolg

beeinträchtigen. Komorbiditäten

bedingen immer eine weiterführende

Diagnostik. Durch eine umfassende

Anamnese können die therapiebeeinflussenden

Faktoren von Therapeuten und

Therapeutinnen erkannt, dokumentiert

und kommuniziert werden.

Bereits während der Embryonalentwicklung

können Funktionsstörungen in der

Entwicklung und Ausbildung der orofazialen

Muskulatur auftreten. Diese bedingen

im weiteren Verlauf eine Dystonie

insbesondere der Zungen- und Gesichtsmuskulatur.

Heike Korbmacher-Steiner ist der Auffassung:

„Die physische Gestalt scheint nicht

a priori gesetzt, sondern als ein Ergebnis

der Bewegung, der Funktion“ [6]. Demnach

gilt es, auch weiter vom Mundraum

entfernte Funktionen und deren mögliche

Störungen, welche in Wechselwirkung

zum stomatognathen System stehen, zu

betrachten. Durch die komplexen, den

ganzen Menschen betreffenden Zusammenhänge

bei einer myofunktionellen

Störung ist es folglich unumgänglich, in

der logopädischen Diagnostik alle relevanten

medizinischen Aspekte in die Therapieplanung

und Durchführung einzubeziehen

– eine Fokussierung auf die Region

des Mundbereichs reicht nicht aus.

(5) Anamnese und Diagnostik

Als verbindlicher Teil einer jeden Therapie

– so Korntheuer et al. [7] – stellt die Anamnese

die Basis eines mehrgliedrigen Auftragsklärungs-

und Zielsetzungsprozesses

im klinischen Alltag einer Sprach therapie

dar. Aufgrund des multifaktoriellen Bedingungsgefüges,

wie bei einer orofazialen

Dysfunktion, ermöglicht es eine ausführliche

Anamnese den Praktikern, weitere

Entscheidungen für eine Differenzialdiagnostik

zu treffen und erste Arbeitshypothesen

zu bilden. Erkenntnisse aus Anamnese

und Diagnostik legen den Grundstein für

die Entscheidung einzuleitender therapeutischer

und interdisziplinärer Maßnahmen.

Darüber hinaus zeigt die praktische Erfahrung,

dass das übliche Diagnostikmaterial

bei myofunktionellen Störungen / orofazialen

Dysfunktionen immer nur Teilaspekte

abbildet und nicht umfangreich genug gestaltet

ist, um alle Einflussfaktoren zu erfassen.

Außerdem beinhaltet das vorhandene

Material kaum praktikable Beispiele für

den Prozess einer partizipativen Auftragsklärung

und Zielsetzung. Dabei stellt dies

den zentralen Bereich für die Berücksichtigung

von Patienten- und Patientinnenpräferenzen

im therapeutischen Prozess

dar und bildet somit die Grundlage für die

Aufrechterhaltung einer Veränderungsmotivation

bei Patienten und Patientinnen

und Angehörigen

(6) Rahmenbedingungen

Rahmenbedingungen sind vielfältig – sie

reichen von der subjektiven Wahrnehmung

des Patienten (z. B. in Bezug auf

die Gestaltung der Therapieräume) über

die Terminvergabe bis hin zur Einschätzung

der Kompetenz des behandelnden

Therapeuten.

Die Qualitätsbeurteilung aus Patientenund

Patientinnensicht gewinnt zunehmend

an Bedeutung. Die Patienten- und

Patientinnenzufriedenheit ist dabei ein relatives

Maß aus Erwartungen an eine Behandlung

und tatsächlich erfahrener Behandlung.

Sie stellt somit nur einen Aspekt

der Qualitätssicherung dar, ermöglicht es

jedoch, negative Qualitätsentwicklungen

frühzeitig zu identifizieren. Weiterhin reflektiert

sie wichtige zwischenmenschliche

Aspekte einer logopädischen Behandlung

und gibt Aufschluss über die Praxis als

Leistungserbringer.

Hammer nennt folgende therapeutische

Rahmenbedingungen: Therapiefrequenz,

Menge, Dauer und Form der Übungen,

der Faktor „Spaß“, Alltagsintegration,

Wirksamkeit, Übungskontinuität und

zeitliche Ressourcen des Patienten [5].

Um ein gutes Arbeitsbündnis mit den

Patienten und Patientinnen und deren

Angehörigen eingehen zu können, müssen

die Rahmenbedingungen vor Therapiebeginn

unter Berücksichtigung der

persönlichen Präferenzen der Patienten

und Patientinnen kommuniziert und geklärt

werden. Denn, so Codoni, „nur der/

die gut informierte Patient/Patientin in

seinem Umfeld und das gut informierte

Umfeld mit dem/der Patienten/Patientin

können die Grundlage für gelingende

therapeutische Prozesse bilden“ [2].

(7) Veränderungsmotivation/Compliance

Der Erfolg therapeutischer Maßnahmen

hängt wesentlich von der Eigenverantwortung

der Patienten und Patientinnen

ab. In der ambulanten logopädischen

Therapie ist der Therapeut in aller Regel

auf die Kooperation der Patienten und

Patientinnen angewiesen. Diese Compliance

(auch Therapietreue genannt)

betrifft beispielsweise das Einhalten von

Terminen und das Durchführen von

häuslichen Übungen.

40 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)

beschreibt Faktoren, die die Compliance

beeinflussen [5]:

▶ soziale und ökonomische Faktoren

▶ versorgungs- und systembezogene

Faktoren

▶ erkrankungsbezogene Faktoren

▶ therapiebezogene Faktoren

▶ patientenbezogene Faktoren

Eine hohe Veränderungsmotivation, eine

positive Einstellung zur Therapie, eine

gute Beziehung zwischen Therapeut/

Therapeutin und Patient/Patientin sowie

eine angemessene Erwartung in Bezug

auf die Erreichung des Therapieziels wirken

sich förderlich auf die Compliance

aus [5].

