SOM- 4_2021
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
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Wissenschaft
Suizidale Krisen
Anna-Lena Bröcker, M. Sc. (Psych.)
Zahnärzt*innen sehen Ihre Patient*innen regelmäßig, häufig schon viele Jahre lang.
Eine Sensibilisierung für Anzeichen der Suizidalität können hilfreich sein, um ggf. mit
Patient*innen ins Gespräch zu kommen. Zahnärzt*innen gehören darüber hinaus zu
den Berufsgruppen mit erhöhten Risiko, denn sie gelten als Mediziner*innen besonders
gefährdet. Darüber hinaus: Die Selbstmordrate wird mit einem 50 % höheren Risiko
gegenüber anderen Berufsgruppen beziffert, wobei bei Ärztinnen die Suizidrate zu den
Frauen der Allgemeinbevölkerung sogar viermal höher liegt. Pro Jahr verüben bis zu 200
Mediziner*innen in Deutschland Selbstmord, wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte.
Viele Suizide werden als Unfälle oder Vergiftungen deklariert.
Anna-Lena Bröcker ist Stationspsychologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin der psychiatrischen
Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus in Berlin und stellt
im Folgenden das Wesen der suizidalen Krisen vor.
Zusammenfassung
Suizidale Krisen können uns in allen Bereichen des medizinischen und psychosozialen Helfersystems begegnen. So suchen
Menschen in akuten Belastungssituationen nicht selten zunächst den Weg zu ihrem/Ihrer Hausärzt*in. Erst schrittweise
kommt mehr Wissen und ein offener Umgang mit der Thematik in der Gesellschaft an. Welche Irrtümer halten sich hartnäckig
in der Gesellschaft? Wie kann ich Suizidalität erfragen? Wer gehört zu den Hoch-Risikogruppen einerseits und wie
individuell kann andererseits die zugrunde liegende Dynamik sein?
Schlüsselwörter: Suizidale Krise, Irrtümer über Suizidalität, Hochrisikogruppen für Suizidalität
Abstract
We can encounter suicidal crises in all areas of the medical and psychoso-cial helper system. In acute stressful situations, it
is not uncommon for peo-ple to first seek the way to their family doctor. Only gradually does more knowledge and an open
approach to the topic reach society. What errors persist in society? How can I inquire about suicidality? Who belongs to the
high-risk groups on the one hand and how individual can the underlying dynamics be on the other?
Keywords: Suicidal crisis, misconceptions about suicidality, high risk groups for suicidality
Den Raum betritt ein großer, schlanker
Mann Anfang 60, den Blick
leicht gesenkt. Er spricht zunächst
kaum, erst auf Nachfrage sagt er
nickend: „Ja, manchmal möchte ich gerade
einfach nicht mehr leben.“
In einer späteren Stunde, wir haben uns
inzwischen nonverbal aufeinander eingespielt,
was sich in einer synchronen Änderung
der Sitzposition oder dem gleichzeitigen
Ergreifen des Worts ausdrückt,
beginnt Herr A. plötzlich von seinen
Großeltern zu erzählen, bei denen er aufgewachsen
sei: von dem Haus in einem
nördlichen Dorf der Türkei, seinem stillen
Großvater und seiner nicht zur Ruhe
kommenden Großmutter und hat Tränen
in den Augen. So bewegt hatte ich ihn bis
dato noch nicht erlebt. Ich verstehe nun
besser, wo sein zunehmend aufflackerndes
schelmisches Grinsen oder seine warme
Art im Kontakt mit Mitpatienten herrührt.
Herr A. berichtet, wie seine Eltern ihn als
Jugendlichen unfreiwillig nach Deutschland
geholt hätten und wie schwierig das
für ihn gewesen sei. Seine Großeltern habe
er nie mehr wiedergesehen.
16 Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021