SOM- 4_2021
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
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Wissenschaft
Der größte „Fehler“ im
Umgang mit Suizidalität
ist es, nicht darüber zu
sprechen!
Abb. 1: Präsuizidaler Verlauf nach Pöldinger [zit. nach 2, S. 67]
▶ einem Erwägungsstadium
▶ einem Ambivalenzstadium
▶ einem Entschlussstadium, mit je abnehmender
Fähigkeit zur Distanzierung
und abnehmendem appellativen,
mehr resignativem Charakter (Abb. 1).
So weist das Modell auch darauf hin, dass
ein zum Suizid entschlossener Mensch
häufig einen Abfall der inneren Spannung
(„trügerische Ruhe“) erlebt, die im Klinikalltag
als vermeintliche Symptomverbesserung
verkannt werden kann.
Achtung: Die zu rasch gelöste Stimmung
depressiver Patienten*innen kann unter
Umständen darauf hinweisen, dass er oder
sie durch die Entscheidung, den Suizid zu
vollenden, gewissermaßen gelöster wirkt.
Einblick in Risikogruppen
und -faktoren
Etwa 90 % der Menschen, die Suizid
begehen, leiden an einer psychischen
Erkrankung, v. a. affektive, aber auch
Abhängigkeitssyndrome, psychotische
Erkrankungen, Persönlichkeits-, Anpassungs-,
Angst- und somatoforme Störungen
[2]. Die höchste Risikogruppe stellen
die depressiv Erkrankten dar, hierunter
vor allem ältere Männer (>70 Jahre), mit
anhaltenden Gefühlen von Insuffizienz,
Schuld, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit
oder aber mit (pseudo-)altruistischen
Ideen, i. S. v. die Welt sei besser
ohne den Betroffenen. Zu den Risikofaktoren
zählen ferner [nach 3, 8]:
▶ vorangegangene Suizidversuche (auch
im Familien- oder engeren Bekanntenkreis!)
▶ Suizidideen mit ausgeprägtem Handlungsdruck
und geringer Fähigkeit zur
Distanzierung
▶ Verlust äußerer Ressourcen (z. B.
sozialer Rückzug) oder Einbeziehung
Angehöriger i. S. der Idee eines erweiterten
Suizids
▶ Verlust innerer Ressourcen (z. B.
Glaubenssystem)
▶ direktes Suizidarrangement oder implizite
Vorkehrungen wie Testamentschreibung
▶ eine komorbide Substanzabhängigkeit,
komorbide Angst- oder Persönlichkeitsstörung,
psychotische
depressive Symptome
▶ körperliche und kognitive Symptome
wie anhaltende Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten
▶ aggressiv-impulsive Persönlichkeitsmerkmale
Wichtig zu beachten:
▶ offen Suizidgedanken/-pläne/-handlungen
erfragen
▶ akute Belastungssituation erfragen
▶ subjektive Erlebnisweise ernst nehmen
▶ Ressourcen erfragen (z. B. Partnerschaft)
▶ Distanzierungsfähigkeit einschätzen
Und dann?
▶ Zeit gewinnen
▶ empathisch, jedoch nicht panisch
reagieren
▶ Beziehungsangebot machen (neuer
Termin)
▶ Abwägen einer psychiatrischen Überweisung
▶ Austausch mit Kollegen (Inter- bzw.
Supervision)
▶ zu einem gewissen Grad immer auch
… Unsicherheit aushalten
Einschätzung der Akuität
Präsuizidale Verläufe liegen bei Depressionen
phänotypisch häufig nah an den
hier genannten Modellen. Aber auch
während einer floriden psychotischen
Episode kann sich ein Suizidgedanke
beispielsweise in Form von Phonemen
(„Stimmen hören“) ausdrücken,
die zum Suizid auffordern. Wichtig bei
der Einschätzung der Akuität ist, über
die Grunderkrankung hinweg, einerseits
die Distanzierungsfähigkeit und
andererseits bestehende Freiheitsgrade
i. S. v. intrapsychischer Flexibilität und
äußerer Ressourcen (v. a. Beziehungsgefüge).
Hiervon abhängig ist schließlich
die Indikation einer stationären Krisenintervention
und Notfallbehandlung.
Bei schizophrenen Erkrankungen wird
das Risikopotenzial postpsychotisch ins-
18 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021