(8) Setting

Ein Setting beschreibt im therapeutischen

Kontext die Umgebung oder das Arrangement

einer Therapiemaßnahme. Dies

beinhaltet, die Rollen aller am therapeutischen

Prozess Beteiligten festzulegen, das

Klären des Therapieauftrags, die Formulierung

von Zielen sowie die Auswahl von

geeigneten Methoden und Techniken.

Von äußerster Wichtigkeit in einem therapeutischen

Setting sind sozioökonomische

Faktoren, nämlich:

▶ sozioökologische Faktoren (Wohnverhältnisse,

Bildung, Berufswahl)

▶ soziokulturelle Faktoren (Sprache, Sitten,

Bräuche, Traditionen, Religion)

▶ sozioökonomische Faktoren (Einkommen,

Sozialisation, Milieu)

(9) Vorgehen

Die Grundlage jedes therapeutischen

Handelns bildet:

▶ umfassende Anamnese

▶ Erstellung eines logopädischen

Befundes und ggf. Weiterleitung zur

Differenzialdiagnostik

▶ empathisch-partnerschaftlicher

Umgang in der Kommunikation mit

Patienten und Patientinnen und Angehörigen

Die Anwendung etablierter sowie alternativer

sprachtherapeutischer Verfahren

sollten idealerweise in ein interdisziplinäres,

nach den Präferenzen der Patienten

und Patientinnen ausgerichtetes Vorgehen

eingebunden sein. Eine möglichst

Abb. 1: Anteile der Informationsgewinnung im Therapieprozess (exemplarisch) – eigene

Darstellung

enge Einbindung der Angehörigen sollte

zu jeder Zeit selbstverständlich sein.

Fachliche Informationen und Instruktionen

sollten nach dem neusten Stand

der Wissenschaft in einer für Patienten

und Patientinnen und deren Umfeld verständlichen

Sprache übermittelt werden.

Zur Überwindung sprachlicher Barrieren

bieten sich bildlich erklärende Darstellungen

an.

(10) Auftrag/Zielsetzung

Beushausen und Grötzbach beschreiben

die Zielsetzung als den zentralen Bereich

für die Berücksichtigung von Patientenund

Patientinnenpräferenzen im therapeutischen

Prozess. Traditionell beruht

die Definition von Therapiezielen häufig

immer noch auf einem paternalistischen

Vorgehen.

Paternalistische Zielsetzungen haben situativ

ihre Berechtigung (etwa, wenn Patient

und Umfeld nicht in der Lage sind,

aktiv am Therapieprozess teilzunehmen).

Allgemein ist dieser Zielsetzungsprozess

jedoch mit dem Nachteil verbunden, dass

er die Präferenzen der Patienten und Patientinnen

nur unzureichend berücksichtigt

und dass lediglich eine geringe Akzeptanz

gegenüber den von der Fachkraft

festgelegten Zielen besteht [1].

Anders in der partizipativen Auftragsklärung/Zielsetzung

– hier werden Aufträge

und Therapieziele von der Fachkraft und

den Patienten und Patientinnen gemeinsam

definiert. Das geteilte Wissen von

Fachkraft und Patienten und Patientinnen

bildet die Grundlage für die Definition

der Therapieziele.

Der Aufwand eines partizipativen Vorgehens

in der Auftragsklärung und

Zielsetzung erscheint auf den ersten

Blick hoch, da ein ausführliches Zielsetzungsgespräch

notwendig ist. Jedoch

kann durch die hohe Identifikation aller

Beteiligten mit den Therapiezielen von

einer schnelleren Überwindung der vorherrschenden

Symp tomatik ausgegangen

und ein langwieriger und unbefriedigender

Therapieprozess vermieden

werden. Voraussetzung für eine partizipative

Auftragsklärung und Zielsetzung

ist die aktive Teilnahme der Patienten

und Patientinnen am Prozess.

(11) Informationsgewinnung

Abb. 1 zeigt schematisch die Anteile der

Informationsgewinnung bei einem paternalistischen

gegenüber einem partizipativen

Vorgehen. Die Darstellung erhebt

keinen Anspruch auf wissenschaftlich exakte

Zahlen oder Proportionen. Es kann

davon ausgegangen werden, dass die Gesamtzahl

der Informationen bei einem

partizipativ-holistischen Ansatz wegen

der erweiterten Sichtweise höher ist als

bei einem überwiegenden symptom- und

defizitorientierten Vorgehen, wie es in einem

paternalistisch geprägten Therapieprozess

der Fall ist.

Durch eine sinnvolle Extrahierung kann

so ein höherer Anteil an nützlichen Informationen

erhalten werden. Ein strukturierter

Informationsgewinnungsprozess

folgt einer vorher festgelegten Struktur,

wie etwa anhand eines Leitfadens oder

einer Checkliste. Unstrukturiert werden

Informationen lediglich aufgrund

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 41


Praxis

von Erfahrungen, Glück, Zufall und Tagesform

gewonnen.

Eine strukturierte Informationsgewinnung

sorgt dafür, dass der Prozess der

Auftragsklärung und Zielsetzung jederzeit

auf gleichbleibend hohem Niveau

durchgeführt werden kann. Der Prozess

ist somit weitestgehend unabhängig von

äußeren Einflüssen. Ziel ist es, den grauen

(unstrukturierten) Bereich in den grünen

(strukturierten) Bereich zu überführen.

Das Ideal stellt die vollkommene Informationsgewinnung

aller für die Therapie

hilfreichen Informationen dar.

Zwischenfazit

Um als Therapeut/Therapeutin erfolgreich

zu sein, muss vor Beginn einer

Therapie die Auftragsklärung und Zielsetzung

gemeinsam mit den Patienten

und Patientinnen und deren Umfeld

stattfinden. Dieses Procedere dient dazu,

klare Beschreibungen der Aufgaben und

Erwartungen zu formulieren und Rollen

zuzuweisen. Somit werden Konflikte im

Therapieprozess weitestgehend verhindert.

Nach erfolgter Diagnostik und Aufklärung

sowie der Vorstellung therapeutisch-methodischer

Möglichkeiten durch

den Behandler muss der Patient/die

Patientin und sein/ihr Umfeld persönliche

Prioritäten für die Therapie setzen.

