SOM- 4_2021
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
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Wissenschaft
Wut aber gegen die eigenen Eltern, die
ihm dieses Unzulänglichkeitsgefühl quasi
eingebrannt haben. Frühe Bedürfnisse
nach Spiegelung und empathischer Zuwendung
werden reaktiviert und überfordern
ihn. Ein regressiver Prozess wird
angestoßen und befördert ihn zurück in
ein frühes ambivalentes Erleben aus Enttäuschungswut,
Insuffizienzgefühlen und
der Suche danach, von den eigenen Eltern
gesehen zu werden. Es ist ihm kaum
möglich, diese Emotionen zu benennen,
vielmehr tanzen sie auf der „Leibbühne
des Körpers“ [1]. Es ist ein Schmerz, der
über Kopf, Hüfte bis ins Herz wandert.
Diese körperlichen Symptome sind für
ihn neu, bergen sie doch viel von einem
frühen, noch vorsprachlichen Schmerz.
Die Wut kann nicht dorthin lokalisiert
werden, wo sie hingehört, weil die Bedürftigkeit,
die sich ebenfalls an die eigenen
Eltern richtet, zu dringlich ist. Freuds
These der Aggressionsumkehr als „Mord
am introjizierten Objekt“ ist denkbar,
vielleicht geht es aber auch gerade darum,
diese inneren Objekte zu schützen
und – in diesem Rettungsversuch – (lieber)
den eigenen bedürftigen Selbstanteil
anzugreifen. Verstrickter ist die Situation
noch, weil er nun das Alter erreicht, in
dem der eigene Vater an Herzversagen
plötzlich verstarb, ohne dass ungelöste
Gefühle Klärung finden und ein Trauerprozess
stattfinden konnte. Dass der
Vater ihn so zurückgelassen hat, macht
ihn unbewusst wütend und verzweifelt.
Gleichzeitig fühlt er sich durch diese Gefühle
schuldig, aus einer Ehr- und Respektsverpflichtung
diesem gegenüber;
aber auch, weil er in der vernichtend
brodelnden Wut riskiert, das so wichtige
Objekt (Vater) vollends zu verlieren. So
sehr sein Leitmotiv hieß „Ich möchte keinesfalls
werden wie mein Vater“, so blieb
er in dieser betonten Abgrenzung doch
im Grunde ganz eng mit diesem verbunden.
Es wäre (noch) zu schmerzhaft und
bedrohlich sich einzugestehen, dass er
seinem Vater gerade innerlich sehr nah
gerückt ist. Er inszeniert in seiner äußeren
Situation die ganze Dramatik dieser
Beziehung, insbesondere im Kontakt zu
seinen Söhnen. Diese bieten ihm nun,
aus Dankbarkeit und Zuneigung einem
wohl tatsächlich sehr liebevollen Vater
gegenüber, ihre finanzielle Unterstützung
an. Herr A. kann aber weder die Motive
dahinter erkennen, noch, dass diese womöglich
zum Ausdruck bringen, dass er
eben doch etwas anders gemacht hat als
sein Vater. Vielmehr erinnert er sich nun
daran, wie er wiederum seinem Vater
die Entzüge finanzierte und wie er sich
schwor, niemals so etwas von jemandem
zu verlangen. Die Suizidgedanken, als
Reparationsversuch, sind in dieser Konstellation
vielleicht eher als ein letzter
Versuch der Autonomiesicherung in der
Auseinandersetzung mit einer inneren
Beziehungsrepräsentanz zu sehen, mit
der er bis heute kämpft und in der er sich
stets als hilflos und ausgeliefert erlebt
hat. Die zunächst paradox anmutende
Befürchtung, plötzlich unvermittelt als
Folge einer Panikattacke an Herzversagen
zu versterben, wie er es häufig phantasiert,
verängstigt ihn massiv. Diese hypochondrischen
Ängste spiegeln, wie tief
die Abhängigkeit von dieser ungelösten
Beziehung ist. Ebenso zu versterben würde
unbewusst bedeuten, die Ablösung sei
endgültig missglückt. Die Suizidgedanken
sind somit paradoxerweise als Autonomiebestreben
zu verstehen, gleichwohl
dem Versuch, den eigenen Selbstwert
wiederherzustellen und eine vernichtende
narzisstische Krise aufzuhalten.
Die aktuelle Situation offenbart Herrn A.
auf eine Art, in der er sich schamhaft
ausgeliefert fühlt, sie spiegelt aber auch,
20 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021