Durch ein zielorientiertes Gespräch wird

klar, wo und wie genau die weitere Therapie

ansetzen muss, um effizient, wirksam

und effektiv zu sein.

Therapeuten und Therapeutinnen stehen

für eine Auftragsklärung zwei mögliche

Ansätze zur Verfügung. Zum einen über

den paternalistischen Ansatz, in dem das

Vorgehen ausschließlich von der Fachkraft

auf Grundlage ihrer klinischen Expertise

bestimmt wird. Dieser Ansatz ist

zeitökonomisch, da er bei allen Patienten

und Patientinnen, gleich welchen Störungsbildes,

zu jeder Zeit anwendbar ist.

Paternalistische Zielsetzungen haben situativ

ihre Berechtigung, z. B. wenn Patient

und Umfeld nicht in der Lage sind,

aktiv am Therapieprozess teilzunehmen.

Allerdings birgt er auf Patientenseite die

Gefahr einer geringeren Akzeptanz gegenüber

Therapiezielen. Anders verhält

es sich beim partizipativen Ansatz. Hier

wird das Vorgehen von Patienten und

Patientinnen und Fachkraft gemeinsam

bestimmt. Der partizipative Ansatz ist

zeitaufwendig, da hierbei oftmals ausführliche

Gespräche notwendig sind. Die

Grundlage bilden das gemeinsame Wissen

und der Austausch von Informationen.

Im Alltag klären Menschen vielerlei Aufträge

und setzen Ziele. Nie käme man

beispielsweise auf die Idee, einem Maler

zu sagen: „Sie sind der Fachmann, sie

werden schon wissen was sie tun, machen

sie mal“, um sich dann im Verlauf der Renovierung

darüber zu wundern, warum

die Streifentapete im Wohnzimmer diagonal

geklebt nicht optimal wirkt.

Aber warum ist es in einem

Therapieprozess so oft ganz

anders als im Alltag?

Warum findet keine (systematische und

umfassende) Auftragsklärung statt?

Für die überwiegende Anzahl von Patienten

und Patientinnen und Angehörigen

ist es ungewohnt, klare Anliegen, Wünsche

und Erwartungen an eine logopädische

Intervention zu formulieren. Patienten

und Patientinnen bzw. Angehörige

sind, oftmals durch ihre Erfahrungen aus

einem stark komplementär geprägten

Arzt-Patienten und Patientinnen-Verhältnis,

darauf ausgerichtet, ausschließlich

den Experten die Entscheidung für

eine Behandlungsplanung zu überlassen.

Die Logopädie als medizinischer Hilfsberuf

nimmt aus dem Blickwinkel der

Patienten und Patientinnen bzw. Angehörigen

einen ähnlich komplementären

Beziehungsstatus ein, sodass auch hier

vonseiten der Patienten und Patientinnen

und Angehörigen eher von einem paternalistischen,

also einem ausschließlich

von der Fachkraft bestimmten, Vorgehen

ausgegangen wird. Wird explizit nach

Anliegen gefragt, neigen Patienten und

Patientinnen und Angehörige dazu, die

Frage an den/die Therapeuten und Therapeutinnen

zurückzugeben.

Wie gelingen Auftragsklärungsgespräche?

Wie können alle wesentlichen Faktoren

in einem Therapieprozess erkannt und

eingeordnet werden? Wie kann Wissen

effizient ausgetauscht werden? Wie kann

sichergestellt werden, dass keine Punkte

übersehen werden? Und: Wie bleibt

dieser Prozess möglichst unabhängig

von äußeren Faktoren wie Zufall, Glück

und Tagesform? Die Antwort ist so verblüffend

wie naheliegend: mithilfe von

Checklisten.

In der Luftfahrt gehört der Einsatz von

Checklisten zur Vermeidung von Missverständnissen

und zur Vorbeugung von

Flugunfällen zur Routine. Piloten setzen

sie vor, während und nach einem Flug

ein. Sie kennen diese Checklisten beinahe

auswendig. Und dennoch werden sie immer

wieder Punkt für Punkt vorgelesen

und bestätigt. Selbst wenn der Pilot einen

schlechten Tag hat, wird erwartet, dass er

seinen Job dennoch sorgfältig und gewissenhaft

ausführt. Analog haben Patienten

und Patientinnen das Recht auf eine von

äußeren Einflüssen unabhängige und v. a.

umfassende Auftragsklärung.

Vor diesem Hintergrund hat die Autorin

Checklisten zur Zielsetzung und Auftragsklärung

in der logopädischen Therapie

entwickelt.

Infoflyer „Was ist eine

myofunktionelle Störung?“

Neben der Checkliste hat die Autorin einen

Informationsflyer für Patienten und

Patientinnen und Angehörige konzipiert.

Er ermöglicht den Therapeuten, einen

laiengerechten und anschaulichen Informationstransport

im Patientengespräch.

42 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Praxis

Warum ist die therapeutische

Eigenreflexion

wichtig?

Zitiert von Marion Sonnenmoser [9] sagen

die US-amerikanischen Psychologen

Knapp, Gottlieb und Handelsmann

über die therapeutische Eigenrefektion:

„Selbstreflexion ist nichts, das von alleine

kommt.“ Sie verweisen darauf, dass die

Selbstreflexion eine innere Haltung und

ein lebenslanger Lernprozess ist. Eine Vielzahl

der Therapeuten und Therapeutinnen

beginnt damit allerdings erst, wenn es im

Laufe einer Therapie zu Schwierigkeiten

kommt. Auch diesen wichtigen Aspekt bildet

die Checkliste ab.

Um als Therapeut/Therapeutin einen

ganzheitlichen Blick auf den/die Patienten

und Patientinnen einnehmen zu können,

bedarf es einer umfassenden Ausbildung.

Durch Schulungen und (universitäre)

Weiterbildungen – wie sie beispielsweise

der interdisziplinäre Masterstudiengang

„Cranio-Facial-Kinetic Science“ der Universität

Basel bietet – können von Therapeuten

und Therapeutinnen neue Blickwinkel

in der Betrachtung der Patienten

und Patientinnen eingenommen werden.

Diese gilt es, miteinander zu verknüpfen

und neue Netzwerke zu generieren.

Für Therapeuten und Therapeutinnen

heißt dies, ein Berufsleben lang weitere

Kompetenzen zu erwerben sowie sich

selbstständig mit den täglichen beruflichen

Anforderungen auseinanderzusetzen.

Das bedeutet für die Patienten und

Patientinnen eine Behandlung auf hohem

fachlichen Niveau im ganzheitlichen

Kontext.

Durch Informationsveranstaltungen für

Logopäden und Logopädinnen, Zuweiser*innen

sowie Praktiker*innen angrenzender

Disziplinen könnten sich

regionale Netzwerke bilden. Dies wäre

eine weitere Möglichkeit, die holistische

Betrachtungsweise der Patienten und

Patientinnen verstärkt in den Fokus der

täglichen Praxis zu rücken.

Fazit

Jede Therapie, die erfolgreich sein soll,

benötigt klare Aufträge und Ziele. Im

Rahmen einer logopädischen Intervention

sind Orientierung und Standards in

der Auftragsklärung zwingend notwendig.

Durch die Entwicklung von Checklisten

wurde ein Instrument zur Exploration

und Informationsverdichtung für

die tägliche Praxis entwickelt, in das unterschiedliche

Quellen und Perspektiven

einfließen. In der Zusammenführung

verschiedener, auch kontroverser, Sichtweisen

ergibt sich fast immer ein Zugewinn

an Erkenntnisqualität.

Aufträge können zu Beginn einer Therapie

nur einen vorläufigen Charakter haben.

Die entwickelten Checklisten bieten

zwar ein systematisches Vorgehen an, jedoch

sind sie viel mehr als ein „spiralförmiges“

Instrument anzusehen, dessen

einzelne Schritte immer wieder durchlaufen

werden.

Mit dem Aufbau einer gleichberechtigten

Arbeitsbeziehung entwickelt sich auch

Autorin

Nicole Kiefer, Logopädin

Praxis Nicola Kiefer

Uhlandstraße 19, 68782 Brühl

www.logopädiepraxis-kiefer.de

kiefer@logopädiepraxis-kiefer.de

die Tiefe und Weite der Wahrnehmung

in einem therapeutischen Prozess. Somit

werden neue Themen sichtbar, und Ziele

können ggf. angepasst werden. Logopäden

und Logopädinnen benötigen für

ihre tägliche Arbeit das Vertrauen in den

Prozess der gemeinsamen Arbeit, der erst

ein vertieftes Erkennen für das zu behandelnde

Störungsbild bei Therapeuten,

Patienten und Patientinnen und Angehörigen

ermöglicht. Eine durchgängig

transparente Kommunikation stellt einen

entscheidenden Faktor dar, wenn eine

Therapie von Patienten und Patientinnen,

Angehörigen und Therapeuten und

Therapeutinnen als befriedigend wahrgenommen

werden soll.

Mit den vorliegenden Checklisten wurde

ein therapeutisches Instrument für den

praktischen Alltag der Kliniker entwickelt,

das Einflussfaktoren für eine gelingende

therapeutische Intervention erfassen,

bewerten und kommunizieren kann.

Durch eine strukturierte Informationsgewinnung

und der daraus zur Verfügung

stehenden breiteren Informationsbasis ist

es den Therapeuten und Therapeutinnen

noch besser möglich, eine effiziente Behandlungsplanung

zu entwickeln. Diese

Checkliste bietet das Fundament eines

Qualitätssicherungsprogramms in der

logopädischen Praxis und ist damit ein

geeignetes Werkzeug, um das „Erste-Blusenknopf-Dilemma“

zu verhindern.

Literatur- und Quellenverweise

[1] Beushausen, Ulla & Grötzbach, Holger (2018): Evidenzbasierte Sprachtherapie, 2. Auflage,

Schulz-Kirchner Verlag, Idstein.

[2] Codoni, Susanne; Spirgi-Gantert, Irene & von Jackowski, Jeannette (2018): Funktionsorientierte

Logopädie: Der Einfluss von Haltung und Bewegung auf Schlucken, Sprechen

und Sprache, Springer-Verlag

[3] Glaremin, Stefanie: Was ist Logopädie? [online]: URL https://www.online-logopaedie.

de/logopaedie.html (27.10.21).

[4] Grötzbach, Holger; Hollenweger-Haskell, Judith & Iven, Claudia (2014): ICF und ICF-

CY in der Sprachtherapie, Umsetzung und Anwendung in der logopädischen Praxis, 2.,

aktualisierte Auflage, Schulz-Kirchner Verlag, Idstein.

[5] Hammer, Sabine et al. (2013): Mein Patient macht nicht mit – was nun? Compliance als

Schlüssel zum Therapieerfolg, Schulz-Kirchner Verlag, Idstein.

[6] Korbmacher-Steiner, Heike (2019): Kieferorthopädie und Funktion, [online]: https://

www.zm-online.de/archiv/2019/01_02/zahnmedizin/kieferorthopaedie-und-funktion/

(27.10.21).

[7] Korntheuer, Petra; Gumpert, Maike; Vogt, Susanne (2014): Anamnese in der Sprachtherapie,

Ernst Reinhardt Verlag, München.

[8] Kraft, Ulrich; Waitz, Martina (2018): Was versteht man unter Logopädie? [online]:

URL https://www.tk.de/techniker/gesundheit-und-medizin/kinder-und-jugendliche/was-versteht-man-unter-logopaedie-2013370

(27.10.21)

[9] Sonnenmoser, Marion (2017): Selbstreflexion: Ein Weg zum besseren Therapeuten,

[online]: URL https://www.aerzteblatt.de/archiv/193838/Selbstreflexion-Ein-Weg-zum-besseren-Therapeuten

(27.10.21)

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 43


Pflanzenportrait

Baldrian (Valeriana Officinalis)

Vielseitiger Nutzen, auch für Zahnpatient*innen

Eine der hierzulande bekanntesten und am weitesten verbreiteten Heilpflanzen ist sicher

der Baldrian. Dabei ist es eher der Wirkstoff, der bekannt ist – die Pflanze selbst werden

sehr viel weniger Menschen auf Anhieb erkennen. Dabei sehen die kleinen Blüten des

Baldrians schön aus, und auch der typische Duft wird als angenehm empfunden. Die

erste Assoziation der Baldrianwirkung ist „beruhigend“ – und das kann man sich auch bei

Zahnbehandlungen zunutze machen.

Baldrian, auch Echter Baldrian oder Apotheker-Baldrian,

lateinisch Valeriana officinalis, fühlt sich in der freien

Natur auf feuchten Wiesen und an Waldlichtungen, an

Gräben und Bachufern am wohlsten. Aber nicht nur dort

ist diese mehrjährige Staudenpflanze anzutreffen, auch im eigenen

Garten lässt sich Baldrian gut anbauen und ist leicht zu

pflegen.

Baldrian im eigenen Garten

Ein sonniger Standort ist dem Baldrian besonders zuträglich,

aber selbst wenn die Sonne nicht dauernd scheint, gedeiht er

gut. Nur Wasser braucht der Baldrian immer reichlich, und der

Boden sollte nährstoffreich und nicht zu sandig sein.

Die stattliche Staudenpflanze erreicht eine Wuchshöhe von bis

zu 150 cm und ist schön anzuschauen, weil die vielen kleinen

Blüten zusammen Dolden bilden, die mit ihrer hellen Färbung

angenehme Akzente setzen. Ausgesät wird Valeriana officinalis

im Frühjahr, bevorzugt im März oder April. Bald erscheinen die

ersten Stängel mit hübschen, gefiederten Blättern. Die lanzettartigen

Blätter sind ganzrandig bis grob gesägt. Im Juni erscheinen

an den Spitzen der Zweige zartrosa bis weiße Blüten mit

doldenförmiger Blumenkrone. Sie duften sehr süßlich und angenehm.

Bedenken sollte man dabei, dass vor allem Katzen den

Geruch von Baldrian betörend finden – es schadet also nicht,

Katzenfreund zu sein, wenn man Baldrian in seinen Garten sät

oder pflanzt.

Baldrian bildet einen kräftigen Wurzelstock aus, der aus zahlreichen

Einzelwurzeln besteht. Damit der Wurzelstock sich voll

entfaltet, empfiehlt es sich, zwischen den einzelnen Stauden

Zwischenräume von 80 bis 100 Zentimetern einzuhalten.

Die gute Entwicklung der Wurzeln ist auch deshalb so wichtig,

weil sie es sind, aus denen die Wirkstoffe des Baldrian gewon-

44 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Pflanzenportrait

Erscheinungsbild des Baldrians

Wuchs: buschig, aufrecht, mit hohlem,

gefurchtem Stängel

Wuchshöhe: 100 bis 150 cm

Wuchsbreite: 80 bis 100 cm

Blütenform: doldenförmig

Blütenfarbe: hellrot-lila, rosa, bis weißlich

Blütengröße: Dolde insgesamt groß (> 10 cm), bestehend

aus sehr vielen,3 bis 6 mm kleinen Blüten.

Blütenduft:

Blütezeit:

Blatt:

Laubfarbe:

Frucht:

intensiv und typisch

Juni bis August

gefiedert, Blattrand grob gesägt, matt, derb,

grün; wird im Herbst abgeworfen

Samen mit Pappus

nen werden. Dazu entnimmt man im zweiten Jahr vor der Blüte

die Wurzeln und verarbeitet sie z. B. zu Tee. Wenn man sichergehen

will, macht man das aber nicht selbst, sondern holt sich

seinen Baldrian in der Apotheke. Dort gibt es bewährte Darreichungsformen

in kontrollierter Qualität, und außerdem kann

man sich ausführlich zur Einnahme beraten lassen.

Baldrian: Heilpflanze seit altersher

Schon in der Antike waren vor allem die Wurzeln des Baldrians

als Heilpflanze bekannt. Der lateinische Name Valeriana leitet

sich wahrscheinlich von valere = gesund sein ab. Interessanterweise

wurde Valeriana officinalis damals für vollkommen andere

Zwecke gebraucht als heutzutage. Aus den Kräuterbüchern

des frühen und späten Mittelalters gibt es keine Hinweise, dass

die Baldrianwurzel bei Schlafstörungen oder bei nervöser Unruhe

verwendet wurde. In den Kräuterbüchern von P. A. Matthioli

oder Hieronymus Bock (beide etwa Mitte 16. Jahrhundert)

wird Baldrian bei Blähungen, Seitenstechen, Harnbeschwerden,

Husten, Akne, Kopfschmerzen sowie Augenbeschwerden verwendet.

Häufig wurde die Wurzel pulverisiert und mit Wein

oder anderen Kräutern wie Süßholzwurzel und Anis vermischt.

Auch für Hildegard von Bingen war Baldrian ein Begriff, auch

wenn die Pflanze damals noch nicht ihren heutigen Namen

hatte: Die als Valeriana id est denemarcha bezeichnete Arznei-

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 45


Pflanzenportrait

pflanze wurde eher bei Brustfellentzündung und bei einer als

Vich (Vicht) bezeichneten Krankheit verwendet, einer Art Vorkrebserkrankung

(Präkanzerose).

Im 17. Jahrhundert schrieb der englische Apotheker, Arzt und

Astrologe Nicholas Culpeper über den Baldrian: „Er ist eine

treffliche Arznei, den Stuhlgang zu befördern, wenn andere

Mittel versagen. Er ist hülflich für Kopfschmerzen, Zittern, Zuckungen,

hysterische Leiden und die Schwermut.“

Heute:

beruhigende Wirkung im Vordergrund

Heutzutage sehen wir im Baldrian ganz andere Vorzüge: allen

voran seine beruhigende Wirkung. Beginnend im 18. Jahrhundert

wird Baldrian als Beruhigungsmittel sowie zur Behandlung

von Stress und Nervosität verwendet. Er gilt heute als eines der

besten und am meisten genutzten pflanzlichen Sedativa. Pharmakologisch

sind dabei praktisch ausschließlich die Baldrianwurzeln

interessant. Heute kennt man mehr als 150 chemische

Wirkstoffe, die im Baldrian enthalten sind. Viele Wissenschaftler

halten es für wahrscheinlich, dass erst die Kombination dieser

Stoffe die Baldrian-typische Wirkung ergibt, weil sie sich

synergetisch gegenseitig ermöglichen und verstärken.

Die hauptsächlichen Inhaltsstoffe des Baldrians sind die ätherischen

Öle Valenol, Valeriansäure, Valerensäure, weitere Stoffe

aus der Gruppe der Valepotriate sowie einige wenige Alkaloide.

Die Inhaltsstoffe des Baldrians wirken auf den Organismus:

▶ schlaffördernd

▶ beruhigend

▶ angstlösend

▶ spasmolytisch (entkrampfend)

Valerensäure beispielsweise hat eine spasmolytische, angstlösende

sowie muskelentspannende Wirkung und wirkt direkt

auf das Zentralnervensystem ein. Die schlaffördernden und

entspannenden Eigenschaften des Baldrians führt man auf die

Wechselwirkungen vieler verschiedener Stoffe zurück (u. a. Valepotriaten),

auch wenn diese bis heute noch nicht in allen Einzelheiten

erforscht sind.

Baldrian gilt als ein klassisches Nervenberuhigungsmittel mit

beruhigend-ausgleichender, entspannender Wirkung – ohne

das Nervensystem zu betäuben oder die Leistungsfähigkeit einzuschränken.

Indem Baldrian hilft, die innere Unruhe zu besiegen

und Nervenbahnen zu lockern, ermöglicht er auch den

Organen eine entspannte Arbeitsweise.

In der durch Baldrian gewonnenen Erholungsphase sollte nun

Kraft geschöpft werden, um dem Grund der Unruhe auf die

Spur zu kommen – und entsprechend Abhilfe zu schaffen.

Baldrian bei der Zahnbehandlung

Es ist leider immer noch eine weit verbreitete Erscheinung, dass

Patient*innen Angst vor dem Zahnarztbesuch haben. Die Gründe

sind bekanntermaßen vielfältig und beginnen oft schon mit

traumatischen Ereignissen in der Kindheit. Daher sollte man

meinen, dass vor allem ältere Patient*innen betroffen sind, weil

zu ihrer Zeit die Zahnmedizin noch nicht so weit entwickelt war

wie heute. Wer als Kind einmal auf einem Zahnarztstuhl saß,

bei dem der Bohrer noch per Fußpedal bedient wurde, um die

Drehzahl zum Bohren zu erreichen, wird sich nur sehr ungern

daran erinnern – selbst wenn natürlich auch damals Hilfe das

Ziel war und so ein Gerät medizinisch bis in die 1960er-Jahre

als State-of-the-Art galt. Interessanterweise haben aber auch

viele junge Menschen Angst vor der Zahnbehandlung. Hier

verspricht Baldrian Linderung des psychologischen Drucks, der

Sorge, der Angst.

Und in akuter Lage bewährt sich Baldrian auch bei der Behandlung

von Schmerzen. Das können einerseits Zahnschmerzen

sein, z. B. aufgrund von unbehandeltem Zahnkaries oder einer

Entzündung an der Zahnwurzel oder im Kieferknochen. Aber

auch eine Reihe von anderen Erkrankungen und Phänomenen

lösen Schmerzen aus, die in den Kiefer ausstrahlen können, darunter

Kopfschmerzen, Angina Pectoris, Gürtelrose, Migräne,

Muskelverspannungen und Entzündungen.

Baldrian ist beruhigend und schmerzstillend. Darüber hinaus

wirkt sich Baldrian auch positiv auf das Seelenleben aus, weil

er dabei helfen kann, Einschlafstörungen, Depressionen, Resignation

und Reizbarkeit, ausgelöst durch starke Zahnschmerzen,

zu beheben. Nicht zuletzt empfinden viele Menschen Schmerzen

als seelisch äußerst belastend; auch hier kann Baldrian ausgleichend

wirken.

Baldrian kann dabei als Tee, Tinktur oder als Pulver eingesetzt

werden. Sollte es zu einer akuten Schlaflosigkeit kommen, empfiehlt

es sich, vor dem Schlafengehen einen Tee aus Baldrian,

Hopfen, Beifuss und Melisse zu trinken. Diese Hausmittel auf

pflanzlicher Basis versprechen eine rasche Verbesserung des

Leidens und können auf dem Weg der Schmerztherapie begleitend

eingesetzt werden.

In leichten Fällen kann man sich auch vor dem Zahnarztbesuch

mit Entspannungstees oder Tropfen aus Lavendelblüten, Baldrian,

Passionsblume und Hopfen gegen die aufziehende Furcht

mental stärken.

Bruxismus

Schlafbruxismus wird als schlafbezogene Bewegungsstörung

angesehen, die in ähnlicher Weise mit dem Restless-Legs-Syndrom

und periodischen Bewegungen der Gliedmaßen klassifiziert

wird.

Baldrianwurzel verbessert nachweislich die Schlafqualität. Baldrian

enthält zwei Substanzen: Valepotriate und Sesquiterpene.

Ersteres, das zur Standardisierung des Arzneimittels verwendet

wurde, ist zytotoxisch. Letzteres hat keinen solchen Effekt. Beide

haben eine beruhigende Wirkung.

An einem Präparat, das hauptsächlich Sesquiterpene enthält,

wurde ein Doppelblindtest durchgeführt. Im Vergleich

zu Placebo zeigte es eine gute und signifikante Wirkung auf

46 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Pflanzenportrait

schlechten Schlaf (p < 0,001). 44 % berichteten von perfektem

Schlaf und 89 % berichteten von verbessertem Schlaf durch die

Zubereitung. Es wurden keine Nebenwirkungen beobachtet.

Eine von der School of Nursing der University of Pennsylvania

durchgeführte Studie ergab, dass 800 Milligramm Baldrian

über einen Zeitraum von acht Wochen die Symptome des

Restless-Legs-Syndroms verbesserten. Ebenso verbesserte sich

die allgemeine Lebensqualität. Da Bruxismus als schlafbezogene

Bewegungsstörung genauso wie das Restless-Legs-Syndrom

eingestuft wird, ist der Versuch mit Baldrian zu beachten.

Trotz aller Vorzüge:

Vorsicht walten lassen!

Alles, was eine Wirkung hat, kann auch eine Nebenwirkung haben.

Mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten

sollten ausgeschlossen werden.

Darüber hinaus sollte eine Therapie mit Baldrian nur eine

Überbrückungsphase sein. Dabei ist Geduld gefragt, denn Baldrian

wirkt nicht binnen Stunden, sondern muss über mehrere

Wochen eingenommen werden, um die gewünschte Wirkung

zu zeigen. Und es ist nicht angeraten, gleichzeitig synthetische

Stoffe oder Medikamente einzunehmen, sofern dies nicht ärztlich

angeordnet wurde.

Bei Depressionen, Angstzuständen oder chronischer Unruhe ist

Baldrian das falsche Mittel.

Quelle: Wikipedia xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Fazit:

Baldrian kann sehr nutzbringend sein

Literatur- und Quellenverzeichnis

In der modernen Pflanzenheilkunde hat gerade eine altbewährte

Heilpflanze wie Baldrian ihren festen Platz für zahlreiche

nutzbringende Anwendungen. Immer mit dem Ziel, Schmerzen

zu lindern, Angst abzumildern und Sorgen in Vertrauen zu verwandeln.

BLV Tier- und Pflanzenführer für unterwegs (München 1996). ISBN 3-405-14800-6

Schirner, Markus. Aromaöle (Schirner Verlag Darmstadt, 2005). ISBN 3-89767-496-3

Harding, Jennie. Kräuter-Bibel: Heilkräuter, Rezepte, Pflanzentipps. (Parragon, o.J.). ISBN

978-1-4075-7058-7

https://www.maxcare.de/ratgeber/tipps-tricks/angst-vor-dem-zahnarzt/

https://www.baumschule-horstmann.de/shop/exec/product/693/7046/Echter-Apotheker-Baldrian.html

Wirkbereiche des Baldrians

Wirkung auf den Körper

antibakteriell, blähungsmindernd, blutdrucksenkend, harnhemmend,

krampflösend, magenstärkend, ausgleichend,

schmerzstillend

Anwendung: bei spastischem Asthma, hohem Blutdruck,

Cholera, Durchfall, Epilepsie, Fieber, rheumatischen Gliederschmerzen,

nervösen Hautleiden, nervösen Herzbeschwerden,

Herzklopfen, nervösen Kopfschmerzen, Magen- und

Darmkrämpfen, Migräne, nervösen Verdauungsstörungen,

rheumatischen Schmerzen, Schuppenflechte, Sodbrennen,

Übelkeit, nervösem Zucken

Wirkung auf die Seele

Emotional entkrampfend, entspannend, schlaffördernd

Anwendung: bei Ängsten, Ruhelosigkeit, Halluzinationen,

nervösen Stimmungsschwankungen, Schlaflosigkeit, geistiger

Überanstrengung, innerer Unruhe

Vorsicht: Sparsam verwenden! In hohen Dosen können

Lähmungserscheingungen auftreten. Nicht über längere

Zeit einnehmen: Das kann sonst zu Abhängigkeitsgefühlen

und vereinzelt zu Allergien führen.

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 47


Markt und Möglichkeiten

Myotalea®

Die erste aktive myofunktionelle Apparatur der Welt

Bei Patienten, die unter Dysgnathien, SBAS, CMD

und Störungen des kraniofazialen Wachstums

leiden, ist die Zungen-, Lippen-, Kiefer- und Halsmuskulatur

oft nicht kräftig genug.

Diese Muskeln spielen jedoch eine wichtige

Rolle beim optimalen Wachstum und der optimalen

Mundfunktions- und Atmungsfähigkeit

des Patienten.

Gezielte Übungen sind nötig, um

die Muskelschwäche zu beheben,

die aus jahrelangem falschen Einsatz

resultiert. Das Myotalea® TLJ ist

die weltweit erste aktive intraorale myofunktionelle

Apparatur, die speziell zur

Kräftigung von Zungen-, Lippen-, Kiefer-,

Rachen- und Mundbodenmuskulatur konzipiert

wurde.

Das 2019 eingeführte Myotalea®-Behandlungssystem

ist eine Weiterentwicklung

der aktiven myofunktionellen Behandlung

bei kieferorthopädischen Problemen,

CMD und schlafbezogenen Atmungsstörungen.

Die MYOVOSA®-Öffnung (variable

Öffnung) des TLJ ermöglicht chronischen

Mundatmern den Übergang zur Nasenatmung.

Mit dem Myotalea® TLJ können

Behandler nun in einem einzigen anwenderfreundlichen,

integrativen Apparaturensystem

den Lippenschluss ihrer Patienten

verbessern, ihre Zungen-, Rachen- und

Mundbodenmuskulatur kräftigen und sie

auf die Nasenatmung umgewöhnen.

Es wird empfohlen, das Myotalea® TLJ

anfangs zweimal täglich etwa 3 Minuten

lang einzusetzen, um die Trainingsmöglichkeiten

voll auszuschöpfen. Diese einfache

Übungssequenz hilft beim Aufbau

von mehr Kraft und einem besseren Muskeltonus.

Nähere Infos unter:

https://www.myoresearch.com/de-de/

appliances/myotalea

48 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021


Fortbildung

GZM-Veranstaltungen

Weitere Termine im Internet unter www.gzm.org

Weitere Veranstaltungen

und detaillierte Informationen

verschiedener Anbieter finden Sie

auf unserer Internetseite unter:

www.gzm.org/35-0-seminare.htm.

KONGRESSE

CURRICULA

Online-Symposium

Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)

3 Tage – 6 Referenten

Termin: 15. bis 17. März 2022

jeweils von 19:00 bis 21:00 Uhr

Referenten: Hardy Gaus, Dr. Horst Kares,

Dr. Annette Jasper,

Dr. Josef Vizkelety

Prof. Dr. Erich Wühr, PD Dr Dr. Katja

Schwenzer-Zimmerer

142. ZAEN-Kongress

Termin: 23. bis 27. März 2022

Ort: Freudenstadt

Weitere Informationen:

ZAEN Freudenstadt

Am Promenadenplatz 1

72250 Freudenstadt

Tel.: +49 7441 918580

Fax: +49 7441 9185822

E-Mail: info@zaen.org

www.zaen.org

Curriculum Systemische ZahnMedizin

Alle Blöcke auch einzeln buchbar

Block 1: Umwelt-Zahnmedizin –

Fokus Systemische Orale Medizin

Referent: Dr. Uwe Drews

Termin: 28. bis 29. Januar 2022

Ort: Siegburg

Block 2: Systemische Parodontologie

und Mikrobiologie – Einfluss

der Ernährung auf die

parodontale Gesundheit

Referenten: Dr. Heinz-Peter Olbertz,

PD Dr. Johan Wölber,

Dr. Andreas Rüffer

Termin: 25. bis 26. Februar 2022 – online

Block 3: Moderne Prothetik im Kontext

kraniofazialer Orthopädie

CMD – Diagnose und Therapie

im Netzwerk

Referenten: Dr. Thomas Weidenbeck,

Dr. Jens Heerklotz, NN

Termin: 25. bis 26. März 2022 – online

Block 4: Psychosomatische Aspekte in der

ganzheitlichen Zahnmedizin /

Die systemische Zahnmedizin

vermarkten: Externes und internes

Praxismarketing

Referenten: Dr. Martina Obermeyer,

Dr. Sebastian Schulz

Termin: 29. bis 30. April 2022 – online

Block 5: Ganzheitliche Zahnmedizin und

Implantologie /

Ganzheitliches Schmerzmanagement

in der Zahnarztpraxis

Referenten: Dr. Thomas Rosner, ZA Hardy Gaus

Termin: 20. bis 22. Mai 2022

Ort: Siegburg

Block 6: Praxisseminar: Integration

ganzheitlicher ZM in einer

ZA-Praxis – Regulationsmedizin

im täglichen Praxisablauf

Referenten: Jens-Uwe Jessen,

Dr. Jürgen Ludolph,

Dr. Dierk Remberg

Termin: 24. bis 25. Juni 2022

Ort: Hamburg

Anmeldung: GZM Geschäftsstelle

Kloppenheimer Str. 10

68239 Mannheim

Tel.: +49 621 4824300

Fax: +49 621 473949

E-Mail: info@gzm-org.de

www.gzm.org

Die Corona-Lücken

im Veranstaltungskalender

werden sobald es geht

wieder aufgefüllt.

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 49


GZM Leitbild

• Der Patient ist ein individuelles und komplexes Wesen, welches entsprechend wahrgenommen und

behandelt wird. Die Zusammenhänge zwischen Mund- und Allgemeingesundheit werden bei der

zahnärztlichen Tätigkeit stets beachtet.

• GZM Zahnärzte arbeiten auf dem aktuellen Stand des zahnärztlichen Wissens.

• Sie integrieren Naturheilkunde und komplementäre Medizin durch interdisziplinäre

Zusammenarbeit mit Ärzten und anderen Therapeuten im Netzwerk.

• Individuelle Gesundheitsförderung durch Gesundheitscoaching und Regulationsmedizin.

Anregung der Selbstheilungskräfte.

• GZM Zahnärzte agieren wertschätzend gegenüber Patienten, Kollegen, Co-Therapeuten

und sich selbst.

• GZM Zahnärzte sehen ihren Beruf als Berufung und stellen traditionelle ärztliche Werte in den

Vordergrund. Sie behandeln mit einer ethischen Grundhaltung so wie sie selbst behandelt

werden möchten.

• Die GZM Zahnärzte unterstützen die Persönlichkeitsentwicklung der Mitglieder, der Patienten

und der Mitarbeiter mit dem Ziel einer authentischen heilsamen Begegnung.

• GZM Zahnärzte nutzen multimodale Therapieansätze für chronisch kranke Patienten.

Fachorgan der Internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche ZahnMedizin e. V.

IMPRESSUM

Herausgeber & Verlag:

Internationale Gesellschaft

für Ganzheitliche ZahnMedizin e. V.

Kloppenheimer Straße 10

68239 Mannheim

Tel.: +49 621 4824300

Fax: +49 621 473949

Internet: www.gzm.org

E-Mail: gzm@gzm.org

ISSN 2194-945X

Anzeigen / Koordination:

Cornelia Wittersheim, GZM-GmbH

Tel.: +49 6209 7975415

Fax: +49 6209 7975416

E-Mail: media1@gzm-org.de

Erscheinungsweise: 4-mal jährlich

Format/Umfang: SOM: DIN A4 / 36 Seiten

MuM: DIN A4 / 8 Seiten

Auflage:

SOM: 2.000 Stück

MuM: 2.500 Stück

Preise:

GZM-Mitglieder:

SGZM-Mitglieder:

Nicht-Mitglieder:

Studenten:

Einzelverkaufspreis:

Chefredaktion:

im Mitgliedsbeitrag

enthalten

im Mitgliedsbeitrag

enthalten

€ 45,00/Jahr

€ 27,00/Jahr

€ 11,50/Exemplar

Constance Nolting

Anschrift der Redaktion:

Constance Nolting

Kloppenheimer Straße 10, 68239 Mannheim

E-Mail: gzm.redaktion@gzm-org.de

Redakteur

Mensch & Mund: Ludwig Fiebig

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Manuskripte sind an die GZM-Chefredaktion zu senden.

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Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 51


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In den vergangenen zwei Jahren hat das Thema Gesundheit

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gegen Infektionen und chronische Krankheiten kommt dem

Mikrobiom eine entscheidende Rolle zu. Doch genau hier

krankt es heutzutage bei vielen Menschen.

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